When We Fall - Anne Pätzold - E-Book

When We Fall E-Book

Anne Pätzold

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Beschreibung

"Es heißt nicht niemals, Ella. Es heißt nur nicht jetzt."

Nachdem ein Foto von ihnen im Internet aufgetaucht ist, müssen Ella und Jae-yong einsehen, dass sie nicht zusammen sein können - egal, wie sehr sie es sich auch wünschen. Ella ist eine normale Studentin aus Chicago. Jae-yong ein K-Pop-Star, der Millionen von Fans hat und dessen Management es ihm verbietet, eine Beziehung zu führen. Tief in ihrem Herzen weiß Ella, dass es richtig war, Jae-yong gehen zu lassen. Schließlich hätte sie niemals gewollt, dass er für sie seine Musikkarriere aufgibt. Und doch kann sie ihn einfach nicht vergessen ...

"Anne Pätzold hat eine zauberhafte Liebesgeschichte geschrieben, bei der sich die Seiten wie ein Zuhause anfühlen." MONA KASTEN über WHEN WE DREAM

"Ella und Jae-yong werden immer einen Platz in meinem Herzen haben - WHEN WE DREAM ist ein absolutes New-Adult-Highlight." ZWISCHEN PRINZEN UND BAD BOYS

Die LOVE-NXT-Reihe von Anne Pätzold:

1. When We Dream
2. When We Fall
3. When We Hope

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Seitenzahl: 511

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Anne Pätzold bei LYX

Ellas und Jae-yongs Geschichte geht weiter:

Leseprobe

Impressum

ANNE PÄTZOLD

When We Fall

Roman

Zu diesem Buch

Tief in ihrem Herzen weiß Ella, dass es richtig war, Jae-yong gehen zu lassen. Denn nachdem ein Foto von ihnen im Internet aufgetaucht ist, musste dieser sich entscheiden – zwischen Ella und seiner Karriere als K-Pop-Star. Niemals hätte Ella zulassen können, dass er für sie NXT aufgibt. Schließlich sind Min-ho, Woo-seok, Ed und Hyun-woo nicht nur seine Bandmitglieder; sie sind seine Familie. Doch das ändert nichts daran, dass Ella zutiefst traurig ist. Es tut weh, an Jae-yong zu denken – an seine Nachrichten, seine Stimme, sein Lachen –, und es vergeht keine Sekunde, in der sie ihn nicht vermisst. Für sie ist er nicht nur das Idol, das mit seiner Musik die Charts anführt, Konzerte in großen Arenen gibt und Millionen von Fans hat. Er ist auch ein 21-jähriger Junge, der Bücher genauso sehr liebt wie sie und der sie verstanden hat wie niemand jemals zuvor. Als Ella dann auch noch auf dem Foto erkannt wird und ein Social-Media-Shitstorm über sie hereinbricht, stirbt ihr letzter Funke Hoffnung, dass sie irgendwann zu ihrem alten Leben zurückkehren und alles, was in den letzten zwei Monaten geschehen ist, vergessen kann. Denn nicht nur kennt die halbe Welt nun ihren Namen. Auch Jae-yong nimmt wieder Kontakt zu ihr auf – obwohl der Vertrag mit seinem Management ihm nach wie vor verbietet, eine Freundin zu haben. Doch kann Ella es ein weiteres Mal wagen, ihr Herz aufs Spiel zu setzen? Oder muss sie akzeptieren, dass eine Beziehung zu Jae-yong niemals möglich sein wird, egal wie sehr sie es sich beide wünschen?

Für Simone – ich meinte es ernst, als ich sagte, dass die ganze Reihe für dich ist.

1. KAPITEL

»Wenn du noch länger auf das Blatt starrst, fängt es Feuer.«

Verwirrt blickte ich auf, als die Worte langsam zu mir durchdrangen. Das Bild, an dem ich arbeitete, wurde ersetzt vom Anblick des leeren Raums vor der Museumsgarderobe. Ich blinzelte, bis die Punkte vor meinen Augen verschwanden. Es fiel mir oft schwer, aus den Welten, die ich mit meinen eigenen Händen schuf, aufzutauchen. Nur wenn ich zeichnete, waren meine Gedanken endlich leise.

Lana saß auf dem Stuhl neben mir, als hätte sie schon seit Längerem versucht, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie hatte die roten Haare in einem lockeren Zopf zusammengebunden, ihre Beine unter dem knöchellangen Rock überschlagen und die Arme vor der Brust verschränkt.

Während ich sie ansah, tauchte eine kleine Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen auf. »Alles in Ordnung?«, fragte sie.

Statt einer Antwort nickte ich.

»Du siehst … erschöpft aus«, sagte sie vorsichtig und meinte damit die dunklen Ringe unter meinen Augen und die fahle Hautfarbe, die aufgrund des Schlafmangels mein stetiger Begleiter waren.

Ich sah nicht nur müde aus – ich war müde. Die letzte Nacht, in der ich ohne Unterbrechung durchgeschlafen hatte, war mittlerweile über eine Woche her. Denn während die Temperaturen draußen stiegen, fühlte es sich zu Hause an wie knapp über dem Gefrierpunkt. Die Tatsache, dass Liv gar nicht mit mir redete und Mel nur dann, wenn sie etwas Wichtiges mit mir abstimmen musste, sorgte dafür, dass ich mich nachts im Bett nur von einer Seite auf die andere wälzte. Unzählige Gedanken zogen ihre Kreise durch meinen Kopf. Bis auf die Augenblicke, in denen ich mich mit einem Blatt Papier in eine andere Welt flüchten konnte, gaben sie mir keine Ruhe.

»Meine Schwester hat mich mit ihrer Erkältung angesteckt«, antwortete ich ausweichend. Es war nicht mal eine Lüge. Nicht ganz. Tatsächlich hatte Liv sich einen miesen Schnupfen eingefangen, zu dem sich in den letzten Tagen ein Husten gesellt hatte. Allerdings verbrachte ich so wenig Zeit wie noch nie mit ihr. Die Ansteckungsgefahr lief also so gut wie gegen null.

Lana zog eine Augenbraue in die Höhe. »Und dann schleppst du dich trotzdem hierher?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Zu Hause würde ich mich auch nur langweilen.« Und im Internet nach Dingen suchen, die ich seit über einer Woche krampfhaft versuchte zu meiden. »Da kann ich genauso gut hier sitzen und zumindest ab und zu mit einer Person kommunizieren.«

Lanas Blick schweifte skeptisch durch die Garderobe, und ich konnte ihre Gedanken erahnen. Leute, die an einem Mittwochmittag durch die Galerie spazierten, waren vermutlich nicht unbedingt solche, mit denen ich ausschweifende Gespräche führen würde. Schließlich zuckte sie mit den Schultern, als wollte sie sagen: »Du musst es wissen.«

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf mein aufgeschlagenes Skizzenbuch. Glücklicherweise war ich bei meiner neusten Illustration noch nicht sehr weit fortgeschritten, ich hatte erst vor einer Stunde damit angefangen.

Heute Morgen war mir beim Aufräumen der erste Harry-Potter-Band in die Hände gefallen. Ich hatte ihn nie zurückgegeben. Der Gedanke hatte mich den ganzen Weg zum Museum verfolgt.

Er lag noch zwischen den Büchern, die sich auf meinem Nachtschrank stapelten, und ich verbannte ihn sofort in die unterste und hinterste Reihe meines Buchregals. Leider traf der Spruch »Aus den Augen, aus dem Sinn« dafür nicht zu. Während ich hier im Museum herumsaß, hatten meine Finger so sehr mit dem Verlangen gekribbelt, mein Handy zu nehmen und den archivierten Chat von Jae-yong und mir zu öffnen, dass ich das Ding ausstellen und in meinem Rucksack verstauen musste.

Ein Seufzen entwich mir ungewollt.

Lana hob ihren Blick. »Geh nach Hause, Ella. Bevor ich es tue und dich meine Schicht absitzen lasse.«

Ergeben packte ich meine Sachen ein und machte mich auf den Weg nach Hause.

Die Nachmittagssonne schien mir unnachgiebig auf den Kopf. Es war schwül, und mit jedem Schritt traten neue Schweißperlen auf meine Stirn. Dabei ging ich so langsam, dass sich ständig Leute auf dem schmalen Gehweg an mir vorbeischoben. Ich ließ mir viel Zeit, ging eine Station weiter als nötig, wartete auf den nächsten Zug, den nächsten, dann den nächsten …

Trotzdem stand ich nicht einmal eine Stunde später vor unserer Wohnungstür. Alles in mir sträubte sich dagegen, hineinzugehen. Immer wenn ich zu Hause war, dröhnte mir Livs Schweigen in den Ohren. Ich hatte in den letzten Tagen so häufig versucht, ein Gespräch mit ihr anzufangen, dass ich irgendwann aufgehört hatte mitzuzählen. Normalerweise war sie immer diejenige, die den ersten Schritt tat, um das Eis zu brechen. Dieser Gedanke ließ den Knoten in meinem Magen nur noch weiter anschwellen.

Ich holte tief Luft, versuchte mich zu wappnen und schloss die Tür auf. Mein Blick glitt durch das Wohnzimmer, zum Flur und Livs Tür. Wenn ich sie abpassen und nur ein paar Worte mit ihr wechseln könnte. Ich wollte hören, dass es ihr gut ging. Stattdessen sah ich die dünne Wolldecke unordentlich auf der Couch liegen. Auf dem Tisch stand ein halb volles Glas Cola. Ich stellte meinen Rucksack auf dem Boden ab, um die Decke zusammenzulegen, und griff nach der Fernbedienung, um den Fernseher auszustellen. Ich hob den Kopf an und …

Mein Daumen ruhte auf dem roten Knopf, der den Bildschirm schwarz hätte werden lassen. Ich hätte nur leicht drücken müssen, um ihn auszuschalten – aber schmerzlich bekannte tiefbraune Augen sahen mir vom Bildschirm entgegen und ließen mich zögern.

Liv musste sich das Interview mit NXT angesehen und es in ihrer Eile, mir aus dem Weg zu gehen, gerade in dem Augenblick gestoppt haben, als eine Großaufnahme von allen fünf Bandmitgliedern eingeblendet wurde.

Bevor mein Verstand einsetzen konnte, war mein Blick über die vier anderen hinweg zu dem Mann geschweift, der rechts außen saß. Seine Haare waren immer noch rosa. Statt der Wellen, die er zuletzt getragen hatte, fielen sie ihm glatt in die Stirn, und er trug eine Brille mit durchsichtigen Rändern.

Bumm. Bumm. Bumm.

Mein Herzschlag dröhnte mir in den Ohren, das gleiche Gefühl wie an jenem Tag zuckte durch meinen Körper. Sorgte dafür, dass mir kalt wurde. Sogar eine Gänsehaut überzog meine Arme.

Wie in Trance betätigte mein Daumen die Ausschalttaste. Ich richtete mich auf, legte die Fernbedienung vorsichtig auf dem Couchtisch ab. Dann griff ich nach meinem Rucksack und ging in mein Zimmer.

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss, und ich glitt erschöpft an ihr hinunter. Die letzten Tage hatte es so gut funktioniert. Wenn ich das Internet mied und mich hinter einem Buch vor der Welt versteckte, konnte ich beinahe so tun, als wäre nie etwas passiert.

Mein Blick glitt in meinem Zimmer umher, fiel immer wieder auf mein Bücherregal mit dem Harry-Potter-Band, der mich zu verhöhnen schien. So als wüsste er genau, was in mir vorging, während die Welt außerhalb sich immer weiterdrehte. Das Gefühl, dass ich in einem Traum feststeckte, wurde mit jedem Tag stärker. Mein Körper war so langsam, so absolut träge, dass ich den ganzen Tag liebend gern im Bett verbracht hätte. Nur die Arbeit im Museum hinderte mich daran, es tatsächlich zu tun.

Auf meinem Schreibtisch stapelten sich bemalte Seiten neben Zeichenutensilien. Ich hatte ihn nicht mehr aufgeräumt, seit ich vor dem Treffen mit Jae-yong so nervös gewesen war. Und jetzt konnte ich mich nicht dazu aufraffen, es endlich nachzuholen.

Ich krabbelte auf mein Bett und unter die Decke, die noch von der Nacht zerwühlt war. Mit einem Seufzen zog ich sie mir über den Kopf und schloss die Augen. Die Dunkelheit hieß mich sofort mit einer tröstenden Umarmung willkommen.

Livs Schweigen, Mels kalte Schulter, Erins Entfernung … Meine Brust drückte so sehr, dass ich kaum Luft bekam. In manchen Nächten – spätabends, wenn es dunkel war und meine Schwestern in ihren Betten lagen – fragte ich mich, ob die letzten zwei Monate überhaupt passiert waren.

Was, wenn ich sie geträumt hatte?

Nach dem Tod unserer Eltern hatte ich mir so lange eingeredet, es wäre nur ein schlimmer Albtraum, aus dem ich bald aufwachen würde, dass es Momente gab, in denen ich es tatsächlich geglaubt hatte. Nur … war immer mehr Zeit vergangen. Und meine Eltern waren nicht wiedergekommen, egal, wie sehr ich darum gefleht und gebeten hatte, endlich aufzuwachen.

Mit ausgestrecktem Arm drehte ich mich an den Bettrand, um nach meinem Handy im Rucksack zu greifen, und rollte mich wieder auf den Rücken. Unschlüssig scrollte ich durch meine Chats. Ich wusste nicht, woher die Kraft kam, Jae-yongs zu ignorieren. Ich hatte ihn löschen wollen, aber … ohne diesen Beweis würde ich das Ganze am Ende doch als ein Hirngespinst abtun. Das Wissen, dass er da war, war auf eine Weise beruhigend, die ich selbst nicht gänzlich verstand. Beruhigend – und absolut nervenaufreibend. Diese unsinnige Hoffnung, es könnte eine Nachricht von ihm eintrudeln, brachte mich beinahe um den Verstand. Schnell schloss ich die App wieder, schnappte mir meinen Laptop vom Nachttisch und öffnete Netflix in dem Versuch, mich mit einer neuen Serie abzulenken. Für einen Augenblick hatte ich sogar das Gefühl, es könnte klappen, aber bereits während der zweiten Folge zog die Handlung in einem gleichmäßigen Rauschen an mir vorbei. Ich ließ sie weiterlaufen, hoffend, dass die Geräusche mich schläfrig machen würden.

Es war draußen bereits dunkel geworden, als ich die Wohnungstür auf- und zugehen hörte. Mel hatte in letzter Zeit häufig bis spät in die Nacht gearbeitet. An manchen Tagen bekam ich sie nur zu Gesicht, wenn ich frühmorgens aufwachte und in die Küche stolperte, um mir ein Glas Wasser zu holen. Sie saß dann am Küchentisch mit einer dampfenden Tasse Kaffee vor sich und beantwortete bereits die ersten Mails des Tages. Es war mir ein Rätsel, wie sie es mit so wenig Schlaf überhaupt schaffte, sich aus dem Bett zu schälen und zum Job zu gehen. Ich wusste nicht, wie es ihr ging, und auch nicht, wie ich sie überhaupt danach fragen sollte. Dass ich in New York gewesen war, ohne ihr vorher davon zu erzählen, hing wie eine graue Wolke über uns. Und ich traute mich nicht, den ersten Schritt zu tun, um sie aufzulösen.

Ich drückte mich gerade von meinem Bett hoch, als es an meiner Zimmertür klopfte. »Ja?«, sagte ich mit rauer Stimme und musste mich räuspern.

Die Tür ging einen Spaltbreit auf, Mels Blick landete sofort auf mir. Erleichterung blitzte in ihren Augen auf – zumindest glaubte ich das.

Ich zog meine Beine an den Körper und setzte mich in den Schneidersitz. »Was gibt’s?«, fragte ich.

Sie zögerte einen Moment, schob sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich wollte nur nach dir sehen.«

»Das … machst du in letzter Zeit öfter«, sagte ich vorsichtig.

Statt zu antworten, hob sie eine Schulter. Schweigen legte sich über uns, und dieses beklemmende Gefühl breitete sich wieder in meiner Brust aus. Seit dem ganzen Chaos in New York war alles anders. Ich konnte mich kaum noch erinnern, was passiert war, nachdem meine große Schwester Jae-yong und mich in meinem Zimmer gefunden hatte. Aber ich erinnerte mich sehr wohl, wie sich Jae-yong von mir löste. Sein trauriger Blick, der mir das Herz brach, als er ging. Und wie seine Arme plötzlich von Mels ersetzt wurden. Sie hatte mich einfach nur gehalten und kein Wort gesagt, bis ich vor Erschöpfung eingeschlafen war.

Als ich am nächsten Tag mit ihr reden wollte, tauchte plötzlich diese Mauer zwischen uns auf, die vorher nicht da war. So verzweifelt ich auch versuchte, sie zu erklimmen – ich würde es nur schaffen, wenn Mel mir eine Hand reichte. Leider hatte ich die Befürchtung, dass sie dazu noch nicht bereit war, egal wie sehr ich es mir wünschte.

»Hast du schon gegessen?«, fragte Mel und durchbrach damit das Schweigen.

Als Antwort deutete ich auf den mit Krümeln übersäten Teller auf meinem Schreibtisch. Ich hatte mir während des Serienmarathons ein Sandwich gemacht, an dem ich lustlos geknabbert hatte. Mein Hungergefühl war anscheinend ebenfalls hinter der Mauer verschwunden.

Mels Blick folgte meinem Finger, ehe sie ihn wieder auf mich richtete. »Ich mach mir auch noch schnell etwas und gehe dann ins Bett. Muss morgen früh raus.«

Ich sagte nichts dazu, auch wenn alles in mir danach verlangte, sie auf die Ringe unter ihren Augen hinzuweisen, die mit jedem Tag dunkler zu werden schienen. »Ist gut«, antwortete ich stattdessen und wartete ab, bis sie meine Tür hinter sich geschlossen hatte.

Frustriert ließ ich mich rückwärts in die Kissen fallen, zog die Decke wieder bis unter mein Kinn. Meine Füße rieben beinahe unbewusst in einem regelmäßigen Takt über das Bettlaken, ungeduldig darauf wartend, dass es unter der Decke warm wurde. Der Bildschirm meines Laptops hatte sich längst in den Ruhemodus verabschiedet. Das einzige Licht, das noch in den Raum fiel, war das der Straßenlaterne, die direkt vor meinem Fenster stand.

Ich war erleichtert, als ich merkte, wie sich die Müdigkeit langsam an mich heranschlich. Sie kam in kleinen Schüben, die erst meine Glieder, dann meine Augenlider schwer werden ließen. Bis mich schließlich meine Träume gefangen nahmen – und mit ihnen die Sehnsucht nach einer Person, die mit jedem Tag unerreichbarer zu werden schien.

2. KAPITEL

Ich: Rate mal, wo ich gerade bin.

Mit dem Handy in der Hand setzte ich mich auf eine Bank und genoss die kühle Brise, die mir die Haare aus dem Gesicht wehte. Die Antwort kam wenige Minuten später.

Erin: China?

Erin: Nein, warte.

Erin: Im Palast des Scheichs

Ein Lachen entkam mir unwillkürlich.

Ich: Von welchem Scheich genau reden wir?

Erin: Dem Scheich von Chicago

Ich: Hatten wir unterschiedliche schulische Ausbildungen, oder war ich einfach krank, als Mr Ravenport die Geschichte der Scheiche Chicagos erklärt hat?

Erin: Pffft.

Erin: So wie ich dich kenne, hast du gerade mit dem Kopf in den Wolken gehangen und von deinem letzten book boyfriend geträumt.

Ich: …

Ich: Touché

Es dauerte ein paar Minuten, bis die nächste Nachricht von ihr eintrudelte. Während ich wartete, spazierten Familien an mir vorbei, die den Pier rauf- und runterliefen. Direkt neben mir stolperte ein Junge und hätte seine Eistüte beinahe auf meiner Hose verewigt. Glücklicherweise konnten seine Eltern ihn gerade noch vom Sturz abhalten. Sie warfen mir einen entschuldigenden Blick zu und zogen ihn dann in die entgegengesetzte Richtung davon. Ich sah ihnen einen Augenblick hinterher, ehe ich wieder auf mein Handy schaute.

Erin: Wo bist du denn?

Statt ihr meine Antwort zu schreiben, schickte ich ein Foto von meiner Aussicht. Direkt vor mir lag Lake Michigan, der sich bis zum Horizont erstreckte. Ich saß auf einer Bank am Navy Pier und versuchte, den Anblick dieser unendlichen Weite aufzusaugen, wobei mein Herz vor Freude hüpfte. Doch jedes Mal, wenn ich einen Blick über die Schulter warf, wo die monströsen Hochhäuser über mir aufragten, zog es sich ein wenig zusammen. Die Skyline von Chicago war etwas Besonderes, keine Frage. Den Touristen nach zu urteilen, die um mich herumschwirrten und fasziniert an der gläsernen Fassade hinaufblickten, war sie vielleicht sogar schön. Aber wenn dieses Aufeinanderprallen zweier Dimensionen mir eins zeigte, dann, wie groß und laut Chicago war.

Früher waren Erin und ich hierhergekommen, um die Dutzenden Hotdogstände auszuprobieren, die über den Navy Pier verteilt waren. Ihr unbeschwertes Lachen hatte mich immer davon abgehalten, diese Art von Gedanken weiterzuverfolgen. Aber ohne sie fühlte es sich an, als wäre die gesamte Stadt in den letzten Wochen und Monaten noch voller und lauter geworden.

Erin: Oh, geliebter Navy Pier

Erin: Wie sehr ich dich vermisse.

Ich: Niemand hat von dir verlangt, ihn zu verlassen.

Ich biss mir auf die Unterlippe, nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte. Die Worte fühlten sich sofort falsch an.

Erin: Ella

Erin: Das ist nicht fair.

Ich spürte, wie ich mich verspannte, als ich ihre Antwort las. Mit der freien Hand rieb ich mir über das Gesicht, legte den Kopf in den Nacken und stieß ein langes Ausatmen Richtung Himmel aus. Nein. Nein, es war nicht fair. Aber ich konnte diese Bitterkeit nicht unterdrücken, sosehr ich es auch versuchte. Wie konnte sie darüber nachdenken, ihre Zeit in Australien zu verlängern, wenn ich sie so dringend an meiner Seite brauchte? War der Gedanke zu egoistisch? Aber wie konnte ich es ohne sie schaffen, wenn es ihre Unterstützung, ihr Mut, ihre Motivation waren, die mich sonst immer vorantrieben?

Mein Kopf drohte zu platzen. Meine Gedanken waren so chaotisch, dass ich mich in dem einen Moment ganz normal fühlte und im nächsten, als würde ich mich durch Treibsand bewegen. Meine Emotionen hielten mit. Hatte ich mich eben noch mit meiner Aussage im Recht gefühlt, wollte ich jetzt nur noch die Zeit zurückdrehen und die Nachricht verschwinden lassen. Ich seufzte. Kein Wunder, dass ich mich so erschöpft fühlte.

Ich: Ich weiß. Entschuldige.

Erin: Schon gut. Aber warum bist du heute zum Navy Pier gegangen?

Ich: Keine Ahnung. Um meinen Kopf frei zu kriegen, schätze ich.

Erin: Frei wovon?

Ich: Du weißt wovon. Müssen wir jetzt wirklich darüber reden?

Erin: Hast du etwas anderes vor?

Als ich nicht sofort antwortete, setzte sie noch eine Nachricht hinterher.

Erin: Hör zu, ich weiß, dass du es im Augenblick lieber verdrängen würdest. Aber davon wird es dir nicht besser gehen. Und ich kenn dich gut genug, um es in deinen Textnachrichten lesen zu können, wenn du nur so tust, als wäre alles in Ordnung.

Ich: Was willst du hören?

Erin: Wie es dir geht. Kommst du klar? Kann ich irgendwas tun, damit du dich besser fühlst?

Die Zeit zurückdrehen? Mel und Liv dazu bringen, wieder mit mir zu sprechen? Jae-yong zu mir bringen …

Ich: Ich glaube nicht. Ich habe gerade einfach das Gefühl, als wäre alles zu viel und meine Stützen würden eine nach der anderen zusammenbrechen. Aber ändern kann daran niemand was, also mach dir keinen Kopf.

Erin: Sind meine Sorgen so unwichtig?

Ich: Was? Nein, natürlich nicht. Wie kommst du darauf?

An ihrer Antwort tippte sie eine ganze Weile. Während ich wartete, starrte ich auf den See vor mir, lauschte dem Wasser, ließ mich von dem Geräusch trösten. Wenn ich mich nur nie wieder von hier wegbewegen müsste …

Erin: Ella, es geht dir offensichtlich schlecht. Als wir das letzte Mal telefoniert haben, hast du so sehr geweint wie noch nie. Du sagst, alles stürzt auf dich ein, aber wenn ich dich frage, wie ich dir helfen kann, wischst du meine Sorge einfach weg. Natürlich mach ich mir einen Kopf, wenn es dir schlecht geht. Aber ich hab von hier aus nicht die besten Möglichkeiten, um dir zu helfen, deswegen musst du mir ein bisschen entgegenkommen – auch wenn das jetzt gerade vielleicht schwer ist.

Mein Brustkorb tat weh. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass ich Erin unbewusst zu Liv und Mel hinter die Mauer gestellt hatte. Dabei sollte ich doch am besten wissen, dass gerade sie immer an meiner Seite war.

Ich: Ich fühl mich einfach so hilflos.

Ich: Ich hab das Gefühl, ständig eine ganze Wagenladung Backsteine mit mir rumtragen zu müssen, ohne die Möglichkeit, sie ablegen zu können. Und jedes Mal, wenn mir Liv zu Hause die Tür vor der Nase zuknallt, kommt einer dazu. Und noch einer, wenn Mel mich so skeptisch anguckt. Und dann noch einer, wenn ich an Jae-yong denke.

Ich: Es ist so anstrengend, und ich bin so erschöpft, dass ich gar nicht mehr weiß, wie es sich ohne das Gewicht überhaupt angefühlt hat.

Erin: Erinnerst du dich noch, wie es mir letztes Jahr ging?

Ich: Natürlich.

Als könnte ich das je vergessen. Es hatte Tage gegeben, an denen ich sie nur mit Müh und Not aus dem Bett und dem Haus locken konnte. Ich spürte eine Gänsehaut auf meinen Armen, als ich daran zurückdachte, wie ratlos ich gewesen war. Das Gefühl, dass sie sich von mir und allen anderen entfernte und ich sie nicht mehr zu packen bekam, war so präsent, als wäre es erst gestern gewesen.

Erin: Und weißt du, was mich immer dazu gebracht hat, trotzdem aufzustehen und mein Bestes zu versuchen? Egal, wie wenig das an manchen Tagen war?

Ich: Nein, das hast du mir nie erzählt.

Erin: Du, Ella. Du warst das. Weil du mich nie aufgegeben hast, auch wenn ich es selber schon getan hatte.

Erin: Es ist gerade schwer, ich weiß. Wirklich. Aber ich sehe, wie du dich bemühst, und darauf solltest du genauso stolz sein, wie ich es bin. Und wenn du dich mal nicht aufraffen kannst, ist das auch in Ordnung. Ich hoffe nur, dass du weißt, dass ich immer hinter dir stehen und dir die Daumen drücken werde.

Meine Sicht verschwamm mit den Tränen, die mir in die Augen stiegen. Ich konnte kaum sehen, was ich tippte – es war nur ein kurzes »Danke«, weil ich zu mehr gar nicht in der Lage war. Ich hoffte, sie verstand trotzdem alles, was darin mitschwang. Dass ihre Worte wie Balsam für meine Seele waren und ein klein wenig Gewicht von meinen Schultern nahmen. Auch wenn es den Gedanken, sie vielleicht erst in einem knappen Jahr wiedersehen zu können, noch unausstehlicher machte.

Ohne sie fühlte ich mich so klein in dieser riesigen, riesigen Stadt. Die Hochhäuser in meinem Rücken, die vielen Menschen, deren Gemurmel wie ein Rauschen an meine Ohren drang. Und mittendrin ich. Mit meinen Tränen, die mir heiß über die Wangen rollten, weil ich sie einfach nicht mehr unterdrücken konnte. Ich ließ sie zu. Ließ sie sich ihren Weg hinunter bahnen, über mein Kinn, bis sie mir auf die verschränkten Hände in meinem Schoß tropften. Erst dann hob ich einen Arm und wischte mir mit dem Handrücken über die Augen.

»Ist schon gut, Ella«, flüsterte ich mir selbst leise zu. »Alles wird gut.«

Zu Hause führte mein Weg mich als Erstes in die Küche. Ich hatte den ganzen Tag kaum etwas gegessen, und mittlerweile spürte ich das auch. Als ich Mel am Küchentisch sitzen sah, ihr Laptop aufgeklappt vor ihr, stockte ich für einen Augenblick mitten in der Bewegung.

Sie schaute kurz auf, sagte aber nicht mehr als »Hallo«, ehe sie einen Schluck Kaffee aus ihrer großen Tasse trank und dann am Laptop weitertippte. Sie trug ihre schwarze Brille statt der Kontaktlinsen, die sie sonst jeden Morgen einsetzte, und ihre Haare waren etwas zerzauster als gewohnt.

Ich ging langsam an ihr vorbei und nahm mir zögerlich einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Sollte ich mich zu ihr setzen? In mein Zimmer gehen? Sie ansprechen oder schweigen? Glücklicherweise musste ich die Entscheidung nicht treffen. Ich hatte mich nur einen halben Schritt vom Kühlschrank entfernt, als Mel die Stille brach.

»Mrs Elliot hat gefragt, ob jemand von uns noch mal nach ihrem Computer sehen könnte«, erklärte sie und warf mir über die Schulter einen Blick zu, ein müdes, kaum wahrnehmbares Lächeln auf den Lippen.

»Wundert mich gar nicht«, murmelte ich. Wenn ich mir als ersten Computer das teuerste Gerät gekauft hätte, das es derzeit auf dem Markt gab, wäre ich auch vollkommen verwirrt von all den Einstellungen und Funktionen gewesen.

Mel lehnte sich von ihrem Laptop zurück und griff nach ihrer Kaffeetasse. »Könntest du das die Tage bitte übernehmen?«

»Hat sie gesagt, was genau die Probleme sind?«

Mel schüttelte nur den Kopf. »Sie hat es mir nur gestern im Vorbeigehen gesagt. Du kennst sie doch. Sie will uns nicht länger als nötig belästigen.« Mit einem Augenrollen kommentierte sie Mrs Elliots Zurückhaltung. Dann folgte ein Gähnen, das sie mühsam versuchte zu unterdrücken.

Ich beobachtete sie, während sie die Brille abnahm, um sich kurz über die Augen zu reiben, ehe sie einen weiteren großen Schluck Kaffee trank. Wie lange sie wohl schon hier saß?

»Kannst du bald Schluss machen für heute?«, fragte ich vorsichtig.

»Ich hab noch ein bisschen was zu tun.«

Ein paar Minuten blieben wir noch so – in dieser merkwürdigen Schwebe des Schweigens und einer ersten Annäherung. Ich wiegte meinen Joghurt abwechselnd in beiden Händen, dann räusperte ich mich und machte ein paar Schritte in Richtung meines Zimmers. »Ich lass dich dann mal in Ruhe arbeiten.«

Mels Nicken war für mich Antwort genug. Ich verlangsamte meine Schritte, als ich an Livs Tür vorbeiging. Kaum ein Mucks war aus ihrem Zimmer zu hören, aber die Hoffnung, dass sie nach draußen kam und ich mit ihr reden konnte, wollte trotzdem nicht verschwinden.

Ich warf mich auf mein Bett, zog den Deckel von meiner Joghurt und aß ihn in Ruhe auf. Dann nahm ich ein Buch von dem Stapel auf meinem Nachttisch. Es war eine moderne Nacherzählung von Die Schöne und das Biest, die Erin mir mal empfohlen hatte. Ich hatte das Buch bereits vor einer Weile begonnen und beiseitegelegt, als ich mit Harry Potter angefangen hatte. Auf dem Rücken liegend hielt ich es über meinen Kopf und las dort weiter, wo mein Lesezeichen steckte. Ich versank in der Geschichte und merkte kaum, wie es draußen dunkler wurde. Erst als meine Augen so trocken waren, dass sie regelrecht brannten, legte ich das Buch beiseite.

Lesen half, meine Gedanken zu verlangsamen. Keine Ahnung, was ich ohne Bücher in meinem Leben gemacht hätte, aber ich war froh, es nicht herausfinden zu müssen. Nur hatten sie im Augenblick auch diesen bittersüßen Nachgeschmack. Die Stolz-und-Vorurteil-Ausgabe, die ich mir in New York gekauft hatte. Das gesamte Harry-Potter-Universum. Jae-yong und ich teilten diese Verbindung zu Büchern, das war etwas, was mich ihm näher gebracht hatte. Aber jetzt? Ich konnte kein Buch in die Hand nehmen, ohne mich zu fragen, ob er es kannte oder sogar schon gelesen hatte.

Ich klappte es zu, als ich die Buchstaben auf den Seiten kaum noch erkennen konnte. Dann schaltete ich die Nachttischlampe neben meinem Bett ein und stand auf. Sie spendete ausreichend Helligkeit, dass ich auch an meinem Schreibtisch genug sehen konnte. Mein Stuhl knarzte, als ich mich daraufsetzte. Vor mir lag ein kleiner Papierstapel, daneben Bleistifte und schwarze Fineliner verstreut. Ein Blatt lag so nah an der Schreibtischkante, dass es drohte, hinter die Heizung zu fallen. Ich streckte mich über den Tisch, zog es zu mir und drehte es noch in der Bewegung um. Dunkle Augen starrten mir entgegen. Der Rest der Zeichnung war farblos. Ich hatte es nie geschafft, sie zum Leben zu erwecken, hatte es nie geschafft, Jae-yongs Haare, seine Kleidung, sein Gesicht mit Farbe zu versehen. Allein dieser Anblick verursachte ein Ziehen in meiner Brust. Zittrig sog ich die Luft ein.

Ich sollte dieses Bild in die unterste Schublade meines Schreibtisches verbannen, aber ich konnte mich einfach nicht überwinden, es aus den Händen zu legen. Das würde ich die nächsten Tage bereuen, wenn sein Lächeln wieder vor meinen Augen aufblitzte. Aber jetzt gerade? In diesem Moment? Es war mir egal. Es war in Ordnung, wenn ich dafür nicht vergaß, wie gut es sich angefühlt hatte, bei ihm zu sein. Solange ich dieses Gefühl von Wärme und Geborgenheit in meinem Herzen einfangen und immer wieder abrufen konnte, war es mir recht, dass die Enge in meiner Brust damit einherging.

3. KAPITEL

In der Bibliothek war es so leise, dass man selbst das Papierrascheln von der anderen Seite des Saales hören konnte. Abwesend tippte ich mit meinem Stift auf das Lehrbuch, das aufgeschlagen vor mir lag. Den Absatz über die Wichtigkeit von Social Media im Marketing las ich gerade zum dritten Mal durch, weil keines der Worte hängen bleiben wollte.

Matt saß mir gegenüber, den Kopf ebenfalls über ein Buch gebeugt, die Stirn in Falten gelegt. Im Gegensatz zu mir machte er sich allerdings nebenbei Notizen und schien gut voranzukommen. Ich stieß ein Seufzen aus und ging dazu über, kleine Figuren an den Rand meines Buches zu malen.

»Ich weiß, ich hab dich das schon hundertmal gefragt«, begann Matt, »aber willst du wirklich nicht wenigstens ein einziges Mal einen Kunstkurs belegen?«

Verwirrt hob ich den Blick. Matt betrachtete mich mit einem neugierigen Ausdruck auf dem Gesicht und deutete auf den bemalten Rand meines Lehrbuchs. »Mr Vegas Kurs zum Beispiel ist wirklich gut. Ich bin mir sicher, dass es dir gefallen würde.«

Ich brauchte einige Sekunden, ehe ich meine Gedanken wieder eingefangen hatte, die bei der Erwähnung des Kunstkurses in alle Richtungen davongesprungen waren. »Ich kann es mir im Augenblick nicht erlauben, mein Studium zu vernachlässigen.«

Wenn ich daran dachte, wie angespannt die Situation zu Hause war, wollte ich dieses Gespräch im Moment unter keinen Umständen mit Mel führen.

»Du könntest den Kurs als Free Elective belegen«, sagte Matt. »Nur zum Spaß, um zu sehen, ob es dir gefällt.«

»Ich denke darüber nach«, sagte ich knapp und versuchte den kleinen Funken Hoffnung zu unterdrücken, der kurz in mir aufflammen wollte. Es war nicht so, als hätte ich das noch nie in Erwägung gezogen. Im Gegenteil, ich hatte mich schon so oft durch das Kursangebot der Kunstfakultät gescrollt, dass ich wahrscheinlich alle Seminare, die für mich infrage kamen, im Schlaf hätte aufsagen können. Doch ich kam mit dem Stoff aus meinem Major schon kaum hinterher. Dazu noch einen Kurs zu belegen, der nichts mit meinem eigentlichen Studium zu tun hatte, erschien mir einfach nur unvernünftig. Zumal mir das für meinen späteren Beruf ohnehin nichts bringen würde und somit verschwendete Zeit wäre.

Matt beobachtete mich einen Moment lang, bevor er seufzte. »Sag Bescheid, wenn du deine Meinung änderst.« Damit wandte er sich wieder seinen Aufzeichnungen zu.

Ich spürte, dass er mit meiner Antwort nicht zufrieden war, und wollte gerade den Mund öffnen, um ihm meine Entscheidung zu erklären, als mein Blick plötzlich an einer Gruppe Mädchen hängen blieb, die ein paar Tische entfernt hinter Matt saßen. Sie fielen mir nur auf, weil sie im Gegensatz zu allen anderen keinerlei Bücher vor sich liegen hatten. Sie sahen auch nicht aus, als hätten sie vor, zu lernen oder Hausarbeiten zu schreiben. Stattdessen steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander – gerade leise genug, dass ich sie aus dieser Entfernung nicht hören konnte. Ich hätte mir nichts dabei gedacht, wenn sich das Mädchen, das mit dem Rücken zu mir saß, nicht ständig umgedreht und mir Blicke über die Schulter zugeworfen hätte.

Ich widerstand dem Drang zu prüfen, ob irgendetwas hinter mir ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, und versuchte, mich auf die Arbeit vor mir zu konzentrieren. Aber jedes Mal, wenn ich aufsah, kreuzte sich mein Blick mit dem eines der Mädchen. Eine Gänsehaut überzog meine Arme. Unwillkürlich machte ich mich kleiner, um Matt als Sichtschutz zwischen mir und der Gruppe zu benutzen – was nicht unbemerkt blieb.

»Alles in Ordnung?«, fragte er mich, die Stirn leicht gerunzelt.

»Äh, ja, alles gut.« Ich zog mein Lehrbuch zu mir heran, bemüht, nicht auf die Gruppe hinter ihm zu achten, die ich weiterhin aus den Augenwinkeln wahrnahm.

»Sicher?«, hakte er nach. »Du wirkst in letzter Zeit so …«

Neugierig sah ich ihn an, das Getuschel für einen Moment vergessend. »So?«

»Niedergeschlagen«, antwortete er schließlich.

Meine Antwort blieb mir im Hals stecken. Mit einem Räuspern versuchte ich, meine Überraschung zu überspielen. Ich hatte nicht erwartet, dass er mich auf mein fahriges Verhalten ansprechen würde. Bisher hatte ich nicht darüber nachgedacht, wie sehr die vergangenen Wochen auch äußerlich an mir kleben mussten. Ich atmete tief durch und hob meine Mundwinkel zu einem halben Lächeln an. »Gerade ist einfach viel los.«

»Wir haben außerhalb des Studiums nicht so viel miteinander zu tun, aber, na ja – falls du drüber reden möchtest …«

Ich unterbrach seinen stolpernden Versuch mit einem leichten Kopfschütteln. Diesmal war das Lächeln auf meinen Lippen echt. »Du hilfst mir schon genug, wenn du mich nächstes Semester in Statistics nicht durchfallen lässt.«

Matt nickte sichtlich erleichtert. »Ich weiß nicht, wie viel Mitspracherecht ich bei deiner Note haben werde, aber ich kann dir zumindest beim Lernen meine moralische Unterstützung anbieten.«

Ich hob einen ausgestreckten Daumen in die Höhe. »Gute Antwort.«

Daraufhin widmeten wir uns unseren Aufgaben, bis Matt sein Buch schwungvoll zuklappte und die Arme über dem Kopf ausstreckte. Nach einem Blick auf sein Handy begann er, seine Arbeitsmaterialien in seiner Tasche zu verstauen. »Okay, ich glaube, ich muss dich jetzt leider allein lassen.«

Ich sah ihm zu, wie er erst das Lehrbuch, dann den Notizblock samt Stiften verschwinden ließ, ehe er den Reißverschluss der Tasche zuzog. »Hast du noch was Schönes vor?«

»Ein Freund feiert den Einzug in seine erste eigene Wohnung, und mir wurde die ehrenvolle Aufgabe des designated drivers zugeteilt. ›Schön‹ ist nicht unbedingt das erste Wort, das mir einfällt.«

Ich warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. »Klingt spaßig.«

»Absolut.« Damit schob er seinen Stuhl zurück, stand auf und warf sich die Tasche über die Schulter. »Sehen wir uns nächste Woche? Gleiche Zeit, sollte ich den Abend überleben?«

»Ich werde da sein«, sagte ich und rief ihm ein leises »Viel Glück« hinterher, als er sich abwandte und Richtung Ausgang schlenderte. Er winkte mir noch zu, dann verschwand er zwischen den Bücherregalen.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, noch eine Weile die Ruhe in der Bibliothek zu genießen und die letzten zehn Seiten meiner Hausarbeit zu schreiben … Allerdings war mit Matt auch mein Sichtschutz verschwunden, der mich vor den neugierigen Blicken der Mädchen bewahrt hatte. Ich vertiefte mich angestrengt in mein Buch, versuchte, mich dahinter zu verstecken. Auch ohne aufzusehen, spürte ich, dass sie mich immer noch anstarrten.

Du bildest dir das nur ein. Aber das mulmige Gefühl, das sich in meinem Bauch breitmachte, sagte etwas anderes. Ich hielt es noch gute zehn Minuten aus, dann beschloss ich, aus der Bibliothek zu fliehen. Jede meiner Bewegungen wurde beobachtet, während ich meine Sachen gar nicht schnell genug zusammenpacken konnte.

Ich lief nach draußen, schaute immer wieder über meine Schulter, als befände ich mich in einem Actionfilm, verfolgt vom Bösewicht. Meine Beine trugen mich wie von selbst zur Bahnstation, und glücklicherweise fuhr eine gerade in diesem Augenblick ein.

Meine Schultern waren noch immer verkrampft, als sich die Türen hinter mir schlossen. Wäre an meinem Shirt eine Kapuze gewesen, hätte ich sie mir in diesem Moment übergezogen. Stattdessen hielt ich meinen Kopf die gesamte Fahrt über gesenkt. Die Angespanntheit löste sich erst aus meinem Körper, als ich die Wohnungstür hinter mir geschlossen hatte. Endlich konnte ich mich in meinen vier Wänden verkriechen.

Ich hatte mir das nur eingebildet, richtig? Die Mädchen in der Bibliothek … Vielleicht hatten sie gar nicht mich angeguckt? Vermutlich gab es eine plausible Erklärung dafür, auf die ich gerade einfach nicht kam.

Vorerst zufrieden mit dieser Theorie ließ ich mich rücklings auf mein Bett fallen. Aus reiner Gewohnheit zog ich mein Handy aus der Hosentasche, um nachzusehen, ob Erin mir geschrieben hatte. Als ich den Bildschirm entsperrte, passierte für eine Sekunde gar nichts. Dann explodierte das Benachrichtigungsfenster förmlich. Es pingte und pingte und pingte mit Nachrichten von Social-Media-Apps, von denen ich nicht mal mehr wusste, dass ich sie installiert hatte. Bis es zu viele Mitteilungen waren und der Bildschirm komplett überfordert einfror. Verwirrt startete ich das Handy neu, bevor ich mir ansehen konnte, woher das alles kam. Im nächsten Moment wünschte ich mir, es nie gesehen zu haben. Ich war froh, dass ich bereits lag. Dennoch tippte ich auf die erste Benachrichtigung. Twitter öffnete sich, und die paar Sekunden, die ich warten musste, waren wie die Ruhe vor dem Sturm. Der Post war in einer Sprache verfasst, die ich nicht mal mit viel Mühe hätte entschlüsseln können. Aber meine Augen verweilten eh nur den Bruchteil einer Sekunde auf dem Text, ehe sie zum angehängten Bild flogen.

Dem Bild.

Diesem gottverdammten Bild, das so unschuldig aussah – und trotzdem so viel Schaden angerichtet hatte.

Ich klickte auf einen anderen Post. Die angezeigte Anzahl der Retweets und Likes ließ mich schlucken. Ich überflog die Kommentare, wechselte zu Instagram, sah mehr Posts, immer und immer wieder mit dem gleichen Bild. Jae-yong, wie er mich in den Armen hielt. Man sah ihn genau – seine rosa gefärbten Haare waren zu auffällig, als dass man ihn nicht hätte erkennen können.

Und jedes einzelne Mal war ich auf dem Bild verlinkt.

Ich hatte angenommen, dass mich niemand erkennen würde. Mel, ja. Liv, ja. Weil sie meine Familie waren, mich jeden Tag sahen und selbst die Tatsache, dass ich nur von hinten fotografiert worden war, nicht ausreichte, um sie zu täuschen. Aber all diese Leute – woher wussten sie plötzlich, wer ich war? Woher kannten sie meine Social-Media-Accounts? Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich darüber nachdachte, wie jemand nach Hinweisen gesucht haben musste, um herauszufinden, wer die Frau auf dem Foto war. Und direkt noch einmal, als mir die Blicke der Gruppe in der Bibliothek einfielen.

Das … das war nur ein Zufall gewesen, richtig?Sie hatten nicht wissen können, dass ich dort war. Aber sosehr ich genau das glauben wollte – die Art und Weise, wie mein Magen sich verknotete, sprach Bände.

Meine Hände zitterten, als ich mein Handy sinken ließ. Ich fuhr mir mit einer Hand durchs Haar, versuchte meine Atmung – mich – unter Kontrolle zu bringen.

Ich stand von meinem Bett auf, setzte mich wieder hin. Stand ein weiteres Mal auf, in der Hoffnung, die Bewegung würde mir zu einer Antwort verhelfen, was ich jetzt tun sollte. Aber nichts. Mein Kopf war leer. Ich konnte keinen Gedanken greifen und fühlte mich permanent wie mit Eiswasser übergossen. Meine Finger kribbelten mit dem Verlangen, mehr Nachrichten zu lesen. Warum jetzt? Warum wurde ich ausgerechnet jetzt auf dem Foto erkannt? Wer machte sich noch über einen Monat später die Mühe, darüber nachzudenken? Als hätte allein die Existenz des Bildes nicht ausgereicht, um so vieles zu zerstören, von dem ich nicht einmal im Schlaf gewagt hatte zu träumen.

Ich lief in meinem Zimmer auf und ab, bis jegliches Sonnenlicht vor meinem Fenster bereits verschwunden war. Mein Handy hielt ich mit verkrampften Fingern fest gepackt. Gerade als ich mich hinsetzen wollte, hörte ich, wie die Haustür aufging, gefolgt von leisen Stimmen, die sich miteinander unterhielten. Am liebsten wäre ich sofort aus dem Zimmer und direkt zu meinen Schwestern gestürmt, aber meine Füße waren wie am Boden festgewachsen. Ich versuchte, mir gut zuzureden, meine Beine zu bewegen – aber die Mauer war so hoch …

Ein Klopfen an meiner Tür unterbrach meine Gedanken. Mel wartete mein leises »Ja« ab, ehe sie in mein Zimmer kam, einen angespannten Ausdruck auf dem Gesicht. Ihr Blick glitt kurz zum Fenster, dann zurück zu mir.

»Vor der Haustür stehen einige Reporter«, war das Erste, was sie zu mir sagte.

Mein Atem entwich mir schlagartig, und ich verschränkte die Arme vor der Brust. »R-reporter?«

Mel nickte, fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. »Kommst du mit mir? Ich glaube, es ist am besten, wenn wir uns kurz zusammensetzen.«

Ich folgte ihr in die Küche, wo Liv bereits an unserem Esstisch saß und in ihrem Handy versunken war. Als wir in den Raum traten, sah sie kurz in meine Richtung, dann legte sie es mit dem Bildschirm nach unten auf den Tisch und presste die Lippen aufeinander. Ich setzte mich ihr gegenüber, Mel sich links von mir.

Für einen Augenblick herrschte ein angespanntes Schweigen – und zu meiner Überraschung war es Liv, die es als Erste durchbrach. »Das Foto ist gerade wieder überall auf Twitter zu sehen. Es wurde sogar ein Statement veröffentlicht.«

»Ein Statement?« Ich hatte mich so vollständig aus der Social-Media-Welt von NXT ausgeklinkt, dass ich davon nichts mitbekommen hatte.

Liv nickte, sah mich aber nicht an, als sie erklärte: »Sie haben gesagt, dass Jae-yong in New York eine alte Freundin getroffen hat, die er schon seit vielen Jahren kennt. Sie haben nicht bestätigt, dass du das auf dem Foto bist, und jetzt streiten sich Fans und Medien, ob du es bist oder nicht.«

Ich verzog das Gesicht, als ich mir vorstellte, was möglicherweise über mich im Internet gesagt wurde.

»Das habe ich befürchtet«, antwortete Mel. Die Anspannung in ihren Schultern stach mir ins Auge. Wenn alle Fäden rissen, war es immer Mel, auf die wir uns verlassen konnten. Die Sorge in ihren Augen ließ die ganze Situation noch wesentlich bedrohlicher werden.

»Als ich vorhin nach Hause gekommen bin, war noch niemand da«, sagte ich und unterdrückte das Bedürfnis, aufzustehen, um im Wohnzimmer aus dem Fenster zu sehen.

Mels Blick wurde für eine Sekunde weich. Sie streckte ihre Hand aus und legte sie auf meine. »Zum Glück.« Dann setzte sie sich aufrecht hin. »Aber jetzt sind sie da, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sich das die nächsten Tage nicht ändern wird.«

Ich hatte es geahnt, trotzdem sorgte ihre Aussage dafür, dass sich der Knoten in meinem Magen noch etwas fester zusammenzog. »Was heißt das?«

Liv lehnte sich auf ihrem Stuhl vor, die Augen ebenfalls auf Mel gerichtet.

»Ich möchte nicht, dass ihr mit ihnen sprecht«, fing unsere große Schwester an. »Keine Posts auf irgendwelchen Social-Media-Kanälen für die nächsten Tage. Und ich möchte auch nicht, dass eine von euch beiden alleine diese Wohnung verlässt, solange die vor unserer Tür stehen.« Sie wandte sich an Liv. »Du hast zum Glück Ferien, bitte bleib die nächsten Tage erst mal zu Hause. Wenn du wirklich dringend irgendwohin musst – zum Tanzen oder woandershin –, dann sag Bescheid, und ich fahre dich. Oder ich frage Josh, ob er es übernehmen kann.«

Liv runzelte die Stirn – vermutlich hatte sie sich ihre Ferien anders vorgestellt. Trotzdem nickte sie stumm, sichtlich überfordert mit der Situation.

Immerhin war ich damit nicht allein.

»Was ist mit meiner Arbeit?«, fragte ich. »Wir haben kein zweites Auto, und du kannst uns nicht beide hin- und herfahren und gleichzeitig deinen Job machen.«

Die Falten auf Mels Stirn vertieften sich. Anscheinend war ihr der Gedanke auch bereits gekommen, aber ihr Gesichtsausdruck machte mir nicht gerade Hoffnungen, dass sie eine befriedigende Lösung gefunden hatte. »Ich kann dich am Wochenende fahren.«

»Und unter der Woche?«

»Ich möchte nicht, dass du mit dem Bus oder der Bahn fährst«, sagte sie.

»Ich kann nicht einfach nicht zur Arbeit gehen«, erwiderte ich. »Von dem Geld mal abgesehen, wird niemand die ganzen Schichten übernehmen, für die ich mich über die Semesterferien eingetragen habe.«

Mel zögerte einen Moment. »Nimm ein Taxi, wenn du zur Arbeit musst«, sagte sie schließlich. »Ich geb dir das Geld. Es gefällt mir nicht, dass du überhaupt dorthin gehst, aber eine bessere Lösung fällt mir gerade auch nicht ein. Aber falls dort jemand auftaucht, möchte ich, dass du nach Hause gehst und dich krankmeldest.«

Ich biss mir auf die Zunge, unterdrückte den Drang zu widersprechen. Ständig mit dem Taxi zu fahren würde viel zu viel Geld schlucken. Und wenn im Museum tatsächlich jemand auftauchte … Bei dem Gedanken drehte sich mir der Magen um. »Ich muss Matt schreiben, dass ich die nächste Zeit nicht mit ihm lernen kann«, murmelte ich.

Weder Mel noch Liv schienen es gehört zu haben. »Du hast keinen Kontakt mehr zu ihm, richtig?«, fragte Mel.

Ich stockte eine Sekunde. Die brauchte ich, um zu verstehen, dass sie Jae-yong meinte. Eine Sekunde, in der mein Herz einen Schlag aussetzte. Dann nickte ich.

»Diese Leute dort draußen«, sie deutete mit einem Kopfnicken zum Fenster, »wollen Dinge über ihn erfahren, Ella. Wenn sie erst einmal bemerken, dass du nichts zu erzählen hast, werden sie das Interesse verlieren und zu dem Schluss kommen, dass sie doch die Falsche haben.«

Sie setzte an, sich durch die Haare zu fahren, ehe sie sich an ihren straffen Zopf zu erinnern schien und die Hand fallen ließ. »Wir können jetzt nichts daran ändern, dass sie da sind. Aber wir können es aussitzen und den Leuten die Wahrheit zeigen: dass es nichts zu sagen gibt. Habe ich recht?«

Mit jedem Wort, das sie sprach, beruhigte ich mich ein bisschen. Ich ignorierte, wie sie zu hinterfragen schien, ob ich den Kontakt zu Jae-yong tatsächlich abgebrochen hatte. Konzentrierte mich voll auf die eigentliche Aussage: Ich hatte nichts zu sagen. Es gab keine Neuigkeiten, keine Geheimnisse, keine Dinge, die Reporter aufdecken konnten. Ich hatte seit Wochen nicht mit Jae-yong geredet.

Ein weiteres Mal nickte ich zögerlich.

»Gut.« Mel legte ihre Hand auf meine, drückte leicht zu. »Wir kriegen das schon hin, Ella.«

Zitternd atmete ich aus. Ich war froh, so froh, dass Mel mir einen Teil meiner Last abnahm. Ich hatte keine Ahnung, was ich allein getan hätte. Es war immer Mel, an die ich mich wandte, wenn alles schiefging. Die mich stützte. Und dass sie auch diesmal wie selbstverständlich hinter mir stand und mir half – obwohl ich ihr Vertrauen enttäuscht hatte –, ließ mein Herz ein wenig leichter werden. Ich schenkte ihr ein dankbares Lächeln.

Mel zog ihre Hand zurück, und ich meinte, ein leises Seufzen von ihr zu hören. Sie sah so müde aus, wie ich mich fühlte. »Ich werde Josh Bescheid sagen müssen.«

Das ließ mich aufhorchen. »Wegen den Reportern?«

Sie nickte. »Auch. Er hat mich gefragt, ob wir nächste Woche seine Familie besuchen wollen. Aber so wie die Situation jetzt ist, kann ich euch nicht allein lassen.«

»Mel«, begann ich. Stockte. Am liebsten hätte ich ihr zugestimmt, sie darum gebeten, nicht mehr wegzugehen, während alles so katastrophal war. Aber … »Du solltest mit ihm fahren.«

Mels Blick sprach Bände. »Ella, ich werde sicher nicht einfach in den Urlaub fahren, wenn Reporter vor unserer Haustür stehen und darauf warten, meine kleine Schwester in den nächsten großen Medienskandal zu verwickeln.«

»Du kannst auch nichts daran ändern«, erwiderte ich dickköpfig. Mel brauchte so dringend einen Urlaub. »Liv und ich können uns allein für ein paar Tage in der Wohnung einsperren.«

»Und wer fährt Liv zu Charlie? Zum Tanzkurs?« Mel schüttelte den Kopf. »Es wäre unverantwortlich, und du weißt, dass ich das nicht mit gutem Gewissen machen könnte.«

»Charlie kann auch einfach hierherkommen zum Lernen«, mischte Liv sich zum ersten Mal ein. Sie erwiderte Mels Blick fest, genauso überzeugt davon, dass Mel eine Auszeit brauchte, wie ich.

»Und ich könnte sie mit dem Auto zum Tanzstudio bringen und dort auf sie warten, bis sie fertig sind«, fügte ich hinzu.

Wenn Liv die Idee missfiel, ließ sie es sich nicht anmerken, wofür ich dankbar war. Mel wirkte nicht sonderlich angetan von unserem Vorschlag und presste die Lippen zusammen, aber immerhin schien sie darüber nachzudenken.

Mel zögerte. »Ich müsste mit Josh darüber sprechen …«

»Tu es«, sagte ich nachdrücklich.

Mit einem Seufzen gab sie sich geschlagen. »Ich bin in meinem Zimmer, wenn was ist, in Ordnung?«

Liv und ich nickten gleichzeitig und schauten Mel hinterher, als sie die Küche Richtung Flur verließ. Mit einem Mal war es so still, dass das Ticken der Küchenuhr in meinen Ohren unglaublich laut klang. Liv schwieg, ich ebenfalls. Wir saßen uns gegenüber, sahen einander nicht an. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich darauf wieder. Und schließlich stand Liv auf, umrundete den Tisch auf dem Weg aus dem Raum.

Ich rieb mir über die Augen. Die Erschöpfung überrannte mich gerade mit voller Wucht. Mir war nach Weinen zumute, aber ich hatte das Gefühl, in den letzten Wochen bereits alle Tränen vergossen zu haben, die ich in mir hatte. Mein Kopf brummte, mein Körper fühlte sich schwer wie Blei an. Plötzlich schlang Liv ihre Arme von hinten um mich, drückte nur für den Hauch einer Sekunde zu, ehe sie mich wieder losließ. Als ich mich umdrehte, sah ich gerade noch, wie meine kleine Schwester im Flur verschwand.

4. KAPITEL

Ich bekam die halbe Nacht kein Auge zu. Die meiste Zeit wälzte ich mich im Bett hin und her und versuchte, die Panik zurückzukämpfen, die in mir hochsteigen wollte. Ich war im Dunkeln in mein Zimmer gegangen, hatte die Vorhänge zugezogen und mich nicht getraut, einen Blick nach draußen zu werfen. Der Gedanke, dass dort Leute auf mich warteten, hatte mir genügend Zündstoff für Albträume gegeben.

Als mein Wecker kurz vor neun klingelte, lag ich bereits hellwach im Bett. Der Mix aus Müdigkeit und Angespanntheit war genug gewesen, mir jegliche Hoffnung auf Schlaf zu rauben. Ich brauchte eine Weile, bis ich mich aufraffen konnte, das Zimmer zu verlassen, um mich zu duschen. Ich sehnte den Abend bereits herbei.

Wie abgesprochen rief ich mir für den Weg zur Arbeit ein Taxi. Ich wartete im Wohnzimmer, den Blick nach draußen auf die Straße gerichtet, damit ich sah, wenn das Taxi vorfuhr. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, als ich ein paar Minuten später die fünf Stockwerke nach unten lief. Im Flur blieb ich vor der Haustür stehen, atmete einmal tief durch. Mit gesenktem Kopf öffnete ich die Tür, hoffend, dass ich so vielleicht unsichtbar sein würde. Aber schon nach wenigen Sekunden hörte ich, wie leise Gespräche verstummten, und sah aus den Augenwinkeln, wie sich Füße in Bewegung setzten.

Als der Auslöser der ersten Kamera ertönte, zuckte ich zusammen. Das Geräusch hallte durch meinen gesamten Körper. Ich zog die Schultern hoch, als könnte ich mich kleiner machen, konzentrierte mich auf das Taxi, das nur wenige Meter entfernt an der Straße auf mich wartete. Aber ich hatte gerade einmal ein paar Schritte zurückgelegt, als plötzlich ein Dutzend Leute um mich herumstanden.

Kameras wurden mir direkt ins Gesicht gehalten. Einige Personen stellten sich mir genau in den Weg und ließen mich auch nach mehreren Anläufen nicht vorbei. Ich wollte mich nur an ihnen vorbeidrängen, ins Auto springen und sie hinter mir lassen – aber als sie dann auch noch anfingen, Fragen zu stellen, war es mit meiner Konzentration vorbei.

»Wie lange kennst du Jae-yong schon?«

»Bist du mit NXT befreundet?«

»Haben sie dir von ihrem neuen Album erzählt?«

»Was hast du zu dem Foto zu sagen?«

Ihre Fragen kreisten wie wütende Bienen um meinen Kopf. Die Stimmen überschlugen sich nur so, während Frage um Frage um Frage auf mich abgefeuert wurde. Ich versuchte, sie zu ignorieren. Versuchte es wirklich. Aber je länger sie drängelten, je mehr Platz sie mir nahmen und je mehr Fotos sie schossen, desto schneller schlug mein Herz. Mein Hirn hatte auf Autopilot umgeschaltet und schrie mir zu, wieder zurück ins Haus zu flüchten. Doch ich zwang mich, weiterzugehen, die Kameras so gut wie möglich beiseitezuschieben, obwohl ich den Reportern am liebsten zugeschrien hätte, dass ich nichts zu sagen hatte – dass es nichts zu sagen gab. Meine Stimme blieb mir auf halbem Weg im Hals stecken, als sich eine groteske Frage zwischen den anderen hindurch in meinen Gehörgang bohrte.

»Haben sie dich dafür bezahlt, Zeit mit ihm zu verbringen?«

Abrupt blieb ich stehen. Mein Kopf zuckte ungewollt nach oben, auf der Suche nach der Person, die diese Frage gestellt hatte.

»Wie bitte?«, brachte ich atemlos hervor.

Die Leute hielten ihre Kameras weiterhin auf mein Gesicht gerichtet. Angespanntes Schweigen hing in der Luft, während alle auf meine Antwort warteten. Mein Blick traf auf einen Mann mittleren Alters in der zweiten Reihe. Er hielt den Arm ausgestreckt in meine Richtung, ein Mikrofon in der Hand, um meine Worte aufzufangen. Sein Mund war zu einem süffisanten Grinsen verzogen. Ich sah ein zufriedenes Blitzen in seinen Augen, als er bemerkte, dass er meine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte.

»Ich meine ja nur – diese fünf Jungs haben eine ziemlich enge Beziehung zueinander. Ein bisschen zu eng, wenn du mich fragst«, sagte er.

Ich presste die Lippen aufeinander und spürte, wie mir vor Wut und Hilflosigkeit die Röte in die Wangen schoss.

Nicht mit ihnen sprechen. Mel hat gesagt, wir sollen nicht mit ihnen sprechen.

Mühsam schluckte ich die Worte, die mir auf der Zunge lagen, runter. Wandte den Blick von dem Mann ab und schob mich so schnell wie möglich an den ganzen Leuten vorbei. Die letzten Schritte zum Taxi legte ich rennend zurück. Ich riss die Hintertür auf, sprang auf die Sitzbank und zog sie so kraftvoll hinter mir zu, dass das Auto wackelte. »Zum Museum of Contemporary Art bitte.« Ich machte mich im Sitzen so klein wie möglich, während der Fahrer das Auto aus der Traube von Reportern manövrierte.

»Verrückter Tag, was?«, sagte er freundlich. Im Rückspiegel sah ich seinen fragenden Blick.

Das Bedürfnis zu lachen stieg in mir hoch, aber ich schluckte es hinunter. »Sehr.«

Ich entspannte mich erst, als ich aus dem Taxi gestiegen war und die Treppen zum Museumseingang hochlief. Hinter meinen Schläfen drückte es, ich fühlte mich so erschöpft, als wäre ich bereits den ganzen Tag unterwegs gewesen. Es war noch still, die Garderobe völlig leer. Das Museum öffnete erst in einer Viertelstunde, und ich war froh um die paar Minuten Ruhe. Ich setzte mich auf den Stuhl und überlegte kurz, meinen Skizzenblock herauszuholen. Aber wenn es eines gab, was ich im Augenblick nicht war, dann inspiriert. Die Angespanntheit seit gestern, die Begegnung mit den Reportern – das alles förderte meine Kreativität nicht gerade.

Wie automatisch griff ich nach meinem Handy. Ich hatte gestern alle Benachrichtigungen ausgeschalten – andernfalls wäre mein Handy vermutlich zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen. Jetzt fielen mir beinahe die Augen aus dem Kopf, als ich Instagram öffnete und sah, wie viele Verlinkungen angezeigt wurden. Wie viele Kommentare plötzlich meine privaten Bilder hatten, die ich hin und wieder postete.

Eins zeigte Liv und mich am Tag ihres Middleschool-Abschlusses. Wir lachten beide, Liv hatte Sahne im Haar, weil ich ihr den Überraschungskuchen ins Gesicht gedrückt hatte, nachdem sie einen Witz zu viel über meine Backkünste gerissen hatte. Die Kommentarspalte darunter war endlos, und nicht wenige davon brachten mich vor Wut und Entsetzen zum Kochen.

nxtkings: das ist sie??? hahahahh

wowooseok: @vvkajanxt wenn sie ihn rumkriegt, schaffen wir das mit links!

vvkajanxt: @wowooseok südkorea, wir kommen!

nevernotnxt: lass jae bloß in ruhe!

nextnxt: welche von beiden ist sie?

jaeyongswife: gut, dass er dich abserviert hat!!

Eine Gänsehaut überzog meine Arme. Nicht alle waren schlimm – einige Leute verteidigten mich sogar, obwohl sie mich nicht kannten. Ich scrollte und scrollte mich durch meine Bilder, Posts und Tweets, aber kaum einer war verschont geblieben. Je mehr ich las, desto unbehaglicher wurde mir. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wer meine Social-Media-Seiten sehen könnte, hatte nie damit gerechnet, mich damit so verletzlich zu machen.

Es kribbelte mir in den Fingern, im Internet nach NXT zu suchen. Es wäre so einfach gewesen, dabei hatte ich mir geschworen, es nicht zu tun. Nicht schwach zu werden, es auszuhalten, bis der Riss in mir geheilt war und sie aus meiner Umlaufbahn verschwanden.

Aber noch viel stärker war das Verlangen, zu erfahren, was in den Medien für Nachrichten kursierten.

Ehe sich mein Verstand zu Wort melden konnte, hatte ich meinen Internetbrowser geöffnet und »NXT« in die Suchleiste eingegeben. Beim ersten Blick auf die Ergebnisse fand ich nicht das, wonach ich suchte. Ich zögerte einen Augenblick, biss mir auf die Unterlippe. Gab mir einen Ruck und tippte »nxt jae-yong ella archer« ein – dann klickte ich auf Suchen.

Sofort fühlte ich mich unwohl. Meinen Namen in Verbindung mit der Band und Jae-yong zu suchen, kam mir so merkwürdig vor, dass ich mich innerlich wand. Es dauerte nicht lang, bis die Seite sich aufgebaut hatte – und mir bestätigte, dass alles sogar noch schlimmer war, als ich angenommen hatte. Direkt die ersten Vorschläge waren News zu meiner Person. Überschriften wie »Wer ist Ella Archer?« wechselten sich mit Theorien darüber ab, woher ich NXT kannte.

Ich stolperte von einer Seite zur nächsten. Neben dem Bild sah ich einige, die heute Morgen entstanden sein mussten. Fotos, die von meinen Social-Media-Kanälen genommen und im Internet verbreitet wurden, als wären sie nicht mehr als ein Beweis meiner Existenz, nicht ein Teil meiner Privatsphäre, die sich mit einem Wimpernschlag in Luft aufgelöst hatte.

Ich legte mein Handy beiseite, als ich bemerkte, wie fest ich es umklammert hielt. Meine Schultern waren angespannt, mein Nacken tat weh – als könnte die Haut dort jeden Moment reißen und das nervöse Wrack darunter entblößen. Ich atmete bemüht ruhig. Konzentrierte mich auf das grelle Licht in der Garderobe. Den Stuhl unter mir. Den Boden unter meinen Füßen.

Ich atmete und atmete und atmete. Holte mein Handy hervor, tippte eine Nachricht. Und wartete.

Ich: Hast du gerade Zeit?

Erin: Ja. Was ist los?

Ohne groß nachzudenken, rief ich sie an. Es klingelte und klingelte, und ich wollte gerade wieder auflegen, als sie sich endlich meldete.

»Hey du«, sagte sie, und ich spürte unwillkürlich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen treten. »Soll ich fragen, oder erzählst du es mir von allein?«

Ich holte tief Luft. Wo sollte ich anfangen? »Das Foto …« Ich räusperte mich, versuchte es noch mal neu. »Jemand hat mich auf dem Foto erkannt.«

Stille. Sie spiegelte den geschockten Zustand, in dem ich mich im Augenblick befand. An Erins Stelle hätte ich daraufhin nicht gewusst, was ich erwidern sollte. Aber ich hoffte so sehr, dass sie die richtigen Worte finden würde. Im Hintergrund hörte ich sie tippen, dann fluchte Erin leise, ehe sie wieder mit mir sprach.

»Ich hab es gerade gesehen«, sagte sie. »Oh, Ella, das tut mir so leid. Kann ich irgendwas tun?«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Die Wahrheit war: Ich brauchte so dringend jemanden, der auf meiner Seite stand und greifbar war. Die mühsam in den letzten Wochen zusammengeklebten Stücke meiner selbst fingen langsam an zu bröckeln.

Es dauerte einige Minuten. Erin wartete geduldig auf meine Antwort und hörte mir aufmerksam zu, als die Überforderung der letzten Tage und Stunden aus mir hervorsprudelte. Dass ich mir so wünschen würde, mit der Situation klarzukommen, aber es einfach zu viel war. Dass ich Jae-yong vermisste. Dass ich Angst vor den Reportern hatte.

»Weiß Mel, was gerade alles bei dir passiert?«, fragte Erin.

»Seit gestern stehen Reporter vor unserer Tür. Sie hat sie gesehen, als sie nach Hause gekommen ist. Dass es im Internet auch so schlimm ist, habe ich gerade erst gesehen. Sie haben sogar meinen Instagram-Account gefunden.«

»Ella … Du solltest die Kommentare nicht lesen. Was auch immer die Leute sagen, sie kennen dich nicht, hörst du?«

Ich sagte ihr nicht, dass ich einige bereits gelesen hatte. Dass sie seitdem in meinem Kopf herumsprangen.

»Ella«, sagte Erin, nachdrücklicher diesmal. »Stell alle deine Accounts auf Privat. Ich kenne dich. Du wirst dir jeden einzelnen Kommentar und jede Nachricht durchlesen, bis du es nicht mehr aushältst.«