A Night of Shadows and Betrayals - Anne Pätzold - E-Book

A Night of Shadows and Betrayals E-Book

Anne Pätzold

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Beschreibung

Die Liebesgeschichte von Winnie und Jo geht weiter

Selbst wenn ich es gewollt hätte - ich hätte keine Ahnung gehabt, wie ich es ihr hätte näher bringen sollen: dass ich in ihrer Gegenwart nicht das Gefühl hatte, im Schatten zu verschwinden. Dass genau das es so schmerzhaft machte, sie anzusehen und nur denken zu können: Was, wenn sie nie in mein Leben getreten wäre?

»Anne Pätzold schreibt für die melancholischen Seelen, die etwas verlorenen Menschen, diejenigen, die sich in Einsamkeit wohlfühlen. Ihre Bücher sind wie eine schmerzlich-feste Umarmung, von der man nicht wusste, dass man sie brauchte. Zwischen ihren Worten wartet immer ein Zuhause auf mich.« BUCHUNDGEWITTER

Band 2 der neuen Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Anne Pätzold

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Seitenzahl: 419

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Playlist

1

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4

5

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Epilog

Die Autorin

Die Romane von Anne Pätzold bei LYX

Impressum

ANNE PÄTZOLD

A Night of Shadows and Betrayals

Roman

ZU DIESEM BUCH

Winnies schlimmster Alptraum ist wahr geworden: Sie hat es nicht geschafft, ihre Schwester Sasha zu beschützen. Das Einzige, was jetzt zählt, ist sie zu finden und zu retten. Doch es wird schnell klar, dass Winnie Hilfe braucht, und zwar ausgerechnet von Jo, die trotz all dem, was zwischen ihnen passiert ist, noch immer ihr Herz höherschlagen lässt. Nur gemeinsam haben sie eine Chance, herauszufinden, was mit Sasha passiert ist – wobei sie nie hätten vorhersehen können, auf welche unfassbaren Geheimnisse sie bei ihrer Suche stoßen würden …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Diese sind:

Skin Picking, depressive Verstimmungen/Depressionen, Suizidgedanken, Blut, Waffengewalt

Wir wünschen uns für euch alle

das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Anne und euer LYX-Verlag

Für Oma und Opa und Oma und Opa. Danke für alles.

PLAYLIST

Bad Omens – Like A Villain

Catch Your Breath – Dial Tone

M83 – Wait

Cigarettes After Sex – Affection

Novo Amor – Carry You

HANRORO – The last stop of our pain

Lizzy McAlpine – ceilings

keshi – us

AKMU – Chantey

Jimin – Like Crazy

Who-ya Extended – half moon

HANRORO – Let Me Love My Youth

SEVENTEEN – I Don’t Understand But I Luv U

Haze Moon – Supernova

juno roome – the man and his wife

Budung – Lovers

Wo bist du?

Wo bist du?

Wo bist du?

Wo bist du?

Wo bist du?

1

Sasha

Zehntausendachthundert Sekunden.

Ich zählte sie ab dem Moment, in dem Dylans Schritte auf dem Flur verklungen waren. Zehntausendachthundert Sekunden, die ich auf dem Teppichboden verbrachte, mein Rücken an die Wand gelehnt, mein Blick auf das Poster gerichtet, das über dem Kopfende des Bettes hing. Fünf nackte Frauen, die auf einem Hügel tanzten.

Irgendetwas daran faszinierte mich. Es war nicht mal das Bild selbst, ehrlicherweise. Es sah … simpel aus. Unausgeglichen. Der Himmel war zu blau, das Gras zu grün. Die Haut der Menschen ein rötliches Orange, das viel zu grell wirkte. Expressionismus, schoss es mir durch den Kopf, aber das Wort trieb zusammenhanglos durch mein Gedankenchaos davon.

Meine Finger pochten im Takt meines Herzschlags. Sie waren nicht gebrochen – oder zumindest fühlte es sich ab der zweiten Stunde nicht mehr so an.

Von draußen drangen Geräusche in mein Zimmer, aber im Gegensatz zu vorhin waren sie abgeschwächter, irgendwie dumpfer.

Als der Schmerz in meinen Fingern weniger wurde, spielte ich mit dem Gedanken, das Zimmer zu verlassen. Nach der zweiten Stunde hatte ich die Füße fest auf den Boden gestellt – und bewegte mich trotzdem nicht vom Fleck. Ich starrte immer noch wie gebannt auf das Poster, ging die Linien ab, suchte nach Hinweisen oder Gedankenfetzen, nach irgendwas, das meine Faszination dafür erklärte.

Ich fand nichts. Da war nichts, außer der Wiederholung meines Namens von der fremden Stimme in Dauerschleife.

Ich starrte das Poster an, hoffte, mich selbst darin zu finden. Meine Frustration wuchs, als nur noch mehr Fragen auftauchten, und mit der Frustration kam eine Welle der Hilflosigkeit.

Auf dem Flur vor dem Zimmer wurde es lauter. Ich spannte mich an, als es an der Tür klopfte, und keine Sekunde später stand Dylan im Raum, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Füße steckten in schwarzen Loafers, sie trug blaue Jeans und ein weißes, locker sitzendes Shirt. Ich war mir nicht sicher, ob es bewusst gewählt war, aber es ließ sie zugänglicher wirken.

Und sie war nicht allein. Hinter ihr stand jemand im Flur. Ich sah nervöse Hände zucken, lange blonde Haare und hörte ein dumpfes Rauschen in meinen Ohren, das ich nicht zuordnen konnte, bis die Person in den Raum trat und sich ein lautes, aufgeregtes Hämmern dazugesellte.

Ein Herzschlag. Blut, das in Adern rauschte.

Dylan betrachtete mich abschätzend.

Ihre Augenbrauen hoben sich immer mehr, je länger wir uns anschwiegen. Sie wippte leicht nach vorn, löste einen Arm von ihrer Brust und streckte ihn leicht zur Seite aus, als wollte sie sagen: Und? Worauf wartest du?

Mehr Sekunden verstrichen.

»Wie lang willst du dort sitzen bleiben?«

Dylans Stimme ließ mich zusammenzucken. Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, aber statt mir eine Erklärung zu liefern, was genau sie von mir wollte, trat sie lediglich einen Schritt zur Seite und bedeutete der Frau, weiter in den Raum zu kommen. Sie kam der Aufforderung nach und blieb zwei, drei Schritte von mir entfernt stehen.

Dylan tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Teppich. »Ehrlich, worauf wartest du?«

Ich hob eine Hand und deutete unsicher auf mich selbst. »Ich?«

»Nein, Marie Antoinette«, sagte sie mit einem Augenrollen. »Gucke ich dich nicht an? Natürlich du.«

»Ich weiß nicht …« Ich schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern. »Was willst du von mir?«

Dylan deutete auf die Frau. »Was denkst du?« Als ich nicht sofort zu einer Antwort ansetzte, seufzte sie frustriert. »Hast du keinen Durst? Willst du nicht …?« Statt den Satz zu beenden, deutete sie noch mal mit Nachdruck auf die Frau.

Ich schüttelte langsam den Kopf.

Dylans Arm sank. »Echt nicht? Du hast keinen Durst?«

Hatte ich welchen? Mein Hals brannte leicht, aber es war kein Vergleich zu dem Feuer, das vorhin direkt nach meinem Aufwachen in meiner Kehle gewütet hatte. Alles, was davon übrig geblieben war, war ein schwaches Kitzeln und die Erinnerung daran, wie der Mann leblos auf dem Boden gelegen hatte.

Meine Kehle schnürte sich zu. »Du willst, dass ich …«

Dylans Gesicht sagte: Endlich verstehst du’s.

Die blonde Frau räusperte sich leise. »Ich dachte, du hast gesagt, sie wurde gerade erst verwandelt?«

»Wurde sie auch. Aber anscheinend hat sie das Memo selbst nicht gekriegt«, sagte Dylan leichthin. Sie zuckte mit den Achseln. »Falls wir dich noch brauchen, wirst du’s als Erste wissen.« Mit diesen Worten scheuchte sie die Frau aus dem Raum.

Die Frau stolperte verwirrt auf den Flur, aber als Dylan ihre Meinung nicht änderte, eilte sie den Gang hinunter, bis ich sie nicht mehr hören konnte.

Dylan stützte die Hände in die Hüfte. »Du erinnerst dich aber schon daran, was vorhin passiert ist?«

Ich klemmte meine Hände unter meine Oberschenkel, um ihr Zittern zu verstecken. Hellbraune Augen, schoss es mir durch den Kopf. »Der Mann. Ich hab ihn …« Ich schluckte schwer, brachte es nicht über mich, die Worte auszusprechen.

»Na ja, von einer Jungvampirin hab ich nichts anderes erwartet«, sagte Dylan.

»Aber …« Ich unterbrach mich. Mein Hals war eng, mir war übel.

Dylan winkte ab. »Mach dir um ihn keine Gedanken. Vielleicht ein paar mehr um dich selbst.«

»Was?«

»Du bist in einem fremden Haus mit fremden Leuten«, erklärte Dylan langsam. »Hast du keine Angst? Willst du nicht schreien? Aus dem Zimmer rennen und die Umgebung in Augenschein nehmen für einen potenziellen Fluchtversuch? Wir haben ’ne Menge kaputter Fenster, durch die du kriechen kannst.«

Ich starrte sie mit offenem Mund an. Wie konnte sie so locker darüber reden? Hatte sie solches Vertrauen darin, dass ich zu verwirrt war und zu viel Angst hatte, um abzuhauen?

»Also?«

»Was?«

»Willst du deine Fluchtwege sehen?«

War das eine Falle? Es klang wie eine. Aber selbst wenn – was blieb mir anderes übrig? Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Wer ich war. Das Beste, was ich tun konnte, war, mir jeden Vorteil zu verschaffen, der mir angeboten wurde. Und wenn es am Ende auch nur dafür reichte, mir ein komplettes Bild von der Situation zu machen.

Ich zögerte nur einen Moment. So gesehen war die Entscheidung nicht schwer.

»Okay.«

2

Jo

Meine Kleidung war vom Platzregen komplett durchnässt. Die Wolken waren aufgebrochen, als ich das Gebäude der Organisation verlassen hatte, Winnie auf den Fersen, die ich irgendwo zwischen den stark befahrenen Straßen und den überfüllten Gehwegen verloren hatte.

Ich wischte mir den Regen aus den Augen, die tropfenden Haare aus der Stirn und sah mich um. Regenschirme versperrten mir die Sicht. Leute schubsten mich von links nach rechts in ihrer Eile um an mir vorbeizukommen, und ich – ich wusste nur, dass ich Winnie finden musste.

Ihre Schreie zerrissen mich. Als Sasha aus ihrem Sichtfeld verschwunden war und sie es geschafft hatte, sich von mir zu lösen … Ein Blick in ihr Gesicht hatte gereicht, um zu wissen, dass ihre schlimmsten Albträume sich erfüllt hatten.

Wegen mir.

Hätte ich besser aufgepasst, hätte ich meinen Job besser gemacht, mich nicht ablenken lassen, dann wäre Sasha nicht … Sie wäre nicht …

Ich schluckte schwer, schaffte es nicht, den Gedanken zu Ende zu spinnen. Ich drehte mich gehetzt im Kreis, suchte nach einem Hinweis darauf, wohin Winnie gegangen war.

Meine Beine trugen mich ein paar Meter in die Richtung der Busse. Zittrig erst, dann mit jedem Schritt sicherer. Ich schlängelte mich an den Leuten vorbei, ignorierte die mitleidigen Blicke, die sie der triefend nassen Frau zuwarfen, die ohne Jacke und ohne Schirm durch die Straßen rannte.

Ich schwang mich in den Bus, ungeduldig, bis Brooklyn endlich vor mir lag. Ich stieß die Haustür unseres Gebäudekomplexes auf, rannte die Stufen nach oben und drückte so fest auf die Klingel, dass mein Finger schmerzte. Als nicht sofort jemand öffnete, fing ich an, gegen die Tür zu schlagen.

Schritte. Ich hörte Schritte. Pure Erleichterung durchströmte mich und ließ mich beinahe in die Knie gehen.

Fast konnte ich mir einreden, dass ich den gesamten Vormittag halluziniert hatte.

Fast.

Dann ging die Tür auf. Helle Augen blinzelten mich hinter einer Brille an.

Mein Herz sank.

»Na endlich! Wir haben uns schon gefragt, wo ihr seid.« Victor öffnete die Tür weiter.

Sōma stand im Durchgang zum Wohnzimmer, einen halb aufgepusteten Luftballon in der Hand. »Es war um elf ausgemacht, oder? Wir haben uns selbst reingelassen – hatte vorhin zum Glück den Zweitschlüssel eingesteckt, falls sie noch irgendwelche Erledigungen machen. Nichts ist vorbereitet. Winnie ist wirklich eine lausige Partyplanerin.«

»Habt ihr sie gesehen?«, fragte ich drängend.

Die beiden tauschten einen kurzen Blick aus.

»Winnie? Nein, noch nicht. Du bist die Erste, die aufgetaucht ist.« Sōma schlug den Ballon Richtung Wohnzimmer.

Die Erklärung legte sich um meinen Hals und drückte zu. Kein einziges Wort schaffte es hervor.

Sōma hatte den nächsten Luftballon aus seiner Hosentasche gefischt und blies ihn auf, während er auf meine Antwort wartete.

Victor runzelte besorgt die Stirn. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er mit gesenkter Stimme.

Sōma bemerkte seinen veränderten Tonfall und lenkte seine Aufmerksamkeit von dem Ballon auf uns. Mit gerunzelter Stirn sah er zwischen Victor und mir hin und her.

»Ja – nein, alles gut«, sagte ich möglichst locker. Ich kaufte es mir selbst nicht ab. So viele Lügen. So viele bleierne Gewichte in meinem Magen. »Könnt ihr mir einen Gefallen tun?«, fragte ich. »Könnt ihr hierbleiben und mir Bescheid sagen, falls Winnie auftaucht? Oder Sasha.«

»Ja, natürlich, aber …«

Den Rest des Satzes hörte ich nicht mehr.

Ich ließ sie in der Wohnung stehen, rannte das Treppenhaus bis zum Dach rauf. An den vertrockneten Blumen in den Kübeln neben der Tür klebte Frost, die Geräusche der Straße hallten bis hier rauf. Ich schaute einmal in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass niemand hier war, dann lief ich wieder nach draußen, an dem vertrauten Kiosk vorbei. Die Straße weiter runter leuchteten mir die Reklametafeln des Waschsalons entgegen, zu dem Sasha mich vor all den Wochen geführt hatte.

Sie war durch die Fensterfront zu sehen. Ihr Profil war mir zugewandt, während sie die laufenden Maschinen anstarrte. Ich betrat den Salon zögerlich. Mein Kopf war leer – alles, was ich hatte sagen wollen, löste sich in Luft auf.

Die Beine an die Brust gezogen, die Arme um sich geschlungen. Ihr Zopf hielt kaum noch zusammen, ihre vom Regen feuchten Haare fielen ihr auf die Schultern, manche kräuselten sich an ihrem Hals. Ihre Kleidung war dunkel, wirkte ähnlich durchnässt wie meine, und je näher ich ihr kam, desto deutlicher fiel mir das Zittern auf, das ihren gesamten Körper schüttelte.

Ich blieb hinter ihr stehen, nicht mehr als ein halber Meter zwischen uns. Meine Hände hingen nutzlos an meinen Seiten, obwohl ich sie am liebsten dafür genutzt hätte, ihre zu halten, sie zu wärmen.

Mein Brustkorb tat weh. Ich musste die Zähne aufeinanderbeißen, um die Tränen zurückzudrängen, die sich in meinen Augen sammelten.

Schau nur, was du angerichtet hast.

Der Anblick traf mich wie ein Schlag in den Magen. Die Entschuldigungen lagen mir auf der Zunge, aber keine schaffte den Weg nach draußen. So dringend ich sie vorhin auch hatte aussprechen wollen – plötzlich fühlten sie sich fehl am Platz an. Als hätte ich kein Recht, überhaupt um Entschuldigung zu bitten.

Ich ging neben Winnie in die Knie. Ihr Gesicht blieb starr nach vorn gewandt, als wollte sie meine gesamte Existenz ignorieren.

Und Gott, tat es weh. Jeder Zentimeter meines Körpers schrie vor Schmerz und Verzweiflung auf, aber ich rief mir ins Gedächtnis, dass es mir nicht zustand, mich darüber zu beschweren.

»Lass uns nach Hause gehen.« Ich brachte es nicht über mich, lauter als in einem Flüstern zu sprechen. Aus Angst, neue Monster anzulocken.

Winnie drehte den Kopf weg. Die Haare fielen ihr ins Gesicht, versperrten mir die Sicht. Ihre Schultern hoben sich langsam, dann hörte ich sie tief ausatmen. Als sie die Arme von den Beinen löste, hielt ich ihr meine Hand hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen, und schob sie in meine Hosentasche, als Winnie sie ignorierte.

Sie verließ den Laden vor mir, lief mit großem Abstand zu mir durch die Straßen. Leicht vornübergebeugt, die Arme um den Bauch geschlungen, die Schultern bis zu den Ohren angezogen. Ich hatte weder eine Jacke noch einen Regenschirm, die ich ihr geben konnte, und selbst wenn, hätte sie sie vermutlich nicht angenommen.

Auf dem Weg zu unseren Wohnungen veränderte der Regen sich zu einem leichten Nieseln. Winnies Schuhe quietschten bei jedem Schritt im Treppenhaus. Kurz vor ihrer Wohnung warf sie einen Blick über die Schulter. Ihr Blick kreuzte meinen für den Bruchteil einer Sekunde.

Es reichte aus, um die Wut darin zu erkennen.

Vor ihrer Wohnungstür blieben wir stehen. Sie holte Luft. Im gleichen Moment, als sie zum »Du« ansetzte, wurde die Tür aufgerissen.

Sōma starrte uns mit großen Augen an. Victor schaute an ihm vorbei und lief ins Bad, als er sah, wie Winnie und ich den Hausflur volltropften.

»Wo seid ihr gewesen?«, fragte Sōma.

Winnie krümmte sich unter seinem Blick zusammen. »Ich hab Sasha zum Flughafen gebracht«, sagte sie und schob sich an Sōma vorbei in die Wohnung. Victor stand inzwischen im Flur, zwei Handtücher in den Armen, und reichte ihr eins davon.

»Zum Flughafen?«, hakte er besorgt nach. »Warum?«

Winnie legte sich das Handtuch über den Kopf und rieb sich ihre Haare grob trocken. »Unsere Mom hat angerufen. Ein Notfall. Ich kann meine Schichten bei der Arbeit nicht tauschen, deswegen ist Sasha auf dem Weg nach Philly.«

Die Ausreden kamen ihr so leicht über die Lippen. Am liebsten hätte ich sie ihr geglaubt.

»Tut mir leid«, sagte Victor nach einem Moment.

Winnie nahm es mit einem knappen Nicken an. »Die Geburtstagsparty holen wir nach.«

»Wann kommt sie zurück?«, fragte Sōma.

Stille.

Winnies Stimme … Sie brach, als sie Sōma antwortete. »Hoffentlich bald.«

Sie zog sich das Handtuch vom Kopf und lächelte uns an, als wäre alles in bester Ordnung. Erklärte den beiden, dass sie sich ums Aufräumen kümmern würde, verabschiedete sie mit einem Lächeln an der Tür, nachdem sie ihre Taschen gepackt und ihre Jacken angezogen hatten.

Als wir allein waren, verschwand das Lächeln von ihren Lippen.

»Winnie …«

»Du weißt, wo die Tür ist«, unterbrach sie mich. Sie trat sich die Schuhe von den Füßen und verschwand in Sashas Zimmer.

Das Klicken des Türschlosses hallte in der leeren Wohnung nach.

3

Sasha

»Das Haus gehört Nigel«, erklärte Dylan, als wir die Treppe neben meinem Zimmer nach unten ins Erdgeschoss stiegen. »Familienerbe, soweit ich weiß. Ihn kennst du noch nicht, und es könnte auch sein, dass das noch für eine Weile so bleibt. Er begeistert sich nicht so für Lebewesen, die auf zwei Beinen unterwegs sind. Meide sein Zimmer im obersten Stock, und du wirst definitiv glücklicher sein, als wenn du ihn störst.«

»Ich kann hier frei herumlaufen?«

»Was willst du sonst machen, für immer in dem Zimmer oben hocken?« Dylan schüttelte den Kopf und wandte sich nach vorn. »Du bist keine Gefangene bei uns.«

»Warum bin ich dann hier?«

Ihr Schweigen zog sich, bis wir im Erdgeschoss angekommen waren. Die Stufen waren mit Teppich ausgelegt, der unsere Schritte dämpfte. Vor der Eingangstür blieb Dylan stehen.

»Du bist hier, weil die Welt gerade keinen anderen Platz für dich hat«, sagte sie.

Ich schluckte um den plötzlichen Kloß in meinem Hals herum. »Weil ich kein Mensch bin.« Nicht mehr, korrigierte ich mich.

Ich spürte Dylans Blick auf mir. Meine Hände zitterten, meine Knie auch, meine Beine wollten unter mir nachgeben, aber ich drückte sie aneinander, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Ich wollte Dylan mit Fragen überhäufen: Wo sind wir? Wer bin ich? Warum bin ich hier? Seit wann bin ich hier? Warum wurde ich verwandelt? Wer hat mich verwandelt? Ist sie es gewesen? Und zu wem gehört die Stimme, die mich nicht loslässt?

Kein Wort schaffte es über meine Lippen. Sie blieben in meinem Hals kleben und erstickten mich langsam. Meine Sicht verschwamm, aber als ich über meine Wangen tastete, waren sie trocken, nur meine Augen brannten. Die Emotionen, die in mir steckten, fanden keinen Weg nach draußen, und das allein fühlte sich so furchtbar an, dass der Drang, an einen Ort zu flüchten, wo ich allein war, hundertfach anstieg.

Ein leises Seufzen drang an meine Ohren. Schritte. Eine tröstende Hand auf meiner Schulter, die etwas unbeholfen wirkte. Dylan drückte meine Schulter einmal kurz und zog sich dann zurück. Die Geste beinhaltete genug Mitgefühl, um mich die Überforderung zurück unter die Oberfläche drücken zu lassen. Zumindest für den Moment.

»Du hast keinen Plan, wo du bist«, sagte Dylan. »Du redest mit einer fremden Person, die dir erzählt, dass du eine Vampirin bist, du hast zum ersten Mal Blut getrunken, du hast keine Erinnerungen an gar nichts. An deiner Stelle würde es mir auch nicht gut gehen.«

Ich senkte den Blick.

Sie schob die Hände in die Hosentaschen. »Ich bin nicht gut im Trösten, aber falls du wen brauchst, der, keine Ahnung, bei dir sitzt und zuhört, ist Emma eine gute Wahl.« Sie nickte zu dem schmalen Gang hinunter, der parallel zur Treppe verlief. Führte uns in ein großes Wohnzimmer, in dem sich zwei Couches gegenüberstanden.

Auf jeder von ihnen saß eine Person: links eine Frau, rechts ein Mann. Das Gespräch zwischen den beiden verstummte. Ihre neugierigen Blicke sprachen Bände.

Dylan bedeutete der braunhaarigen Frau – sie stellte sich als Emma vor –, zu uns zu kommen. Kurz darauf rollte der Mann sich umständlich vom Sofa und stolperte auf uns zu. Er war dünn und groß, lange Arme, lange Beine und etwas Oberkörper dazwischen.

Er blieb vor mir stehen. Grinste breit, streckte mir die Hand hin. »Hi, ich bin Nick.«

»Der, den du vorhin gegen die Wand geschleudert hast«, frischte Dylan meine Erinnerung auf.

Nick lief rot an. »Kam etwas unerwartet«, gab er zu. »Sasha, richtig? Nach meiner Verwandlung hab ich eine Tür zerlegt, weil ich keine Ahnung hatte, dass man für die ersten paar Stunden einfach übermenschliche Fähigkeiten entwickelt.«

»Übervampirische«, korrigierte Emma. Ihre Stimme war angenehm. Nicht zu hoch, nicht zu tief. Sie sprach deutlich, aber nicht lauter als nötig.

»Ja, und Nigel versucht seitdem regelmäßig, sich an dir zu rächen.«

»Was?«

»Dass du es in zwanzig Jahren noch nicht mitbekommen hast, grenzt an ein Wunder.«

»Ich wiederhole mich gern: Er versucht was?«

Dylan verdrehte die Augen. Emma lächelte, als wäre es eine alltägliche Unterhaltung, die sie führten.

»Zwanzig Jahre?«, flüsterte ich ihr zu.

Sie nickte sacht. »Nick ist bisher einer der Jüngsten gewesen. Mit euch natürlich nicht mehr.«

»Euch?«

»Die anderen neu Verwandelten. Sie sind nicht mit in dem Haus hier. Billy kümmert sich um sie.«

Die anderen? Billy? Fragezeichen schwirrten um meinen Kopf herum. Emma bemerkte sie sofort.

»Die anderen haben noch etwas mehr mit ihrem Blutdurst zu kämpfen als du«, sagte sie.

Dylan schnaubte. »Nett ausgedrückt.«

Emma warf ihr einen Blick zu, und Dylan hob die Hände in einer Bin-schon-ruhig-Geste.

»Dein Blutdurst ist nicht so ausgeprägt wie unserer. Sonst wärst du mit ihnen in einem anderen Haus in einer abgelegeneren Gegend«, fuhr Emma fort. »Es klingt nicht sehr nett, oder? Wir wollen verhindern, dass sie unvorbereitet vielen Menschen über den Weg laufen, bis sie ihren Durst unter Kontrolle haben.«

»Was übrigens megacool ist«, sagte Nick aufgeregt. »Hätte ich die Wahl gehabt, hätte ich mir auch ausgesucht, weniger Durst zu haben. Stell dir vor, wie praktisch das sein muss! Oder … Also, ich nehm an, du brauchst es dir nicht vorzustellen, weil du es gerade erlebst.«

Die Wahl zwischen was?, wollte ich fragen, aber Dylan legte eine Hand an die Seite von Nicks Gesicht und schob ihn von mir weg, als er sich in seiner Aufregung so nah zu mir lehnte, dass ich seine Wimpern hätte zählen können.

»Resilienz gegen Blut, nicht gegen nervige Leute«, sagte sie.

Nick sog empört die Luft ein. »Entschuldige bitte, nicht alle von uns können die Emotionalität eines Steins haben.«

»Ein Stein hat Ruhe vor dir. Ich bin doppelt gestraft, weil ich die niemals haben werde.«

»Entschuldige bitte.«

Die beiden stritten sich weiter. Emma tippte mir auf die Schulter, und als sie meine Aufmerksamkeit hatte, nickte sie zur Tür und führte mich von dem Gezanke der beiden weg. Selbst Emmas Gang wirkte ruhig. Sie führte uns wieder nach oben, eine Hand dabei die ganze Zeit am Geländer, und im ersten Stock in eines der mittleren Zimmer.

Der Raum war klein. Höchstens sechs Schritte in jede Richtung. Die Tapete rollte sich hier genauso von den Wänden wie im Rest des Hauses, nur dass es größtenteils gewollt aussah. Dutzende Lichterketten hingen an den Wänden, und als Emma sie anschaltete, verliehen sie dem Raum durch das diesige Licht einen gemütlichen Charakter. Ein riesiger, dunkelgrüner Sessel, in dem zwei Leute bequem liegen konnten, stand in der hintersten Ecke, eine beigefarbene Decke darauf. Daneben lag ein Stapel Bücher. Ein schmaler Schreibtisch war in die Ecke gequetscht, und Emma zog den Hocker, der als Schreibtischstuhl fungierte, zum Sessel, ehe sie sich darauf fallen ließ.

»Setz dich gern«, sagte sie und deutete auf den Sessel.

Ich ließ mich nur zögerlich in ihn hineinsinken. Und als ich endlich saß, wurde mir auch bewusst, warum: Er war so lang, dass ich entweder schief darauf sitzen oder liegen musste, und beide Varianten gaben mir das Gefühl, verletzlich und angreifbar zu sein.

Ich zog die Beine an, kreuzte sie vor meinem Körper und breitete die Decke über meinem Schoß aus, um dem Gefühl entgegenzuwirken.

Emma schwieg, bis ich die richtige Position gefunden hatte. Sie strich sich ihre Haare hinters Ohr, worauf sie ihr sofort zurück ins Gesicht fielen. Sie reichten nicht ganz bis zu ihrem Kinn, waren dick und reflektierten das schummrige Licht mit einem rötlichen Schimmer.

»Fühlst du dich etwas besser?«, fragte sie. »Das vorhin war bestimmt etwas überfordernd, oder? Uns alle auf einmal kennenzulernen.«

»Ich weiß nicht – als Dylan mich das erste Mal aus dem Zimmer geholt hat …«

»Waren alle Eindrücke zu stark, als dass du sie irgendwie hättest verarbeiten können?«

Ich nickte.

»So ging es uns allen direkt nach der Verwandlung. Manchmal heute noch, wenn wir zu lange kein Blut trinken. Als würden alle Sinne auf vollem Empfang stehen, während man gleichzeitig Scheuklappen trägt.«

»Ja«, sagte ich. Die Erwähnung von Blut beschwor eine Erinnerung herauf. »Das Blut. Woher bekommt ihr das?«

»Aus unterschiedlichen Quellen«, antwortete Emma vage.

»Auch von … unfreiwilligen Spendenden?«

Sie legte den Kopf schief. »Was hat Dylan dir erzählt?«

»Dass es dem Mann, von dem ich getrunken habe, gut geht.« Ich konnte die Skepsis nicht aus meinem Ton halten. »Dass ihr mal einen Menschen hattet, der für euch geputzt, aber nicht lange überlebt hat.«

Entgegen meiner Erwartungen zuckten Emmas Lippen. »Tut mir leid«, sagte sie und rieb sich über den Mund, um das Lächeln loszuwerden. »Mein Lachen muss für dich ziemlich makaber aussehen. Aber Dylan – sie stiftet gern Unruhe oder streut Halbwahrheiten, um zu sehen, wie Leute reagieren.«

»Das heißt?«

»Erik geht es gut. Und der Mensch, von dem sie gesprochen hat – Ronny. Das war vor vierzig Jahren. Als er hier angefangen hat, war er Mitte sechzig. Ich meine, er ist vor zwanzig Jahren gestorben. Nicht, weil wir ihn getötet haben.«

»Sondern weil er alt war«, schlussfolgerte ich.

»Genau. So gesehen hat sie nicht gelogen. Er hat nicht lange überlebt – zumindest aus einer unsterblichen Sichtweise.«

Beruhigte mich ihre Aussage? Ein bisschen, ja. Gleichzeitig gar nicht, weil Emma genauso gut lügen konnte und ich keinerlei Möglichkeit hätte, das Gegenteil zu beweisen.

»Du hast bestimmt viele Fragen, oder?«, fragte sie nach einem Moment.

Untertreibung des Jahrhunderts. »Ein paar.«

Sie lächelte freundlich – so als könnte sie direkt durch meine Halbwahrheit hindurchgucken. »Spezifische Sachen fragst du am besten Dylan, aber wenn du magst, erzähl ich dir alles, was ich weiß, und für die Lücken suchen wir sie nachher einfach?«

Sie klang mitfühlend und verständnisvoll, und auf einmal wünschte ich mir Dylans Distanziertheit zurück. Sie hatte es mir leichter gemacht, mich zusammenzureißen. Bei Emma schwankte ich zwischen einem grässlich drückenden Gefühl in meinem Brustkorb und allumfassender Angst hin und her.

Ich zwang mich dazu, zu nicken. Wollte ich Antworten? Keine Ahnung. Wirklich nicht. Absolut keine Ahnung. Mein Hirn war ein einziges Loch, und ich hatte Sorge, dass das, was Emma erzählen würde, noch mehr Schweizer Käse daraus machen würde.

Sie fing an zu reden. Erzählte mir von den sechs anderen Jungvampiren, von denen sie vorhin geredet hatten. Die, die sich mit Billy woanders aufhielten. Von ihrem eigenen Erstaunen darüber, dass ich nach einem Tag schon meinen Durst im Griff hatte. Davon, dass meine Verwandlung nicht schön gewesen sein konnte, sie aber keine Details hatte, weil sie nicht dabei gewesen war.

Nichts davon weckte bei mir Erinnerungen. Genauso gut hätte es einer anderen Person passiert sein können. Das einzige Indiz, das für Emmas Aussagen sprach, war … ich. Wie ich hier saß und dem leichten Brennen in meinem Hals nachspürte.

Ich atmete lange aus, und Emmas Blick wurde weich und verständnisvoll. Und das – das war es, was meinen Mageninhalt in Blei verwandelte und den Kloß in meinem Hals so groß werden ließ, dass ich kaum schlucken, geschweige denn atmen konnte.

Ich war an den Sessel gefesselt. Meine Beine kribbelten vor Verlangen, weit, weit wegzurennen. Aber kaum kam der Gedanke auf, schoss eine Frage hinterher: Wohin würde ich gehen? Selbst wenn das, was Dylan sagte, stimmte, und ich hier nicht gefangen war – an welchen Ort sollte ich gehen, wenn ich nichts über mich oder woher ich gekommen war, wusste?

Genau die Frage war es auch, die sich zwischen allen anderen hervor und aus meinem Mund drängte. »Woher komme ich?«

Emma schwieg lange, aber letztlich schüttelte sie nur den Kopf. Langsam und behutsam, während sie mich ansah, als wäre sie unsicher, wie ich reagieren würde.

»Du weißt nichts?«, interpretierte ich ihre Reaktion.

Noch ein Kopfschütteln. Sie sah aufrichtig entschuldigend aus. »Das sind Lücken, die Dylan für dich füllen kann. Sie tendiert dazu, uns nicht alle Details zu erzählen, wenn sie denkt, wir brauchen sie nicht. Meistens redet sie sich ein, dass es Zeitverschwendung wäre, aber ehrlich gesagt hat sie einfach ein weiches Herz und will niemanden von uns damit belasten. Wir … hatten bisher nicht die leichtesten Leben als Vampire.«

Ich zog die Beine an die Brust und schlang die Decke enger um mich. Ich fühlte mich ausgelaugt, ausgesaugt, völlig erschöpft.

»Möchtest du dich etwas ausruhen?«, fragte Emma.

»Nein«, sagte ich sofort. »Nein, ich will … Ich –«

»Ich könnte dir den Rest des Hauses zeigen«, schlug sie sanft vor. »Oder wir suchen Dylan. Oder wir bleiben hier. Ich habe vorhin ein gutes Buch angefangen, das ich gern weiterlesen würde.«

Ich erwischte mich dabei, wie ich nickte, bevor ich ihr Angebot richtig überdenken konnte. Vermutlich wäre es besser gewesen, Dylan zu finden. Sie mit all meinen Fragen zu löchern, aber ich wollte … Für den Moment wollte ich mich nicht vom Fleck bewegen. Ich wollte in diesem kleinen Raum bleiben, den Lichterketten dabei zusehen, wie sie flackerten, und all die Dinge verdauen, die Emma mir erzählt hatte.

Sie schob sich mit dem Stuhl näher an den Sessel, beugte sich nach vorn, um das oberste Buch von dem Stapel zu nehmen, und legte den Kopf fragend schief, als sie meinen Blick bemerkte. »Du kannst dir gern auch etwas zum Lesen nehmen.«

Ich wartete, bis sie es sich bequem gemacht hatte. Die Füße an die Kante des Sessels gestützt, der Rücken leicht gekrümmt, Kopf gesenkt und das Buch offen auf ihrem Schoß. Sie strich über die Seiten, als hieße sie einen alten Freund willkommen, dann legte sich eine Ruhe über sie, die ich mir sehnlichst wünschte selbst zu spüren. Die Haare fielen ihr ins Gesicht, aber sie schien es kaum zu bemerken, so versunken war sie in die Geschichte.

Ich konnte weder Cover noch Titel erkennen – und selbst wenn, war ich mir nicht sicher, ob es mir etwas gebracht hätte. Einen Moment saß ich einfach neben ihr. Erkundete die Grenzen meines Gedächtnisses, die wabrig waren und sich mit jeder Sekunde neu formierten.

Ich wusste, was Filme waren. Ich erinnerte mich an Musik, aber an keine Artists, die ich mochte – ob es überhaupt welche gegeben hatte, die mir gefielen. Hätte jemand mir eine Weltkarte gegeben, hätte ich zeigen können, wo New York lag, aber ich verstand nicht, was ich hier tat. Es war, als hätte jemand mein Gedächtnis genommen, alles ausradiert, was zu mir gehörte, und eine leere Hülle zurückgelassen.

Vielleicht war das auch alles, was mich ausmachte. Vielleicht hatte es nie mehr gegeben, das zu mir gehörte und mich zu einer vollständigen, real existierenden Person machte.

Mein Brustkorb wurde enger, je länger ich darüber nachdachte. Ich beugte mich seitlich über den Sessel und betrachtete den Bücherstapel auf dem Boden. Das oberste Buch war ein dicker Wälzer, der mir bereits beim Angucken Kopfschmerzen bereitete – darunter lugte die Ecke von einem dünnen Heft hervor, nach dem ich griff.

Ich lehnte mich im Sessel zurück, kreuzte die Beine wieder vor mir, um den Comic darauf zu betten, und betrachtete ihn eingehend.

Hidden Starlight stand darauf. Vol 14. Pastellige Farben zierten das Cover – sehr viel Rosa, ein wenig Mint und Blau. Ein Mädchen war darauf abgebildet, mit langen, wellig weißen Haaren, die im Wind tobten. Sie trug ein pink-weißes, knielanges Kleid, hielt einen Speer in der Hand. Den anderen Arm hatte sie über den Kopf erhoben, in ihrem Gesicht ein entschlossener Ausdruck.

Auf der Rückseite verschwammen die Pastellfarben zur drückend blauen Dunkelheit des Universums. Sterne waren die einzig hellen Punkte auf der Seite, und direkt unter dem Inhaltstext flog ein einsames Raumschiff durch die Galaxie.

Etwas zog an meinem Herzen. Ein sanftes Stechen, das mich dazu brachte, den Comic aufzuschlagen und eine Seite nach der anderen zu lesen.

Es fühlte sich an, wie nach Hause kommen.

4

Winnie

Die Monster unter meinem Bett waren real.

Als Kind war ich davon überzeugt gewesen. Jede Nacht hatten sie mir zugeflüstert, als wären wir alte Bekannte. In den Nächten, in denen ich allein zu Hause war, hatten sie mich mit albtraumhaften Gutenachtgeschichten in den Schlaf gewiegt und dabei die immer gleichen Inhalte wiederholt: dass ich aufwachte und niemand sonst da war.

Es war leicht gewesen, sie zu ignorieren, wenn ich in meinem Bett gelegen hatte und das Radio in der Küche hatte spielen hören. Wenn leise Gespräche zwischen Sasha und meiner Mom unter meiner geschlossenen Tür zu mir gedrungen waren und mich beruhigt hatten.

Gerade wünschte ich mir nichts sehnlicher, als genau diese Geräusche wieder zu hören. Egal, wie bitter der Nachgeschmack war, aufzustehen und Mom und Sasha lachen zu sehen. Egal, wie sehr ich mich wie eine Außenseiterin in meinem eigenen Zuhause fühlte.

Alles war besser als dieses Gefühl von Verzweiflung und Leere.

Ich drückte mein Gesicht in Sashas Kissen. Wenn ich die Augen zukniff und mich in meine Gedankenwelt flüchtete, konnte ich mir vorstellen, dass sie hier war. An ihrem Schreibtisch saß und an einer Hausarbeit für die Uni arbeitete – und wenn ich gleich den Kopf anhob und in die Richtung sah, würde ich sie dort sehen. Sie würde mich anlächeln und mich fragen, warum ich schon wach war, immerhin war es Sonntag, mein freier Tag, und dass ich vor zwölf die Augen aufmachte, musste das achte Weltwunder sein, von dem NBC berichten würde, oder zumindest die New York Times auf ihrer Titelseite.

Ich hörte sie. Ich hörte Sasha so klar und deutlich reden, dass ich den Kopf anhob und zum Schreibtisch sah – in der vollen Erwartung, dass ich mir die letzten sechs Wochen, den gesamten gestrigen Tag, erträumt hatte und jetzt endlich, endlich aufwachen konnte.

Der Stuhl war leer.

Der Raum gespenstisch still.

Mein Herz zersprang in tausend Teile. Sie zerrissen meinen Brustkorb, hinterließen ein klaffendes Loch und kamen mit einem klirrenden Geräusch auf dem Boden auf. Ich sah sie in alle Himmelsrichtungen davonfliegen und war mir sicher – so unendlich sicher –, dass ich suchen konnte, so viel ich wollte: Solange ich Sasha nicht in den Armen halten und mit ihr irgendwohin fliehen konnte, wo weder Menschen noch Vampire uns jemals finden würden, würde dieses Loch in meiner Brust bleiben.

Sie ist nicht hier.

Als mir wieder Tränen in die Augen schossen, drückte ich mein Gesicht zurück in das Kissen. Flüchtete mich in meine Fantasie, in der ich so tun konnte, als wäre alles wie immer. Ich war mir nicht sicher, ob ich in einen unruhigen Schlaf fiel oder mich so weit in meinen Vorstellungen verlor, dass sie realer wirkten als die eigentliche Realität.

Ein Vibrieren riss mich aus meinen Träumen. Verwirrt schaute ich auf, suchte nach der Quelle des Geräusches und fand sie in meinem Handy, das auf dem Nachttisch lag.

Jo musste es dorthin gelegt haben. Ich konnte mich nicht erinnern, wo ich es als Letztes gesehen hatte.

Blairs Name blinkte mir vom Bildschirm entgegen. Ich sehnte mich danach, ihre Stimme zu hören – mich an die Normalität zu klammern, die meine beste Freundin mit sich brachte –, aber jeder Zentimeter meines Körpers war schwer und gleichzeitig so taub, als würde keines meiner Gliedmaßen zu mir gehören.

Winnie war irgendwo in dieser Fleischhülle verschwunden – und wer auch immer jetzt die Kontrolle darüber hatte, sorgte dafür, dass das Handy unberührt auf dem Nachttisch liegen blieb.

Dass meine Augen sich schlossen und alles in Dunkelheit versank.

Dass ich zurück in den Halb-Traum-halb-Albtraum-Schlaf sank, in dem ich mit Jo Zauberwürfel löste und mit Sasha lachte, bis mir der Bauch wehtat. Bis beide zu Sand zerfielen und ich atemlos aufwachte.

Ich setzte mich auf. Leere hallte in mir nach.

Wo war Sasha? Wohin hatten sie sie gebracht? Ging es ihr gut? Hatte sie Angst? Was wollten diese Vampire, diese Abtrünnigen von ihr?

Dazwischen hörte ich ständig Sashas Schmerzensschreie, die sie ausgestoßen hatte, als dieser Vampir seine Fänge in ihren Hals geschlagen hatte. Sie rissen an mir, an meinem Verstand.

Ich zog die Knie an die Brust, schlang meine Arme darum und versuchte die Bruchstücke, aus denen ich bestand, zusammenzuhalten. Ich drückte meine Handflächen auf die Augen, grub meine Finger in meine Haare und … und was? Was sollte ich jetzt tun? Wo sollte ich nach ihr suchen? New York war riesig. Und woher sollte ich wissen, dass sie überhaupt noch hier war? Wem konnte ich davon erzählen? Konnte ich jemandem davon erzählen?

Mein Atem wurde schneller. Ich versuchte, ihn unter Kontrolle zu halten, ihn dazu zu zwingen, normal durch meine Lungen zu ziehen. Meine gesamte Konzentration richtete sich auf das Heben und Senken meines Brustkorbs.

Ich beugte mich vornüber, rollte mich zu einem winzigen Ball zusammen in der Hoffnung, wieder besser Luft zu bekommen. Dass es aufhören würde, wehzutun.

Meine Finger fühlten sich wund an, trotzdem dauerte es, bis ich bemerkte, dass ich mir die Haut um den Nagel meines Zeigefingers aufgekratzt hatte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, konzentrierte mich auf diesen körperlichen Schmerz, weil er mir tausendmal erträglicher vorkam als der in meinem Inneren.

Meine Augen brannten, als wollten sie mir neue Tränen ankündigen, nur kamen diesmal keine. Ich war leer geweint. Keine Ahnung, wie lange ich so zusammengerollt auf Sashas Bett lag. Wie lange ich brauchte, um genügend Energie zu finden, auf die Beine zu kommen. Sie gehorchten mir nicht sofort – als wollten sie mich überreden, noch etwas länger liegen zu bleiben. Ich zwang sie, einen Schritt zu machen. Einen nächsten. Dann noch einen, bis ich die kühle Türklinke in meiner Handfläche spürte und der Rest der dunklen Wohnung sich vor mir ausbreitete.

Nein. Nicht komplett dunkel. Ein schwaches Licht kam aus dem Wohnzimmer. Für einen viel zu langen Moment dachte ich, Sasha würde dort auf mich warten. Die Enttäuschung, die mich durchfuhr, als ich im Türrahmen stand, zwang mich fast in die Knie.

Rot wie ein Warnsignal, schoss es mir durch den Kopf, als ich Jo im Sessel neben dem Sofa sitzen sah.

Sie hatte mir ihr Profil zugewandt. Starrte was auch immer auf der anderen Seite des Raums an. Als sie mich hörte, drehte sie sich mir zu, die Stirn in Falten gelegt. Sie stand sofort auf.

In der Sekunde, in der ich Jo sah, füllte sich das Loch in meiner Brust mit gleißender Wut und Enttäuschung. Sie schoss durch meine Adern und verbrannte mich von innen heraus.

Ich drückte meine Fingernägel in meine Oberschenkel, zwickte mich so fest ich konnte, weil ich wusste: entweder das, oder ich würde meine gesamte Wut an ihr auslassen.

Sie hatte es verdient.

Sie sah aus, als wollte sie nichts dringender tun, als die Distanz zwischen uns zu überbrücken.

Sie tat es nicht. Sie stellte sich aufrecht hin, beide Füße fest auf dem Boden, ein Arm beschützend um ihren Bauch geschlungen.

»Es ist ein bisschen Essen im Kühlschrank«, sagte sie leise und wich meinem Blick aus. »Falls du Hunger hast? Ich hab es geholt, während du geschlafen hast.«

Ihre Stimme war rau. Vor Emotionen? Hoffentlich. Ich betete, dass sie sich schämte, von Schuldgefühlen aufgefressen wurde.

Als ich nichts erwiderte, sah sie auf. Zuckte kaum merklich zusammen bei dem, was sie in meinem Gesicht las. Ihre Reaktion war unerwartet und befriedigend. Unerwartet befriedigend.

»Warum bist du hier?«

Sie öffnete den Mund. Die Entschuldigungen, die sie gleich aussprechen würde, füllten bereits die Luft. Sie wären pures Öl für mein Feuer.

In der letzten Sekunde entschied sie sich um. »Ich wollte dich nicht allein lassen.«

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder noch wütender werden sollte. Nicht nur auf Jo – auf mich selbst, weil mein Herz einen winzig kleinen Moment aussetzte, als freute es sich, dass sie für mich da sein wollte.

Trotz allem, was passiert war. Wie verräterisch konnte mein eigener Körper sein?

»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, sagte ich und verstaute den Teil von mir, der mich als Lügnerin beschimpfte, im hintersten Winkel meiner Gedanken. »Du kannst gehen.«

Jo zögerte. »Bist du sicher, dass …«

Bevor sie aussprechen konnte, drehte ich mich zur Seite. Machte Platz in der Tür, bevor sie ihre Frage beendete. Eine stumme Aufforderung.

Sie drückte ihren Arm fester gegen den Bauch und nickte schwach. Der Boden knarzte unter ihren Füßen, als wollte er ihren Weg nach draußen unterstreichen.

Als sie auf meiner Höhe war, wurde sie langsamer – oder vielleicht zeigte mein Hirn mir die Szene auch nur in Zeitlupe, um mich damit zu quälen, dass meine Fingerkuppen kribbelten und meine Arme sich danach sehnten, Jo festzuhalten.

Ich rührte mich nicht. Hätte ich es getan, ich war mir sicher, dann wäre der dünne Faden, der mich aktuell noch zusammenhielt, gerissen und ich wäre wie eine leblose Puppe zu Boden gefallen.

Ich wollte nichts mehr, als von Jo zusammengehalten werden.

Und ich wollte nichts weniger.

Ich hörte sie in ihre eigene Wohnung gehen. Danach folgte eine Stille, die mich schier erdrückte. Die Fotos an der Wand im Flur lachten mich aus. Auf einem davon war Sashas grinsendes Gesicht an meins gedrückt. Sie hielt ein Eis in der Hand, das langsam schmolz und sich über ihre Hand verteilte. Das Bild war an einem Abend in Philly entstanden.

Wie viele Jahre war es her? Drei? Vier? Es war eine Zeit gewesen, in der Sasha ihre Tage nicht ständig im Krankenhaus verbracht hatte. In der sie mit mir zig Museen besucht hatte und in mir langsam das Gefühl Form angenommen hatte, dass sie viel mehr für mich war als jemand, mit dem ich mir einen Wohnraum teilte.

Es fühlte sich an, als wäre es ein Jahrhundert her – und vor mir erstreckte sich eine weitere Unendlichkeit voller Panik, die über mir einzustürzen drohte.

Ich rieb mir über die Augen, die Stirn, die Schläfen. Die paar Stunden Schlaf hatten nichts weiter getan, als mich noch müder zu machen und das Drängen in mir, Sasha zu finden, zusätzlich anzufachen.

Okay, Winnie. Was jetzt?

Ja. Was jetzt?

Das Vibrieren meines Handys zerschnitt die Stille der Wohnung. Ich ignorierte es. Wenn es Mom war, war ich mir nicht sicher, ob ich hier und jetzt die Kraft dazu hatte, sie anzulügen. Von Blair ganz zu schweigen. Und wenn es Dad war …

Dann konnte er mir vielleicht helfen.

Ich holte mein Handy aus Sashas Schlafzimmer, wischte die verpassten Anrufe und ungelesenen Nachrichten weg, und wählte Dads Nummer. Es klingelte und klingelte und klingelte, dann knackte es in der Leitung.

»Dad? Können wir reden?«

5

Winnie

Mir war nicht in den Sinn gekommen, dass Dad an einem Sonntag arbeiten könnte – obwohl es mich bei seinem Job als Police Commissioner nicht hätte wundern sollen.

Hätte ich ihn gefragt, ich war mir sicher, dass er sich auch am Telefon die Zeit genommen hätte, sich alles anzuhören, was ich zu sagen hatte. Nur brauchte ich die Strecke bis zum One Police Plaza im Civic Center, um meinen Mut zu sammeln.

Ich wusste, dass ich ihm von der Existenz der Vampire erzählen musste, wenn ich wollte, dass er alles verstand. Aber wie zur Hölle sollte ich das anstellen, ohne dabei zu klingen, als würde ich an Märchen und Traumgestalten glauben?

Wie verkaufte man jemandem eine neue Realität? Wenn es einen Glückskeks mit einem universellen Rat für diese Situation gab, hatte ich ihn noch nie zu Gesicht bekommen.

Ich hatte keinen einzigen Beweis, den ich ihm hätte liefern können. Wäre Jo wenigstens mit dabei …

Ich erlaubte mir nicht, den Gedanken weiter auszuführen, und konzentrierte mich stattdessen auf meine Umgebung: das fünfzehnstöckige, quadratische Gebäude vor mir. Mit seinen Backsteinwänden und den schmalen, tief eingelassenen Fenstern erinnerte es mich mehr an ein Gefängnis als an das Hauptquartier des NYPDs.

Normalerweise hätte ich freiwillig keinen Fuß dort reingesetzt, aber ich war weit über den Punkt hinaus, an dem ich eine Wahl hatte.

Die Türen glitten vor mir auseinander. Hinter ihnen lag ein kleines, ruhiges Foyer. Eine Frau und ein Mann saßen hinter dem Empfang, beide in die Computer vor ihnen vertieft.

Ich kündigte mich mit einem Räuspern an.

Die Frau sah auf, beide Augenbrauen fragend angehoben.

»Ich möchte zu Mr Brown«, erklärte ich ihr zögernd. Ich kam mir völlig fehl am Platz vor, versuchte aber, es nicht in meine Stimme sickern zu lassen.

»Wie ist Ihr Name?«

»Winnie … Winnifred Brown.«

Die Augenbrauen der Frau wanderten weiter in die Höhe, und der Mann neben ihr sah neugierig von seiner Arbeit auf.

»Du bist die Tochter vom PC?«

»Andrew«, zischte die Frau.

Andrew senkte schnell den Kopf und tat beschäftigt, indem er Papiere vor sich hin und her schob.

»Mr Brown hat Bescheid gegeben, dass Sie kommen würden«, sagte sie an mich gerichtet. »Hier ist Ihr Besucherausweis, der Aufzug ist rechts hinter uns. Fahren Sie direkt bis zur vierzehnten Etage hoch, ich gebe Analise Bescheid, dass Sie auf dem Weg sind.«

Bevor ich nachfragen konnte, wer Analise war, nickte sie mir zu und nahm den Telefonhörer zur Hand.

Die Frau fing an, mit jemandem am anderen Ende der Leitung zu reden. Andrew traute sich nicht noch einmal, von seiner Arbeit aufzusehen – und ich erkannte ein »Bitte stören Sie uns nicht weiter«, wenn es mir so deutlich ins Gesicht sprang.

Ich hängte mir den Besucherausweis um den Hals, ging zum Aufzug und lauschte auf dem Weg nach oben der Fahrstuhlmusik, die wahrscheinlich beruhigend sein sollte, mich aber nur daran erinnerte, wie viele Sekunden ich mit Warten verschwendete.

Warten, dass ich mit meinem Vater sprechen konnte.

Warten, dass ich erfuhr, wie es Sasha ging.

Warten, dass mir ein Hinweis vor die Füße fiel, der mir verraten würde, wo sie gerade war.

Ein scharfer Schmerz schoss durch meine Hand. Ich ballte sie zur Faust, um nicht weiter an der Haut an meinen Fingernägeln zu kratzen.

Im vierzehnten Stock öffneten sich die Türen vor mir. Entgegen meiner Erwartungen stand niemand auf der anderen Seite und wartete darauf, mich direkt bis zu meinem Vater zu führen. Dafür entsprach das Bild, das sich mir hier oben bot, schon mehr der Vorstellung, die ich vom One Police Plaza hatte. Eine Vorstellung, die von Polizeiserien geformt worden war.

Vor mir erstreckte sich ein großer Raum. Leute in Uniform oder Anzug und Kostüm liefen aufgeregt durcheinander, die Luft war von dieser Art Summen erfüllt, das aufkam, wenn viele Gespräche gleichzeitig an einem Ort stattfanden. Links erkannte ich ein paar Schreibtische, an denen niemand saß – die Sicht auf alles andere, was sich dort befand, wurde durch eine klug platzierte Wand versperrt. Rechts von mir sah es ähnlich aus, mit dem Unterschied, dass an dem hintersten Schreibtisch eine Person saß, von der ich hoffte, dass es Analise war.

Als sie mich bemerkte, empfing sie mich mit einem freundlichen Lächeln. Bevor ich mich vorstellen konnte, deutete sie mit einem »Sie können direkt reingehen« auf die Doppeltür aus Milchglas vor uns und grübelte dann weiter über den Stapel Akten, der vor ihr lag.

Es kam mir falsch vor, ohne Ankündigung in den Raum zu gehen. Das hier – Dads Arbeit als Commissioner beim NYPD – war eine Seite von ihm, von der ich bisher nur in der Theorie wusste. Und obwohl seine hohe Stellung hilfreich sein konnte, flößte sie mir unweigerlich auch Respekt ein.

Ich klopfte vorsichtig gegen das Glas und wartete, bis ich ein »Herein« hörte, ehe ich Dads Büro betrat.

Der Raum war düsterer, als ich erwartet hatte: Die grauen Lamellenvorhänge vor den Fenstern waren teilweise zugezogen, die Einrichtung bestand ausschließlich aus dunklem Holz. Meine Schritte wirkten auf dem Parkettboden unnatürlich laut.

Ich schloss die Tür so leise wie möglich hinter mir. Ein hüfthohes Buchregal stand rechts von mir an der Wand, darauf ein paar Bilderrahmen. Ich nahm mir nicht die Zeit, die Fotos anzugucken, auch wenn ich plötzlich den drängenden Wunsch verspürte, es zu tun.

Mir war bei unseren Treffen nie in den Sinn gekommen, nach seinem Leben zu fragen. Ich war zu beschäftigt damit gewesen, ihn neu kennenlernen zu wollen – mir selbst zu versichern, dass es einen guten Grund gegeben hatte, weshalb er mich alleingelassen hatte.

Hatte er eine neue Familie?

Eine Frau? Einen Mann? Kinder außer mir und Sasha?

Sasha.

Die Fragen mussten warten.

Ich wandte mich Dad zu. Er saß hinter einem wuchtigen Schreibtisch aus Mahagoniholz, hinter ihm ein breites Wandregal voller Urkunden, Medaillen und anderen Auszeichnungen. Ein Monitor stand auf dem Schreibtisch und warf bläuliches Licht auf ihn, daneben eine dampfende Tasse Kaffee, ein Stiftehalter mit drei Kugelschreibern darin, ein Notizblock, dessen oberste Seite mit einer krakeligen Handschrift gefüllt war.

Dad hatte einen Stapel Unterlagen vor sich liegen, den er beiseiteschob, um seine gesamte Aufmerksamkeit auf mich richten zu können. Ich war mir nicht sicher, ob ich stehen bleiben oder mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch setzen sollte, und stand deswegen unentschlossen mitten im Raum herum, bis er sich erhob und den Tisch umrundete.

»Hallo Winnie«, sagte er und schloss mich fest in die Arme.

Tränen schossen in meine Augen.

Ich drückte mein Gesicht an seine Schulter und wünschte mir nichts sehnlicher, als hemmungslos weinen zu können. Allerdings ließ er mich viel zu schnell los, und ich musste die Tränen zurückdrängen und den Kloß in meinem Hals herunterschlucken.

Ein bleiernes Gewicht setzte sich in meinem Magen fest.

»Wollen wir uns hinsetzen?«, fragte er, deutete auf den Zweisitzer aus dunklem Leder, der neben dem Buchregal stand.

Er nahm seinen Kaffee mit, fragte mich, ob ich auch etwas trinken wollte, dann setzten wir uns beide hin und schwiegen uns an.

Dad musste wissen, dass ich ihn an einem Sonntag nicht grundlos darum bitten würde, mit mir zu reden. Dass ich ihn nicht auf seiner Arbeit besuchen kam, um Kaffee zu trinken und dann wieder zu gehen. Wahrscheinlich wartete er darauf, dass ich es ansprach, aber sosehr ich es wollte – ich brachte es einfach nicht über mich, etwas zu sagen.

Schließlich war er es, der das Gespräch begann.

»Hattet ihr eine schöne Feier?«, fragte er.

Einen winzigen, winzigen Augenblick war mein Hirn leer. Feier. Welche Feier?, dachte ich. Bis mir einfiel, dass er von Sashas Geburtstag reden musste, wobei das bleierne Gewicht in meinem Bauch doppelt so schwer wurde.

»Wir …«, begann ich und unterbrach mich dann selbst. Das war meine Chance, ihm alles zu erzählen. Aber wie? Wie?

»Vielleicht können wir ein Geburtstagsessen nachholen«, schlug er vor. Vorsichtig, die Worte sorgfältig gewählt.

»Wenn euch nach etwas anderem ist, könnt ihr es mich aber auch wissen lassen«, fuhr er fort. »Ein Museumsbesuch wäre bestimmt auch schön. Eins, das ihr noch nicht selbst erkundet habt, vielleicht?«

Er betrachtete mich abwartend. Hoffnungsvoll. Sashas Stimme schwebte durch meine Gedanken. Warum hast du mir nichts erzählt?, nachdem ich die Treffen mit Dad gebeichtet hatte. Warum dachtest du, du müsstest es mir verheimlichen?

Die Enttäuschung war ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben gewesen. Ich hatte Wut erwartet – weil sie ihn selbst hatte treffen wollen oder sich betrogen fühlte, weil ich mich hinter ihrem Rücken mit ihm traf. Aber ihre Enttäuschung? Sie hatte mich unerwartet getroffen und sich angefühlt wie ein Schlag in den Magen.