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Was, wenn mein Herz für das Eiskunstlaufen gemacht ist - aber der Rest von mir nicht?
Es gibt nichts auf der Welt, das Lucy mehr liebt als das Eiskunstlaufen - wäre da nicht die Tatsache, dass sie es nach wie vor nicht geschafft hat, einen dreifachen Rittberger zu landen. Zu allem Überfluss haben ihre Eltern ihr jetzt ein Ultimatum gesetzt: Wenn Lucy beim nächsten Wettkampf nicht gewinnt, muss sie das Marketingstudium wieder aufnehmen, das sie so unglücklich gemacht hat. Ein einziger Monat bleibt Lucy, um ihre Kür zu perfektionieren. Doch ausgerechnet da lernt sie Jules kennen, der ihr Herz schneller schlagen lässt als jemals irgendjemand zuvor. Eigentlich darf Lucy sich jetzt keine Ablenkung erlauben - zumal sie schnell bemerkt, dass Jules mit seinen ganz eigenen Dämonen zu kämpfen hat ...
"Ich habe die LOVE-NXT-Trilogie verschlungen und geliebt. Es sind richtige Wohlfühlbücher, in die man sorglos versinken kann." KIELFEDER
Band 2 der Reihe, RIGHT NOW (KEEP ME WARM), erscheint am 25. März 2022.
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Seitenzahl: 634
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Playlist
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Anne Pätzold bei LYX
Impressum
ANNE PÄTZOLD
Right Here
STAY WITH ME
Roman
Seit ihrer Kindheit schlägt Lucys Herz nur für eine einzige Sache: das Eiskunstlaufen. Auf dem Eis fühlt sie sich frei, allein dort kann sie vergessen, dass in ihrem Leben so einiges nicht perfekt läuft – allem voran die Beziehung zu ihren Eltern. Diese haben ihr ein Ultimatum gesetzt: Entweder Lucy landet beim nächsten Wettkampf auf einem Podiumsplatz, oder sie muss ihr ungeliebtes Marketingstudium wieder aufnehmen und einen Job im Familienunternehmen antreten. Ein Monat bleibt Lucy noch. Ein einziger Monat, in dem sie sich keine Ablenkung erlauben darf. Doch ausgerechnet da stößt sie beim Training mit einem kleinen Jungen zusammen und verletzt sich am Fuß. Als dessen älterer Bruder Jules sie daraufhin ins Krankenhaus begleitet und dort nicht von ihrer Seite weicht, ahnt Lucy, dass sie bald schon ein viel größeres Problem haben könnte als einen verstauchten Knöchel: Denn Jules ist nicht nur hilfsbereit und süß. Er bringt sie zum Lachen, wenn ihr eigentlich zum Weinen ist, und er hört ihr auf eine Weise zu, wie es kein anderer Mensch in ihrem Leben tut. Aber Jules hat mit seinen ganz eigenen Dämonen zu kämpfen. Und je näher sich die beiden kommen, desto mehr müssen sie sich fragen, ob sie einander helfen können – oder ob sie an der Last ihrer Probleme gemeinsam zerbrechen werden.
Liebe Leser:innen,
bitte beachtet, dass Right Here Elemente enthält, die triggern können. Diese sind: Erwähnungen von Alkoholismus und Gewalt.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Anne und euer LYX-Verlag
Für meine zwei liebsten Leas.
Ihr wisst schon, weshalb.
CHVRCHES – Death Stranding
Day6 – (I Need Somebody)
Eric Nam – Runaway
Hozier – Take Me To Church
Tomorrow X Together – Eternally
Royal & the Serpent – Overwhelmed
Troye Sivan – Easy
Post Malone – Circles
Bring Me The Horizon – Teardrops
MAX – Blueberry Eyes (feat. SUGA)
Joji – Will He
VIXX – Scientist
Billie Eilish – lovely (with Khalid)
NIve – 2easy (feat. Heize)
Sara Kays – Remember That Night?
Troye Sivan – Dance To This (feat. Ariana Grande)
Sam Smith – Another One
SYML – Mr. Sandman
Epik High – Can You Hear My Heart (feat. Lee Hi)
Meine Finger waren Eiszapfen. Rot und so kalt, dass ich sie kaum noch spürte.
Fröstelnd umschloss ich meine Handwärmer, hielt erst die Finger meiner rechten, dann die meiner linken Hand daran. Von meinem Platz am Rand der Eisbahn aus sah ich, wie Sofia einen Doppelaxel landete, als hätte sie statt Sprunggelenken Federn in ihren Füßen, die sie in die Luft katapultierten.
Entschlossen warf ich meinen Handwärmer auf einen der freien Sitzplätze und stieß mich von der Bande ab. Schwarze Strähnen hatten sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst und wehten mir ums Gesicht, als ich mich umsah. Die Fläche vor mir war frei, die anderen mit ihrem eigenen Training beschäftigt.
Ich glitt mit beiden Füßen über das Eis, kreuzte mein linkes vor mein rechtes Bein und sprang ab. Die erste Umdrehung gelang mir zwar, aber ich merkte innerhalb weniger Sekunden, dass mein dreifacher Rittberger – zum hundertsten Mal an diesem Tag – scheitern würde.
Ich stolperte aus dem Sprung und fing mich mit der Hand auf dem Eis ab. Die Hitze in meinen Wangen verriet mir, dass ich vor lauter Wut rot angelaufen sein musste. Natürlich gelang es mir nicht, das wäre auch zu schön gewesen. Zugegeben, ich hatte erst vor gut einem Monat angefangen, eine dritte Umdrehung zum Rittberger hinzuzufügen. Beim Toe Loop und Salchow war es kein Problem gewesen. Nach einiger Übung hatte es gut geklappt, und mittlerweile sprang ich sie sehr gern. Aber der dreifache Rittberger wollte einfach nicht funktionieren.
Ich kannte all meine Fehler, wusste genau, was ich besser machen musste. Aber bisher war es wahrscheinlicher, dass ich mit einer Seite meines Körpers statt mit den Kufen meiner Schlittschuhe auf dem Eis aufkam.
Ich brachte meine Füße unter mich und stand auf. Am liebsten hätte ich den Sprung drei, vier, fünf weitere Male trainiert, doch ich bemerkte, wie die anderen langsam das Eis verließen. Ich glitt zum Ausgang, wo meine Trainerin bereits auf mich wartete.
»Dein Absprung ist sauberer geworden«, kommentierte sie meine kläglich gescheiterten Versuche.
Ihre Aussage als positiven Fortschritt anzunehmen, fiel mir schwer. »Die Landung schaffe ich trotzdem noch nicht.«
»Es ist kein einfacher Sprung«, meinte sie. »Du weißt, dass der nicht über Nacht funktionieren wird.«
Ich wollte etwas erwidern – dagegenhalten, weil ich unendlich frustriert war. Aber ich wusste, dass sie recht hatte, und hielt mich daher zurück.
»Ruh dich heute Abend gut aus. Beim nächsten Mal feilen wir an deinen Pirouetten«, sagte sie.
Ich nickte als Antwort. Nachdem ich meine Handwärmer eingesammelt und mein türkisgrünes Paar Kufenschoner auf die Schlittschuhe geschoben hatte, verabschiedete ich mich und ging zur Umkleide.
Mehrere Dutzend Spinde füllten die rechte Hälfte des Raums aus. Im hinteren Bereich gingen zwei Türen zu den Duschen und Toiletten ab, und rechts von mir gab es eine große offene Fläche, in der sich einige Frauen bereits routiniert dehnten. Ich lief zur hintersten Reihe der Spinde, wo ich meinen aufschloss. Meine Füße protestierten schmerzhaft, als ich meine Schlittschuhe aufschnürte und auszog. Dann suchte ich mir einen freien Platz im offenen Teil des Raums und begann mich zu dehnen.
Auf dem Eis war ich nur auf das nächste Element, den nächsten Sprung konzentriert. Sobald ich die Bahn verließ, änderte sich das. Mein Körper fühlte sich dann schwerer an, ungeschickter. Wie bei einer Meerjungfrau, die lernen musste, sich mit zwei Beinen statt mit einer Schwanzflosse fortzubewegen. Die kleinen und großen Schmerzen, die Überbelastungen – das alles fiel mir erst dann auf, wenn ich nicht mehr auf dem Eis stand.
Um meine Fußgelenke kümmerte ich mich heute ausgiebiger als sonst. Die ganzen Sprungübungen hatten definitiv ihre Spuren hinterlassen. Mit halbem Ohr lauschte ich den Gesprächen der anderen. Sie rauschten wie Hintergrundgeräusche an mir vorbei, bis eine Aussage ganz in meiner Nähe mich aufhorchen ließ.
»Ich bewundere deine Resilienz, Lucy«, sagte Sofia. Sie stand direkt vor mir. Hätte ich sie nicht an der Stimme erkannt, dann vermutlich an den schwarzen Adidas-Turnschuhen, die sie seit Jahren immer wieder neu kaufte, weil sie schwor, dass ihr kein anderer Schuh so gut passte. »Weniger sture Leute hätten sich vermutlich längst damit abgefunden, dass sie nie die Besten sein werden.«
Was sie sagte, schoss wie ein Blitz durch meinen Körper. Wut sammelte sich in meinem Bauch.
»Das Kompliment wäre doch nicht nötig gewesen, Sofia«, erwiderte ich mit einem Lächeln, gegen das sich alles in mir sträubte.
Sie lächelte genauso gezwungen zurück. »Bestimmt schaffst du es bald.« Ich war mir nicht sicher, ob sie es ernst meinte oder sich innerlich über mich lustig machte, aber es war mir auch egal. Ich ging dazu über, mich wieder meinen Dehnungen zu widmen, und stieß ein leises, erleichtertes Seufzen aus, als sie mich endlich allein ließ.
Als hätte es nicht schon gereicht, dass sie den dreifachen Rittberger mit links geschafft hatte. Sofia und ich hatten ungefähr zur gleichen Zeit mit dem Eiskunstlaufen angefangen. Wir trainierten in derselben Eishalle, waren sogar für längere Zeit gemeinsam im Ballettkurs gewesen. Und trotzdem. Trotzdem schaffte ich es einfach nicht, sie zu übertreffen. Sie nicht – und auch sonst niemanden in meiner Kürklasse. Ich steckte fest und wusste nicht, wie ich mich vorwärtsbewegen sollte.
Es half nicht, dass ich mich nie sonderlich gut mit ihr verstanden hatte. Wir gerieten einfach immer aneinander. Sie mit mir, weil sie die Beste sein wollte und schon immer der Meinung war, dass ich ihr nicht das Wasser reichen konnte. Und ich mit ihr, weil ich schon von Anfang an Angst davor hatte, dass sie recht haben könnte.
Ich ballte meine Hände für ein paar Sekunden zu Fäusten und entspannte sie wieder, zwang mich, mehrmals ruhig ein- und auszuatmen. Konzentrier dich auf den Wettkampf, Lu. Dort kannst du allen das Gegenteil beweisen, redete ich mir gut zu. Innerlich schwang ich für mich selbst die Pompons.
Ich hielt direkt vor unserem Haus, stellte den Motor ab und stieg aus. Meine Sporttasche holte ich aus dem Kofferraum und hängte sie mir über die Schulter. Das Gewicht meiner Schlittschuhe und Klamotten darin war mir schon lange vertraut.
Die Treppe zur Veranda stieg ich so langsam hinauf, dass es vermutlich aussah, als würde ich in Zeitlupe laufen. Meine Hand glitt über das weiß gestrichene Geländer und fiel zurück an meine Seite, als die Treppe endete. Ich lief an der Bank voller Pflanzen vorbei, um die sich Mom jeden Tag kümmerte, bevor sie zur Arbeit fuhr. Vorbei an dem deckenhohen Fenster, das einen freien Blick ins Wohnzimmer bieten würde, stünden die Vorhänge noch offen.
Ich trat an die Haustür, mein Herz gestählt, mein Magen ein einziges Chaos. Und als würden höhere Kräfte über unser Haus wachen, begann die Lampe über mir in dem Moment zu flackern, als ich stehen blieb. Jeden Abend kostete es mich mehr Überwindung, die Tür zu öffnen und mich mitten in das Auge des Sturms zu stellen. Aber was blieb mir anderes übrig?
Leise schloss ich die Tür hinter mir, zog meine Schuhe noch im Eingangsbereich aus. In Socken ging ich in die Küche, füllte mir ein Glas mit Wasser, das ich in einem Zug leerte. Mir war nur allzu bewusst, dass ich damit lediglich Zeit schindete, konnte mich aber einfach nicht dazu überreden, in das angrenzende Esszimmer zu treten. Mehrere Male atmete ich tief durch. Dann stellte ich das Glas in den Geschirrspüler, strich meinen Pullover glatt und lief nach nebenan.
Wie immer verstummten die Stimmen meiner Eltern, als sie mich hörten. Zu gern hätte ich gewusst, worüber sie geredet hatten. Nur war die Wahrscheinlichkeit, dass sie es mir erzählen würden, verschwindend gering – genauso wie die, dass ich tatsächlich danach fragte.
Ich spürte das Vibrieren in der Luft, noch ehe Dad die Stimme erhob.
»Du bist zu spät, Lucy«, sagte er.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, nicht zu antworten und das Haus einfach wieder zu verlassen. Zurück aufs Eis zu flüchten, wo der Rest der Welt in den Hintergrund rückte.
Stattdessen stieß ich ein Seufzen aus. »Ich habe die Zeit vergessen.« Mit einer Hand zog ich den Stuhl an der rechten Seite des Tischs hervor, um mich zu setzen.
Ich tat mir etwas von dem Essen auf und hoffte, dass Dad es dabei belassen würde. Zwei Löffel Bohnen, drei Kartoffeln, etwas Soße. Je schneller wir aufaßen, desto eher würde der Abend zu einem Ende finden.
Dad nahm sein Besteck zur Hand. »Das Familienessen ist jeden Freitag zur gleichen Zeit.«
»Ich weiß.« Ich biss mir auf die Zunge, um keine Erklärung entkommen zu lassen. Keine Rechtfertigung, die ohnehin auf taube Ohren stoßen würde.
»Ich hoffe, du hast genügend Hunger mitgebracht«, sagte Mom nach einem Augenblick. Ich wollte ihr zulächeln, Dankbarkeit dafür zeigen, dass sie die Stimmung am Tisch etwas auflockern wollte. Aber dieser Gesichtsausdruck fühlte sich in Anwesenheit meiner Eltern so falsch an, dass das Lächeln sich auf halbem Weg verlor.
Ich nickte nur. Nahm einen Bissen von dem Essen, der mehr und mehr Geschmack verlor, je länger die daraufhin folgende Stille anhielt. So war es immer: Schweigen. Und wenn ein Gesprächsthema aufkam – wenn Fragen gestellt wurden, war es nie das Eiskunstlaufen. Als würde es in diesem Raum hier gar nicht existieren.
Meistens ignorierte ich es und tat so, als würde ich nicht mitbekommen, was für einen Bogen sie um das Thema schlugen. Allerdings überkam mich heute der Wunsch, ihnen trotzdem davon zu erzählen. Damit sie die Augen nicht weiter vor diesem riesigen Teil meines Lebens verschließen konnten.
»Coach Wilson und ich haben über die nächsten Wochen gesprochen«, sagte ich. »Welche Elemente wir verändern oder umstellen müssen, weil sie beim letzten Wettkampf nicht gut funktioniert haben.«
»Das klingt doch gut«, erwiderte Mom. Wieder keine Rückfrage. Kein »Wie ist es gelaufen?«. Kein »Wie geht es dir?« oder »Hast du Sorgen, dass etwas nicht klappt?«. Ich seufzte leise.
»Ja«, sagte ich. Ich sparte es mir, ihr von dem dreifachen Rittberger zu erzählen, der mir immer noch unendlich schwerfiel.
Mom nickte nur. Sie sah betreten auf ihren Teller hinunter – vermutlich, weil sie nach meiner knappen Antwort nicht mehr wusste, wie sie das Gespräch weiterführen sollte.
Ich schluckte den bitteren Geschmack auf meiner Zunge hinunter und nahm einen Bissen meines Essens. Es war nicht so, als hätten sie sich in den letzten zwei Jahren gefreut, wenn ich Fortschritte gemacht hatte – geschweige denn dafür interessiert, wie es mir ging. Jedes Mal, wenn ich mit ihnen sprach, hatte ich das Gefühl, als wäre es nicht weiter wichtig, was in meinem Leben passierte. Beinahe bereute ich es, überhaupt etwas gesagt zu haben. Es fühlte sich weniger mies an, wenn wir einfach gar nicht sprachen, als halbherzige Reaktionen auf meine Aussagen zu bekommen.
Besteck kratzte auf Tellern. Unterbrochen wurde es nur von dem stetigen Ticken der großen Wanduhr, das unser Schweigen füllte. Es war ein vertrautes Geräusch – eins, das mir auch während des Essens zeigte, dass die Zeit nie stillstand. Ich konzentrierte mich darauf, auf den Takt, der auf eine Weise beruhigend war, die ich nicht erklären konnte.
Schließlich riss Dad mich aus meinen Gedanken. »Denkst du daran, dass nächste Woche das Praktikum in unserer Firma anfängt?«
Ich hielt mit der Gabel auf halbem Weg zum Mund inne. Meine freie Hand ballte ich in meinem Schoß zu einer Faust. Natürlich erinnerte ich mich daran. Wie konnte ich auch nicht? Die Tatsache, dass meine letzte Chance, das zu meinem Beruf zu machen, was ich liebte, an einem seidenen Faden hing?
»Ich habe es nicht vergessen.« Es klang schneidender, als ich beabsichtigt hatte. Aber wie sollte ich ihnen sagen, dass es mir den Hals zuschnürte, auch nur daran zu denken, mein Studium wieder aufnehmen zu müssen? Wenn es sie nicht zu interessieren schien, was ich mit meinem Leben anfangen wollte?
»Uns ist bewusst, dass es in deine Vorbereitungszeit für den Wettkampf fällt«, begann Mom. »Aber …« Sie wirkte unsicher, zögerte offensichtlich auszusprechen, was ihr durch den Kopf ging.
»Die Abmachung ist eigentlich schon vorbei«, nahm Dad den Faden auf.
»Ihr müsst es mir nicht noch mal erklären«, sagte ich leise. »Ich weiß, dass ihr mir keinen weiteren Wettbewerb hättet zugestehen müssen.«
Unsere Abmachung war simpel gewesen. Ein Jahr Zeit, um endlich einen Platz unter den drei Besten in einem Wettkampf zu schaffen. Ich hatte mich in dem einen Jahr voll und ganz aufs Eislaufen konzentrieren können – kein Studium, keine unbeantworteten Zukunftsfragen, die mich ablenkten.
Schaffte ich es nicht, würde ich mein Marketingstudium wieder aufnehmen müssen. Etwas, das für andere wie eine Banalität klingen mochte. Mich hinderte es nachts am Schlafen.
Meine letzte Chance hatte ich vor zwei Monaten gehabt. Nicht ein einziges Mal hatte ich es geschafft, meinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Trotzdem hatten meine Eltern mir noch für einen allerletzten Wettkampf ihr Okay gegeben. Mit der Bedingung, währenddessen das Praktikum in ihrer Firma absolvieren zu müssen.
Für meinen Lebenslauf, hatten sie gesagt. Damit ich zumindest irgendetwas in dieser Lücke vorweisen konnte, sobald ich einen Job suchte.
Ich verstand die Praktikabilität dahinter. An den Tagen, an denen ich vergaß, wie wenig Vertrauen sie in mich hatten – wie wenig sie es mochten, dass ich nicht anders konnte, als mich völlig dem Eiskunstlaufen zu widmen –, konnte ich mir sogar einreden, dass sie recht hatten.
Nur war heute nicht so ein Tag. Der Frust, den Sprung wieder nicht geschafft zu haben, war zu groß. Genauso wie die Verzweiflung, weil die Zeit an mir vorbeizufliegen schien.
Das Praktikum war eine Ablenkung. Und gerade jetzt konnte ich mir keine erlauben.
Nach dem Abendessen ging ich auf direktem Weg in mein Zimmer. Es lag im hintersten Bereich der oberen Etage und hatte den Vorteil, dass ich hier im Normalfall ungestört blieb.
Erschöpft stellte ich meine Sporttasche neben dem Kleiderschrank ab, ging links um mein Bett herum und hockte mich vor das offene Gehege, das dort stand. Bunny starrte mir aus großen Augen entgegen, als hätte sie meine Ankunft bereits erwartet. Als ich ihr die Hand entgegenhielt und sie schnüffeln ließ, merkte ich, wie sich die Anspannung in mir löste.
Behutsam lockte ich sie aus ihrem Versteck. Sie folgte mir mit einem Sprung aufs Bett, wo sie sich neben mir ausstreckte. Ich streichelte gedankenverloren über ihr Fell und bemühte mich, das Abendessen mental dort zu verstauen, wo es hingehörte: im Papierkorb.
Nach einer Weile fing Bunny an zu zappeln und gab damit unmissverständlich zu verstehen, dass wir mit den Zuneigungen fürs Erste fertig waren. Sie hoppelte quer über das Bett, schnupperte mal an einem Kissen, mal in der Luft. Ich sah ihr dabei zu, spürte der willkommenen Leere nach, die mich ausfüllte, sobald ich Raum zwischen mich und meine Eltern brachte.
Nach einigen Minuten beschloss Bunny, vom Bett zu springen. Ich fing sie auf und hielt sie für wenige Sekunden in der Luft. »Das erste Flugkaninchen, das die Welt gesehen hat«, murmelte ich. Dann lachte ich über mich selbst und setzte sie auf dem Boden ab.
Beim Aufrichten fiel mir der violette Flyer ins Auge, den ich erst gestern an meinen Wandspiegel geheftet hatte. Der Regionalausscheid im Einzellaufen fand Mitte November statt und rückte mit riesigen Schritten näher.
Ich riss meinen Blick von dem Flyer los. Ließ ihn zu meinem Spiegelbild gleiten, das mich aus großen braunen Augen so frustriert ansah, wie ich mich innerlich fühlte. Meine glatten schwarzen Haare steckten in dem Pferdeschwanz, zu dem ich sie nach der Dusche in der Umkleide zusammengebunden hatte. Mein Strickpullover leuchtete in dem gleichen Rot wie der abblätternde Nagellack auf meinen Fingernägeln.
Ich zog mir die Ärmel des Pullis bis über die Finger und wandte mich vom Spiegel ab. Bunny hüpfte aufgeregt vor meinen Füßen hin und her, bis ich mich zu ihr runterbeugte und sie hinter den Ohren kraulte.
»An deiner emotionalen Festigkeit müssen wir noch arbeiten«, sagte ich. »Vor drei Sekunden konntest du es nicht erwarten, von mir wegzukommen.«
Ihre Antwort war ein Naserümpfen, das mein Herz ein klein wenig leichter werden ließ. Ich setzte mich neben sie auf den Boden und sah ihr dabei zu, wie sie von einer Ecke des Raums in die nächste sprang. Dabei hielt sie immer mal wieder vor mir an, um sich ihre Streicheleinheiten abzuholen. Am liebsten hätte ich sie so fest wie möglich an meine Brust gepresst und nicht mehr losgelassen. Bunnys Wärme linderte jegliche Kälte, die ich in mir spürte. Ihre Knopfaugen, das glatte weiße Fell, das an den Pfoten einem hellen Braun wich und aussah, als würde sie kleine Söckchen tragen. Ich hätte ihr stundenlang bei ihrer Erkundungstour zusehen können – als würde ich das seit zwei Jahren nicht ohnehin ständig tun. Die einzige Zeit, die ich nicht bei ihr verbrachte, war, wenn ich zum Training fuhr. Dann sahen meine Eltern nach ihr.
Ich brauchte einige Minuten, bis ich die Kraft aufbrachte, mich vom Boden aufzurappeln. Mein Blick blieb sehnsuchtsvoll an meinem riesigen Kingsize-Bett hängen, das gut ein Drittel meines Raumes einnahm. Ich ignorierte meinen inneren Drang, mich dort draufzulegen und die Decke anzustarren. Das nervöse Summen, das meine Glieder durchfuhr, war Hinweis genug, dass ich von dieser Unruhe, die mich jeden Abend überfiel, auch heute nicht verschont bleiben würde. Es war seit Monaten so. Sobald ich stehen blieb, überkam sie mich und brachte mich so lange um den Schlaf, bis meine Augen schließlich aus purer Müdigkeit zufielen. Am liebsten wäre ich joggen gegangen, aber der Gedanke, dafür an meinen Eltern vorbeizumüssen, die unten vermutlich im Wohnzimmer saßen, hielt mich ab.
Daher machte ich einen großen Schritt über Bunny hinweg und umrundete mein Bett, um die Doppeltüren aufzuschieben, die zu meinem eigenen kleinen Balkon führten. Rechter Hand stand ein Sofa aus Paletten und Sitzkissen, das, würde es nach meinen Eltern gehen, schon längst den Weg auf den Schrottplatz gefunden hätte. Es war ein Stilbruch, der nicht ganz zum restlichen Teil des Hauses passen wollte – und gerade deswegen liebte ich diesen Ort heiß und innig.
Ich ließ mich auf das Sofa fallen und hörte im nächsten Moment bereits, wie Bunny durch die Tür hüpfte. Den Kopf an die Wand hinter mir gelehnt, richtete ich meinen Blick auf den Himmel.
Meine Eltern hatten sich nie für das Stadtleben begeistern können, daher lebten wir ein Stück außerhalb von Winnipeg. Eine Tatsache, die ich jeden Tag verfluchte, wenn ich in den Berufsverkehr geriet. Aber an Abenden wie diesem? Ich konnte mir keinen schöneren Anblick vorstellen als die Sterne am dunklen Himmel über mir.
Ich versuchte abzuschalten. Zu vergessen, dass ich noch nicht mal annähernd an dem Punkt war, wo ich sein wollte – wo ich sein musste, wenn ich mein Studium nicht wieder aufnehmen und langsam, aber sicher eingehen wollte.
Die verbliebene Zeit bis zum Wettkampf saß mir im Nacken … und mit ihr die Panik, dass sie nicht ausreichen würde.
Mein Wecker schlug Alarm, als ich gerade meine Turnschuhe zuband. Es war der zweite, der heute Morgen klingelte – für den Fall, dass ich den ersten überhörte oder beschließen sollte, noch ein paar Minuten im Bett liegen zu bleiben. Nicht dass ich ihn momentan brauchte. An den wenigsten Tagen schaffte ich es, mehr als sechs Stunden zu schlafen.
Ich zog den Knoten fest, stopfte die Schnürsenkel in den Schuh und begann noch im Aufstehen, meine Arme zu dehnen. Bunny sah mir zweifelnd von ihrem Platz auf meinem Bett aus zu – von uns beiden war sie die Langschläferin. Bevor ich mein Zimmer verließ, strich ich ihr noch einmal über den Kopf. »Mach keinen Unsinn, während ich weg bin«, sagte ich und begab mich dann auf den Weg nach draußen.
Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal hinunter ins Erdgeschoss, schnappte mir meinen Schlüssel vom Sideboard neben der Tür und war kurz darauf schon an der frischen Luft. Es war fast halb sieben. Die Temperaturen waren bisher noch nicht so weit gefallen, dass mein Atem Wölkchen vor meinem Gesicht bildete, aber ich spürte, dass die Kälte bereits im Anmarsch war. Jedes Jahr beklagten sich alle darüber, wie wenig man die Wintermonate in Winnipeg aushalten konnte – und hier war ich, seit Juni schon bereit für die kalten Temperaturen.
Meine Beine schlugen wie von selbst die Strecke gen Osten ein. Ich umrundete unser Haus und lief geradewegs auf den langen Park zu, der sich in nicht allzu weiter Entfernung vor mir auftat. Kies knirschte unter meinen Füßen, mein Pferdeschwanz schlug mir gegen den Rücken. Je länger ich lief, desto wacher wurde ich – etwas, das bei mir selbst der stärkste Kaffee nicht schaffte.
Ich umrundete den Teich in der Mitte des Parks, wich einem anderen frühmorgendlichen Jogger aus und machte mich auf den Rückweg. Als unser Haus in meinem Blickfeld auftauchte, zwang ich mich zu einem Sprint, der jegliche Frustration von gestern Abend ausknockte.
Schwer atmend stolperte ich die Veranda hoch und ins Haus. Ich zog mir die Schuhe aus, schnappte mir Wechselsachen aus meinem Zimmer und schloss mich dann im Bad ein. Meine Klamotten landeten auf einer hölzernen Ablage direkt neben dem Waschbecken. Ich schälte mich aus meinem engen Sport-BH, der Leggings und zog den Haargummi aus meinem Pferdeschwanz. Dann stellte ich mich unter den heißen Wasserstrahl.
Durchatmen, Lucy.
Selbst unter dem warmen Wasser fiel es mir schwer, stillzuhalten. Ich wollte – musste mich bewegen, irgendetwas tun. Die Anspannung war direkt nach der Joggingrunde zurück in meinen Körper gewandert, und je heller es wurde, je mehr Leute aufwachten und in ihren Tag starteten, desto schlimmer wurde sie.
Noch zehn Sekunden, handelte ich mit mir selbst aus. Neun … acht … sieben … sechs … Ich kostete jede Sekunde aus und trat erst aus der Dusche, als ich bis eins heruntergezählt hatte, darauf bedacht, nicht auszurutschen und meine Eltern zu wecken, wie es schon viel zu häufig vorgekommen war.
Meine Haare trocknete ich innerhalb weniger Minuten und zog mir schließlich mein weißes Shirt über, das kurz oberhalb meines Bauchnabels endete, dazu meine schwarz-weiß karierte Hose. Ich rückte das dunkelblaue Armband, das ich nie ablegte, zurecht und verließ das Bad.
Bunny regte nicht einen Muskel, als ich in meinem Zimmer frische Sportsachen in meine Tasche räumte. Bei ihrem Anblick stritten in mir jedes Mal zwei Seiten: Die eine, die sich zu ihr gesellen, den Samstag genießen und absolut nichts tun wollte, außer im Bett zu liegen und hin und wieder den Weg in die Küche anzupeilen. Und diese lautere, die alles übertönte, weil sie unzufrieden war. Weil nichts, was ich je tat, genügte und meine Eltern genau das wissen würden, sollte ich in einem Monat mein Ziel nicht erreichen.
Mit einiger Mühe löste ich mich vom Anblick meines Haustiers, zog den Reißverschluss meiner Tasche zu und verließ nach einem kurzen Frühstück das Haus.
Ich brauchte eine halbe Stunde, bis ich an der Century Arena ankam. Sie lag etwa zwanzig Minuten von Downtown Winnipeg entfernt und war ein grauer Klotz von einem Gebäude neben einer großen Grünfläche, die hin und wieder als Austragungsort von Footballspielen genutzt wurde. Trat man aus dem Haupteingang der Eissporthalle, wurde man vom Anblick mehrerer Lagerhallen begrüßt, die vor einigen Jahren auf der anderen Seite der Straße gebaut worden waren. Die gesamte Umgebung war kahl und trostlos und brachte mich jedes Mal dazu, meinen Schritt zu beschleunigen, um möglichst schnell ins Innere zu gelangen.
Ich lief die breite Steintreppe hinauf, schob die Glastür auf – und sofort schwappte eine Welle der Vertrautheit über mich hinweg. Der Geruch, der mir in die Nase stieg, war eine merkwürdige Mischung aus Schweiß, dem Gummi vom Bodenbelag und fettigen Pommes, die ab zwölf in der Cafeteria ausgegeben wurden. Ich atmete ihn seit meinem fünften Lebensjahr regelmäßig ein – und verband ihn mindestens genauso lange mit einem ganz bestimmten Gefühl.
Freiheit.
»Morgen, Susie«, begrüßte ich die derzeitige Kassenaushilfe, die rechts neben der Tür hinter einem Tresen saß. Sie schaute kurz von ihrem Handy auf und winkte mir zu, ehe sie den Kopf wieder senkte.
Ich bahnte mir meinen Weg zur Umkleide, steuerte meinen Spind an, um mir meine Sportsachen anzuziehen. Danach begann ich mit meinen Aufwärmübungen. Dehnen, Seilspringen, mehr dehnen, wieder und wieder, bis ich das Gefühl hatte, meinen Körper ausreichend auf die Belastung vorbereitet zu haben. Erst dann zog ich meine Schlittschuhe an.
Niemand kam mir auf dem Weg zur Eisbahn entgegen. Ich wollte mich bereits darüber freuen, dass ich sie wenigstens für einen kurzen Zeitraum ganz für mich allein haben würde – aber genau in dem Moment hörte ich in kurzen Abständen zweimal hintereinander das Geräusch von Kufen, die auf dem Eis aufkamen. Jemand hatte sich gerade an einer Sprungfolge versucht.
Dem darauf folgenden Fluchen nach zu urteilen allerdings weniger erfolgreich. Kaum war die Eisbahn in Sichtweite, wurde mir klar, um wen es sich handelte. Sofia lief in gleichmäßigen Achten über das Eis, mal rückwärts, mal vorwärts und weitaus schneller, als für das Training von präzisen Figuren gut war. Ihre schlanke Gestalt flog nur so von einer Seite zur anderen.
»Was ist denn mit ihr los?«, fragte ich Aaron, als ich neben ihm zum Stehen kam. Er hatte die Ellenbogen auf die Bande gestützt, die das Eis umschloss, und sah Sofia bei ihrem Training zu.
»Du meinst, außer dem Dämon, der von ihr Besitz ergriffen hat?«, antwortete er und zuckte dann mit den Schultern. »Keine Ahnung, ich bin auch erst seit zehn Minuten hier.« Er richtete sich aus seiner vorgebeugten Position auf. Kurz verschwand seine Hand in der Hosentasche, aus der er ein Haargummi beförderte. Mit wenigen Handgriffen hatte er sich die Haare aus dem Gesicht gebunden, die Augen weiterhin fest auf Sofia gerichtet.
»Hast du Angst, dass sie dich umfährt, wenn du jetzt aufs Eis gehst?«, zog ich ihn auf.
Er sah mich kurz an, zog die Augenbraue hoch. »Ich warte auf Emilia. Und ja, in der Zeit, die ich damit verbringe, auf meine Partnerin zu warten, haben andere bereits zweimal olympisches Gold einkassiert.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir arbeiten daran.«
So, wie er es sagte, klang es eher, als würde er versuchen, einem Haustier schlechtes Benehmen abzutrainieren – eine Aussage, die ich mir lieber verkniff. Aaron und Emilia mochten hin und wieder wie ein altes Ehepaar streiten, aber sobald sie auf der Bahn waren, harmonierten sie auf eine Weise, die ich noch nie erlebt hatte.
Aaron war fast so lange im Verein wie Sofia und ich. Im Gegensatz zu meiner Beziehung mit Sofia, war es bei Aaron anders gewesen. Er war zugänglicher. Schenkte jeder Person ein Lächeln und verstand sich auch mit allen. Ich war sieben oder acht gewesen, als er das erste Mal bei einer Unterrichtsstunde dabei gewesen war. Damals hatte er als Einzelläufer angefangen, war aber zum Paarlauf gewechselt, kurz nachdem Emilia sich hier eingeschrieben hatte. Wir kannten uns seit mehr als zehn Jahren, und ich verstand mich ziemlich gut mit ihm. Aber irgendwie war unsere Freundschaft nie über die Wände der Eishalle hinausgewachsen. Als lebten wir nur hier, nur auf dem Eis, und würden ansonsten gar nicht wirklich existieren.
»Mein Partner verspätet sich auch immer. Es ist schrecklich«, sagte ich und legte meine Kufenschoner und eine Wasserflasche auf dem Sitz rechts von mir ab.
Aaron sah mir dabei zu, wie ich aufs Eis trat. »Du hast keinen Partner.«
»Korrekt«, meinte ich, grinste ihn über die Schulter hinweg an und glitt von der Bande weg. Meine Beine fanden ganz von selbst ihren Rhythmus. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und je schneller ich lief, desto mehr Gegenwind fuhr mir durch die Haare. Würde ich die Augen schließen, könnte ich mir beinahe vorstellen, dass sich so fliegen anfühlen musste.
Ich lief einige Runden, um mich aufzuwärmen, darauf bedacht, Sofia bestmöglich aus dem Weg zu gehen. Ich war mir nicht mal sicher, ob sie überhaupt bemerkte, dass neben ihr mittlerweile noch jemand auf dem Eis war – sie schien sich völlig in ihrem Training verloren zu haben. Eine Fähigkeit, um die ich sie beneidete. So fertig es mich auch machte, nicht mit ihr mithalten zu können, ich wusste, dass sie für alles, was sie erreichte, Tag und Nacht trainierte.
Du auch, Lu, sagte ich mir. Wenn ich nicht auf dem Eis war, trainierte ich meine Ausdauer, meine Flexibilität. Ich machte Sprungübungen, nahm Ballettkurse, wenn die Zeit es zuließ. Ich liebte das Eis, seit ich vor vierzehn Jahren das erste Mal darauf gestanden hatte.
Ich erinnerte mich noch genau daran – der zugefrorene See, zu dem meine Eltern mich mitgenommen hatten. Nicht ahnend, dass dieser eine Nachmittag mein ganzes Leben bestimmen würde. Ohne die Hilfe meiner Eltern wäre ich alle zwei Sekunden hingefallen – aber ich spürte die Wärme ihrer Hände noch in meinen, als wäre es erst gestern gewesen. Meine Gleitschuhe waren über das Eis geglitten und um uns herum hatten sich so viele Menschen aufgehalten, dass wir uns nur in kleinen Kreisen bewegen konnten. Ich hatte mir ausgemalt, was für Wesen sich unter der Eisdecke in den Tiefen des Sees befinden würden: Monster und märchenhafte Gestalten, die Teil meiner Gutenachtgeschichten waren.
Die Erinnerung hatte sich in meinen Kopf gebrannt – so tief und unnachgiebig, wie es nur Momente taten, die das gesamte Leben von Grund auf veränderten. Über die Jahre war das Eis meine Zuflucht geworden. Mein sicherer Hafen, auch nachdem die gemeinsame Zeit mit meinen Eltern in weite Ferne gerückt war. Abgelöst von Schweigen und Tausenden ungesagten Worten.
Ich wich einer Gruppe von Kindern aus, die nacheinander auf das Eis liefen, und zog mich auf die andere Seite der Fläche zurück. Ein Blick auf die Wanduhr bestätigte mir, dass die ungestörte Zeit sich langsam dem Ende zuneigte. Bevor die Eishalle ihre Pforten am Nachmittag für alle öffnete, bot unser Verein Trainingseinheiten für Interessierte an.
Ich sprang einen doppelten Toeloop, drückte mich dafür mit der Zacke meines linken Schlittschuhs vom Eis ab. Ich übte meine Pirouetten, die nie völlig sauber, nie ganz perfekt waren, und mehrere Schrittfolgen, die mir schon immer am meisten Spaß gemacht hatten. Ich verlor die Zeit aus den Augen.
Irgendwann hielt ich schwer atmend an der Bande. Ich stützte mich auf meinen Oberschenkeln ab, während mein Brustkorb sich bei dem Versuch hob und senkte, meine Lungen mit genügend Sauerstoff zu versorgen. Meine dünne Jacke hatte ich schon längst abgelegt, und der Schweiß rann mir über die Schläfen und den Nacken und Rücken hinunter.
Nach ein paar Sekunden richtete ich mich auf. Mein Blick fiel auf die Zuschauerränge auf der anderen Seite der Halle – und dort auf ein Paar Augen, das mich betrachtete. Aus der Entfernung erkannte ich dunkelblonde Haare, die weit in die Stirn fielen und nach hinten hin länger wurden. Ein unauffälliges graues Shirt, das ein wenig zu weit war, um etwas über die Statur zu verraten.
Eine Gänsehaut überzog meine Arme. Sie hatte rein gar nichts mit der Kälte hier drin zu tun und alles mit der Intensität, mit der die Person mich betrachtete. Ich wollte mich abwenden, den Blickkontakt lösen, in dem ich plötzlich gefangen war. Es konnte nicht länger als ein paar Sekunden gedauert haben. Ein paar Sekunden, in denen mein Herzschlag in meinen Ohren dröhnte. In denen mein Atem unendlich laut klang. Ein paar Sekunden – bis er sich endlich abwandte und alle Geräusche in der Halle mit einem Mal wieder auf mich einprasselten.
Ich streckte meinen Arm hinter mir aus, tastete nach der Bande in meinem Rücken und lehnte mich dagegen. Ich mied den Blick auf die Zuschauerränge und bemühte mich, das leichte Zittern in meinen Beinen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich hatte bisher zu wenig getrunken – natürlich würde mein Körper langsam anfangen zu streiken. Ich lief zum Ausgang, der sich nur wenige Meter neben mir befand, und griff nach der Wasserflasche, die ich vorhin hier abgestellt hatte. Mit jedem Schluck beruhigte ich mich weiter, bis ich mich schließlich wieder gut genug fühlte, um mein Training fortzusetzen.
Ich drehte ein paar Runden. Das Bedürfnis, einen Blick über die Schulter zu den Zuschauerrängen zu werfen, war übermächtig. Von jetzt auf gleich hatte meine Konzentration sich in Luft aufgelöst und war plötzlich nirgends mehr aufzufinden. Daher machte ich nur ein paar kleine Übungen. Einfache, unsauber ausgeführte Figuren, die ich so niemals vor einer Jury aufführen würde. Währenddessen beobachtete ich die anderen Leute auf dem Eis. Nur unweit von mir entfernt arbeiteten Aaron und Emilia an ihren Paarlaufpirouetten. Gerade befanden sie sich beide in der Hocke. Aaron hielt Emilia fest, die ein Bein nach hinten ausstreckte und ihre Arme nach rechts und links ausbreitete.
Für die Figur brauchten sie nur wenige Sekunden. Während des Aufrichtens grinsten sie sich gegenseitig an und … ein unerwartet heftiges Stechen in meinem Brustkorb ließ mich zusammenzucken. Ich rieb mir über die Brust, um das Gefühl zu vertreiben, merkte aber, wie ich gleichzeitig ungewollt langsamer wurde und sie beobachtete.
Sie waren ein Team. Unterstützten sich. Lächelten zusammen, auch wenn das Training ihnen alles abverlangte. Ich wusste, dass Paarlaufen genügend Schwierigkeiten mit sich brachte und sie sich oft genug in den Haaren lagen. Aber so kindisch es auch sein mochte: Ich fragte mich, wie es sich anfühlte. Wie es war, jemanden an seiner Seite zu haben, der bedingungslos an einen glaubte. Auf dem Eis, aber auch fernab davon.
Ich wandte den Blick ab. Versuchte, die Gedanken abzuschütteln. Allerdings waren sie wesentlich hartnäckiger, als mir lieb war. Sie begleiteten mich die nächsten Minuten über das Eis, ganz gleich, wie sehr ich sie loszuwerden versuchte.
Es war ein Teufelskreis. Sie verschwanden nicht, nein. Stattdessen mischte sich Frustration darunter und ließ meine Gedanken noch schneller kreisen.
Das Praktikum.
Der Wettbewerb.
Diese verdammte Abmachung.
Sie geisterten in einer Endlosschleife durch meinen Kopf. Ich wollte es ausstellen, darauf vertrauen, dass alles irgendwie gut werden würde, auch wenn ich selbst nicht wusste, wie. Aber was, wenn ich es nicht schaffte? Was, wenn mein Herz für das Eiskunstlaufen gemacht war – aber der Rest von mir nicht?
Ich presste die Zähne aufeinander. Wischte die Zweifel beiseite. Nein. Ich wusste, dass ich es konnte. Dafür mussten meine Eltern nicht an mich glauben. Nur ich allein war für meine Zukunft verantwortlich. Ich würde es schaffen – angefangen hier und jetzt. Indem ich die Zeit nutzte, die mir bis zum Wettkampf noch blieb. Mich nicht ablenken ließ.
Entschlossen nahm ich Anlauf, verlagerte mein Gewicht auf den linken Fuß und sprang ab. Für einen kurzen Moment war es wunderbar still – dann hallte eine Stimme über das Eis.
»Mika, pass auf!«
Ich riss die Augen auf. Sah in Zeitlupe, wie ein Kind mir vor die Füße fuhr. Genau dorthin, wo ich im Bruchteil einer Sekunde landen würde. Ich reagierte, ohne darüber nachzudenken. Beendete die Drehung nicht, sondern kam knapp vor ihm auf und spürte – spürte plötzlich deutlich, dass etwas nicht stimmte. Mein Fuß gab unter mir nach, ich kam mit den Knien hart auf dem Eis auf und fing mich mit den Händen ab, verhinderte so, dass auch mein Gesicht noch auf den harten Untergrund prallte.
Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren, einen klaren Gedanken fassen zu können und mich nach dem Kind umzusehen. Es stand einen halben Meter von mir entfernt, die Augen weit aufgerissen, die Hände immer noch vor dem Körper erhoben, als wollte es sich vor dem Aufprall schützen.
Erleichtert atmete ich aus und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Ich wollte mich aufrecht hinsetzen und aufstehen, um zu fragen, ob alles in Ordnung war. Aber als ich mein Gewicht auf die Beine verlagerte, zuckte ein scharfer Schmerz durch meinen linken Knöchel.
Oh Gott.
Je mehr ich mich darauf konzentrierte, desto schlimmer wurde es. Und mit jedem Pochen ergriff die Panik mehr und mehr von mir Besitz.
Nicht jetzt, nicht jetzt, bitte nicht jetzt!
Meine Glieder erstarrten unter der Angst. Ich konnte mich nicht bewegen, obwohl meine Hände bereits eisig waren und die Kälte an meinen Beinen durch die Kleidung drang.
Ein Paar Kinderschlittschuhe schob sich in mein Blickfeld, gefolgt von einer kleinen behandschuhten Hand. Ich sah zu dem Jungen auf – er starrte mich mit riesigen Rehaugen an und wirkte mindestens genauso verschreckt wie ich.
»Tut es sehr weh?«, fragte er leise. Seine Stimme war hoch und zitterte fürchterlich – er konnte nicht älter als sieben oder acht Jahre sein. Er sah zu meinen Beinen, dann wieder in mein Gesicht und ließ die Hand schließlich sinken. »Kannst du aufstehen?«
»Es geht schon …«
»Alles okay?«, hörte ich Aaron von der Mitte der Eisbahn rufen. Ich sah auf, bemerkte, wie er sich schon langsam in meine Richtung schieben wollte, winkte aber ab.
»Ja, alles gut.« Hoffte ich. Ich spürte bis hierhin, dass Aaron nicht ganz überzeugt war. Aber ich presste die Kiefer aufeinander und richtete mich auf, um zu zeigen, dass es mir gut ging. Das Letzte, was ich wollte, war, die Aufmerksamkeit der gesamten Halle auf mich zu ziehen.
Ich tat so, als würde der Schmerz in meinem Fuß nicht existieren, und wartete, bis er sich wieder seinem eigenen Training zuwandte. Langsam schob ich mich über das Eis bis zum Ausgang, hangelte mich die letzten Meter an der Bande entlang und betete, dass es sich nur wegen des Schocks so schlimm anfühlte.
Der kleine Junge fuhr langsam hinter mir her – als wollte er mich auffangen, sollte ich noch einmal hinfallen. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass er sich wieder seinem Training zuwenden und mich allein lassen sollte, aber er wirkte so aufgelöst, dass ich es nicht übers Herz brachte.
All meine Konzentration war darauf gerichtet, bis zum Ausgang zu kommen, ohne der Panik nachzugeben, die sich in mir ausgebreitet hatte. Meine Finger umfassten die Ecke, ich hob meinen schmerzenden Fuß über die Stufe, die das Eis vom Boden außerhalb trennte, und im nächsten Moment legte sich eine warme Hand um meinen Unterarm und stützte mich.
Meine Augen schossen vom Boden zu der Hand. Ich wollte sie abschütteln, aber meine Worte lösten sich in Luft auf, als ich der Person ins Gesicht sah. Dunkelblonde Haare und Augen, die mich besorgt musterten. Ich fragte mich, wie seine Hand so warm sein konnte, wenn er nur ein Shirt trug und ich mich fühlte, als würde ich gleich zu Eis erstarren. Aber im nächsten Moment hatte er mir über die Stufe geholfen und ich schüttelte seinen Griff ab.
Er sah an mir herunter, dann hinter mich – zu dem kleinen Jungen, wie ich annahm.
»Es tut mir so leid«, beeilte der Mann sich zu sagen. Seine Hand war noch immer ein wenig in meine Richtung ausgestreckt – beinahe so, als wäre er noch nicht bereit gewesen, mich loszulassen, als ich ihn abgeschüttelt hatte. »Ich habe zu spät gesehen, dass Mika geträumt hat. Er war völlig abseits von dem Bereich, wo seine Gruppe trainiert.«
Seine Stimme ist genauso warm.
Ich schüttelte den Kopf, um ihn zu klären.
»Ist alles in Ordnung? Dein Sturz …« Er kam kurz ins Stocken, als wäre er unsicher, wie er den Satz beenden sollte.
Ich nickte kurz. »Ja. Alles gut.« Das Pochen in meinem Fuß strafte mich Lügen.
Etwas zupfte im Rücken an meinem Oberteil. Der Junge – Mika – hielt mit seiner kleinen Hand den Stoff meines Shirts umfasst. Seine Augen glänzten vor Tränen, die kurz davor waren überzulaufen. Das Schuldgefühl stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Ich wollte dir nicht in den Weg fahren«, erklärte er. Als könnte ich ihm in die Kulleraugen sehen und glauben, dass er es mit Absicht getan hatte.
»Schon gut«, beteuerte ich und versuchte mich an einem aufmunternden Lächeln, das ich selbst nicht ansatzweise spürte. Ich war erfüllt von Panik. Innerlich schrie jeder Teil von mir, dass ich nicht länger hier stehen bleiben konnte, sondern sichergehen musste, dass … dass meine Träume gerade nicht dabei waren, vor meinen Augen zu zerplatzen.
Aus irgendeinem Grund wollte ich aber nicht, dass Mika das mitbekam. Ich wollte nicht, dass er sich noch schlechter fühlte, als er es offensichtlich schon tat. Ich überspielte also die Panik und tat so, als wäre alles in Ordnung.
Mika wirkte nicht so beruhigt, wie ich es mir erhofft hatte. Und der Mann neben mir schien das Gefühl zu teilen.
»Sicher?«, hakte er nach. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen vertiefte sich, als er zu meinem linken Bein hinuntersah.
Ich hatte das Bedürfnis, es hinter dem anderen zu verstecken, wusste aber, dass ich damit nur das Offensichtliche bestätigen würde. Daher zwang ich mich, normal stehen zu bleiben und mein Gewicht nur leicht nach rechts zu verlagern.
Bevor ich antworten konnte, ertönte Mikas Stimme neben mir. »Ich glaube, mit ihrem Fuß stimmt etwas nicht.«
Der Mann löste seine hellen Augen nicht von mir. »Das Krankenhaus ist nicht weit von hier«, begann er. »Lass uns dich wenigstens dorthin fahren, um sicherzugehen, dass wirklich alles okay ist?«
»Müsst ihr nicht.« Ich versuchte, nachdrücklich und selbstbewusst zu klingen. »Ich gehe es im Sanitätsraum kühlen. Keine Sorge, es ist alles gut. Ehrlich. Das ist nicht das erste Mal, dass ich beim Training hingefallen bin.«
Keine Lüge – zumindest nicht völlig. Es war nicht das erste Mal, aber bisher hatten sich Verletzungen auf blaue Flecken, Kratzer und leichte Prellungen beschränkt.
»Danke trotzdem für das Angebot.« Ich machte einen Schritt nach vorne, wollte endlich gehen, um mich um mein Bein kümmern zu können. Allein den Fuß aufzusetzen, tat so weh, dass ich mir auf die Unterlippe beißen musste, um keinen Laut von mir zu geben.
Ich bemühte mich, normal zu laufen, bis ich aus der Halle war und bis zur Umkleide humpeln konnte. Dort warf ich mir meine Tasche über und verließ das Gebäude auf dem schnellsten Weg.
Die Erleichterung, als ich mich endlich auf den Fahrersitz meines Autos fallen lassen konnte, war riesig. Ich rollte meine Leggings ein Stück nach oben, drückte ganz sanft gegen meinen Knöchel und bereute es noch im gleichen Moment.
Keine Panik, Lucy. Du fährst jetzt zum Krankenhaus und lässt den Fuß untersuchen. Keine große Sache. Morgen hast du das alles vergessen und stehst wieder auf dem Eis.
Ich wollte meinen gezwungen positiven Gedanken Glauben schenken – aber beim Blick auf die Schwellung rund um meinen Knöchel löste sich jeglicher Mut in Luft auf.
Mit pochendem Herzen schloss ich die Autotür. Schob den Schlüssel ins Zündschloss. Ich stellte meinen Fuß auf die Kupplung und bemerkte, dass ich eine Sache nicht bedacht hatte: Die Pedale traten sich nicht von selbst.
Verärgert schlug ich auf das Lenkrad. Das konnte nicht wahr sein. Ich spürte Tränen in meine Augen schießen, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte. Meine Hände zitterten. Der Bus wäre eine Möglichkeit. Die Haltestelle war nicht weit von hier und …
Ein Klopfen ließ mich zusammenzucken. Ich wischte mir über die Augenwinkel, bevor ich aus dem Fenster sah – und bemerkte, wie meine Wangen gleich noch heißer wurden.
Helle, freundliche Augen. Ich drückte die Tür vorsichtig auf, da es nicht so wirkte, als würde der Boden sich unter mir auftun und mich verschlucken. Ich wusste nicht mal, warum es mir peinlich war, dass der Mann mich hier so sah. Von meiner gerade vorgetäuschten Stärke war nichts mehr übrig.
Er hielt es mir nicht vor oder wies mich darauf hin, dass ich eigentlich meinen Fuß hatte kühlen wollen. Nein. Er ging in die Hocke, als hielte er es für das Normalste der Welt, eine Frau zitternd und mit roten Augen in ihrem eigenen Auto vorzufinden.
Er sagte nichts, sondern wartete ein paar Sekunden ab, bis ich mich beruhigt hatte. Bis ich alle Möglichkeiten in meinem Kopf durchgegangen war und immer zu dem gleichen Schluss kam.
»Könnt ihr mich mitnehmen?«, fragte ich leise. Es kostete mich mehr Überwindung, um Hilfe zu fragen, als ich bereit war zuzugeben. Vor allem, nachdem ich so deutlich gesagt hatte, dass ich sie nicht brauchte.
Er lächelte. »Natürlich. Wenn du möchtest.« Dann stand er auf. Reichte mir die Hand. Ich ergriff sie und ließ mir aus dem Auto helfen, bevor ich mich noch einmal umentscheiden konnte.
Das Gewicht meiner Tasche lastete schwer auf meiner Schulter. Ein Schritt – schon schoss der Schmerz wieder durch meinen Fuß, und ich blieb wie angewurzelt stehen. Biss die Zähne aufeinander. Schluckte die Panik hinunter.
Ein Arm tauchte in meinem Blickfeld auf. Angewinkelt, damit ich mich daran festhalten konnte. Ich legte meine Hand zögerlich auf seinen Unterarm und lief im Schneckentempo neben ihm her.
»Ich heiße übrigens Jules«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Und es tut mir ehrlich leid, dass mein Bruder nicht aufgepasst hat.«
»Lucy«, war meine knappe Antwort. Zu knapp. Ich überlegte, was ich noch hinzufügen konnte, aber bisher schien alles, was ich gesagt hatte, sein schlechtes Gewissen nur noch verstärkt zu haben. Daher nahm ich die Entschuldigung einfach wortlos an.
Wir überquerten den Parkplatz zu seinem Auto. Mika stand in der offenen Beifahrertür und wippte nervös von einem Bein auf das andere.
»Mika«, rief Jules, als wir noch gut zehn Meter entfernt waren. »Kannst du die Sachen von der Rückbank in den Kofferraum räumen?«
Der Junge nickte sofort und trug in zwei Gängen mehrere Taschen zum Kofferraum. Ich sah ihm dabei zu – und anscheinend schaffte mein Hirn es erst da, zu realisieren, was gerade passierte.
»Ich … muss keine Angst haben, dass ich auch im Kofferraum lande, oder?« Meine Stimme klang bemüht locker, aber Jules würde sicher sofort heraushören, dass Schauspielen nicht zu meinen Stärken zählte.
»Vielleicht?«, sagte er in einem ebenfalls leichten Ton. Kaum hatte er es jedoch ausgesprochen, wurden seine Augen groß, und er schüttelte den Kopf. »Vergiss das. Für so einen Scherz ist das hier wirklich nicht der richtige Moment. Wenn du möchtest, gebe ich dir meinen Ausweis. Du kannst auf der Fahrt mit jemandem telefonieren, wenn du dich damit sicherer fühlst. Oder deinen Standort mit jemandem teilen. Ich glaube, zum St. Boniface Hospital kommen wir am schnellsten, deswegen würde ich dorthin fahren.«
Die Infos, die er mir gab, beruhigten mich – und die Art, wie er fast über seine eigenen Worte stolperte, um mir das alles mitzuteilen, ebenfalls.
Jules öffnete die hintere Beifahrertür und hielt sie für mich auf. Meine Finger kribbelten dort, wo sie Jules berührt hatten, und ich ballte meine Hand zu einer Faust, um das Gefühl zu vertreiben. Mika sprang mir fast ins Gesicht, als ich endlich saß. Er fuchtelte mit einer Flasche Wasser herum.
»Hast du Durst? Oder Hunger? Ich kann noch mal nach drinnen gehen und etwas zu essen holen. Magst du Pommes?« Die Fragen sprudelten nur so aus ihm heraus. Man konnte ihm sein schlechtes Gewissen immer noch deutlich ansehen.
»Ich brauche nichts, danke.«
Mika ließ die Schultern hängen.
»Außer … wenn du mir die Wasserflasche geben magst …« Ich hatte meinen Satz noch nicht mal ausgesprochen, da hatte er sie mir bereits überreicht.
Eine Hand landete auf Mikas Kopf. »Danke fürs Teilen. Setz dich schon mal vorne rein, damit wir losfahren können?«
Mika starrte mich an, aber sein Nicken galt Jules. Es war ein wenig beunruhigend, von einem Kind die ganze Zeit so intensiv angesehen zu werden. Er wandte den Blick erst ab, als er endlich auf den Beifahrersitz geklettert war und sich angeschnallt hatte.
»Sag Bescheid, wenn ich zu holprig fahre, ja?«, bat Jules. »Oder wenn du etwas brauchst.«
Ich nickte, und Jules schloss die Tür, ehe er den Wagen umrundete und zur Fahrerseite lief.
Sommer. Er riecht nach Sommer.
Der Gedanke verschwand, als Jules anfuhr und ich mich im Sitz zurücklehnen wollte. Dabei streckte ich meine Beine ein Stück aus und bewegte im gleichen Moment meinen Fuß. Ich ballte die Hände in meinem Schoß zu Fäusten und unterdrückte das Geräusch, das mir bei dem heißen Schmerz beinahe entwich.
Wenn ich jetzt für eine längere Zeit ausfiel … Wie sollte ich das je aufholen? Ich würde es im November niemals unter die besten drei schaffen. Meine Chancen waren mit zwei gesunden Füßen schon nicht die besten.
Während der Fahrt redeten wir kaum miteinander – und auf gewisse Weise war ich froh darüber. Mehr Zeit, meinen Herzschlag zu beruhigen. Meine Panik wenigstens ein klein wenig zu besänftigen.
Jules schlug den Weg Richtung Downtown Winnipeg ein und überquerte in der Nähe des South Point Parks den Red River. Der Anblick des von Bäumen gesäumten Flussbetts und der reflektierenden Sonne im Wasser lenkte mich so lange ab, bis wir die Brücke hinter uns gelassen hatten und vor dem Eingang des St.-Boniface-Krankenhauses hielten.
»Möchtest du schon mal vorgehen? Mika und ich kommen nach, sobald ich einen Parkplatz habe«, schlug Jules vor.
»Ist gut«, sagte ich und griff nach meiner Tasche, ehe ich die Tür öffnete. Ich schob mich von der Rückbank, biss die Zähne zusammen, als ich mich aufrichtete, und machte mich langsam auf den Weg über den Parkplatz. Das Krankenhaus betrat ich humpelnd über den Südeingang. Es dauerte etwas, bis ich mich orientiert und den Empfang gefunden hatte. Den Rollstuhl redete ich der Pflegekraft vehement aus und setzte mich schließlich in den Wartebereich.
Es war ein großer offener Raum voller Stühle, die genauso unbequem waren, wie sie aussahen. Jules und Mika fanden mich dort, den Knöchel vor mir ausgestreckt, um ihn nicht zu belasten.
»Haben sie dir keinen Rollstuhl angeboten?«, fragte Jules, als er sich links neben mich setzte. Mika nahm auf dem freien Stuhl rechts von mir Platz.
»Ich wollte keinen«, erwiderte ich, abgelenkt von Mikas Beinen, die weit über dem Boden baumelten.
Jules nickte und lehnte sich in seinem Sitz zurück – als würde er sich auf eine lange Wartezeit einstellen.
»Ihr müsst wirklich nicht mit mir warten. Es dauert bestimmt eine Weile.«
Jules lehnte sich nach vorn, um nach einem Magazin auf dem Tisch zu greifen, und für den Bruchteil einer Sekunde blitzte der äußerste Teil eines Tattoos in seinem Nacken auf. Größtenteils war es von seinen Haaren verdeckt, aber der Teil, den ich erkannte, war ein Kunstwerk aus feinen schwarzen Linien. Es verschwand unter dem Kragen seines Shirts, als er sich mit der Zeitschrift in der Hand zurücklehnte.
Jules vermittelte nicht den Eindruck, als wollte er sich in nächster Zeit von dem Stuhl fortbewegen.
»Du hättest gar nicht hierher gemusst, wenn Mika dir nicht in den Weg gelaufen wäre.« Er strich über die geknickte Ecke des Covers. Seine Haare fielen ihm in die Stirn, als er sich mir zuwandte, er machte allerdings keine Anstalten, sie sich wieder aus dem Gesicht zu schieben.
Stattdessen lächelte er wieder, ganz leicht nur – und mir fiel auf, wie leicht ihm dieser Gesichtsausdruck zu fallen schien. Offen. Freundlich. Ich selbst verhielt mich Fremden gegenüber ganz anders.
»Ich finde, es ist das Mindeste, dich hier nicht allein sitzen zu lassen«, sagte er. Und dann etwas leiser: »Wenn es dir nichts ausmacht. Ich glaube, mein schlechtes Gewissen würde mich die nächsten Nächte nicht schlafen lassen, wenn ich jetzt einfach gehen würde.«
Ich runzelte die Stirn, unsicher, wie ernst er seine Aussage meinte. »Versuchst … versuchst du, mir mit deinem schlechten Gewissen ein schlechtes Gewissen zu machen?«
Jules hob beide Schultern leicht an. Vielleicht täuschte ich mich, aber ich meinte zu sehen, wie seine Wangen etwas rot wurden. »Ich möchte dich nur wirklich ungern allein lassen.«
Im ersten Moment wusste ich nichts darauf zu erwidern. Im Gespräch wirkte er anders, als ich ihn zunächst eingeschätzt hatte. Ich war davon ausgegangen, dass er recht selbstbewusst war. Sein Auftreten, die Art, wie er sprach und uns sofort zum Krankenhaus brachte. Er wirkte sehr im Reinen mit sich – als wüsste er genau, wer er war. Als hätte er es nicht nötig, sich irgendwie zu verstellen.
Mein erster Eindruck von ihm war zwar nicht plötzlich verschwunden. Aber es mischte sich das Bild eines unbeholfeneren Jules darunter.
Ich versuchte nicht, ihn weiter davon zu überzeugen zu gehen. So sicher ich mir auch war, dass ich von hier aus allein klarkam: Es war nett, im Zweifelsfall zu wissen, dass noch jemand da war.
Eine leise Melodie zu meiner Rechten lenkte mich ab. Zwischen seinen Händen hielt Mika eine gelbe Switch-Konsole und war völlig darin vertieft. Jules hatte zwar gesagt, dass es ihm lieber war hierzubleiben, aber ich wollte mir nicht vorstellen, wie langweilig Mika sein musste.
Ich konnte mir auch eine angenehmere Nachmittagsbeschäftigung vorstellen, als im Krankenhaus zu sitzen und darauf zu warten, dass eine wildfremde Person endlich aufgerufen wurde.
Aus einem Impuls heraus sprach ich Mika darauf an. »Darf ich dich fragen, was du spielst?«
Stille. Ohrenbetäubende Stille. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Mika mich ignorierte – eher realisierte er gar nicht, dass ich mit ihm gesprochen hatte. Allerdings spürte ich Jules’ Aufmerksamkeit auf mir und mit jeder Sekunde, die verging, wünschte ich mir mehr, Mikas Schweigen einfach hingenommen zu haben.
Ein Lachen drang an meine Ohren. Leise und sanft, mehr ein Hauchen als alles andre. »Nimm es nicht persönlich. Wenn Mika sich für etwas interessiert, blendet er prinzipiell alles andere aus«, erklärte Jules. Er hielt seine Stimme gesenkt, um niemanden in dem Wartebereich mit unserem Gespräch zu stören. »Er spielt Animal Crossing. Und eine eigene Insel aufzubauen erfordert höchste Konzentration.«
»Ah«, machte ich. Ich suchte nach etwas, das ich darauf erwidern konnte – aber es war das Gleiche wie sonst auch: Bei jeglicher Art von Small Talk verknotete sich meine Zunge, und ich fand erst viel zu spät die passenden Worte. In den meisten Fällen war das Gespräch dann bereits an einem anderen Punkt, und ich schluckte sie ungesagt wieder hinunter.
Jules wandte sich in der Pause, die auf meinen kurzen Laut folgte, nicht ab. Er sagte gar nichts und wartete einfach, bis ich endlich eine Erwiderung gefunden hatte.
»Du sprichst wohl aus Erfahrung?«
»Sagen wir es so«, begann er langsam. »Ich habe ihm die Switch nicht ohne Hintergedanken zum Geburtstag geschenkt.«
Ich lachte leise. »Du spielst Animal Crossing?«
»Ich lebe für Animal Crossing.« Er grinste. »Es ist entspannender, als es vielleicht klingt. Ab und zu schalte ich einfach gerne damit ab.«
»Ich hab es noch nie gespielt«, gab ich zu.
Jules schwieg einen Moment. »Irgendwie bin ich immer davon ausgegangen, dass jeder es zumindest einmal gespielt hat.«
»Ausnahmen bestätigen die Regel?«
»Die Aussage erinnert mich ein wenig zu sehr an meinen ehemaligen Lateinlehrer«, antwortete Jules.
»Ihr hattet Latein in der Schule?«
»Ich hatte es freiwillig gewählt, weil ich dachte, ich könnte es mal brauchen.« Ganz kurz wirkte sein Lächeln etwas gedimmter. »Was bisher jedoch noch nicht der Fall war.« Sein Blick glitt zu meinem Fuß. »Bist du sicher, dass du keinen Rollstuhl möchtest? Dann könntest du dein Bein zumindest hochlegen …« Er brach ab, als er meinen Gesichtsausdruck sah. Auch wenn er es mit einem Räuspern zu überspielen versuchte, entging mir sein Lachen nicht. »Okay. Kein Rollstuhl.«
»Es ist nicht so schlimm.« Hoffe ich. Im besten Fall war die Schwellung morgen verschwunden, und ich konnte wieder aufs Eis. Den schlimmsten Fall versuchte ich mit aller Macht auszublenden.
Jules sah nicht völlig überzeugt aus, beharrte allerdings auch nicht auf dem Gegenteil. Stattdessen streckte er seine langen Beine vor sich aus. Das Magazin lag vorerst vergessen in seinem Schoß. »Wie lange lernst du schon Eiskunstlaufen?«
Er klang dabei ehrlich interessiert – und ganz und gar nicht wie jemand, der aufgrund seines kleinen Bruders in dieser Situation steckte. »Seit ich fünf bin«, sagte ich. »Gezielt für Wettkämpfe trainiere ich erst seit ein paar Jahren.«
»Und vorher?«, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern, unschlüssig, wie ich es ausdrücken sollte. »Vorher habe ich nur für mich trainiert.«
»Ich mag Wettkämpfe auch nicht«, warf Mika dazwischen. Seine Haare hatten eine dunklere Farbe als die von Jules, waren fast so braun wie seine Augen. Sie streiften bei jeder Bewegung über seine Schultern, und hin und wieder schüttelte er den Kopf wie eine Katze, die nass geworden war, um einzelne Strähnen aus seinem Gesicht zu bekommen.
Seine Beine baumelten hin und her und hin und her, und er stoppte sie nur für einen kurzen Augenblick, um sie nachdenklich zu betrachten. »Obwohl die Kostüme schöner sind als meine normalen Sachen.«
Wie recht du hast, stimmte ich ihm stumm zu. Vor einem Wettkampf waren meine Nerven meist zum Zerreißen gespannt – das Einzige, was mich dann beruhigen konnte, war es, mich auch äußerlich zu wappnen. Indem ich mich schminkte, meine Haare machte und mein Kostüm anzog. Es verwandelte mich selbst dann in eine Superheldin, wenn ich mich eher wie ein Sidekick fühlte.
»Wenn ich könnte, würde ich sie tagsüber auch lieber tragen statt derer hier«, meinte ich und zupfte an meinen schwarzen Leggings.
Mika nickte verstehend und widmete sich dann wieder seiner Insel.
»Es wäre vielleicht etwas unpraktisch, findest du nicht? Die meisten Kostüme sind relativ kurz und nicht dick genug, um darin einen kanadischen Winter zu überstehen«, nahm Jules dafür das Gespräch auf.
»Hm«, machte ich nachdenklich. »Ich glaube, es kommt darauf an, was dir wichtiger ist: gut auszusehen oder alle zehn Zehen zu behalten.«
»Meine Zehen«, sagte Jules sofort. »Mit Abstand.«
Mir entwich ein Lachen. »Eventuell sagt die Tatsache, für was man sich dabei entscheidet, mehr über uns aus als jedes Charakterquiz, das du in einer Zeitschrift finden würdest.« Ich deutete auf das Magazin in seinem Schoß.
»Für was würdest du dich entscheiden, wenn du müsstest?«
Vermutlich hätte ich länger über meine Antwort nachdenken sollen, aber … »Das Erste.«
»Gut aussehen?«, fragte er neugierig nach. »Warum?«
»An Tagen, an denen es mir schlecht geht, fühle ich mich irgendwie immer besser, wenn ich mir etwas Schönes anziehe, in dem ich mich gut fühle. Wenn meine Haare gut liegen und ich mir für mein Make-up Zeit genommen habe … Vielleicht klingt es oberflächlich, aber für mich ist es das, was für andere Yoga oder Lesen ist, nehme ich an.«
»Daran habe ich ehrlicherweise nicht gedacht, als ich mich für meine Zehen entschieden habe. Aber ja – ich weiß, was du meinst.« Jules schwieg einen kurzen Moment. »Nicht dass ich unbedingt viel Zeit damit verbringe, mir schöne Klamotten anzuziehen.« Als wollte er mich darauf aufmerksam machen, zupfte er am Kragen des Sweatshirts, das er vorhin im Auto übergezogen hatte.
»Es sieht gemütlich aus.«
»Ja, ich würde sagen, das beschreibt meinen Stil ganz gut«, gab er zu. »Solange ich mich gut darin bewegen kann, ist mir alles andere meistens egal.«
»In den Kostümen vom Eiskunstlauf kann man sich auch ganz gut bewegen«, merkte ich an.