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Viele Menschen würden gerne an Gott glauben, aber sie können es nicht, weil sie intellektuelle oder emotionale Hindernisse verspüren. Sie würden Gott gern finden, die Leerstelle kann sogar wehtun, doch die Suche endet im deprimierenden Verdacht, an einem Phantomschmerz zu leiden. Wilfried Härle benennt in 19 Kapiteln gängige Einwände gegen den Gottesglauben, wie sie in der Alltagskommunikation, aber auch in Philosophie und Naturwissenschaft begegnen, und zeigt Wege zu ihrer Überwindung auf. Dabei geht es um das Leiden in der Welt, um das Verhältnis von Evolution und Schöpfungsglauben, um religiöse Gewalt, um den Glauben an Wunder, um den Sinn von Gebeten und vieles andere mehr. "Gott auf der Spur" sein ist keine Jagd nach dem Höchsten. Man kann Gott suchen und Barrieren aus dem Weg räumen, finden oder gar erlegen kann man ihn nicht. Letztlich ist Gott es, der den Menschen findet. Um das zu bemerken, braucht es aber ein offenes Herz, das von einem freien Verstand begleitet wird. Hier setzt Härle an. Seine Verstehenshilfen sind nicht nur für Menschen nützlich, die sich als ungläubig oder agnostisch bezeichnen, sondern ebenso Glaubende, die immer wieder mit Zweifeln ringen. Zu ihnen zählt sich auch der Autor selbst.
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Seitenzahl: 375
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Wilfried Härle
„… und hätten ihn
gern gefunden“
Gott auf der Spur
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.dnb.de> abrufbar.
© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig
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Cover: Nordsonne Identity GmbH, Berlin
Coverbild: © photocase | luxus
Satz: Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-374-04789-5
www.eva-leipzig.de
Dem dankbaren Andenken
an meine Eltern
Otto Härle (1906–1964)
und
Hedwig Härle, geb. Reidt (1915–1963)
Nicht alle Menschen suchen Gott. Manche meinen, sie hätten Gott schon längst gefunden und deshalb gebe es für sie in dieser Hinsicht nichts mehr zu suchen. Andere Menschen suchen Gott nicht, weil sie froh sind, dass sie den Gott losgeworden sind, an den sie früher einmal geglaubt haben, und weil sie dieses Loswerden nicht als Verlust, sondern als Gewinn, als Befreiung oder Entlastung erleben. Nicht wenige Menschen verfolgen den Gottesglauben – wo er ihnen begegnet – mit Ablehnung oder mit Hass in Form eines fanatischen, aggressiven Atheismus.1 Für wieder andere hat die Frage nach Gott in ihrem Leben noch nie eine Rolle gespielt. Tatsache ist jedoch: Viele Menschen suchen nach Gott. Sie drücken das häufig so aus: „Ich würde gerne an Gott glauben, aber ich kann es nicht.“
Aber auch Menschen, die an Gott glauben, können sich durch den Buchtitel: „… und hätten ihn gern gefunden“ angesprochen fühlen, wenn sie sich dessen bewusst sind, dass der Glaube an Gott verloren gehen kann oder dass Gott für sie geheimnisvoll, rätselhaft, verborgen und nicht fassbar ist. Wie Liebende einander nicht besitzen und über ihre Liebe zueinander nicht verfügen, so ist es auch mit dem Glauben an Gott. Wir haben ihn nur, indem er uns immer wieder zuteilwird. Und in diesem Sinn können auch Menschen, die an Gott glauben, zu denen gehören, die nach Gott suchen und hoffen, ihn immer wieder zu finden. Das alles soll der Obertitel des Buches zum Ausdruck bringen.
Die Worte „… und hätten ihn gern gefunden“ sind einem Textabschnitt aus dem biblischen Buch „Weisheit“ entnommen, das zusammen mit anderen Schriften zwischen dem Alten und dem Neuen Testament steht.2 Die Kapitel 13–14 des Buches „Weisheit“ handeln von der Anbetung weltlicher Elemente und Götterbilder. Darin werden die Menschen gelobt, die sich an der Schönheit der Welt erfreuen. Jedoch werden zugleich die Menschen getadelt, die diese Schöpfungswerke oder irgendwelche von Menschenhand gemachten Götterbilder für Gott bzw. Götter halten und sie anbeten. In diesen Textabschnitt ist ein Gedanke eingeschoben, den ich als feinfühlig empfinde. Er besagt, dass man den Menschen, die Gott nicht finden, nicht mit Tadel und Ablehnung begegnen soll, da sie Gott vielleicht suchen „und hätten ihn gern gefunden“ (Weisheit 13,6), aber es ist ihnen (noch) nicht gelungen.
Seit ich diesen Satz zum ersten Mal gelesen habe, hat er mich nicht mehr losgelassen. Er bringt gut die Haltung zum Ausdruck, in der ich dieses Buch schreiben wollte. Es geht mir jedenfalls nicht um Kritik am Unglauben. Welchen Sinn sollte die auch haben? Sondern es geht um eine Hilfestellung bei der Suche nach Gott im Sinne des persönlichen Glaubens an Gott. Und dahinter steht für mich die Überzeugung, dass es zum Wertvollsten im Leben eines Menschen gehört, wenn ihm ein solcher Glaube zuteilwird und erhalten bleibt, der Orientierung und Halt im Leben und im Sterben gibt.
Dieses Buch könnte freilich missverstanden werden als eine Art Ratgeber, durch den man dazu angeleitet wird, den Glauben an Gott zu erlernen, so, als bräuchte man nur jemanden, der einem zeigt, „wie es geht“, und man müsste das dann nachmachen, bis man es selbst kann. Aber so ist das mit dem Glauben an Gott nicht. Der Glaube muss uns persönlich gewinnen. Nichtsdestotrotz können Menschen einander dabei helfen, Hindernisse oder Klippen, die sich der Suche nach Gott in den Weg stellen und an denen man scheitern kann, zu überwinden. Insbesondere können sie sich gegenseitig auf Missverständnisse oder irreführende Vorstellungen aufmerksam machen. Sie können einander von ihrer eigenen Gottesvorstellung, Glaubenserfahrung und -praxis erzählen und sich dadurch gegenseitig Anregungen und Hilfestellungen geben. Deren Aneignung erfolgt jedoch nicht durch Nachahmung sondern durch Erfahrungen und Einsichten, die man nur für sich selbst machen und gewinnen kann, weil sie sich auf das eigene Leben beziehen und einem persönlich zur Gewissheit, zur Überzeugung oder wenigstens zu einer einleuchtenden Vermutung werden.
Manche Menschen wenden dagegen ein, an Gott glauben zu können sei eine Sache der Veranlagung oder Begabung, die sie eben nicht hätten. Sie bezeichnen sich oft als „religiös unmusikalisch“3. Dem möchte ich widersprechen. Glaube an Gott ergibt sich nicht aus Erbanlagen, sondern ist ein Vertrauen, das auf Gewissheit, Überzeugung oder zumindest auf Vermutung basiert. Es wird Menschen im Laufe ihres Lebens zuteil, wenn sie auf überzeugende Weise von Gott hören, eigene Erfahrungen mit Gott machen, den Mut gewinnen, sich Gott anzuvertrauen und ihm so zu begegnen.
Für viele Menschen (auch für mich) war es in ihrer Lebensgeschichte die erste Hinführung zum Glauben an Gott, dass ihre Eltern, Großeltern oder Geschwister sie mitgenommen haben zum Gottesdienst in eine Kirche oder Synagoge, in eine Moschee oder einen Tempel. An solchen Orten hören Menschen von Gott, können bewusst über Gott nachdenken und ihm begegnen. Viele Menschen erinnern sich an solche Erfahrungen aus ihrer Kindheit. Aber irgendwann haben sie den Kontakt dazu verloren, vielleicht, weil sie sich enttäuscht fühlten, weil ihnen anderes wichtiger wurde oder weil der Glaube sich nicht mit ihnen entwickelt hat, sondern stehengeblieben und irgendwann abgestorben ist. Aber die Erinnerung an den frühen Glauben und die Sehnsucht, so etwas wieder erleben zu können, bleiben oft lebendig und stellen wertvolle Anknüpfungspunkte dar.
Es gibt auch Menschen, die sich mit einer bestimmten gesellschaftlichen Strömung gegen den Glauben an Gott entschieden und dies dann auch durch ihren Kirchenaustritt dokumentiert haben. Sie tun sich meiner Beobachtung nach oftmals schwer, diese Entscheidung später zu revidieren, auch wenn sie einsehen, dass die damaligen Gründe für sie gar nicht mehr gelten. Durch die eigene Entscheidung und deren wiederholte öffentliche Bekundung schafft man Fakten, deren Korrektur viel Mut erfordert. Es erfüllt mich deshalb mit großer Bewunderung und Freude, wenn jemand von sich sagen kann, er habe durch die Begegnung mit einem Buch oder einer Person seinen verlorenen Glauben wiedergefunden, und wenn er daraus dann auch die entsprechenden Konsequenzen zieht.
Wer in einer ganz atheistischen Umgebung aufgewachsen ist und auch so erzogen wurde, hat den Glauben an Gott vielleicht nie als eine Wirklichkeit oder auch nur als eine eigene Möglichkeit kennengelernt, sondern nur davon gehört oder ihn an anderen Menschen von außen beobachten können. Und oftmals wird in solchen Umgebungen die Auffassung vertreten, an Gott glaubten nur Menschen, die lebensuntüchtig, rückständig oder intellektuell unterentwickelt seien. Solche Vorurteile werden am ehesten dadurch in Frage gestellt, dass man Erfahrungen macht, die das Gegenteil nahelegen, wenn man also Menschen begegnet, die an Gott glauben, aber lebenstüchtig, auf der Höhe ihrer Zeit und nicht dumm sind. Daraufhin wird man dann vielleicht nicht gleich selbst glauben, aber möglicherweise neugierig werden, sich öffnen, um zu prüfen, ob an diesem Glauben nicht doch „etwas dran“ sein könnte, das man bisher übersehen oder verkannt hat.
Aber sowohl bei denen, die eine Vorgeschichte mit dem Glauben an Gott haben, als auch bei denen, die so etwas nicht mitbringen, gibt es häufig Einwände und Vorbehalte gegen den Glauben an Gott, die sich gewissermaßen von selbst melden, sich aber nicht von selbst beantworten. Sie können den (Rück-)Weg zum Glauben erschweren oder gar versperren. Und es hilft wenig, wenn man im Blick darauf aufgefordert wird, diese Klippen, Barrieren oder Blockaden zu ignorieren und „einfach an Gott zu glauben“. Die Hindernisse sind ja da und haben ihre Ursachen und Gründe. Und deshalb müssen sie ernst genommen werden. Wenn man sich nicht mit ihnen auseinandersetzt, besteht die Gefahr, dass sie die Beziehung zu Gott (dauerhaft) blockieren. Deshalb gibt es auf Dauer kaum einen anderen Weg zum Glauben an Gott als einen, der diese Hindernisse in den Blick fasst, sich mit ihnen auseinandersetzt und sie zu überwinden versucht.
In diesem Buch möchte ich nach dem fragen, worum es beim Glauben an Gott geht und was für viele Menschen gegen oder für den Glauben an Gott spricht. Die folgenden Aufzählungen kann man als eine Ouvertüre zu den neunzehn Kapiteln dieses Buches lesen.
Wenden wir uns zunächst überblicksartig dem ersten Aspekt zu: Worum geht es beim Glauben an Gott? Da haben sich für mich die folgenden Fragen gestellt:
– Wie verhalten sich Glaube und Unglaube zueinander? Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um ein klares Entweder-Oder zu handeln. Das würden vermutlich viele Menschen, die an Gott glauben, ebenso sagen wie diejenigen, die nicht an Gott glauben. Was sollte es da zwischen Ja und Nein geben? Ein „vielleicht“ oder „ein bisschen“ oder „ab und zu“ wirkt vermutlich eher lächerlich. Aber ein „Ich bin mir nicht so sicher“ könnten sich wahrscheinlich viele Menschen nicht nur vorstellen, sondern auch zu eigen machen. Und der Satz: „Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn“4 klingt nicht nur ehrlich, sondern auch respektabel, ja anrührend.
– Wie verhalten sich Glaube und Zweifel an Gott zueinander? Den meisten Menschen, die an Gott glauben, ist bewusst, dass der Zweifel und die Ungewissheit den Glauben begleiten und begleiten dürfen. Manche Menschen, die nicht an Gott glauben, kennen sogar den Zweifel an ihrem Unglauben. Vermutlich gilt das nur selten für die Menschen, in deren Leben (durch Erziehung und Umgebung) der Gottesglaube nie eine Rolle gespielt hat oder denen der Glaube „abhanden gekommen“ ist. Man spricht in diesem Fall seit einiger Zeit von „Gewohnheitsatheismus“.
– Wie verhalten sich Glaube und Wissen sowie Vernunft zueinander? Besteht zwischen beiden ein Gegensatz oder ergänzen sich beide und gehören zusammen? Ist Glaube ein Ersatz für Wissen, braucht er eine Lücke im Wissen, in der er einen Platz finden kann, oder ist er – in Form des Vertrauens auf das, was einem Menschen gewiss geworden ist – sogar eine unverzichtbare Voraussetzung für alles Wissen und jede Wissenschaft?
– Ist Gott eine übermenschliche Person (mit oder ohne Bart) oder eine überpersönliche Wirklichkeit (Kraft, Intelligenz, Vernunft etc.)? Oder enthält schon diese Frage eine falsche Alternative? Lenkt Gott das Weltgeschehen (zu einem guten Ziel)? Greift Gott in den natürlichen Ablauf der Welt ein? Hört und erhört Gott Gebete? Tut Gott Wunder? Setzt Gott gelegentlich die Naturgesetze außer Kraft? Oder hat Gott diese Welt erschaffen und überlässt sie nun ihren Gesetzen und den Entscheidungen der Menschen?
– Welche gesellschaftliche Bedeutung hat der Glaube an Gott? Gott wird z.B. im deutschen Grundgesetz und in mehreren Landesverfassungen als die Größe genannt, vor der sich das Volk auch bei seiner Verfassungs- und Gesetzgebung verantwortlich weiß. Worin konkretisiert sich diese Verantwortung vor Gott? Sicher auch und vorrangig in der Achtung und dem Schutz der Religionsfreiheit, sodann auch in einer durch Feiertage und Feste geprägten Kultur. Was bedeutet das unter multireligiösen Bedingungen? Und – vor allem – ist diese Selbstverpflichtung auch für Atheisten zumutbar?
– Welche persönliche Bedeutung hat der Glaube an Gott für Menschen? Geht es nur darum, ob man davon überzeugt ist, dass es „etwas Höheres“ oder „ein höheres Wesen“ gibt, das man „Gott“ nennen kann, oder geht es darum, welche Rolle der Glaube an Gott und die Wirklichkeit Gottes für das eigene Leben spielen, ob und wie Gott im Fühlen, Wollen, Denken und Erleben von Menschen vorkommt und erfahren wird? Verleiht der Glaube an Gott Menschen Selbstbewusstsein, Mut zur Wahrhaftigkeit und zum Engagement, macht er frei oder macht er sie unsicher, ängstlich, zwanghaft? Woran können Kinder und Enkel erkennen, dass für ihre Eltern und Großeltern der Glaube an Gott eine das Leben tragende und orientierende Bedeutung hat?
– Hat die Welt einen ihr vorgegebenen Sinn? Ist dieser Sinn für uns erkennbar? Reicht dafür unsere menschliche Vernunft oder sind wir dafür auf Offenbarung angewiesen? Wie verhält sich Gott zu diesem Sinn der Welt? Verleiht Gott der Welt erst ihren Sinn, oder ist Sinnstiftung unsere rein menschliche Aufgabe? Machen wir also das, was wir den „Sinn der Welt und des Lebens“ nennen?
– Können Menschen Gott aus eigener Kraft finden, oder können wir Gott nur dann und dadurch erkennen, dass er sich für uns erkennbar macht und sich uns erschließt? Wovon hängt es ab, ob wir Gott finden und er sich von uns finden lässt? Gibt es dafür bestimmte Methoden und Techniken? Oder hat das gar nichts mit menschlichem Suchen zu tun? Ist das Suchen nach Gott verheißungsvoll für das Finden? Welche Rolle kann dabei das Gebet spielen?
– Was würde einem Menschen ohne den Glauben an Gott fehlen? Nichts? Alles? Eine überwachende, kontrollierende, bestrafende oder belohnende Instanz? Der entscheidende Halt im Leben und im Sterben? Ein Adressat für Klage und Lob, für Bitte und Dank? Ein wichtiger Beweggrund für soziale Verantwortung? Das, was die Welt im Innersten zusammenhält? Das, was mich unbedingt angeht? Einer, der mich bedingungslos annimmt und liebt?
Und dann geht es um die Schwierigkeiten mit dem Glauben an Gott, um die „Steine“, die einem dabei im Weg liegen können:
– Eine atheistische Erziehung, die programmatisch-ideologisch oder durch sogenannten „Gewohnheitsatheismus“ begründet sein kann. Könnte es sein, dass dadurch Frage- und Wahrnehmungsmöglichkeiten gar nicht erst ausgebildet werden, an die der Glaube „andocken“ kann? Oder ist gerade eine solche atheistische Erziehung auch eine Chance für einen ganz frischen, unverbrauchten Zugang zum Glauben an Gott, den andere so nicht haben, weil „Gott“ immer schon irgendwie zu ihrer Welt und ihrem Leben gehörte?
– Die Unsichtbarkeit Gottes. Von Dietrich Bonhoeffer stammt der Stoßseufzer: „Die Unsichtbarkeit [und gemeint ist die Unsichtbarkeit Gottes] macht uns kaputt.“5 Wir leben in einer Welt und in einer Gesellschaft, in der das Überprüfen von Behauptungen, Nachrichten oder Theorien durch das, was man sehen (und möglichst fotografieren) kann, eine große Rolle spielt. Was folgt daraus für den Zugang zum Glauben an Gott? Welche Rolle könnten in dieser Hinsicht die Person Jesu Christi6 oder die notleidenden Mitmenschen7 spielen?
– Die übertragene, bildhafte Sprache, in der von Gott geredet wird. Verbaut diese übertragene Sprache eher den Zugang zum Glauben an Gott oder macht sie neugierig und weckt Interesse daran so wie die Sprache der Poesie, die wir aus Märchen, Gedichten und Liedern kennen? Oder sind diese poetischen Sprachformen unserer naturwissenschaftlich-technisch geprägten Gesellschaft und Zeit fremd geworden und nur schwer zugänglich?
– Infantile Vorstellungen von Gott. Viele Menschen lernen von ihrer Kindheit an ein Bild von Gott und vom Himmel kennen, das sich im Lauf ihrer geistigen Entwicklung als ein naives Fantasieprodukt (wie Osterhase oder Weihnachtsmann) erweist. Wenn das Gottesbild nicht mitwächst und -reift, wird es oft abgelegt oder weggeworfen als ein illusionärer, überholter Restbestand aus vergangenen Tagen, den man als Erwachsener nicht mehr braucht. Gibt es demgegenüber Formen eines reifen, erwachsenen Gottesbildes? Wie sehen sie aus?
– Die Unterschiede oder Widersprüche zwischen den Gottesbildern der verschiedenen Religionen und Konfessionen. Erschwert es Menschen den Zugang zum Glauben an Gott, dass schon das Gottesbild des Alten Testaments bzw. des Judentums und das Gottesbild des Neuen Testaments bzw. des Christentums und erst recht das Gottesbild des Islam und die Gottesbilder des Hinduismus und der anderen Religionen in vielen Punkten voneinander abweichen? Oder ist diese Vielfalt eine Chance, weil sie das Vergleichen und „Auswählen“ ermöglicht?
– Das Leiden und Böse in der Welt (das Theodizeeproblem). Für sehr viele Menschen sind das Böse, das Leiden, die Ungerechtigkeit, sind die Schicksalsschläge und Naturkatastrophen, die es in der Welt gibt, ein Hauptargument für ihren Unglauben. Das können auch viele Menschen verstehen, die an Gott glauben. Warum halten sie trotzdem an ihrem Gottesglauben fest?
– Die mangelnde Glaubwürdigkeit der Menschen, die an Gott glauben. Zu den häufig genannten Schwierigkeiten mit dem Glauben an Gott gehört für viele Menschen die Erfahrung, dass Gläubige und auch die offiziellen Vertreter der Religionen sich oft so verhalten, dass das mit dem Glauben an Gott nicht vereinbar zu sein scheint. Das kann sich auf deren unmoralischen Lebenswandel oder ihr liebloses, rücksichtsloses Verhalten beziehen oder auch auf deren offenkundigen Unglauben. Darum ist für viele Menschen überzeugendes ethisches Handeln viel wichtiger als ein religiöser Glaube an Gott.
–Gewalt, die von Religionen ausgeht oder zwischen Religionen oder Konfessionen ausgeübt und ausgetragen wird. In der Geschichte aller Religionen tauchen vielfach gewaltsame Auseinandersetzungen auf, durch die Menschen ihrer Freiheit beraubt wurden, schwer gelitten oder sogar ihr Leben verloren haben. Die Tatsache, dass das auch für nicht-religiöse oder anti-religiöse Weltanschauungen gilt, entschuldigt die Religionen nicht, zeigt aber, dass die Gewaltbereitschaft offenbar nicht (nur) am Gottesglauben hängt, sondern daran, ob Menschen ihre Religion und Weltanschauung als Mittel zur Unterwerfung anderer einsetzen. Lässt sich das beim Glauben an Gott oder durch ihn auch überwinden?
– Die Rolle, die das Verhältnis des Männlichen und Weiblichen zueinander in den Religionen spielt. Dabei entsteht bei vielen Menschen der Eindruck, insbesondere die monotheistischen Religionen seien in ihren Gottes- und Menschenbildern männlich dominiert und würden die Dominanz des Männlichen sogar noch religiös legitimieren. Für Frauen seien in den Religionen oft nur untergeordnete, dienende, teilnehmende Rollen vorgesehen, während Einfluss und Macht sich (auch) in den Religionen bei den Männern und bei männlichen Vorstellungen, Denkweisen und Strukturen versammeln.
– Eine rein naturalistische Erklärung der Weltentstehung und des Weltgeschehens z.B. durch Urknall und Evolution. Dadurch scheint der Glaube an eine göttliche Erschaffung der Welt und an Gott als Schöpfer und Lenker der Welt überflüssig geworden zu sein. Demgegenüber verstehen Menschen, die an Gott glauben, die Schöpfungserzählungen und die naturwissenschaftliche Welterklärung heutzutage in der Regel nicht (mehr) als Gegensatz, sondern als zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen der Welt, die sich auf den Ursprung und auf die Entwicklung des Universums beziehen. Ist das nachvollziehbar?
– Enttäuschungen über nicht erhörte Gebete. Viele Menschen beten in Notsituationen zu Gott um Hilfe. Bleibt diese Hilfe aus, kann das zur Erschütterung ihres Glaubens an Gott führen. Und das ist umso eher der Fall, wenn das, worum ein Mensch gebetet hat, etwas Wichtiges, vielleicht Lebensentscheidendes ist. Andererseits haben viele Menschen die Erfahrung gemacht, dass sie in ausweglos erscheinenden Situationen zu Gott um Hilfe, Heilung oder Rettung gebetet haben und das Erbetene eintraf. Sehr oft haben diese Menschen damit eine Gottes- und Glaubensgewissheit gewonnen, die für sie unerschütterlich ist.
– Wie ist menschliche Freiheit und Verantwortung mit Gottes Allmacht vereinbar? Gottes Allmacht scheint die Menschen zu einer Art Marionetten zu machen. Nur wenn Gottes Allmacht von einer Alleinwirksamkeit Gottes unterschieden werden kann, hebt der Gottesglaube menschliche Handlungsfreiheit und Verantwortlichkeit nicht auf. Aber (wie) ist das denkbar?
– Nimmt der Gottesglaube dem Menschen nicht seine eigene Stärke? Viele Menschen und manche Weltanschauungen sind der Auffassung, dass der Glaube an Gott nur etwas ist für schwache, lebensuntüchtige Menschen, die nicht ohne Ausrichtung auf ein „höheres Wesen“ mit dem Leben zurechtkommen. Sie würden sicher nicht viel anfangen können mit der Aussage des dänischen Religionsphilosophen Søren Kierkegaard, der gesagt hat: „Gottes bedürfen, ist die höchste Vollkommenheit des Menschen.“8 Inwiefern liegt in diesem Satz Wahrheit?
Es geht mir in diesem Buch um eine möglichst umfassende und ehrliche Beschäftigung mit dem Gottesglauben und mit den Gründen gegen und für ihn. Ich hoffe, dass möglichst viel von dem, was Leserinnen und Leser an Zweifeln und Kritik, aber auch an Überzeugungen und Gewissheiten im Blick auf den Gottesglauben mitbringen, in diesem Buch tatsächlich vorkommt. Wo das nicht der Fall ist, bin ich für Rückmeldungen sehr dankbar.
Wenn ich versuche, möglichst viele andere Auffassungen und Glaubensweisen in den Blick zu nehmen und zu würdigen, kann ich das freilich nicht von einem Standpunkt jenseits der Religionen und Weltanschauungen tun, sondern nur von meinem christlichen Glauben aus. Der Glaube an Gott ist ja etwas, was einen Menschen in der Mitte und Tiefe seines Lebens, Fühlens, Wollens und Denkens berührt und bestimmt. Das kann man nicht beliebig wechseln, wie man ein Kleidungsstück ablegt, um vorübergehend ein anderes anzuziehen. Ich will aber versuchen, mich so in die Gedanken, Einwände und Anfragen anderer hineinzuversetzen, dass sie sich jedenfalls verstanden fühlen. Ich hoffe, dass es auf diese Weise gelingt, über die Grenzen der unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen hinweg zu kommunizieren, also zu verstehen, verständlich zu sprechen und verstanden zu werden.
Bei der Beschäftigung mit den einzelnen Aspekten des Glaubens an Gott zitiere oder referiere ich möglichst seltenim Haupttext des Buches die Auffassungen großer Theologen, Philosophen oder Religionskritiker, sondern versuche, deren Gedanken in meinen eigenen Worten wiederzugeben. Die Hinweise auf die Quellen, auf die ich mich dabei beziehe, finden sich in den Anmerkungen. Man soll das Buch auch ohne Blick in die Anmerkungen lesen und verstehen können. Bibeltexte zitiere ich grundsätzlich nach der Luther-Übersetzung9, die mir von Kindheit an vertraut ist und deren Sprachkraft unbestritten ist. Wer dieses Buch gründlich lesen und auch die jeweiligen Begründungen überprüfen will, sollte möglichst eine Bibel (und an den einschlägigen Stellen auch einen Koran10) zur Hand haben.
Für ihre Mitwirkung an der Entstehung dieses Buches habe ich vor allem folgenden Personen zu danken:
Frau Dr.Annette Weidhas von der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig hat dieses Buchprojekt von Anfang an mit Interesse und Schwung gefördert und begleitet.
Meine Ehefrau, Dr.Ilze Ķezbere-Härle, war (auch) bei diesem Buch meine unermüdliche erste Leserin und Ratgeberin. Sie hat mir eine Fülle konkreter kritischer und konstruktiver Anregungen gegeben und so das Buch von einer Bearbeitungsstufe zur anderen vorangebracht. Ihr Anteil am Werden dieses Buches ist gewaltig.
Mein ehemaliger Doktorand Dr.Ralph Charbonnier hat mich im Jahr 2013 während seiner Tätigkeit als Superintendent in Burgdorf zu einem gut besuchten Workshop über dieses damals erst geplante Buch in seine Gemeinde eingeladen. Das war für mich eine anregende und inspirierende Erfahrung, für die ich ihm und den anderen Teilnehmern auch auf diesem Weg danken möchte.
Meine Freunde Dr.Harald Goertz, der im Bereich der Wirtschaft tätig ist, der deutsch-amerikanische Architekt Klaus Philipsen aus Baltimore und vor allem der Berliner Philosoph Prof.Dr.Holm Tetens haben das Manuskript während seines Entstehens aufmerksam, wohlwollend und kritisch mitgelesen und mir durch ihre Fragen, Einwände und Hinweise viele wichtige Anregungen gegeben. Ihnen allen gilt ebenfalls mein herzlicher Dank.
Gewidmet ist dieses Buch dem Andenken an meine schon vor mehr als 50 Jahren verstorbenen Eltern, die mir vom Anfang meines Lebens an den Glauben an Gott zugänglich gemacht haben. Dafür bin ich ihnen bleibend dankbar.
Ostfildern, Reformationsfest 2016Wilfried Härle
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Vorwort
1 An Gott glauben – dürfen oder sollen?
2 Schöpfungsglaube und/oder Evolutionstheorie?
3 Ist ewig nicht zu lang?
4 Und wo bleibt die Vernunft?
5 „Gott als Geheimnis der Welt“
6 Kann man an einen dreieinigen Gott glauben?
7 Was ist Gottes Wesen?
8 Wie passt das Übel in der Welt zu Gottes Liebe?
9 Was kann man von Gottes Liebe lernen?
10 „Ich brauche keine Religion, Ethik reicht mir“
11 Ein patriarchaler Gott – für eine Männerwelt?
12 „In der Religion gibt es keinen Zwang“
13 Ein Gott, aber viele Religionen
14 Politische Grundentscheidungen in Verantwortung vor Gott
15 „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“
16 Wie wirkt Gott in unserer Welt?
17 Ist Gott zu fürchten?
18 Ich schäme mich des Evangeliums – nicht
19 Über Gott und die Welt
Anmerkungen
Literaturhinweise
Abkürzungsverzeichnis
Register
Bibelstellen
Namen
Begriffe
Weitere Bücher
1
1.1 „WIR DURFTEN NICHT GLAUBEN“
Bei der Tagung eines Kirchenvorstandes12 zum Thema „Der christliche Glaube in reformatorischer Sicht“ befassten wir uns mit der Frage: „Was bedeutet der christliche Glaube mir persönlich?“ In einer ruhigen, nachdenklichen Atmosphäre tauschten die Teilnehmer ihre Erfahrungen – einschließlich der Zweifel und kritischen Fragen – aus. Als gemeinsamer Tenor der Gesprächsbeiträge zeichnete sich ab: Der Glaube gibt uns Halt, Zuversicht und Kraft insbesondere in schwierigen Situationen.
Auch eine Frau, die ihre Kindheit und Jugend in der ehemaligen DDR in einem atheistischen Elternhaus verbracht hatte, beteiligte sich nach einer Weile an dem Gespräch – zuerst stockend und zögernd. „Wir durften nicht glauben“, sagte sie. „Im Bücherschrank meiner Eltern stand das kommunistische Manifest und andere marxistische Literatur, aber keine Bibel und keinerlei christliche Literatur. Das wurde nicht geduldet. Glauben war verboten.“ Während sie das sagte, stiegen ihr Tränen in die Augen, gegen die sie – vergeblich – ankämpfte. „Wir durften nicht glauben“, wiederholte sie leise, und dabei wurde das Weinen allmählich immer stärker, wofür sie sich mehrmals entschuldigte. Wir anderen signalisierten, dass es da nichts zu entschuldigen oder zu unterdrücken gebe. Ich glaube, wir alle empfanden diese Tränen als einen authentischen Ausdruck für die tiefe Erschütterung, die sich angesichts der Erinnerung an die damalige Situation bei der Frau einstellte.
Sie sagte dann nur noch mit wenigen Worten, dass sie nach der „Wende“ zu einer evangelischen Gemeinde Kontakt bekommen habe und dort zum Glauben an Jesus Christus gekommen sei – und dafür sei sie unendlich dankbar.
Die Gruppe nahm das still und ohne irgendwelche Wortbeiträge entgegen. Ich hatte den Eindruck, dass die anderen genau wie ich soeben eine für uns völlig neue, uns aber in der Tiefe anrührende Erfahrung gemacht hatten: Ein Mensch muss fassungslos weinen in der Erinnerung an eine Situation, in der ihm der Zugang zum Glauben von außen verwehrt worden war.
Ich dachte später, so würde es mir vielleicht ergehen, wenn ich in völliger Dunkelheit zusammen mit einem oder mehreren meiner Enkelkinder an einem lebensgefährlichen, ungesicherten Abgrund entlanggegangen wäre, ohne es zu wissen und zu bemerken, aber am folgenden Tag erneut an diese Stelle käme und sähe, in welcher Gefahr wir geschwebt waren. Ich würde dann wohl auch den Schrecken so erleben, als sei ich jetzt in dieser bedrohlichen Lage, in der es um Leben oder Tod geht.
Wahrscheinlich war keiner von uns anderen, die wir im „Westen“ mit freiem Zugang zu Kirche und Glauben aufgewachsen waren, jemals in einer Situation gewesen, in der der Satz galt: „Wir durften nicht glauben“. Wohl aber erinnerten sich einige daran, dass von ihnen erwartet worden war, sie sollten häufiger in die Kirche gehen und beten. Und diese Erinnerungen waren eher negativ besetzt.
1.2 BEWEISBARES WISSEN STATT RELIGIÖSEM ABERGLAUBEN
Was mag die Eltern jener Frau bewogen haben, ihr Kind von jeder Form christlichen Glaubens und vom Zugang zur Kirche fernzuhalten? Ich gehe davon aus, dass sie es – ebenso wie andere Eltern auch – mit ihrem Kind nur gut gemeint haben. Wahrscheinlich wollten sie, dass die schulische und berufliche Laufbahn ihrer Tochter nicht durch Hindernisse und Schikanen beeinträchtigt wird. Vermutlich wollten sie vermeiden, dass ihr Kind gesellschaftlich in eine Außenseiterposition gerät, die mit allen möglichen Nachteilen verbunden sein könnte. Und hinter beidem kann die Überzeugung der Eltern gestanden haben: Wir tun unserem Kind etwas Gutes, wenn wir es im Geist des Atheismus erziehen (lassen) und von allem religiösen „Aberglauben“ möglichst fernhalten. Darin käme dann ihre eigene weltanschauliche Überzeugung zum Ausdruck.
Dafür haben sie ihrer Tochter freilich einen unverantwortlich hohen Preis zugemutet: Sie haben ihr die Freiheit vorenthalten, selbst nach der Wahrheit zu suchen und sich für das als richtig Erkannte zu öffnen und zu entscheiden.
Gelegentlich wird eingewandt, dasselbe passiere doch, wenn z.B. Christen ihre Kinder in einem unmündigen Alter taufen lassen und so über deren religiöse Zugehörigkeit und Prägung entscheiden. Dieser Einwand ist dann gültig, wenn mit der Taufe eine Erziehung verbunden ist, durch die die Kinder systematisch von der Begegnung mit anderen Religionen oder Weltanschauungen abgeschirmt werden. Die Kindertaufe selbst ist jedoch keine Einschränkung der Freiheit, da sie keine Verpflichtung für das Kind bedeutet, sondern eine bedingungs- und vorbehaltlose Zusage Gottes an das Kind darstellt, die dieses im Lauf seines Lebens für sich annehmen, ignorieren oder ablehnen kann. Die Kindertaufe enthält allerdings die Verpflichtung der Eltern und Paten, dem Kind dabei zu helfen, diese Zusage Gottes verstehen und annehmen zu können. Insofern schafft die Kindertaufe, wenn sie nicht zur Indoktrination missbraucht wird, für das Kind allererst die Freiheit zu einer Entscheidung und verhindert sie nicht etwa.
Religiöse Erziehung aus weltanschaulichen Gründen abzulehnen, ist eine Position, die auch außerhalb des sogenannten real existierenden Sozialismus – vor und nach 1989 – mit viel Zustimmung rechnen kann. Zwar galt es im Westen eher als vorteilhaft, sich nicht offensiv oder gar aggressiv vom Christentum abzugrenzen, aber Religion, Glauben, Kirche für wissenschaftlich überholt zu halten, spiegelt keine ausgesprochene Minderheitsposition wider. Vielen Menschen scheint das Wissen, für das die Wissenschaft steht, dem Glauben, mit dem es die Religion zu tun hat, weit überlegen zu sein. Dafür stehen allerhand verbreitete Redensarten, z.B. der bekannte Zwischenruf: „Wir sind hier nicht in der Kirche. Sie sollen nicht glauben, sondern etwas wissen!“ Pointiert kommt diese Überzeugung wohl immer noch in dem Satz zum Ausdruck: „Glauben heißt: nicht(s) wissen.“ Und wer möchte schon unwissend, also dumm dastehen und das vielleicht auch noch öffentlich kundtun? Die Frage ist aber: Stimmt denn dieser Gegensatz?
1.3 SIND GLAUBE UND WISSEN GEGENSÄTZE?
a) „Nur was wir glauben, wissen wir gewiss“13
Das Zitat, das die Überschrift zu diesem Unterabschnitt bildet, stammt nicht von einem Kirchenvater oder Theologen, sondern von dem Schriftsteller und Zeichner Wilhelm Busch, der sich vor allem als der Schöpfer von „Max und Moritz“ einer weiten Bekanntheit erfreut. Der Satz bildet sogar so etwas wie das Lebensmotto dieses norddeutschen Humoristen und Philosophen. Wie kann man zu einer solch überraschenden Überzeugung kommen?
Das ist sicher nicht möglich, wenn man sich am Allerweltsgebrauch des Wortes „glauben“ orientiert, von dem unsere Sprache durchzogen ist. Demnach bedeutet „glauben“ so viel wie „meinen“, „vermuten“, „für wahrscheinlich halten“ – aber jedenfalls nicht wissen. Da ist es zum Beispiel ganz gebräuchlich zu sagen: „Ich weiß nicht sicher, ob sie heute noch kommt, aber ich glaube schon“. Bei diesem Sprachgebrauch steht das Wort „glauben“ für etwas Ungewisses, Unbewiesenes, bloß Vermutetes. Wer annimmt, dass das auch der Sinn des Wortes „glauben“ ist, wie es auf Gott angewandt und im Glaubensbekenntnis gebraucht wird, der muss geradezu auf den Verdacht kommen, beim Glauben an Gott gehe es um eine ganz ungewisse Sache, um eine bloße Vermutung, jedenfalls um das Gegenteil von Wissen und Gewissheit.
Aber man muss nur einmal die Worte: „Ich glaube an Gott“ kurz auf sich wirken lassen, um schon an der Formulierung „Ich glaube an“ zu merken, dass hier in einem ganz anderen Sinn von „glauben“ die Rede ist. Und auch diese andere Verwendung und Bedeutung von „glauben“ ist uns aus der Umgangssprache vertraut. Wenn wir sagen, dass wir an etwas oder an jemanden glauben, dann bringen wir nicht eine vage Vermutung zum Ausdruck, sondern eine Zuversicht und ein Vertrauen, die möglicherweise unerschütterlich sind. Und dasselbe gilt, wenn wir zu einem Menschen, der z.B. der Lüge bezichtigt wird, den kleinen, aber gewichtigen Satz sagen: „Ich glaube dir!“
In diesen beiden Fällen ist „Glauben“ geradezu das Gegenteil von bloßem Vermuten, Meinen oder Für-möglich-Halten. Es ist Ausdruck einer festen Überzeugung und Gewissheit. Und insofern kann man mit Wilhelm Busch sagen, dass der so verstandene Glaube ein Wissen zum Ausdruck bringt, das für einen Menschen „ganz gewiss“ ist, so gewiss, dass er unter Umständen sogar bereit wäre, für diese Gewissheit Nachteile, Opfer bis hin zum Lebensopfer in Kauf zu nehmen. Aber kann und sollte man das deshalb tatsächlich als Wissen bezeichnen?
b) „Man muss bereits etwas glauben, um überhaupt von Wissen oder Wissenschaft reden zu können“14
Auch dieses ungewöhnliche Zitat stammt nicht von einem Theologen oder Kirchenmann, sondern von einem der bekanntesten Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts: Wolfgang Stegmüller. Wie kommt ein so exzellenter Kenner und Vertreter der neuesten Philosophie und Wissenschaftstheorie zu einer so kühnen Vorordnung des Glaubens vor alles Wissen und alle Wissenschaft?
Er stellt sich eine sehr allgemeine, gut nachvollziehbare Frage und beantwortet sie so ehrlich wie möglich. Die Frage lautet: Auf welchen Voraussetzungen beruhen alles Wissen und alle Wissenschaft? Bei der Beantwortung dieser Frage stößt man zunächst auf eine Unterscheidung im Bereich der Wissenschaften: die Unterscheidung zwischen erfahrungsorientierten, also empirischen Wissenschaften, wie z.B. Physik, Medizin, Soziologie, und theoretischen Wissenschaften, wie z.B. Logik oder Mathematik.15
Die Antwort auf die Frage nach den Voraussetzungen des Wissens und der Wissenschaft fällt in einem ersten Schritt unterschiedlich aus, je nachdem, ob man sie im Blick auf empirische oder theoretische Wissenschaften stellt. Die empirischen Wissenschaften basieren auf Beobachtung, Messung, Experiment etc. und damit jedenfalls immer auf sinnlicher Wahrnehmung. Die kann uns aber täuschen und irreführen, wie wir aus eigener Erfahrung wissen. Wenn wir Zweifel an der Verlässlichkeit unserer Wahrnehmungsergebnisse bekommen, z.B. weil andere zu anderen Resultaten gekommen sind, dann werden wir die gefundenen Ergebnisse überprüfen, die Experimente (vielleicht unter veränderten Bedingungen) wiederholen, die eigenen Daten mit denen anderer abgleichen. Damit können wir möglicherweise unsere bisherigen Schlussfolgerungen korrigieren und sogar die Fehlerquelle herausfinden, die uns irregeführt hat. Aber auch diese neuen Resultate unterliegen grundsätzlich denselben Bedingungen: Wir können uns auch hier täuschen oder irregeführt werden. Und das gilt für jede mögliche Überprüfung. Aber vermutlich wird sich bei solchen Überprüfungen im Laufe der Zeit etwas einstellen (und sogar zunehmen), was für die wissenschaftliche Arbeit ebenso wie für das Alltagswissen unverzichtbar ist: das unmittelbare Gefühl der Gewissheit, das uns sagt: „So ist es!“ Irgendwann sehen wir vielleicht keinen vernünftigen Grund mehr, an unseren Ergebnissen zu zweifeln, auch wenn wir eines nicht können: beweisen, dass es so und nicht anders ist. Denn beweisen können wir etwas nur dadurch, dass wir es in gültigen logischen Schritten aus wahren Voraussetzungen ableiten können.16 Das heißt: Wir müssen die Wahrheit der Voraussetzungen und die logische Gültigkeit der Ableitungsschritte immer schon voraussetzen. Und an sie müssen wir – um mit Stegmüller zu sprechen – „glauben, um überhaupt von Wissen oder Wissenschaft reden zu können“.
Und prinzipiell dasselbe gilt auch für die theoretischen Wissenschaften, die zwar nicht von Sinneswahrnehmungen, Beobachtungen, Messungen und Experimenten abhängen, wohl aber von den logischen oder mathematischen Voraussetzungen, also Prämissen, die man häufig als Axiome bezeichnet. Auch sie könnten wir nur beweisen, wenn wir sie in gültigen logischen Schritten aus anderen wahren Voraussetzungen ableiten könnten. Auch solche Prämissen und Axiome können uns „ganz gewiss“ sein, aber beweisen können wir sie nicht. Unser Wissen basiert auch in diesem Bereich auf Gewissheit und Glauben. Das ist nicht zu kritisieren, aber es ist gut, das festzustellen und ernst zu nehmen.
Das gilt auch für Glaubensaussagen und theologische Aussagen. Wir können sie nicht beweisen, aber wir können ihrer (mehr oder weniger) gewiss sein und sie deswegen glauben. Insofern ist der behauptete Gegensatz zwischen Wissen und Glauben irreführend. Beides basiert auf Gewissheit, die uns im Lauf unseres Lebens zuteilwird, die durch Zweifel in Frage gestellt werden und sich verändern kann, die sich aber nicht beweisen lässt.
1.4 WIE KÖNNEN WIR GOTT ERKENNEN?
Trotzdem gibt es wesentliche Unterschiede zwischen dem Glauben an Gott und der wissenschaftlichen Erforschung der Welt. Die entscheidenden Unterschiede liegen einerseits in dem, worauf sich das Erkennen ausrichtet, und andererseits in den Quellen der Erkenntnis, aus denen wir dabei schöpfen können.
Der Glaube an Gott richtet sich auf den Ursprung, welcher der Welt und dem menschlichen Leben sein Dasein gibt. Das heißt konkret: sein Woher, sein Wozu und sein Wohin. Damit richtet sich das Erkennen des Glaubens auf Gott in Beziehung zur Welt und auf die Welt und den Menschen in Beziehung zu Gott. Wer als glaubender Mensch von Gott spricht, macht damit zugleich immer auch eine Aussage über sich selbst und seine Welt. In beeindruckender Kürze und Fülle hat Martin Luther das mit dem Satz aus seinem Kleinen Katechismus getan, in dem er erklärt, was es heißt, an Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde zu glauben: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen.“ (UG, S.470).
Und wodurch können wir das erkennen?17 Was sind also die Quellen der Gotteserkenntnis? Gott wird als schöpferischer Ursprung erkennbar durch die von ihm geschaffene Welt als sein Werk. Die Welt einschließlich unseres eigenen Lebens wird dadurch zu einem Zeichen, das auf Gott als ihren Ursprung, ihren Sinn und ihr Ziel verweist und an dem wir ihn – tastend18 – erkennen können.19 Für viele Menschen sind das die wunderbaren Erscheinungen von Ordnung und Schönheit in der Natur, aber auch die beeindruckenden Fügungen, die sie in ihrem persönlichen Leben entdecken.
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2.1 GOTT ALS DER SCHÖPFER DER WELT
In dem Seniorenwohnstift, in dem ich als Seelsorger tätig bin, gibt es allwöchentlich eine „Begegnung am Nachmittag“, in der wir uns mit Themen beschäftigen, die religiös relevant sind. Als wir uns das Thema „Gottesbeweise“ vorgenommen hatten, begann ich mit der Frage: „Was bedeutet für Sie das Wort ,Gott‘?“ Mit großer Einmütigkeit kam aus dem Plenum die Antwort: „Gott ist der Schöpfer der Welt“. Ich vermute dahinter einen Religions-, Konfirmanden- oder Firmunterricht, der vielleicht schon lange zurückliegt, aber nicht folgenlos geblieben ist. Diese Antwort würde man zwar im Umkreis fernöstlicher Religionen und Weltanschauungen (Hinduismus, Shintoismus, Buddhismus, Konfuzianismus usw.) sicher nicht bekommen, weil dort andere Religions- und Gottesverständnisse beheimatet sind, aber für unseren Kulturkreis mit seinen monotheistischen, also auf einen einzigen Gott ausgerichteten Religionen (Judentum, Christentum, Islam usw.) ist die Gleichsetzung von „Gott“ und „Schöpfer der Welt“ nicht nur charakteristisch, sondern auch überzeugend.
Für das Judentum und Christentum kann man als Beleg dafür schon auf die ersten Worte der Bibel verweisen: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (1. Mose 1,1) sowie: „Es war zu der Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte“ (1. Mose 2,4b). Das Apostolische Glaubensbekenntnis, das üblicherweise im christlichen Gottesdienst gesprochen wird, beginnt ebenfalls mit den Worten: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“ Und im Nizänischen Glaubensbekenntnis heißt es: „Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt“, wörtlich und genauer heißt es im griechischen Urtext: „das Sichtbare und das Unsichtbare“. Diese zusätzliche Erläuterung bringt zum Ausdruck, dass Gott nicht nur der Schöpfer des Materiellen oder Gegenständlichen ist, das prinzipiell unserer sinnlichen Wahrnehmung zugänglich ist, sondern auch des Geistigen und Seelischen, das wir nicht mit unseren äußeren Sinnen wahrnehmen können, das aber deswegen nicht weniger real ist als das Materielle. Dass das so ist, merken wir, wenn wir uns klarmachen, welche Bedeutung Gefühle, Gedanken, Wünsche, Stimmungen, Ängste, Hoffnungen usw. im Positiven wie im Negativen für unser menschliches Leben haben. Von der Welt, zu der das Sichtbare und das Unsichtbare gehört, sagt der monotheistische Gottesglaube: Gott ist ihr Woher, also ihr Schöpfer, ihr Ursprung, ihre Quelle, und zugleich ihr Wohin, ihre Bestimmung, ihr Ziel.
Es könnte allerdings als eine Schwäche der biblischen Schöpfungserzählungen wirken, dass sie am Beginn der Weltentstehung schon etwas vorauszusetzen scheinen: In 1. Mose 1,2 ist es die Erde, die wüst und leer und von einer Wasserflut bedeckt ist. In 1. Mose 2,5f. ist es trockenes Ackerland, auf das es noch nicht geregnet hat. Als schöpferischer Ursprung der Welt kann aber nur etwas gedacht werden, das selbst nicht als ein Teil zur Welt gehört, auch nicht ihre Gesamtheit bildet, sondern nur etwas, das „aus sich selbst“ ist und alles andere hervorbringt. Das wird in den biblischen Schöpfungserzählungen nicht nur dadurch angedeutet, dass für Gottes (voraussetzungsloses) Schaffen im Hebräischen ein besonderes Verbum (bara) verwendet wird, sondern der Schöpfungsgedanke wurde im Judentum und im Christentum auch konsequent entfaltet in der Lehre von „der Erschaffung der Welt aus nichts“ („creatio ex nihilo“)20. Das heißt nicht, dass das Nichts so etwas wie das Material wäre, aus dem die Welt gebildet wurde, sondern dass Gott in seinem schöpferischen Wirken auf keine Voraussetzungen außerhalb seiner selbst angewiesen oder von ihnen abhängig ist. Für eine solche Erschaffung aus nichts gibt es innerhalb der geschaffenen Welt kein Beispiel.
Der Glaube an Gott als den Schöpfer der Welt besagt folglich dreierlei:
– Erstens, die Welt ist nichts Unendliches, Ewiges, Absolutes, sondern etwas Endliches, Zeitliches, Relatives. Sie hat einen Anfang und ein Ende, ein Woher und Wohin. Die liegen in Gott.
– Zweitens, die Welt kann darum nicht aus sich selbst geworden sein. Sie ist nur, weil sie einen unendlichen, ewigen, absoluten Ursprung hat. Dieser schöpferische Ursprung ist Gott.
– Drittens, die Welt ist nichts Zufälliges, Sinnloses, Wertloses, sondern sie verdankt sich einem Akt bzw. Prozess des Gewollt- und Bejahtseins. Und dieses Gewollt- und Bejahtsein verdankt die Welt ihrem schöpferischen Ursprung, also Gott.
2.2 SIND URKNALL UND EVOLUTION ALTERNATIVEN ZU GOTTES SCHÖPFUNG?
Wenn ich die Frage nach dem Gottesverständnis im Religionsunterricht einer gymnasialen Oberstufe stelle, fallen die Antworten anders aus als in unserem Wohnstift: vielfältiger und unbestimmter – angefangen von: „keine Ahnung“ oder: „etwas Höheres“ oder: „eine unendliche Kraft“ bis zu: „die Vernunft, die hinter den Naturgesetzen steht“. Der Verweis auf Gott als Schöpfer der Welt kommt dabei, wenn überhaupt, weitaus seltener vor. Und aus den sich oft anschließenden Gesprächen weiß ich auch, was der Grund dafür ist. Im Bewusstsein der jüngeren Generation ist der Schöpfungsglaube weithin abgelöst oder zumindest in Frage gestellt worden durch die Evolutionstheorie einschließlich der These vom Urknall als dem Beginn unseres Universums vor etwa 12 bis 15 Milliarden Jahren durch die Explosion einer unvorstellbar großen Ansammlung von Energie oder im Rahmen der Stringtheorie in Gestalt zahlloser Universen (multiverse theory). Wenn man diese beeindruckenden naturwissenschaftlichen Theorien und Hypothesen mit den schlichten biblischen Erzählungen von der Erschaffung der Welt in sechs Tagen vergleicht, dann scheint auch ganz klar zu sein, auf welcher Seite die Wahrheit zu suchen und zu finden ist. Die Tatsache, dass in der Bibel an zwei Stellen21 darauf hingewiesen wird, bei Gott sei „ein Tag ist wie tausend Jahre“ – und umgekehrt –, hilft da auch nicht viel weiter. Daher ist die Vorstellung von der Erschaffung der Welt durch Gott in sechs Tagen eines der Hindernisse, dessentwegen viele Menschen sagen: „Ich kann nicht an Gott als den Schöpfer der Welt glauben.“
Dabei gehen Nicht-Glaubende wie auch Glaubende oft davon aus, dass zwischen den naturwissenschaftlichen Theorien auf der einen Seite und dem biblischen Glauben an die Erschaffung der Welt durch Gott auf der anderen Seite ein Gegensatz und folglich eine Alternative bestünde. Wenn es so wäre, dann müsste man zwischen beiden Vorstellungen wählen und könnte nur eine von ihnen für richtig halten, die andere müsste man verwerfen. Aber diese Entgegensetzung beruht auf einem Irrtum, den man aufklären kann.
2.3 WIE VERHALTEN SICH SCHÖPFUNGSGLAUBE UND EVOLUTIONSTHEORIE ZUEINANDER?
Zum vermuteten Gegensatz zwischen Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie ist zunächst zu sagen, dass die Vorstellung von der Erschaffung der Welt durch Gott in sechs Tagen (in 1. Mose 1,1–2,4a) nur eine von zwei in der Bibel nebeneinander vorkommenden Darstellungen des Schöpfungsgeschehens ist. Hier ist das Schöpferwirken und -werk Gottes in sechs Tage eingeteilt und die Schöpfung beginnt mit der Erschaffung des Lichts und endet mit der Erschaffung des Menschen (als Mann und Frau). Darauf folgt dann am siebten Tag das Ruhen Gottes.22
Direkt an diese Erzählung schließt sich aber in 1. Mose 2,4b–25 eine ganz andere, vermutlich ältere Schöpfungserzählung an, die mit der Erschaffung des Menschen, genauer gesagt: des Mannes, beginnt, auf welche die Anpflanzung des Gartens Eden durch Gott folgt, an die sich die Erschaffung der Tiere und schließlich als Höhepunkt die Erschaffung der Frau (aus der Rippe des Mannes) anschließt. Hier ist von Schöpfungstagen gar nicht die Rede, und die Reihenfolge der Schöpfungswerke ist ziemlich genau umgekehrt wie in 1. Mose 1.
Es ist erstaunlich, dass bei der Zusammenstellung der biblischen Schriften und Bücher diese beiden so weit voneinander abweichenden Schöpfungserzählungen unbekümmert nebeneinandergestellt wurden. Man kann das nur so erklären, dass damit naturkundliches Wissen aus verschiedenen Jahrhunderten aufgenommen und zur Veranschaulichung des Schöpferwirkens Gottes herangezogen wurde. Das, worauf es der Bibel dabei ankommt, ist nicht dieses naturkundliche Wissen, sondern das dadurch veranschaulichte Schöpferwirken Gottes. Das gibt dem Glauben eine große Freiheit und Offenheit dafür, das jeweils aktuelle naturwissenschaftliche Wissen zur Veranschaulichung des Schöpfungsprozesses heranzuziehen. In diesem Sinn gibt es keinen Grund, zwischen Schöpfungsglauben und naturwissenschaftlichen Theorien einen Gegensatz zu behaupten. Deshalb ist der Schöpfungsglaube auch prinzipiell offen für mögliche künftige Hypothesen und Theorien der Naturwissenschaften hinsichtlich der Entwicklung des Universums und der Natur. Beim heutigen Stand der Naturwissenschaften können wir sagen: Gottes Schöpfung geschieht unserer Vorstellung nach durch Urknall und Evolution. Weder das Sechs-Tage-Werk noch die Evolutionstheorie sind Glaubensgegenstände. Glaubensgegenstand ist Gottes weltschöpferisches Wirken.
Wer die Erschaffung der Welt z.B. unter Berufung auf die Evolutionslehre oder die Theorie vom Urknall bestreitet bzw. leugnet, schätzt die argumentative Bedeutung dieser beiden naturwissenschaftlichen Theorien bezogen auf den Ursprung der Welt falsch ein. Sie sind weder in der Lage, Gottes Schöpferwirken zu widerlegen noch es zu beweisen, sondern können nur beschreiben, in welchen Prozessschritten die Welt sich – nach unserer heutigen Erkenntnis – von ihrem Beginn an entwickelt hat. Das ist aber keine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Welt. Dessen sind sich die Naturwissenschaften auch grundsätzlich bewusst,23 wenn sie den Versuch unternehmen, möglichst weit in Richtung auf den Anfang des Universums oder der Universen hin zurückzufragen. Bei dieser Erforschung verbleibt ein minimaler Abstand von einem unvorstellbar kleinen Sekundenbruchteil, den die Naturwissenschaften mit ihren Mitteln (noch) nicht überwinden können. Aber nicht diese minimale Lücke macht den Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Glauben aus, sondern die prinzipielle Unbeantwortbarkeit der Frage nach dem schöpferischen Ursprung der Welt mit naturwissenschaftlichen Mitteln. Der schöpferische Ursprung der Welt ist der Naturwissenschaft unzugänglich; und das weiß und respektiert sie auch.24 Das Prinzip des zureichendes Grundes