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Religionsunterricht an öffentlichen Schulen heißt in Hamburg: "Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung". Dass darin ein ernstes Problem steckt, sieht man sofort: Wie verhält sich das "für alle" zu "evangelischer Verantwortung"? Damit zeigt sich eine Herausforderung, die sich aus dem wachsenden weltanschaulich-religiösen Pluralismus in unseren Metropolen ergibt, aber auch anderswo immer häufiger auftaucht: Wie ist mit der Verfassungsbestimmung umzugehen, dass "der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt" wird? Der renommierte Theologe Wilfried Härle hat dazu im Auftrag der Nordkirche ein theologisches Gutachten verfasst, in dem er die Stärken und Schwächen des Hamburger Modells analysiert und für einen pluralismusoffenen, kooperativ erteilten, aber nicht fusionierten Religionsunterricht als Angebot für alle argumentiert. Das kann die Diskussion über die Zukunft des Religionsunterrichts voranbringen – weit über Hamburg hinaus. [Religious Education and Religious Pluralism. A Critical Review of the Hamburg Model] Religious education in public schools in Hamburg means: "Religious education for all in Protestant responsibility". That there is a serious problem in this is immediately apparent: How does "for all" relate to "Protestant responsibility"? This is a challenge which arises from the growing ideological-religious pluralism in our metropolises, but which also appears more and more frequently elsewhere: How to deal with the constitutional provision that "religious instruction is given in accordance with the principles of religious communities"? The renowned theologian Wilfried Härle, commissioned by the Nordkirche, has written a theological report in which he analyzes the strengths and weaknesses of the Hamburg model and argues for a pluralistic, cooperative, but not merged religious education as an offer for all. This can advance the discussion about the future of religious education – far beyond Hamburg.
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Seitenzahl: 233
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Wilfried Härle
Religionsunterricht unter pluralistischen Bedingungen
Eine kritische Sichtung des Hamburger Modells
Wilfried Härle, Dr. theol., Jahrgang 1941, ist Professor em. für Systematische Theologie. Nach dem Studium der Evangelischen Theologie in Heidelberg und Erlangen lehrte er von 1975 bis 2008 an den Universitäten Kiel, Groningen (NL), Marburg und Heidelberg. Parallel dazu war er achtzehn Jahre lang Mitglied und zwölf Jahre lang Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD und drei Jahre lang Mitglied der Enquetekommission des Deutschen Bundestages für Ethik und Recht der modernen Medizin. Seit seiner Emeritierung ist er als Buchautor und Vortragsreisender tätig.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH • Leipzig
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
Satz: 3W+P, Rimpar
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
ISBN 978-3-374-06290-4
www.eva-leipzig.de
Die Vorgeschichte des Gutachtens, das den Inhalt dieses Buches bildet, reicht weit zurück. Im Jahr 1995 entstand in Hamburg ein »Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht« (GIR), aus dem das Projekt »Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung« (genannt »RUfa 1.0«) hervorging. Freilich blickte dieser GIR bei seiner Gründung selbst schon auf »die langjährige Hamburger Praxis eines gemeinsamen Religionsunterrichts für Schülerinnen und Schüler aller religiösen Bekenntnisse und weltanschaulichen Orientierungen« zurück und stellte sich die Aufgabe, diese Praxis »weiterzuentwickeln«.1
Zur Vorgeschichte dieser Initiative gehörte zunächst die Nachkriegsentscheidung der römisch-katholischen Kirche, sich nicht am Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen der Freien und Hansestadt Hamburg zu beteiligen, sondern stattdessen Schulen in eigener kirchlicher Trägerschaft zu errichten und in ihnen katholischen Religionsunterricht zu erteilen.
Zu dieser Vorgeschichte gehörte ferner die sukzessive Entwicklung der Freien und Hansestadt zu einer in weltanschaulich-religiöser Hinsicht pluralen und säkularisierten Großstadt. Diese – noch anhaltende – Entwicklung wirkte sich naturgemäß auch auf die Teilnahme der Schülerschaft am (evangelischen) Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen der Stadt aus. Um auf diesen Prozess zu reagieren, wurde unter Mitwirkung der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Hamburgischen Staate sowie der späteren Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein eigenes Konzept des Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen Hamburgs entwickelt, dessen Pointe darin bestand, einen gemeinsamen Religionsunterricht von Schülerinnen und Schülern im Klassenverband oder in Lerngruppen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit (und Weltanschauung) zu ermöglichen und in dialogischer Form durchzuführen.
Um die Vereinbarkeit dieses Hamburger Modells mit Art. 7 Abs. 3 GG in verfassungsrechtlicher Hinsicht zu prüfen, erstattete Prof. Christoph Link am 15. Januar 2001 auf Bitte des Kirchenamtes des Nordelbischen Kirche ein Rechtsgutachten, das in dem Satz gipfelte: »Unter den hier vorgetragenen Maßgaben erscheint der ›Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung‹ nach dem Hamburger Modell mit dem Verfassungsbegriff des Religionsunterrichts in Art. 7 Abs. 3 GG – noch – vereinbar.« Das auffällige »noch« in dem Schlusssatz konnte natürlich auf Dauer nicht befriedigen, sondern signalisiert so etwas wie eine Not- oder Übergangslösung. Zudem hatte Link in seinem Gutachten (in der Zusammenfassung Ziff. 6b) die Zusammenarbeit auf die verschiedenen christlichen Konfessionen begrenzt und eine Zusammenarbeit mit anderen Religionen und Weltanschauungen ausdrücklich ausgeschlossen.
Die weitere Entwicklung des Religionsunterrichts in Hamburg wurde markiert durch insgesamt fünf Verträge, die in den Jahren 2005, 2007 und 2013 zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg und verschiedenen Religionsgemeinschaften, geschlossen wurden.2 Von ihnen enthielten die ersten drei Verträge (mit der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, dem Heiligen Stuhl [also der römischkatholischen Kirche] und der Jüdischen Gemeinde in Hamburg) Gewährleistungsgarantien für die Erteilung von Religionsunterricht gemäß Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz bzw. »durch besondere Vereinbarungen auf der Grundlage des Hamburgischen Schulgesetzes«, erwähnten aber den »Religionsunterricht für alle« nicht.
Das änderte sich in den Verträgen, die im Jahr 2013 mit den Islamischen Verbänden bzw. Religionsgemeinschaften (DITIB, SCHURA und VIKZ) und mit der Alevitischen Gemeinde Deutschland geschlossen wurden. Neben und vor der Gewährleistungsgarantie für Islamischen und Alevitischen Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes wird in diesen Verträgen seitens der Vertragsparteien die Anerkennung des Religionsunterrichts in gemischtkonfessionellen Klassenverbänden und Lerngruppen als erhaltenswertes Modell zum Ausdruck gebracht. Dabei taucht jedoch der Formelteil »in evangelischer Verantwortung« nicht auf. Stattdessen wird in diesen beiden Verträgen als Ziel eine Weiterentwicklung des Hamburger Modells genannt, durch die sowohl alle Religionsgemeinschaften im verfassungsrechtlichen Sinn gleichberechtigt am Religionsunterricht beteiligt sind als auch die gemeinsame Teilnahme der Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit ermöglicht wird.
Bevor dieses Ziel mittels Gutachten und Symposien verfolgt werden konnte, hatte der Senat der Freien und Hansestadt bereits zwei religionsrechtliche bzw. religionswissenschaftliche Gutachten an Prof. Heinrich de Wall, Erlangen, und an Prof. Gritt Klinkhammer, Bremen, in Auftrag gegeben, durch die geprüft werden sollte, ob bei den drei oben genannten Islamischen Verbänden die Eigenschaft der »Religionsgemeinschaft« vorliegt. Diese Gutachten wurden in den Jahren 2011 und 2012 erstattet und führten im Rahmen des Vertragsabschlusses mit den Islamischen Verbänden zu deren Anerkennung als Religionsgemeinschaften.3
Im Oktober 2016 veranstaltete die evangelisch-lutherische Kirche in Norddeutschland (kurz »Nordkirche« genannt) ein Symposium zur Weiterentwicklung des RUfa, dessen Ziel es war, durch die Verbindung von juristischen, theologischen und pädagogischen Perspektiven die Möglichkeiten auszuloten, dieses Hamburger Modell unter dem Dach von Art. 7 Abs. 3 GG zu positionieren. Dabei wurde deutlich, dass diese Positionierung einer genaueren Beschreibung und Beurteilung bedarf, als sie bis dato vorlag. Um dazu zu kommen, beauftragte die Kirchenleitung der Nordkirche Herrn Prof. Hinnerk Wißmann mit der Erstellung eines verfassungsrechtlichen Gutachtens, das von ihm am 20. Juli 2017 erstattet wurde. Es diente der Klärung der Frage, nach welchen Kriterien sich aus religionsverfassungsrechtlicher Sicht entscheidet, ob die Inhalte des »Religionsunterrichts für alle« mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften übereinstimmen und unter welchen Bedingungen demzufolge Alternativen zur getrennten Organisation von Religionsunterrichten verschiedener Religionsgemeinschaften möglich oder notwendig sind. Zugleich sollte geprüft werden, anhand welcher Kriterien die Konfessionsgebundenheit des Religionsunterrichts auf den verschiedenen Ebenen (von der Unterrichtsgestaltung bis zur Schulorganisation) zu bewerten ist und wie sie jeweils gewährleistet wird. Schließlich sollte auch geprüft werden, welche Unterrichtsgestaltung und Organisationsform des Religionsunterrichts sicherstellen kann, dass die Schülerinnen und Schüler dem jeweiligen Wahrheitsanspruch ihrer eigenen Religion in der von Art. 7 Abs. 3 GG intendierten Weise begegnen.
In einem Symposium, das noch im Jahr 2017 stattfand, wurde dieses »verfassungsrechtliche Orientierungsgutachten« von Herrn Wißmann diskutiert. Dabei ergab sich als eine – wenn nicht sogar als die – entscheidende Frage, inwiefern die Vermittlung eigener Glaubenswahrheit vereinbar ist mit der Vermittlung fremder Glaubenswahrheiten. Die Beantwortung dieser Frage wurde sowohl vom Gutachter wie auch von der Kirchenleitung als eine theologische Aufgabe verstanden und bezeichnet, die jede Religionsgemeinschaft für sich beantworten und verantworten muss.
Diese Einsicht führte zu der Erteilung eines theologischen Gutachtensauftrags an mich sowie zu der Bitte an die anderen beteiligten Religionsgemeinschaften und Verbände, diese Frage(n) aus ihrer Sicht theologisch zu beantworten. Am 17. April 2019 konnte ich mein Gutachten, das in diesem Buch veröffentlicht wird, der Kirchenleitung der Nordkirche vorlegen. Am 7./8. Juni 2019 wurde – auch unter Beteiligung von Vertretern der anderen Religionsgemeinschaften und von Prof. H. Wißmann – ein neuerliches Symposium über die Frage der Weiterentwicklung des Hamburger Modells RUfa durchgeführt. Dort durfte ich mein theologisches Gutachten in Form eines Einführungsreferats vorstellen und auf die Stellungnahmen der anderen Religionsgemeinschaften und von Herrn Wißmann reagieren.
Die Zentralfrage, die mir schon für mein Gutachten, dann aber auch für dieses neuerliche Hamburger Symposium gestellt war, lautete: »Lassen sich in einem mit dem Grundgesetz vereinbaren Religionsunterricht gemäß den theologischen Grundsätzen der Evangelisch-Lutherischen Nordkirche konkurrierende Wahrheitsansprüche vertreten?« Die theologische Beantwortung dieser komplexen Frage sollte klären, ob ein Religionsunterricht, der von mehreren Religionsgemeinschaften gemeinsam verantwortet und erteilt wird, sowohl mit den Bestimmungen von Art. 7 Abs. 1–3 GG als auch mit den theologischen Grundsätzen der Nordkirche vereinbar ist.
Dabei wird mit dem Ausdruck »konkurrierende Wahrheitsansprüche« die Tatsache angesprochen, dass es zwischen den Grundsätzen der am Hamburger Religionsunterricht beteiligten Religionsgemeinschaften nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede, sondern auch gravierende Gegensätze gibt, die sich zum Beispiel auf das Gottesverhältnis und Gottesverständnis, auf die Beurteilung der verschiedenen Heiligen Schriften, auf die Zulässigkeit von Konversionen, auf den Umgang mit Andersgläubigen sowie auf Speisevorschriften beziehen. Von solchen Gegensätzen gilt jedenfalls nach evangelisch-lutherischem Verständnis, dass einander widersprechende Aussagen nicht zugleich wahr sein oder als wahr gelehrt werden können.4 Deshalb sind solche Gegensätze und Widersprüche nicht mit dem Erfordernis des grundgesetzkonformen Religionsunterricht vereinbar, in dem die jeweiligen Grundsätze der Religionsgemeinschaften durch die Lehrkräfte als gültige Wahrheiten zu vermitteln sind.
Wenn man auf dieses Kriterium des Grundgesetzes verzichtet, mutiert der Religionsunterricht zur neutralen Religionskunde. In einer neutralen Religionskunde lassen sich sehr wohl auch die einander widersprechenden Grundsätze von Religionsgemeinschaften darstellen und nebeneinanderstellen. Solche religionskundliche Elemente dürfen, ja müssen auch im Religionsunterricht dort vorkommen, wo andere Religionen, ihre Grundsätze, Lehren und Gebräuche dargestellt und möglicherweise mit den eigenen Grundsätzen, Lehren und Gebräuchen verglichen werden. Dabei ist es ein Gewinn an authentischer Darstellung fremder religiöser Positionen, wenn diese durch Lehrkräfte dargestellt und erläutert werden, die selbst dieser Religionsgemeinschaft angehören und gastweise mit Rederecht an diesen religionskundlichen Teilen des Religionsunterrichts teilnehmen.
Hierbei und bei der Ausbildung von Lehrkräften, bei der Planung des Religionsunterrichts sowie bei der Vertretung gemeinsamer Interessen ist – insbesondere in einer pluralen Situation, wie sie in Hamburg besteht – die Kooperation zwischen verschiedenen Konfessionen oder Religionsgemeinschaften nicht nur möglich, sondern wünschenswert. Aber eine solche Kooperation muss von einer Fusion bei der Erteilung des Religionsunterrichts grundsätzlich unterschieden werden, da diese zu einer Konfusion der religiösen Grundsätze im Unterricht führt, die unbedingt ausgeschlossen werden muss.
Dabei sollte es im Interesse der Schüler, Eltern, Lehrkräfte und Religionsgemeinschaften liegen, dass die Teilnahme am Religionsunterricht auch anderer Konfessionen oder Religionsgemeinschaften für alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer religiösen oder weltanschaulichen Bindung oder Orientierung möglich ist. So verstanden, das heißt als Angebot sollten die jeweiligen konfessionellen Religionsunterrichte unter strikter Wahrung ihrer jeweiligen Identität offen sein für alle Schülerinnen und Schüler.
Die Grundhaltung, die darin zum Ausdruck kommt, kann man als »Pluralismus aus Überzeugung« oder als »positionellen Pluralismus« bezeichnen, in dem die eigene religiöse Wahrheitsgewissheit verbunden ist mit dem Respekt gegenüber anderen, auch gegensätzlichen religiösen Überzeugungen, sofern auch diese zu solchem Respekt fähig und bereit sind. Daraus ergibt sich das Konzept eines pluralismus- und kooperationsoffenen Religionsunterrichts, der unterschiedliche religiöse Wahrheitsgewissheiten als gegeben voraussetzt und mit deren (pluralismusoffenen) Repräsentanten respektvoll umgeht. Wenn dies ohne Verschleierung und Verharmlosung, aber auch ohne Verachtung und Häme gelingt, ist es ein immenser Gewinn auch für eine echte, das heißt: auf Wahrheit basierende Befriedung unserer pluralen und in vielen Hinsichten zerrissenen Gesellschaft.
Die oben genannte undifferenzierte »Zentralfrage« nach der gleichzeitigen Vertretbarkeit konkurrierender Wahrheitsansprüche kann und möchte ich daher differenzierend wie folgt beantworten: Eine Lehrkaft, die das Fach »Evangelische Religionslehre« erfolgreich für das Lehramt studiert und abgeschlossen hat und einer evangelischen Kirche angehört, kann evangelischen Religionsunterricht für alle interessierten Schüler anbieten und – wenn das von den Erziehungsberechtigten gewünscht wird – ihnen auch erteilen. Sie kann aber weder katholischen, noch jüdischen, noch islamischen noch alevitischen Religionsunterricht erteilen. Und dasselbe gilt für alle Lehrkräfte einer dieser Konfessionen oder Religionsgemeinschaften im Verhältnis zu den anderen. Wohl aber können und sollen Religionslehrer mit den anderen Konfessionen und Religionsgemeinschaften und ihren Lehrkräften auf möglichst vielen Ebenen kooperieren, deren Fähigkeiten zur Vermittlung ihrer eigenen religiösen Grundsätze in den eigenen Religionsunterricht einbeziehen und ihn als Angebot für alle Schüler offenhalten.
Die Zukunft wird zeigen, ob diese Beantwortung der gestellten Zentralfrage bei der Weiterentwicklung des Hamburger Religionsunterrichts unter pluralistischen Bedingungen aufgenommen und fruchtbar gemacht wird.
Zu den besonders erfreulichen Ereignissen des Hamburger Pfingstsymposiums gehörte – nicht nur für mich – die öffentliche Erklärung des Vertreters des katholischen Erzbistums Hamburg, dass neuerdings ein Interesse der römisch-katholischen Kirche bestehe, sich auf klaren Grundlagen an dem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zu beteiligen oder sich ihm zumindest anzunähern.
Abschließend ist es mir ein Bedürfnis, den Personen zu danken, ohne die mein Gutachten schwerlich zustande gekommen wäre.
Ich nenne zuerst die Ansprechpartner aus der Nordkirche, die mit unerschöpflicher Geduld meine Bitten um Auskünfte, Erläuterungen und Unterlagen erhört haben: Prof. Dr. Bernd-Michael Haese, Pastor Hans-Ulrich Keßler, Pastorin Birgit Kuhlmann und Prof. Dr. Peter Unruh.
Sodann nenne ich (ebenfalls in alphabetischer Reihenfolge) die Personen, die mir bei der Erarbeitung meines Gutachtens mit Informationen oder ihrem Rat zur Seite gestanden haben: Prof. Dr. Heinrich de Wall, Dr. Ines Härle und Dr. Tobias Härle, Prof. Dr. Martin Heckel, Pastorin Imke Heidemann, Prof. Dr. Eilert Herms, Fachdezernent Stefan Hetzer, Prof. Dr. Wolfgang Huber, Prof. Dr. Kai-Uwe Jacobs, Schulreferent Harald Lehmann, Prof. Dr. Michael Moxter, PD Dr. Gudrun Neebe, Prof. Dr. Reiner Preul, Pfarrer Ulrich Ruck, Prof. Dr. Christoph Schneider-Harpprecht, Prof. Dr. Ursula Spuler-Stegemann, Prof. Dr. Joachim Weinhardt sowie Studienleiter Rainer Zwenger.
Ferner habe ich (auch diesmal) der Leiterin der Bibliothek in Birkach, Frau Silke Wedemeier und ihren Mitarbeiterinnen sehr zu danken, die mir bei der Beschaffung der Literaturfülle eine ebenso unersetzbare wie unermüdliche Hilfe waren.
Schließlich möchte ich der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig in Gestalt von Dr. Annette Weidhas, Therese Schmude und Stefan Selbmann danken, die durch ihr Interesse und ihre fachliche Kompetenz die Veröffentlichung dieses Bandes in denkbar kurzer Frist ermöglicht haben.
Möge dieses Buch dem Religionsunterricht als einer der wichtigsten Möglichkeiten und Gelegenheiten, die nachwachsenden Generationen in unserer Gesellschaft mit tragfähigen Glaubensüberzeugungen bekannt zu machen, dienen – gerne auch weit über Hamburg hinaus.
Heidelberg/Ostfildern, den 14.06.2019
Cover
Titel
Über den Autor
Impressum
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
1Ergebnisskizze
2Der Auftrag für das theologische Gutachten
3Die rechtlichen Bestimmungen zum Religionsunterricht
3.1Die Bestimmungen des Grundgesetzes zum Religionsunterricht
3.2Die Verfassungsgerichtsentscheidung zum Religionsunterricht
3.3Bestimmungen der Hamburger Staatsverträge zum Religionsunterricht
3.4Das verfassungsrechtliche Gutachten von Hinnerk Wißmann
4Die pluralistischen Bedingungen für den Religionsunterricht
5Das Verhältnis von Religionen zueinander aus christlicher Sicht
5.1Das strukturelle Verhältnis der Religionsgemeinschaften
5.2Das innere Verhältnis religiöser Positionen zueinander
5.3Das Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen
5.4Bildung zur Toleranz im Religionsunterricht
6Die Rolle der Erziehungsberechtigten und Schüler
7Die Rolle der Religionslehrkräfte und ihrer Beauftragung
8Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang I
Die Hamburger Staatsverträge zum Religionsunterricht
Anhang II
Didaktische Grundsätze des Religionsunterrichts für alle (DGRUfa)
Register
AStellen aus Heiligen Schriften
IBibelstellen
IIKoranstellen
BPersonen
IAus der Bibel
IIAus der Theologie-, Kirchen- und Religionsgeschichte
CBegriffe
Endnoten
a.a.O.
am angegebenen Ort
Abs.
Absatz
Abschn.
Abschnitt
Anm.
Anmerkung
Art.
Artikel
Bd.
Band
bes.
besonders
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Bundesverfassungsgerichtsentscheidung
DDStA
Martin Luther, Deutsch-Deutsche Studienausgabe
ders.
derselbe
DGRUfa
Didaktische Grundsätze des Religionsunterrichts für alle
DITIB
Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.
EKD
Evangelische Kirche in Deutschland
EU
Europäische Union
EvErz
Evangelischer Erzieher
GEKE
Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa
GG
Grundgesetz
GIR
Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht
Hrsg.
Herausgeber
HWBPh
Historisches Wörterbuch der Philosophie
IRU
Islamischer Religionsunterricht
JRP
Jahrbuch der Religionspädagogik
LDStA
Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe
LER
Lebenskunde, Ethik, Religion
NZSTh
Neue Zeitschrift für Systematische Theologie
RdJb
Recht der Jugend und des Bildungswesens
RU
Religionsunterricht
RUfa 1.0
Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung
RUfa 2.0
Weiterentwickelter Religionsunterrichts für alle
SCHURA
Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg
ThLZ
Theologische Literaturzeitung
TRE
Theologische Realenzyklopädie
VELKD
Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands
VIKZ
Verband der Islamischen Kulturzentren
WA
Martin Luther, Werke, Weimarer Ausgabe
WA.DB
Martin Luther, Werke, Weimarer Ausgabe – Deutsche Bibel
WRV
Weimarer Reichsverfassung
ZevKR
Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht
ZThK
Zeitschrift für Theologie und Kirche
Die von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (kurz »Nordkirche« genannt) in Verbindung mit anderen Religionsgemeinschaften auf Anregung des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg erwogene Weiterentwicklung des bisherigen »Religionsunterrichts für alle in evangelischer Verantwortung« (genannt »RUfa 1.0«)1 macht aufgrund von Art. 7 Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes (= GG) konzeptionelle und inhaltliche Veränderungen erforderlich.
Der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen zeichnet sich durch vier vom Grundgesetz vorgegebene, eng miteinander zusammenhängende, tragende Prinzipien aus:
a) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.
b) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen ordentliches schulisches Lehrfach.
c) Er wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.
d) Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.
Diese Prinzipien bilden das Rückgrat auch für dieses theologische Gutachten – allerdings in einer anderen, sich von der Sache her nahelegenden Anordnung. Sie sind erstens die normative rechtliche Vorgabe für den Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen unseres Staates, sie sind zweitens Gegenstand der theologischen Reflexion im Blick auf ihre Sachgemäßheit und sie sind drittens daraufhin Maßstab für die Weiterentwicklung (auch) des RUfa 1.0 in Hamburg.
Zu dieser notwendigen Weiterentwicklung gehört vor allem, dass der Religionsunterricht (für alle) nicht mehr nur »in evangelischer Verantwortung«2 erteilt wird, auch nicht in gemeinsamer Verantwortung, sondern in der jeweiligen Verantwortung der beteiligten Religionsgemeinschaften.
Dazu gehört ferner, dass der Religionsunterricht erkennbar mit den jeweiligen inhaltlichen Grundsätzen der beteiligten Religionsgemeinschaften übereinstimmt.
Schließlich wird sich auch zeigen, dass eine stärkere und klarer strukturierte Mitwirkung der Erziehungsberechtigten bzw. Schüler sowie der Lehrkräfte für diesen weiterentwickelten Religionsunterricht erforderlich ist, um den Vorgaben der Verfassung gerecht zu werden.
Zukunftsweisendes zu diesen notwendigen Veränderungen findet sich zumindest ansatzweise in den Didaktischen Grundsätzen des Religionsunterrichts für alle (= DGRUfa) vom 20. 05. 20153. Diese enthalten wichtige Veränderungsimpulse in Form von methodischen Ansatzpunkten für die Ermittlung möglicher Inhalte, sie bedürfen jedoch einer noch konkreteren und genaueren Ausarbeitung, um den Erfordernissen gerecht zu werden, die sich aus theologischen (und verfassungsrechtlichen) Gründen für den Religionsunterricht gemäß Art. 7 Abs. 1–3 GG ergeben.
Um dieses Ziel erreichen zu können, halte ich die grundlegende Unterscheidung von zwei Ebenen in dem Konzept eines »pluralismus- und kooperationsoffenen Religionsunterrichts«4 für erforderlich. Diese Ebenenunterscheidung bezieht sich einerseits auf die inhaltliche Ausgestaltung und Erteilung des Religionsunterrichts, die in der Verantwortung der einzelnen Religionsgemeinschaften liegen muss, und sie bezieht sich andererseits auf die konzeptionellorganisatorische Planung des Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen Hamburgs5 in Form von prinzipiell gleichberechtigter interkonfessioneller und interreligiöser Kooperation zwischen den beteiligten Religionsgemeinschaften.6 Martin Heckel bringt die Konsequenz aus dieser Unterscheidung auf die treffende Formel: »Fusion nein, Kooperation ja!«.7 Das gilt bei ihm für die interkonfessionelle Kooperation insbesondere zwischen der katholischen und evangelischen Kirche im Religionsunterricht.8 Eine der Folgerungen, die sich daraus in multireligiös und multiweltanschaulich geprägten gesellschaftlichen Situationen ergibt, lautet: Das kann und sollte beim Vorliegen der erforderlichen rechtlichen Bedingungen auch ein Leitprinzip für die interreligiöse Kooperation beim Religionsunterricht sein. Durch sie ist die Erteilung von Religionsunterricht in gemischtkonfessionellen Klassenverbänden und Lerngruppen nicht ausgeschlossen. Ob diese zustande kommen, hängt aber letztlich weder von der Entscheidung der staatlichen Behörden noch ausschließlich von der der Religionsgemeinschaften ab, sondern letztlich von der Entscheidung der Erziehungsberechtigten bzw. Schüler.
Es ist jedoch die Pflicht des Staates, dafür zu sorgen, dass diese Wahl getroffen werden kann. Beim Vorliegen der erforderlichen Bedingungen kann er sich deshalb von dem simultanen Angebot des Religionsunterrichts der verschiedenen Religionsgemeinschaften nicht durch einen »Religionsunterricht für alle« – in wessen Trägerschaft auch immer – dispensieren. Religionsunterricht in gemischtkonfessionellen Klassenverbänden und Lerngruppen kann nicht der Ausgangspunkt oder die Vorgabe für die Erziehungsberechtigten bzw. Schüler sein, sondern allenfalls das mögliche Ergebnis von deren Entscheidung.
Dabei ist dem für den Religionsunterricht grundlegenden Text von Art. 7 Abs. 2 und 3 GG zu entnehmen, dass die inhaltliche Übereinstimmung des Religionsunterrichts mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften eine notwendige Bedingung dafür ist, dass Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach von Seiten des Staates anerkannt, ausgestattet, organisiert und beaufsichtigt wird. Aus der darauf bezogenen (bislang einzigen) Bundesverfassungsgerichtsentscheidung (= BVerfGE) von 19879 sowie aus der einschlägigen juristischen Fachliteratur10 geht ferner eindeutig hervor, dass diese Grundsätze sich auf Glaubensüberzeugungen beziehen müssen, die als wahre und deshalb gültige Aussagen in den jeweiligen Religionsgemeinschaften in Geltung stehen. Sie können nicht durch andere (seien es ethische, geschichtliche, psychologische, soziologische, pädagogische etc.) Aussagen ersetzt werden, auch nicht durch Meta-Aussagen über den Status religiöser Glaubensüberzeugungen oder durch methodologische Aussagen über die Durchführung des Religionsunterrichts.11 In diesem Sinne ist der mit dem GG übereinstimmende Religionsunterricht insofern notwendigerweise und unverzichtbar konfessioneller bzw. konfessorischer Religionsunterricht, als er – in evangelischer Terminologie formuliert – inhaltlich mit dem Bekenntnis (»confessio«) einer Religionsgemeinschaft übereinstimmt.
In dem durch ordnungsgemäß beauftragte Lehrkräfte der jeweiligen Religionsgemeinschaften erteilten Religionsunterricht geschieht die Vermittlung dieser Grundsätze mit Wahrheits- und Geltungsanspruch, also ihrer Bekenntnisse. Darin sind die einzelnen Religionsgemeinschaften untereinander unvertretbar, sofern und solange zwischen ihnen nicht volle (Kirchen- bzw. Religions-)Gemeinschaft besteht, die die wechselseitige theoretische und praktische Anerkennung der grundlegenden Überzeugungen und Ordnungen der betreffenden Konfessionen oder Religionen zum Inhalt hat.12
Welche Form der Kooperation beim aktuellen Stand der innerreligiösen, interreligiösen und interkonfessionellen Verhältnisse möglich oder gegeben ist, ist eine der Fragen, von denen die Zukunft eines pluralismus- und kooperationsoffenen Religionsunterrichts in je eigener Verantwortung der Religionsgemeinschaften bzw. Konfessionen mitbestimmt wird.
Der Auftrag, der dem Unterzeichner am 3. August 2018 von der »Nordkirche« erteilt wurde, hat folgenden Wortlaut:13
»Der Auftragnehmer verpflichtet sich zur Erstellung eines systematisch-theologischen Grundsatzgutachtens, das die theologische Verträglichkeit eines kooperativen Religionsunterrichts mit den Bestimmungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zum Religionsunterricht prüfen und dokumentieren soll. Das Gutachten soll insbesondere die im religionsverfassungsrechtlichen Orientierungsgutachten von Prof. Dr. Hinnerk Wißmann vom 20. Juli 2017 aufgeworfenen theologischen Fragestellungen berücksichtigen.«
Diesem Auftrag zufolge ist es die Aufgabe dieses systematisch-theologischen Grundsatzgutachtens, vor allem folgende Fragen zu prüfen und so weit wie möglich zu beantworten:
– Wie lauten die Bestimmungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zum Religionsunterricht? Was ist dazu dem Art. 7 Abs. 2 und 3 GG und der Entscheidung des BVerfG zu entnehmen? Welche Aussagen machen sie? Welchen Geltungsanspruch haben diese Texte bzw. Entscheidungen? Welchen Auslegungsspielraum eröffnen sie? Wie sind all diese Verfassungsaussagen und ihre rechtlichen Interpretationsmöglichkeiten aus theologischer Sicht zu beurteilen?
– Welche rechtlichen und organisatorischen Vorgaben sind den Verträgen zu entnehmen, die im Zeitraum von 2005 bis 2013 zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg und insgesamt fünf verschiedenen Religionsgemeinschaften bzw. Gemeinden oder Verbänden in Hamburg geschlossen wurden? Wie sind diese Vorgaben hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Art. 7 Abs. 2 und 3 GG und zur BVerfGE von 1987 zu beurteilen?
– Welche Aussagen macht das religionsverfassungsrechtliche Orientierungsgutachten von H. Wißmann zur möglichen verfassungsgemäßen Weiterentwicklung des RUfa in Hamburg? Welche theologischen Fragestellungen wirft es auf und wie sind diese zu beantworten?
– Was ist unter dem Modell eines pluralismus- und kooperationsoffenen Religionsunterrichts in je eigener Verantwortung der Religionsgemeinschaften zu verstehen? Wer sind die dafür in Frage kommenden Kooperationspartner und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Wie verhält sich dieser Religionsunterricht zu den Bestimmungen und Interpretationen von Art. 7 Abs. 3 GG und wie zu dem bisher praktizierten Hamburger Modell des »Religionsunterrichts für alle in evangelischer Verantwortung« (RUfa 1.0) aus theologischer Sicht?
Art. 7 Abs. 1–3 GG, die die entscheidenden Verfassungsaussagen zum Religionsunterricht enthalten, haben folgenden Wortlaut:
»(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.
(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.
(3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.«14
Diesem knappen Verfassungstext15 müssen und können in Verbindung mit der einzigen bisher beim Bundesverfassungsgericht angenommenen und entschiedenen Beschwerde zum Religionsunterricht16 die Begründungen und Unterscheidungen über den Spielraum künftiger Rechtsauslegungen und -entwicklungen entnommen werden, die für die Umsetzung von Art. 7 Abs. 1–3 GG in der schulischen Praxis maßgeblich sind. Damit ist eine Auslegungsaufgabe gestellt, die große Genauigkeit und Sorgfalt erfordert.
In diesem Text spielen folgende Unterscheidungen eine ausschlaggebende Rolle:
– die Unterscheidung zwischen der staatlichen Aufsicht, unter der (auch) der Religionsunterricht steht, und der Erteilung des Religionsunterrichts in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften;
– die Unterscheidung zwischen dem Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach in den öffentlichen Schulen und dem nur für dieses Lehrfach aufgrund seiner besonderen Qualität bestehendes Rechtes auf Teilnahmeverweigerung seitens der Erziehungsberechtigten bzw. Schüler17und auf Übernahmeverweigerung seitens der Lehrkräfte.
In beiden genannten Hinsichten besteht eine Spannung zwischen dem Charakter des Religionsunterrichts als ordentlichem Lehrfach (in den öffentlichen Schulen und unter staatlicher Aufsicht) einerseits und der Möglichkeit, über die Teilnahme am Religionsunterricht als Schüler oder als Lehrkraft des Faches zu entscheiden. Das gibt es bei keinem anderen ordentlichen Lehrfach, und das wäre auch grundsätzlich missverstanden, wenn man es im Sinne eines Wahlfachs interpretierte, das als zusätzliches Angebot neben den ordentlichen Lehrfächern von den Schulen vorgehalten wird.18
Will man den besonderen Charakter des Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen erfassen, muss man versuchen, diese Spannung in ihrer Begründung und Bedeutung nicht zu eliminieren, sondern zu verstehen. Dazu ist folgende Leitfrage geeignet: Wie ist es zu erklären, dass ein schulisches Lehrfach ausdrücklich als ordentliches Lehrfach ausgezeichnet wird, also weder ein Wahlfach noch ein Wahlpflichtfach ist, und gleichzeitig die lernende und lehrende Teilnahme an ihm der Entscheidung der betroffenen Erziehungsberechtigten und Lehrkräfte anheimgestellt wird? In der Charakterisierung als »ordentliches Lehrfach« ist ja implizit eine Auszeichnung des Religionsunterrichts als unverzichtbarer Bestandteil des Bildungskanons öffentlicher Schulen enthalten, die ihn von jeder Beliebigkeit klar unterscheidet. Aber eine solche Beliebigkeit scheint durch die Entscheidungsfreiheit von Erziehungsberechtigten und Lehrkräften hinsichtlich ihrer Teilnahme vorausgesetzt zu werden. Wenn man jedoch Letzteres als Ausdruck von Beliebigkeit versteht, hat man es (und das ganze Konstrukt des verfassungsmäßigen Religionsunterrichts) grundsätzlich missverstanden. Der Religionsunterricht wird – ganz im Gegenteil – als so wichtig vorausgesetzt, dass er als einziges Unterrichtsfach im Grundgesetz erwähnt und als ordentliches Lehrfach ausgezeichnet wird.19 Man wird nicht fehlgehen, wenn man zur Erklärung und Erläuterung dieser Tatsache zwei Begriffe heranzieht, die in der neueren Religionspädagogik und auch in dem Gutachten von Hinnerk Wißmann20 eine hervorgehobene Rolle spielen: »Identität(sbildung)« und »(religiöse) Beheimatung«21. Das besagt, dass sich die Wichtigkeit von Religion und Religionsunterricht aus deren existenzieller Funktion und Bedeutung für die Bildung des Menschen ergibt.22
Darin liegt auch der ausschlaggebende Grund dafür, dass das Grundgesetz den Staat als Träger des öffentlichen Schulwesens dazu verpflichtet, Religion als ordentliches Lehrfach in seinen Unterrichts- und Bildungskanon aufzunehmen, dass es ihm aber in diesem (und nur in diesem Fall) untersagt, den Inhalt dieses Unterrichtsfaches vorzugeben. Das ist vielmehr das exklusive Recht der Religionsgemeinschaften, in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen der schulische Religionsunterricht zu erteilen ist.23
Die existenzielle Funktion und Bedeutung der Religion und des Religionsunterrichts, wie sie in den Formeln »Identitätsbildung« und »religiöse Beheimatung« zum Ausdruck kommt, ist der ausschlaggebende Grund dafür, dass dieses Bildungsangebot auf die Öffnung und Zustimmung der davon betroffenen Personen angewiesen ist, ihnen also nicht wider Willen aufgenötigt werden darf.24 Würde deren Willensentscheidung in dieser höchstpersönlichen Frage nicht respektiert, so würde der aufgenötigte schulische Religionsunterricht den Betroffenen (Schülern oder Lehrkräften) zu nahe treten und seinerseits ihre Religionsfreiheit missachten.
Damit setzen die Bestimmungen in Art. 7 Abs. 1–3 GG über den Religionsunterricht die Aussagen von Art. 4 GG über die (positive und negative) Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit voraus. Diese sind ohne Gesetzesvorbehalt formuliert und können darum nur aufgrund anderer, gleichrangiger Verfassungsnormen, nicht aber durch einfache Gesetzgebung eingeschränkt werden.
Man kann sagen, dass die widersprüchlich wirkenden Spannungen in den Aussagen von Art. 7 Abs. 1–3 GG über den Religionsunterricht sich im Wesentlichen aus dem Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ergeben. Das ist nicht zu beanstanden oder umzuinterpretieren, sondern als Errungenschaft unserer Rechtskultur zu achten, anzuwenden und zu verteidigen.25 Es ist darum ein wesentliches Ziel des schulischen Religionsunterrichts, zum eigenverantwortlichen Gebrauch der Religions- und Weltanschauungsfreiheit anzuleiten und zu befähigen.
Dieses Ziel lässt sich freilich auf zweierlei Weise verstehen: entweder als bloß formale, inhaltlich unbestimmte Freiheit, die nicht mehr besagt als die Erlaubnis für jeden Menschen, »nach seiner Fasson selig zu werden«, oder zugleich als materiale, inhaltlich bestimmte Freiheit, wie sie zum Beispiel in der reformatorischen Orientierung an der »Freiheit eines Christenmenschen«26 zum Ausdruck kommt. Aber auch diese Entscheidung obliegt nicht dem Staat, sondern den Religionsgemeinschaften.