Rendezvous jenseits der Grenze - Ursula Erler - E-Book

Rendezvous jenseits der Grenze E-Book

Ursula Erler

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Beschreibung

Im Nachlass von Ursula Erler, die am 1. Juli 2019 starb, befand sich der bisher unveröffentlichte Roman Rendezvous. Er entstand 1982 und erscheint unter dem Titel Rendezvous jenseits der Grenze. Über ihren ersten Roman "Die neue Sophie" schrieb die Soziologin Helge Pross 1972: "Wäre sie nur eine rebellische Einzelgängerin, so hätte sie kaum diesen gleichermaßen kühnen wie nüchternen Text verfasst. Für sie galt: Die emanzipierte Frau misst sich heute nur an der Frau. Sie ist dabei, die Bilanz der Zeit zu ziehen, in der der Mann die Welt geprägt hat." Ursula Erler hat diese Bilanz auch gegen Missverständnisse literarisch und essayistisch gezogen. Die MeToo Bewegung heute verdeutlicht, wie früh Ursula Erler begriffen hatte, dass es der Mann ist, der seinen Blick auf die Frau verändern muss. Der Roman zeichnet die kompromisslose Unbeirrbarkeit nach, mit der die Frau heute auf ihrer Integrität und ihren Träumen besteht: Eine faszinierende Selbstreflektion in oszillierenden Dialogen.

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Veronika zur Erinnerung an ihre Schwester

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I: Sonntag

Kapitel II: Montag, den 29. September

Kapitel III: Dienstag, 30. September

Kapitel IV: Dienstag, den 30. September. Abends

Kapitel V: Mittwoch, der 1. Oktober. Nachts

Kapitel VI: Teutoburgerstrasse

Kapitel VII: Chlodwigplatz. Ulrepforte. Barbarossaplatz

Kapitel VIII: 1. Brief. Donnerstag, den 2. Oktober. Am Morgen

Kapitel IX: 2. Brief. Freitag, den 3. Oktober. Am Morgen

Kapitel X: Freitag, der 3. Oktober. Am Abend

Kapitel XI: Samstag, der 4. Oktober

Kapitel XII: Samstag, der 4. Oktober. Am Morgen

Kapitel XIII: Samstag, 11 Uhr

Kapitel XIV: Samstag, sechzehn Uhr fünfzehn

Kapitel XV: Samstag, 17 Uhr

Kapitel XVI: Samstag, 18 Uhr

Kapitel XVII: Samstag, 19 Uhr

Kapitel XVIII: Samstag, 19 Uhr 30

Kapitel XIX: Samstag, 19 Uhr 45

Kapitel XX: Samstag, 20 Uhr 30

Kapitel XXI: Samstag, 21 Uhr

Kapitel XXII: Samstag, 21 Uhr 30

Kapitel XXIII: Samstag, 22 Uhr

Kapitel XXIV: Samstag, dieselbe Zeit

Kapitel XXV: Samstag, 22 Uhr 45

Kapitel XXVI: Samstag, dieselbe Zeit

Kapitel XXVII: Samstag. Dieselbe Zeit

Kapitel XXVIII: Samstag. 23 Uhr 30

Kapitel XXIX: Sonntag. 0 Uhr 30

Kapitel XXX: Sonntag. 1 Uhr 15

Kapitel XXXI: Sonntag. 1 Uhr 30

Kapitel XXXII: Sonntag. 2 Uhr 15

Kapitel XXXIII: Sonntag. 3 Uhr, 1 Sekunde

Kapitel XXXIV: Sonntag. 3 Uhr 40

I Sonntag

Der 28. September war ein Bilderbuchsonntag, aber wenn man eine Spazierfahrt versprochen hat – vier feste kleine Zöpfe, die neuen Mäntel und Schuhe, die Henkelkörbe. Wir sitzen im Wagen.

„Schläft der Park noch?“

„Du meinst: Ist der Park schon geöffnet?“ – die größere Tochter auf dem Beifahrersitz belehrt die kleinere Tochter neben mir auf dem Rücksitz.

Die kleinere Tochter sieht in ihren leeren Henkelkorb. Sie wird ihn randvoll mit Kastanien füllen. Die größere Tochter sieht ihren Korb nicht an. Sie hat ihn nur aus Gefälligkeit mitgenommen, dafür hat sie bei dieser Spazierfahrt die Führung: „Schloss Augustusburg zu Brühl. Besonders schön ist der Sommerspeisesaal“.

„Nach Auflösung von Frühnebelfeldern sonnig mit Tageshöchsttemperaturen zwischen 17 und 21 Grad. Die weiteren Aussichten: Fortdauer des ruhigen Frühherbstwetters“ mein Mann hat das Radio eingeschaltet.

„…desgleichen das Treppenhaus und der Spiegelweiher“ – die größere Tochter hat das Radio wieder ausgeschaltet. Der zwei Monate alte Sohn auf meinem Schoß wird wach. Ich werde ihn dem Spiegelweiher zeigen. Wenn sich der Frühnebel aufgelöst hat.

Ich habe ihn nicht dem Spiegelweiher gezeigt. Mein Mann fand es zu kalt. Er blieb in seinem Kinderwagen mit hochgeschlagenem Verdeck. Die Töchter zählten die Kastanien über sich. Die Kastanien hingen grün in ihren Bäumen. Der Frühnebel hatte sich wirklich aufgelöst. Sonne. Aber kein Wind. Die ganze Allee säumten Kinder mit Körben, Tüten, Taschen, Mützen. Dazwischen Väter, die den leisesten Versuch, kleine Steine, auch Kieselsteine, vom Boden aufzunehmen, im Keim erstickten, und sich stattdessen erboten, die Kastanien mit gefahrlos leichten Hölzern zu treffen. Aber die gefahrlos leichten Hölzer verfingen sich im Blattwerk und trafen nicht.

Die Henkelkörbe meiner beiden Töchter, die jetzt wieder fast ununterscheidbar eins waren – wenn man auf Kastanien wartet, hat man keine Zeit zu führen und zu belehren – blieben also leer, mein Sohn schlief, mein Mann sah aus wie alle Männer auf dieser sonntäglichen Kastanienallee, ich ging in einen Seitenweg hinein.

Noch nicht sehr viel Laub auf dem Boden, dafür ein Blätterdach, blassgelb, braungold, hier und da purpurrot. Ich ging schnell, denn ich war zornig. Diese lächerlichen Herbstmäntel. Ein ganzer Park voll Herbstmäntel. Der nächste, der mir im Herbstmantel begegnet.

Es begegnete mir überhaupt niemand mehr, auf dem ganzen Seitenweg nicht. Der Wald hörte auf, da lag der Spiegelweiher, zwischen hellen Kieswegen und Blumenbeeten. Auf der achtstufigen Steintreppe, die zum Weiher hinunterführt, kommt mir ein Mann entgegen, ohne Herbstmantel, aber das bemerke ich erst, als ich auf der zweiten Stufe von oben stehen bleibe und er auf der zweiten Stufe von unten die Kamera sinken lässt.

„Sie haben mich photographiert?“

„Ich habe es mir erlaubt“.

„Dann geben Sie mir den Film“.

„Ich denke nicht daran“.

„Was machen Sie mit der Aufnahme?“

„Ich entwickle sie für meine Sammlung“.

„Ihre Sammlung?“

„‚Frauen im Wechsel der Jahreszeiten‘. Das Sujet hatte mir gefehlt.“

„Was für ein Sujet?“

„Sie. Alleinstehende Frau im Herbst“.

„Sie hatten keine Befugnis –“

„Und Sie keinen Zeugen“.

Keine Zeugen? Rund um den Spiegelweiher? Doch, in den Laubengängen rechts und links. Aber die Laubengänge sind noch belaubt.

Man sieht die Spaziergänger kaum. Sie werden nichts bezeugen können. Außerdem bezeugten Spaziergänger in belaubten Laubengegängen eine unerlaubte Photographie? Stimmen vom nahen Seitenweg: Meine größere Tochter, mein Mann.

„Sie täuschen sich“.

„Worin?“

„Ich bin nicht Ihr Sujet“.

„Ich pflege meine Sujets nicht nach ihren Ansichten zu fragen“.

Meine kleinere Tochter. Sie steht schon auf dem Kies. Sie dreht sich noch einmal um. Sie ruft etwas in den Waldweg hinein.

„Um welchen Preis – nein, warten Sie, würden Sie mir den Film unentwickelt überlassen, wenn ich Sie stattdessen eine Nacktaufnahme von mir machen ließe – für Ihre Sammlung?“

„Es wäre nicht mehr dasselbe Sujet“.

„Nein, aber ich brauche das Sujet für mich selbst. Ich suche Sie auf.

Drei Tage Bedenkzeit. Wenn ich nicht komme, gehört es Ihnen“.

Er zieht eine kleine weiße Karte aus der linken oberen Jacketttasche, er verbeugt sich, wir gehen – drei Stufen nach oben, drei Stufen nach unten – aneinander vorbei.

Als ich noch einmal rund um den Spiegelweiher gegangen bin, hat mich meine Familie eingeholt. Keine Kastanie. Auch kein Sommerspeisesaal. An jedem letzten Sonntag des Monats bleibt Schloss Augustusburg zu Brühl geschlossen. Aber ein ausgedehnter Spaziergang bis zum Jagdschloss Falkenlust, blaue Entenfedern und gefütterte Schwäne.

Als wir sechs Stunden später beim Parkausgang ankommen, sehe ich ihn, den rechten Fuß auf einem Mauervorsprung, die linke Hand in der Hosentasche, den Kopf leicht zurückgeworfen, verletzlicher, vielleicht auch nur nicht kompromissbereiter Mund. Nicht jung, nicht alt, dann eher jung.

Und er sieht mich, inmitten meiner Familie. Er lächelt. Ich nicht.

Vier lose kleine Zöpfe, beschmutzte Schuhe, leere Henkelkörbe.

Wir sitzen im Wagen.

„Schläft der Park jetzt auch?“

„Ja, jetzt schläft er auch“.

II Montag, den 29. September.

Immer noch Bilderbuchwetter. Und eine Visitenkarte Teutoburgerstrasse 38.

Ich werde mich vor ihm ausziehen, um ein angezogenes Photo zurückzubekommen: Mich, die ich nicht kenne: Mich, zornig über einen Park voll Herbstmäntel. Mich, selbst im Herbstmantel, Stiefel, Handschuh, Schuh. Mich, abtrünnig. Ohne Kinder. Ohne Mann.

An einem Bilderbuchsonntag allein. Auf heimlicher Flucht zum Spiegelweiher. Schon aufgehalten, schon ins Bild gesetzt, schon entdeckt, schon auf der Hut. Nein. Einen Augenblick lang nicht.

Einen Augenblick ahnungsloses Fürmichsein. Er besitzt diesen Augenblick. Ich hole ihn mir zurück. Mein rechtmäßiges Eigentum.

Die größere Tochter übt ‚Für Elise‘. Die kleinere Tochter baut die Holzeisenbahn auf. Fünf Uhr Nachmittag. In einer Stunde kommt mein Mann. Ich werde mein Hauskleid anziehen. Ich werde ihm gefallen. Das ist in Regenmonaten leicht. An Bilderbuchabenden im Frühling wie im Herbst nicht ganz so leicht. Aber ich kenne mein Herz und weiß, dass es nicht imstande wäre, eine Liebe, von der es lebt, schwächer werden zu sehen.

Mein Herz widerspricht. Es behauptet, es allein wüsste, zu was es imstande ist.

Ich werde mich hüten, es zu widerlegen. Heute Abend nicht. Ich mache ihm eine Schnur wie einem Papierdrachen, leicht und lang, und binde es an meinen kleinen Finger an.

Noch zwei Tage bis Oktober, mein Herz. Wir stehlen uns ein Bild zurück, rechtmäßiges Eigentum zurück, Mantel, Handschuh, Schuh, unsere heimliche Flucht. Wir werden wissen, wie wir ausgesehen hätten, nur du und ich, allein. Wenn wir niemandem gefallen müssten, uns um niemand sorgen müssten, an nichts festhalten müssten, außer an uns.

Wir waren anscheinend glaubhaft, mein Herz. Er hielt uns für sein gesuchtes Sujet. Alleinstehende Frau im Herbst.

Wir werden auf der Hut sein müssen, so glaubhaft zu bleiben. Es könnte sein, er hat bereits Argwohn geschöpft: Am Parkausgang, drei Kinder und ein Mann. Er sah dem Auto nach, bis es davonfuhr.

Lass, mit der langen Drachenschnur muss uns nichts kümmern.

Du steigst unter die Wolken, während ich das Treppenhaus betrete (aber verfang dich nicht in den Bäumen, die Teutoburgerstrasse ist voller Bäume), wir werden uns uns zurückholen, unbelichtet, unentwickelt, unentdeckt. Mantel, Handschuh, Schuh.

Ein angezogenes Photo. Er wird nicht dazu kommen, es auszuziehen.

Ich werde ihn gut beschäftigen, eine winterliche Garderobe ablegen, langsam, Stück für Stück, und der Kamera Zeit lassen, bis du sicher über den Bäumen bist. Dann mache ich dir ein Zeichen, mit dem kleinen Finger, und du ziehst mich dir nach. Und während wir längst auf der Rückreise sind, träumt er sich nichts von List.

Das ruhige Frühherbstwetter scheint anzuhalten. Man müsste es bitten umzuschlagen.

Die größere Tochter übt immer noch ‚Für Elise‘. Die kleinere Tochter hat die Holzeisenbahn aufgebaut. Da kommt mein Mann. Er hat eine Arbeit, die er liebt. Er liebt auch mich. Beides beschwingt seinen Schritt.

Ich habe mein Hauskleid nicht angezogen – wie ich es dir versprach, mein Herz.

III Dienstag, 30. September.

Das Wetter ist umgeschlagen. Ein über der Nordsee angelangter Ausläufer eines Nordmeersturmtiefs überquert im Laufe des Tages das nördliche Deutschland.

Ich bin im nördlichen Deutschland. Ich sehe es durchs Fenster: Es nieselt.

Die größeren Töchter fort in Schule und Kindergarten. Der kleine Sohn da. Aber das weiß er nicht. Er schläft.

Vor zwölf Jahren hatte ich ihn mir gewünscht. Es kam eine Tochter.

Töchter haben es leichter – dachte ich. Vor sechs Jahren hatte ich ihn mir gewünscht. Wieder eine Tochter. Schwestern haben es leichter – dachte ich.

Ich werde über dich nachdenken müssen, mein kleiner Sohn.

Inzwischen hatte ich vergessen, dich mir zu wünschen.

Träum, Kindchen, träum Im Garten stehn zwei Bäum Der eine der trägt Rosen Der andre Aprikosen Da kommt der König Abendlust Und steckt seiner Königin eine Rose an die Brust Da reckt sich die Königin mit ihrer Rose Und pflückt dem Herrn König eine Aprikose

Aber für den Herrn König mehren sich die Staatsgeschäfte, und die Frau Königin ist zunehmend allein. Wenn sie mit dir spazieren fährt, grüßen sie nur die Enten. Nur die Enten! Das kommt darauf an, meiner kleiner Sohn. Ich wüsste nicht, dass ich dir Rechenschaft schulde. Wenn es jemandem gefallen sollte, auf einer Parkbank neben mir zu sitzen, während du schläfst, stundenlang, unter hochgeschlagenem Verdeck. Weißt du, dass ich ein Abenteuer haben könnte?

Morgen früh um diese Zeit besuche ich einen Mann. Ich werde mich vor ihm aus- und wieder anziehen. Und die Zeit, die zwischen beidem vergeht, könnte ich strecken, abenteuerlang. Während du schläfst unter hochgeschlagenem Verdeck.

Ob ich das möchte? Frag nicht zu früh, mein kleiner Sohn. Gestern habe ich mein Herz an eine Drachenschnur gelassen und mich ihm nur über den Ringfinger, nein, den kleinen Finger nur, verbunden.

Aber ich habe ihm befohlen, mich ihm nachzuziehen, sobald es unter der Wolkendecke ist. Kein Abenteuer. Nur eine wichtige Mission. Du kannst sicher sein, mein kleiner Sohn, dass ich sie zu deiner Zufriedenheit erfülle.

Hörst du: Du bist noch keine zwei Monate auf der Welt, und ich leiste dir bereits Versprechen. Ich muss mich vor dir in Acht nehmen. Deinen Schwestern hätte ich nie versichert, dass ich mein Herz in Zaum nehme.

Ihnen hätte ich gesagt, dass er mir vielleicht gefällt, ohne Herbstmantel. Unbotmäßig wie jede ernstere Überraschung.

Ihnen hätte ich vielleicht gesagt, dass die Tage zu langsam verstreichen – seit du da bist, mein kleiner Sohn –, um es ihnen erlauben zu können, ein Abenteuer zu verhindern.

Ich werde es selbst verhindern. Ich glaube mir nicht, dass ich ein Abenteuer will. Auch wenn mein Herz manchmal abenteuerlich will, auch wenn ich längst die Gewohnheit angenommen habe – im Umgang mit ihm – es von Zeit zu Zeit freizulassen, wie man seine Kinder frei lässt, du wirst es ja erfahren, mein kleiner Sohn, wie weit.

Außerdem habe ich das Gefühl, dass mir ein größeres Abenteuer bevorsteht: Ich mir selbst. Ich allein in einer Strasse. Ich komme mir entgegen. Habe ich den Regenschirm aufgespannt? Ich wette, nein. Das ist sehr unvorsichtig von mir. Wenn ich mir nun endlich entgegenkomme, kann ich doch nicht damit anfangen, meine Erkältung zu pflegen. Ich will mir also doch nicht entgegenkommen, offensichtlich noch nicht. Allenfalls so, wie mir Yvonne entgegenkommt, erregt, aber sie hat nie eine Hand frei, um sie mir zu geben. Sie muss sich den Hut festhalten.

Du siehst, es gibt da immer noch einige Dinge, die es einem schwer machen, aus sich selbst klug zu werden, mein kleiner Sohn. Als es gestern Abend telefonierte, habe ich einen Augenblick gedacht, das bin ich, die mit mir telefonieren will. Ich habe den Hörer nicht abgenommen, ich wusste ja, ich kann es nicht sein.

Allerdings vorgestern früh – allein im Wald, die sonntägliche Kastanienallee weiß nicht, wo ich bin, ich hätte mir träumen können, ich wäre mir zum Greifen nah –: Jetzt unbehelligt zum Spiegelweiher gelangen, auf dem erhöhten Rundbecken stehen bleiben, Atem schöpfen, die Steinstufen hinunter.

Nein, etwas hält mich auf. Es ist nichts. Nur ein Mann. Aber er hat eine Kamera. Er hat mich photographiert.

Weiß er jetzt, was ich weiß? Dass ich auf der Flucht war, einer kleinen Flucht, du hast recht, aber auch vor Dir. Du hättest es nicht einmal bemerkt unter deinem Verdeck.

Er weiß es nicht. Er denkt, ich mache einen Herbstspaziergang.

Einfach so. Wie eine unabhängige Frau. Alleinstehende Frau im Herbst. Das könnte mir gefallen. Ich würde das Foto gerne sehen.

Aber er gibt es mir nicht heraus. Er denkt nicht daran. Und ich habe keinen Zeugen. Keine Spaziergänger rund um den Spiegelweiher.

Nur in den Laubengängen links und rechts. Aber die Laubengänge sind noch belaubt.

Immerhin weiß er nichts. Immerhin ist es gut getäuscht.

Eure Stimmen im Waldweg. Noch einen Augenblick unabhängige Frau. An einem Bildungsbuchfamiliensonntag allein.

Noch einen Augenblick, und er hat euch entdeckt. Ich brauche den Film zurück, bevor er euch entdeckt hat. Ich schlage ihm ein anderes Foto vor. Er willigt ein. Nicht sofort. Aber rechtzeitig genug, um euch nicht zu entdecken. Er hat euch nicht entdeckt.

Er hat euch doch entdeckt. Am Parkausgang. Dein Vater fuhr deinen Kinderwagen. Deine Schwestern sind nicht an meiner Hand gegangen. Aber ich bin mit euch in ein Auto gestiegen. Wir sahen ganz nach Familie aus.

Ich werde Mühe haben, ihm seine Entdeckung wieder auszureden, mein kleiner Sohn.

IV Dienstag, den 30. September. Abends.

Ich habe meinen Pelzmantel vom Speicher geholt. Auch wenn ganz Deutschland morgen, Mittwoch, dem 1. Oktober, wieder unter Hochdruckeinfluss stehen soll. Aber in der Frühe ist es leicht kalt.

Im Übrigen werde ich mich hüten, eine winterliche Garderobe anzuziehen, um sie langsam, Stück für Stück abzulegen. Ich mache dir eine kurze Schnur, mein Herz, wie manchen Drachen, die sich zu leicht verfliegen. Nicht weil ich dir misstraute, mein Herz, nicht ernstlich, aber weil mir inzwischen jeder Augenblick von der ersten Treppenstufe, von der wir uns trennen werden an, zu lang vorkommt. Ich bin zornig, weit ab von jedem Abenteuer entfernt.

Ich bin nicht sein Sujet. Er weiß es. Er hat gesehen, dass er sich getäuscht hat. Und mir den Film nicht ausgehändigt. Bedingungslos.

Er wird ihn mir aushändigen. Bedingungslos. Die Situation hat sich geändert. Man muss seine Sujets wenigstens zu treffen wissen.

Eine verheiratete Frau ist keine allein stehende Frau.

Man photographiert keine Frau in Rufweite ihrer Familie.

Man photographiert ungefragt überhaupt keine Frau, in keiner Jahreszeit, in keiner Situation.

Und ohne Herbstmantel. In einem Park voller Herbstmäntel. Auch ich. Passend zur Jahreszeit. Mit den Jahreszeiten gehen.

Er hat nicht im Traum daran gedacht, sich der Jahreszeit anzupassen.

Er photographiert den Herbst, wie er mich photographiert hat. Er ist so frei, er hat es sich erlaubt. An einem Herbsttag, an dem keine Kastanie sich einfallen lässt, vom Baum zu fallen und ehemalige kurfürstliche Schlösser für Besucher geschlossen sind. Ich werde den Pelzmantel noch etwas in den Garten hängen, die Abendluft tut ihm gut.

Wir werden uns nicht mehr trennen lassen, nicht wahr, bis zum Frühjahr nicht. Du beengst mich nicht, unterwirfst dich keiner Mode, unterwirfst mich keiner Mode, bleibst Pelz, wie ich Haut, und alles dazwischen werden wir verschmähen. Uns hüten, wenn wir dich dennoch öffnen müssten, ihn etwas finden zu lassen, das er ausziehen kann, und ihm die Aufmerksamkeit erwiese, die wir einander erweisen: Du, indem du mich wärmst, ich, indem ich dich mich wärmen lasse.

Wir werden beizeiten aufstehen, einander Komplimente machen, damit wir seine spielend überhören können, es wäre ohnehin nicht allzu weit damit her. Nur eine kleine unausgesprochene Verpflichtung, auch er ist nicht ganz so frei.

Er könnte sich sogar dazu verpflichtet fühlen, ein Abenteuer mit uns zu haben, bevor sein Herz Zeit gefunden hat, auch nur einen Takt schneller zu schlagen.

Wir werden ihm das ersparen, schneller sein als die kleine Kunst der Galanterie, wenn er sich darauf verstünde. Es könnte sein.

Dann hat es keine Gefahr. Gefahr hat nur das für uns, was mit uns spricht, als hätte es schon immer mit uns gesprochen.

Komm, nicht erinnern, wir müssen schlafen gehen. Es kommt vor, dass man träumt, neu zu leben, und es war nur eine unausgeschlafene Nacht.

V Mittwoch, der 1. Oktober. Nachts.

Letztes Mondviertel. Ich werde mich hüten, darauf zu bestehen, dass er mir das Foto bedingungslos aushändigt. Zorn verrät sich selbst. Könnte mich ihm entdecken. Noch hat er mich nicht entdeckt.

Hör, mein Mantel, lass dich besänftigen, die Abendluft tat dir gut.

Zwing mich nicht, wortbrüchig zu werden. Wir haben uns an die Abmachung zu halten, wir werden es überstehen. Dich öffnen und darunter selbstverständlich vollständig bekleidet sein. Und der Kamera Zeit lassen, während wir eine winterliche Garderobe ablegen, langsam, Stück für Stück.

Ich erlaube dir nicht, dich einzumischen. Ich werde dich über die Stuhllehne hängen. Und da wirst du auf mich warten. Bis ich dich wieder an mich nehmen, um mit dir die Treppe hinunterzugehen, einen unentwickelten Film in der Hand.

Er wird uns nicht entdecken, auch wenn er inzwischen zu wissen meint: Sie ist nicht mein Sujet. Ich werde ihn überreden: Sie ist es doch. Nur eine unabhängige Frau ist nicht kompromittierbar.

Kann sich Launen erlauben, wie die, ein angezogenes Foto gegen ein ausgezogenes zu tauschen. Nur eine Laune. Ein Gesicht gegen einen Körper. Körper verraten nichts.

Aber das weiß er nicht. Und wenn er es wüsste, müsstest du die Aufgabe übernehmen, ihn zu täuschen, mein Körper, und dich ihm darbieten, während du mich verbirgst. Er darf nicht dazu kommen, nach uns zu fragen. Es könnte unser Vorhaben erschweren. Wir brauchen uns unbehelligt zurück. Er könnte uns durchschauen: Es handelt sich um keine Laune, Launen kompromittieren nicht. Er könnte uns durchschauen: Keine Laune. Keine unabhängige Frau.