Right Now (Keep Me Warm) - Anne Pätzold - E-Book

Right Now (Keep Me Warm) E-Book

Anne Pätzold

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Beschreibung

"Keiner von uns ist perfekt. Wir bestehen alle nur aus Chaos." "Sternenstaub. Wir bestehen aus Sternenstaub. Wir sind Sterne."

Marleigh hat Angst. Angst davor, ihre Wohnung zu verlassen. Doch als sie gezwungen ist, zum ersten Mal seit Wochen wieder nach draußen zu gehen, trifft sie ausgerechnet auf Aaron - den Eiskunstläufer, dessen Videos sie an den dunkelsten Tagen über Wasser gehalten und ihr geholfen haben, die Realität wenigstens für einen kurzen Augenblick zu verdrängen. Was Marleigh jedoch nicht ahnt: Aaron, der ihr so viel Mut und Hoffnung gegeben hat, leidet selbst. Denn seit seinem Unfall vor drei Monaten hat er sich nicht mehr aufs Eis getraut ...

"Dieses Buch hat etwas Magisches an sich. Es berührt durch seine Andersartigkeit, die ich im New-Adult-Genre gerne willkommen heiße. RIGHT HERE hat sich direkt einen Platz in meinem Herzen erobert." FOXY BOOKS über RIGHT HERE

Band 2 der ON ICE-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Anne Pätzold


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Seitenzahl: 475

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Playlist

1. Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

2. Teil

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

3. Teil

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Anne Pätzold bei LYX

Impressum

ANNE PÄTZOLD

Right Now

KEEP ME WARM

Roman

ZU DIESEM BUCH

Eigentlich könnte Marleigh so glücklich sein: Sie kann mit einem Stipendium als eine der jüngsten Studentinnen überhaupt an der Wellington Crescent Musikuniversität in Vancouver studieren. Doch statt Freundschaften zu schließen und sich mit anderen Studierenden in der Mensa zu treffen oder auf Partys zu gehen, hat Marleigh ihre Wohnung seit Wochen nicht verlassen. Es geht einfach nicht mehr. Zu sehr belasten sie die Erinnerungen an das, was ihr an der Uni geschehen ist, zu überwältigend erscheint ihr jeder Schritt hinaus in die gnadenlose Welt. Als einziger Lichtblick bleiben ihr die YouTube-Videos des Eiskunstläufers Aaron Reid. Sie geben ihr Mut und Hoffnung und das Gefühl, die kalte Realität wenigstens für einen kurzen Moment vergessen zu können. Dabei ahnt sie nicht, dass Aaron selbst mit seinen ganz eigenen Dämonen zu kämpfen hat. Denn seit einem schweren Sturz vor drei Monaten hat er sich nicht mehr aufs Eis getraut. Und als sich Marleigh und Aaron plötzlich persönlich kennenlernen und eine ganz besondere Verbindung zwischen ihnen zu entstehen beginnt, müssen sie sich fragen, wie lange sie noch vor ihrem Leben davonlaufen möchten …

Liebe Leser:innen,

bitte beachtet, dass Right Now Elemente enthält, die triggern können. Diese sind:

Angststörung, Angst- und Panikattacken, soziale Phobie, Agoraphobie, DPDR, Erwähnungen von Mobbing, Trauma, PTBS, Depressionen, Erwähnungen von Alzheimer-Demenz

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Anne und euer LYX-Verlag

Für all meine fiktiven comfort characters.

Was würde ich tun, wenn ich mich nicht immer wieder in ihren Geschichten verlieren könnte?

PLAYLIST

Emily Watts – La Vie En Rose

Kodaline – Big Bad World

BTS – Black Swan

Hikaru Utada, Skrillex – Face My Fears (Japanese Version)

Janet Suhh – In Silence

Hiroyuki Sawano – Vogel im Käfig

I See Stars – Calm Snow

Imagine Dragons – Wrecked

ONE OK ROCK – The Beginning

Thomas McNeice, Janine Shilstone – Cruel

Ai Higuchi – (Akuma no Ko)

Hiroyuki Sawano – Call of Silence

BTS – We Are Bulletproof: the Eternal

Eve – Aisai

RADWIMPS – Grand Escape (feat. Toko Miura)

TPR – Dearly Beloved

1. TEIL

Denial

1. KAPITEL

Marleigh

»Ja, Mom, ich schlafe jeden Tag acht Stunden.«

Ich stieß mich mit den Füßen vom Boden ab und drehte mich in meinem Schreibtischstuhl langsam im Kreis. Die Sterne an meiner Decke leuchteten im Halbdunkel meines Zimmers schwach und bildeten eine Galaxie über meinem Kopf.

»Und du isst auch genug, ja? Oder muss ich erst zu dir hochgefahren kommen und mich drei Tage lang mit dir durch die Lieferservices essen?«, wollte Mom von mir wissen.

»Ich esse genug für drei Leute«, antwortete ich. »Und vielleicht solltest du noch mal überdenken, wie du mich zu einem gesünderen Lebensstil überreden willst. Ich bezweifle, dass Essen vom Lieferservice dafür ein guter Anfangspunkt ist.«

Mom wirkte von dieser Information kein bisschen abgeschreckt. »Wir sterben so oder so irgendwann alle. Warum sollte ich mir die begrenzten Tage, die ich auf diesem Planeten mit so viel leckerem Essen habe, eine Diät aufzwingen? Das kannst du mir gern intravenös einführen, wenn ich nicht mehr kauen kann, aber bis dahin bestehe ich auf meine freitägliche Pizza.«

Ich schnaubte. »Wow. Und die Leute fragen sich, warum aus mir so ein merkwürdiger Mensch geworden ist.«

Der Themenwechsel schien Mom wie gerufen zu kommen. Sie schnappte ohne zu zögern danach. »Welche Leute denn? Deine Freunde? Weißt du, dass du mich ganz schön hängen lässt? Ich möchte meine Jugendzeit noch einmal durch dich ausleben und du gibst mir nur kleine Bruchstücke vom aufregenden Universitätsleben.«

Ich lachte gezwungen, als sie die Universität erwähnte. Weil ich wusste, dass jede andere Reaktion sie argwöhnisch machen würde. Es war verhaltener, als ich es normalerweise in der Gegenwart von Mom tat – aber das bekam sie zumindest nicht mit. »Möchtest du, dass ich mich dafür entschuldige, dir nicht jeden Tag einen Herzinfarkt zu bereiten, weil ich dir davon erzähle, welche neue Droge ich ausprobiert habe?«

»Nein«, sagte Mom sofort. »Du bist doch gerade erst ausgezogen.«

»Vor fast zwei Jahren.«

»Du bist noch viel zu jung für Drogen.«

»Ich bin letzten Monat achtzehn geworden.«

»Wie bitte?«, rief sie, als hätte es sie wirklich überrascht.

Der riesige Karton, in den sie alle möglichen großen und kleinen Geschenke getan hatte, stand immer noch neben meinem Schreibtisch und strafte sie Lügen.

»Ich kann nicht glauben, dass du schon zwei Jahre an der Universität bist«, fuhr sie kurz darauf fort. »Meine Überfliegerin.«

»Mir kommt es auch noch nicht so lange vor«, sagte ich. Wobei es nicht die ganze Wahrheit war. Manchmal fühlte es sich wie ein halbes Leben an. Als wäre es eine andere Marleigh gewesen, die mit noch nicht ganz sechzehn die Highschool abgeschlossen und für ein Studium nach Winnipeg gezogen war.

»Wie auch immer. Gib mir wenigstens noch ein Jahr zur Vorbereitung, bevor du dich an Drogen wagst, okay?« Der leichte Ton verschwand aus Moms Stimme und sie nahm einen sanfteren Klang an. »Du musst auf keine Partys gehen, das weißt du. Solange du glücklich bist, kannst du dir auch die Haare in allen Farben des Regenbogens färben und nackt durch die Straßen laufen.«

»Ich befürchte, dass andere Leute in der Stadt da etwas dagegen haben könnten.«

»Du weißt, was ich meine«, erwiderte sie. Ich sah sie vor mir – wie sie wegen meiner Wortklauberei die Augen verdrehte und trotzdem lächelte, weil sie einfach nicht anders konnte. »Wenn du zufrieden bist, bin ich es auch.«

Ich stoppte die Bewegung des Stuhls langsam. Wandte mich von meinem ganz eigenen Sternensystem ab und starrte aus dem Fenster. Auf die Dächer, die ich von hier aus gerade noch erkennen konnte und die Hochhäuser, die in der Ferne in den Himmel ragten. Der Himmel war ein Farbenspiel aus Lila, Pink und feurigem Orange, wo die Sonne hinterm Horizont verschwand.

Es war eine Aussicht, die ich in den vergangenen zwei Monaten häufig gesehen hatte – und trotzdem freute ich mich jedes Mal wieder darüber. Wenn ich sah, wie der Himmel abends langsam rosa wurde, kuschelte ich mich auf die breite, mit Kissen ausgelegte Fensterbank, die links und rechts von Dachschrägen eingerahmt war. Ich schob die dünnen Gardinen beiseite und erlaubte mir ein paar Minuten lang, alle Gedanken zu ignorieren, während ich dabei zusah, wie Tag und Nacht sich die Hände gaben.

Ich träumte davon, dem Himmel näher zu sein. Nach den Wolken greifen zu können an einem Ort, an dem ich nachts Sterne statt der Lichter einer Großstadt sah. Aber um das erleben zu können, musste ich meine eigenen vier Wände verlassen und das … war keine Option.

Ich rieb mir über die Brust, um das Engegefühl darin zu vertreiben, und konzentrierte mich wieder auf Mom.

»Sicher, dass dir das reicht?«, fragte ich sie ein paar Sekunden zu spät. »Ich meine, bei unserem letzten Gespräch etwas von einem netten Mann gehört zu haben, der dich gerade beschäftigt hält.«

»Das …« Sie stockte. »Das ist goldrichtig. Aber Frederick ist quasi die Kirsche auf der Sahnetorte. Und wenn der Kuchen darunter schon wackelig ist, überlebt es die Kirsche darauf auch nicht lange.«

Ich runzelte die Stirn. »Mom. Weißt du selbst überhaupt, was du gerade gesagt hast?«

»Absolut nicht.«

Immerhin war sie ehrlich. »Übrigens kann ich es immer noch nicht glauben, dass du dir Captain Frederick Wentworth als Objekt deiner Begierde ausgesucht hast.« Mom war die größte Jane-Austen-Liebhaberin, die es auf dieser Welt gab. Als sie mir den Namen des Mannes verraten hatte, mit dem sie sich im Augenblick traf, musste ich dreimal nachfragen, um sicherzugehen, dass ich sie richtig verstanden hatte.

»Er sieht ganz anders aus als Captain Wentworth.«

»Er ist blond«, widersprach ich.

»Ja.«

»Gut gebaut.«

»Schon …«

»Er ist nicht reich geboren, aber hat dank seiner Arbeit ein gutes Einkommen, das ihn zu ausgezeichnetem Heiratsmaterial macht.«

»Hallo, das neunzehnte Jahrhundert ruft an, es möchte seine Vorstellungen der Lebensziele einer Frau zurückhaben.«

»Mom! Er heißt Frederick Williams. Mit wie vielen Zaunpfählen muss das Universum winken?«

»Wentworth und Williams sind jetzt nicht unbedingt so ähnlich, dass ich dahinter irgendeine Seelenverwandtschaft sehen würde.«

Ich stöhnte und lachte gleichzeitig. Diese Telefonate mit ihr waren meine Silberstreifen am Horizont. So viele Bauchschmerzen sie mir auch bereiteten – es war die Liebe und Zuneigung, die ich von ihr spürte, allemal wert.

»Na gut, wie du meinst«, gab ich nach. »Denk nur dran, dass Vancouver ein paar Stunden entfernt ist und ich nicht sofort da sein kann, wenn du ihm das sagst und ihr euch daraufhin gegenseitig das Herz brecht.«

»Ich frage mich wirklich, woher du diesen Hang zur Dramatik hast.«

»Ich nicht.« Dafür erinnerte ich mich zu deutlich an den ein oder anderen Abend mit großen Eimern voller Eiscreme und Playlists, auf denen Oasis, Coldplay und London Summer einen abwechselnd zum Weinen brachten. Meistens dann, wenn ein Besuch bei Moms Eltern anstand, den sie immer so lange wie möglich hinauszögerte.

»Apropos Hang zur Dramatik. Marleigh, meine wundervolle Lieblingstochter, weißt du schon, wann du mich mal wieder besuchen kommst?«

Die glänzenden Erinnerungen verschwanden und ein Kloß machte sich in meinem Hals breit. Er versperrte allen Worten den Weg. Unbewusst legte ich meine Hand auf meinen Bauch – es war nur eine Frage der Zeit, bis er wieder wehtun würde.

»Ähm …« Ich suchte vergeblich nach einer Ausrede, die ich noch nicht verwendet hatte. Die glaubhaft war und sie nicht verletzen würde. Denn die Wahrheit war: Ich wollte meine Mama sehen. Ich wollte sie in die Arme schließen und mich an ihr festhalten, weil alles andere sich viel zu schnell und zu stürmisch zu bewegen schien.

Nur dauerte ein Flug bis nach Vancouver mindestens anderthalb Stunden. Die Fahrt zum Flughafen, das Einchecken, die ganzen Passagiere …

Wir wollen dich nicht dabeihaben, Marleigh.

Die schneidenden Worte hallten in meinem Kopf wider. Ausgesprochen vor so vielen Monaten, dass sie eigentlich schon verblasst sein sollten. Aber sie, genauso wie alle anderen, waren so präsent wie am ersten Tag.

Ich kniff die Augen zu, als mein Magen sich verkrampfte.

»Ich hab gerade viel zu tun«, brachte ich hervor. »Das Semester ist fast zu Ende und ich weiß noch nicht, wie ich die Hausarbeiten schaffen soll …«

»Alles gut«, beruhigte Mom mich sofort. »Ich weiß doch, wie es ist, wenn man erwachsen wird. Man möchte mehr Zeit mit Freunden und Freundinnen und dem eigenen Leben verbringen, statt stundenlang durch das halbe Land tuckern zu müssen, um die Familie zu besuchen.«

Sie machte mir keinen Vorwurf. Im Gegenteil. Mom war mir gegenüber schon immer unendlich verständnisvoll gewesen. Ich wollte ihr sagen, dass es nicht daran lag – immerhin war sie meine beste Freundin, seit ich denken konnte.

Aber kein einziger Laut schaffte es über meine Lippen. Stattdessen wurden meine Magenkrämpfe noch schlimmer. Ich beugte den Oberkörper nach vorn und atmete so tief und ruhig ich konnte.

»Spätestens zu deinem Geburtstag im Sommer siehst du mich wieder«, scherzte ich schwach. Ich hoffte, dass sie nicht bemerkte, wie aufgesetzt meine Fröhlichkeit klang. »Wer sonst würde mit dir so viel Cranachan essen, dass uns beiden am Nachmittag schlecht ist?«

»Ehrlich, Marleigh, Cranachan ist nicht unbedingt die höchste Form meines kulinarischen Könnens. Ich weiß nicht, warum du darauf bestehst, dass ich uns das statt einer Torte zum Geburtstag vorsetze. Zu meinem Geburtstag, wohlgemerkt.«

»Der Whisky«, sagte ich. »Es muss am Whisky liegen.«

Stille drang durch die Leitung. »Du bist also doch meine Tochter. Dabei gibt es hier bei Weitem nicht so guten wie zu Hause.«

Zu Hause. Sie musste es nicht aussprechen, damit ich wusste, dass sie von Glasgow redete. Vor vier Jahren waren wir nach Vancouver gezogen. Mom sagte, weil wir mal eine Abwechslung brauchten, aber ich wusste, dass es daran lag, dass sie so viel Abstand wie möglich zwischen sich und ihre Eltern bringen wollte. Meine Großeltern waren liebevoll und fürsorglich, wenn es um mich ging – und absolut grauenhaft, wenn es Mom betraf.

Vancouver war für uns beide eine einfache Entscheidung gewesen, als ein Umzug zum Thema wurde. Für Mom, weil ihre Schwiegereltern dort lebten, zu denen sie trotz ihrer Scheidung ein wesentlich besseres Verhältnis hatte als zu ihrer eigenen Familie. Und für mich, weil Dad mir von klein auf eine Faszination für diese Stadt mit in die Wiege gelegt hatte.

Er hatte mir ständig davon erzählt, wie offen die Menschen dort waren, wie schnell man von der Stadt in die Natur fand. Von dem tollen Essen, den Bergen und dem Ozean und diesem wilden Mix aller möglichen Leute, die in den Nachbarschaften nebeneinanderlebten. Für die meisten klang es sicher wie eine Beschreibung jeder anderen Stadt auch. Für mich leuchtete sie. Daran konnte auch der verschwindend geringe Kontakt zwischen Dad und mir nichts ändern.

Daher hatte es mich nicht gestört, meine Secondaryschool zu verlassen und in Vancouver auf die Highschool zu gehen. Um mir den Wechsel leichter zu machen, hatte Mom mich bei einer mit Schwerpunkt auf darstellende Künste angemeldet.

Und jetzt? Jetzt lebte ich allein in Winnipeg. Weil die Wellington Crescent University eine Chance gewesen war, die ich nirgends sonst bekommen hätte. Eine private Universität, die vor allem für ihre Musikfakultät bekannt war. Mit erfolgreichen Personen aus der klassischen Musikbranche, die dem Nachwuchs ihr Wissen vermittelten. Ein volles Stipendium. Die Möglichkeit, alles über die Musik zu lernen, was ich jemals hatte lernen wollen.

Es war die Erfüllung eines Traums gewesen, von dem ich nie gewagt hatte zu träumen: Als ich den Brief der WCU in den Händen gehalten hatte. Als ich Mom ungläubig davon erzählt hatte – und wir uns mehrfach hatten zwicken müssen, um zu realisieren, dass es wirklich wahr war.

Reine Verzweiflung breitete sich in mir aus, als mir bewusst wurde, wie viel andere Leute dafür geben würden, diesen Traum leben zu dürfen. Und wie sehr er mich gerade erdrückte.

»Apropos Whisky. Frederick hat mich auf ein Abendessen und einen anschließenden Besuch in einer neuen Bar in Downtown eingeladen«, holte Mom mich aus meinen Gedanken zurück.

»So viel dazu, dass du deine Jugendzeit durch mich noch mal erleben möchtest«, merkte ich an. Ich bemühte mich, möglichst normal zu klingen. Fröhlich. Glücklich. So wie Mom mich kannte. »Du scheinst das ganz gut allein hinzubekommen.«

»Aber wenn du es für uns beide übernimmst, muss ich mich immerhin nicht mit der Outfitwahl herumschlagen.«

»Das grüne Kleid«, riet ich ihr sofort. »Das mit der Spitze am Ausschnitt und dem ausgestellten Rock.«

»Du wirst mich niemals zum Fan von Kleidern konvertieren, Marleigh.«

»Muss ich nicht, um zu wissen, dass du meinen Rat trotzdem annehmen wirst, weil du weißt, dass ich recht habe.«

Mom grummelte nur etwas Unverständliches.

»Bleib nicht zu lange aus. Mach nichts, das ich nicht auch tun würde. Lass niemanden an dein Getränk, dem du nicht vertraust. Und hab viel Spaß«, sagte ich in meiner besten Mom-Stimme.

»Wird gemacht. Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch.«

Ich wartete, bis Mom aufgelegt hatte, schlang mir einen Arm um den Bauch und beugte mich so weit nach vorn, dass meine Stirn meine Knie berührte. Mich so klein wie möglich zu machen half meistens dabei, die Bauchschmerzen zu vertreiben.

Als sie mich nicht mehr in die Knie zwangen, stand ich auf und ging in die kleine Küche, die direkt an das eine Zimmer grenzte, das das Juwel meiner kleinen Wohnung war. Es war alles: Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer in einem. Die Wände waren in einem hellen Grün gestrichen und jeder Zentimeter übersät von Zeichnungen der unterschiedlichsten Blumen und Grünpflanzen.

Mein Bett stand unter einer Dachschräge direkt neben der Tür, die in mein winziges Ankleidezimmer führte. Die Tür stand zur Hälfte offen, weil Mom mich mitten im Umziehen unterbrochen hatte und ich aus der kleinen Kammer zu meinem Schreibtisch am anderen Ende des Raums hatte stürmen müssen, um sie nicht zu verpassen.

Das war vor einer guten Stunde gewesen. Während unseres Gespräches hatte ich es immerhin geschafft, mich aus meiner Strumpfhose zu befreien, die mich den ganzen Tag schon schier in den Wahnsinn getrieben hatte, weil sie ständig rutschte. Der dicke Stoff meines Kleids spielte deswegen bei jedem Schritt um meine Beine, bis ich in der Küche stehen blieb.

Ich stellte den Wasserkocher an und kramte meine Wärmflasche hervor, die nie weiter als einen Handgriff entfernt war. Auf den Füßen vor und zurück wippend, sah ich dabei zu, wie das Wasser langsam zu blubbern anfing. Am liebsten hätte ich mir dazu noch einen Tee gekocht, aber weil ich mit der Bestellung meiner Lebensmittel diesmal so lange gewartete hatte, war nur noch Früchtetee übrig.

Ich verzog den Mund. Lieber trank ich gar nichts als warmes Wasser mit dem Geschmack falscher Früchte.

Die Wärmflasche an den Bauch gedrückt, lief ich zurück in mein Zimmer. Mein Laptop stand aufgeklappt auf dem Schreibtisch, ein Video von Aaron Reid auf YouTube geöffnet, das im Hintergrund lief, bevor Mom mich angerufen hatte.

Es war eingefroren bei einer Aufnahme der Sonne, die, eingerahmt von unzähligen Ästen, hinter dem Stamm eines Baumes hervorblitzte. Es war eines von sechs Videos, die er auf seinem Kanal hochgeladen hatte. Und jedes war auf diese Weise gestaltet: Ausschnitte dieser Welt da draußen, von kleinen und großen Dingen, die Aaron Reid durch die Kamera ins Auge zu fallen schienen.

Ich war vor etwas über einem Monat auf seinem Kanal gelandet. Es kam nicht allzu häufig vor, dass ich mehr als ein Video von einem Künstler schaute. Wenn ich mir auf YouTube die Zeit vertrieb, wollte ich abschalten. Mein Hirn nicht mehr benutzen. Meistens ließ ich sie einfach durchlaufen und hoffte, dass dabei irgendwie der Tag verging.

Aber als das erste Video von Aaron Reid angelaufen war, hatte etwas in mir die Luft angehalten. Die Schnipsel aus Natur, Architektur und fremden Leuten hatten eine gewaltige Sehnsucht in mir ausgelöst, bei der mein Herz noch heute aufgeregt flatterte. Es war das erste Mal seit langer Zeit gewesen, dass ich das Verlangen gespürt hatte, den sicheren Komfort meiner Wohnung hinter mir zu lassen.

Ich wackelte an der Maus, als der Bildschirm langsam dunkel wurde. Rief meine E-Mails auf und ignorierte die drei ungelesenen Nachrichten dabei gekonnt. Darin war ich mittlerweile begnadete Meisterin. Stattdessen suchte ich nach der Bestätigungsmail des Lieferanten, der mir jede Woche meine Lebensmittel bis vor die Wohnungstür brachte.

Es störte ihn nicht, dass ich nur wenige Worte rausbekam, wenn er mir die Tüten überreichte – genauso wenig, wie es mir etwas ausmachte, wenn ein Apfel während des Transports zu Mus verarbeitet wurde. Wir ließen beides unkommentiert und gingen nach drei Minuten unbeholfenen Schweigens unserer Wege.

Was mich zu dem Punkt brachte, der mich stocken ließ: Normalerweise konnte ich die Uhr nach dieser Lieferung stellen. Punkt siebzehn Uhr elf schreckte mich jeden Freitag ein Klingeln aus meiner Trance. Mittlerweile war es kurz vor halb sechs und bei meinem kurzen Blick aus dem Fenster hatte ich weit und breit keinen knallgrünen Transporter gesehen, der quer auf der Straße parkte und den restlichen Verkehr behinderte.

Ich überflog die Bestätigungsmail, klickte auf den dort hinterlegten Link, der mich auf die Seite des Supermarktes führte, loggte mich ein und …

Keine Lieferung möglich.

Meine Wärmflasche rutschte von meinem Schoß und landete mit einem Platschen auf dem Boden.

»Nein, nein, nein«, murmelte ich und klickte mich einmal quer durch die Website. Allerdings konnte ich die Seite so oft neu laden, wie ich wollte – das Ergebnis blieb das gleiche.

Ich rutschte seitlich von meinem Stuhl, lief zurück zur Küche und riss die Kühlschranktür auf. Nur, um von gähnender Leere begrüßt zu werden. Wütend warf ich sie wieder zu, gedanklich bereits am Überlegen, ob ich es mir leisten konnte, zum vierten Mal diese Woche Essen bei einem Lieferservice zu bestellen. Ich hörte mein Konto bereits leise weinen.

Mit beiden Händen schob ich mir meine Haare aus dem Gesicht. Ich zog eine der roten Locken gerade, ließ sie los und zurück in ihre Form springen. Das tat ich wieder und wieder und wieder, den Blick starr auf die Wand vor mir gerichtet.

Bis zum nächsten Supermarkt waren es, was – sieben Minuten zu Fuß? Ich musste nicht einmal viel kaufen, nur genügend, um die nächsten zwei, drei Tage zu überleben. Wenn ich mich beeilte, wäre ich in einer halben Stunde wieder zu Hause und könnte mich dann mit dem neuen Video von Aaron Reid belohnen. Es war erst heute Morgen online gegangen, und ich hatte es mir extra für den Abend aufgehoben.

Ja. Ja, das klang gut. Ich könnte mir Schokolade kaufen und eine große Flasche Sprite und so viele Donuts, wie ich tragen konnte. Sie waren es auch schließlich, die mich dazu brachten, meine Füße vom Boden zu lösen.

Ich dachte daran, wie Mom früher mit einer riesigen Schachtel Donuts nach Hause gekommen war und wir mit Unmengen an Zucker und Agatha Christie den Abend verbracht hatten, und zog meine Strumpfhose wieder an.

Ich erinnerte mich, wie wir uns als Erstes, nachdem wir nach Vancouver gezogen waren, durch die besten Donut-Läden probiert hatten und abends nicht mehr wussten, ob die Bauchschmerzen von dem vielen Gebäck oder unserem Lachen kamen, und schlüpfte in meine Jacke.

Mom hatte mir letzten Monat zu meinem achtzehnten Geburtstag einen Donut aus Plüsch geschenkt, der so groß und gemütlich war, dass ich quasi darauf lebte. Es war unsinnig – mit etwas Essbaren so viel zu verbinden. Vielleicht liebte ich es genau deswegen umso mehr.

Die Erinnerungen trugen mich bis an die Wohnungstür. Einen Jutebeutel über die Schulter geschwungen, legte ich meine Hand an die Klinke … und hielt inne.

Meine Beine waren am Boden festgewachsen. So schwer, als bestünden sie aus Zement. Mein Herz galoppierte wild in meinem Brustkorb. Ich merkte nicht, wie ich die Luft anhielt. Wie ich kurz darauf viel zu flach atmete. Es ging unter in dem Rauschen, das meine Ohren erfüllte.

Bleib doch lieber zu Hause. Da kannst du zumindest niemanden stören.

Es war nicht meine Stimme, die ich flüstern hörte. War es nie. Oder vielleicht doch? Ich war mir nicht sicher, welche Gedanken meine waren und welche sich lediglich als meine eigenen tarnten.

Meine Hand rutschte langsam von der Klinke.

Ich entfernte mich einen Schritt von der Tür.

Dann noch einen.

Drehte ihr den Rücken zu und tat, als wüsste ich es nicht. Als wäre mir nicht klar, dass sie nicht dafür da war, etwas draußen zu halten – sondern mich hier drin einsperrte.

Es war mir egal.

Zu Hause bist du immerhin in Sicherheit.

2. KAPITEL

Aaron

Drei Monate war es her, seit ich das letzte Mal auf dem Eis gestanden hatte.

Es fühlte sich nicht an, als wären bereits so viele Wochen vergangen. Wenn etwas Einschneidendes passierte, wurde Zeit plötzlich zu Sand, der einem unaufhaltsam durch die Finger rann. Die Tage waren zu lang, die Nächte zu dunkel. Und sosehr man auch versuchte, den Rest der Welt zum Stillstand zu zwingen – es ließ die Verzweiflung nur größer werden, wenn es nicht passierte und man als Einziger an diesem Punkt in seinem Leben einfror.

Hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, dass ich es mehrere Monate aushalten würde, nicht eiszulaufen, hätte ich der Person nicht geglaubt.

Aber hier war ich nun. Im Krankenhaus, um mir ein letztes Mal anzuhören, dass ich bei meinem Sturz verdammt viel Glück gehabt hatte und froh darüber sein sollte, wie unkompliziert die Heilung verlaufen war.

Unkompliziert. Das Wort war mir bereits beim ersten Mal aufgestoßen, als mein behandelnder Arzt es verwendet hatte. Er hatte mir gegenübergesessen in seinem weißen Kittel mit einem freundlichen Lächeln, das ich vielleicht erwidert hatte oder vielleicht auch nicht. Ich konnte mich nicht daran erinnern.

Nichts an dieser Situation war unkompliziert, sosehr ich es mir auch wünschte. Sosehr ich betete und hoffte und nachts mit freudig pochendem Herzen aufwachte, weil ich mir sicher war, dass es sich bei all dem nur um einen langen Traum handelte, aus dem ich endlich aufgewacht war.

Aufgewacht war ich – nur stellte sich dabei heraus, dass die Realität manchmal der schlimmere Albtraum sein konnte.

Ich gab meinem Arzt die Hand und verließ sein Zimmer, ohne seine Worte wirklich wahrgenommen zu haben. Ich wusste, dass er mir das Okay gegeben hatte, mit dem Training weiterzumachen. In meinem Innersten kramte ich nach der Freude, von der ich mir sicher war, dass ich sie bei dieser Nachricht empfinden sollte. Finden konnte ich sie allerdings nicht. Da war nur … Leere. Und ein Gefühl des Fallens, das mich so hilflos zurückließ, als wäre ich gerade erst auf dem Eis aufgeprallt.

Ich ließ das Krankenhaus so schnell ich konnte hinter mir. Dieser beißende Geruch von Desinfektionsmittel und mittäglichem Kantinenessen, Krankheit und Enttäuschung, der mir jedes Mal in die Nase stieg, sobald ich das Foyer betrat. Als die Glastüren sich hinter mir schlossen, stieß ich all die Luft aus, die ich auf dem Weg angehalten hatte. Immer, wenn ich das Krankenhaus betrat, atmete ich so flach wie möglich, weil ich es nicht aushielt.

Die frische Luft verdrängte die Erinnerungen, die mit diesen Gerüchen an den hintersten Winkeln meines Bewusstseins kratzten. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich sie sehen: Bleiche, knochige Finger, die sich nach mir reckten. Die sich um meinen Hals legten, um meinen Brustkorb, meine Beine und darauf warteten, zuzudrücken.

Vielleicht hielt ich sie in Schach, vielleicht sie mich – mittlerweile war ich mir da nicht mehr sicher.

Mein Wagen wartete in der hintersten Reihe des Parkplatzes auf mich. Ein dunkelgrünes Monster eines Fahrzeugs, das ich letztes Jahr geschenkt bekommen hatte, nachdem Emilia und ich bei der Skate Canada Challenge ausgeschieden waren. So kurz vor dem Sieg, dass ich die Qualifikation für die kanadischen Meisterschaften schon hatte spüren können.

Auf dem Beifahrersitz lag meine Kamera und wartete darauf, dass ich eine Abzweigung nahm, die mich in unbekannte Ecken Manitobas führte. Berge hinauf, an Seen entlang, leere Straßen hinunter, auf denen ich so fest auf das Gaspedal treten konnte, wie es mich verlangte.

Denn das tat es. Der Wunsch, schneller und schneller zu werden, bis die Welt um mich verschwamm, bis mein Herz in meinen Magen sackte und kurz darauf begann, in einem Takt zu pochen, den es normalerweise nur anschlug, wenn ich auf dem Eis hoch genug sprang, dass die Welt für einen kurzen Augenblick aufhörte, sich zu drehen.

Ich unterdrückte das Verlangen, so gut es ging. Statt ihm zu folgen und die Stadt zu verlassen, fuhr ich vom Parkplatz des Krankenhauses und überquerte den Red River im dämmrigen Licht des Abends. In dem Auto war es bis auf das Brummen des Motors still. Ich verlor mich beim Fahren in den Lichtern der Straßen und in meinen Gedanken und vergaß gleich darauf, was mir durch den Kopf gegangen war.

Mit einer Hand hielt ich das Lenkrad fest, die andere hob ich an meine Schläfe. Ein Pochen hatte sich dahinter festgesetzt, das keine Schmerztablette lindern konnte. Es verschwand seit Wochen nicht mehr vollständig. Mittlerweile hoffte ich einfach, mich irgendwann daran zu gewöhnen.

Ich hielt direkt vor unserem Haus – im Ohr Dads Stimme, die sagte, dass er sich mit dieser Villa den Traum eines Herrenhauses erfüllt hatte, den er schon seit Kindheitstagen hegte. Ob Anya diesen Wunsch teilte, wusste ich bis heute nicht.

Ich war mit einem Bein aus dem Wagen ausgestiegen, als die Eingangstür aufging. Jean stand in seiner gewöhnlichen Jeans und dem schwarzen Hemd im Türrahmen und wartete darauf, dass ich die wenigen Stufen nahm, um mit ihm auf einer Augenhöhe zu sein.

»Wie war dein Arzttermin?« Mit einfachen Begrüßungen hatte er sich schon immer schwergetan.

»So aufschlussreich wie erwartet«, erwiderte ich und trat an ihm vorbei in den Eingangsbereich.

»Das heißt? Du kannst wieder aufs Eis?«, hakte er hoffnungsvoll nach. Ich wusste, dass er seit Wochen dafür betete, dass ich endlich wieder eislaufen konnte. Jean war mein größter Fan, mein bester Freund – er wusste, was es mit mir tat, nicht aufs Eis gehen zu können.

Ich zögerte. Spielte mit dem Gedanken, ihm zu erzählen, dass man mir grünes Licht gegeben hatte, dass ich wieder aufs Eis konnte, aber nicht wusste, wie ich den ersten Schritt machen sollte, wenn der Gedanke allein dafür sorgte, dass eisige Finger mein Rückgrat hinunterfuhren.

Ich würde es ihm erzählen und dann … was? Mit ihm zusammen feststellen, dass mein Kopf nicht mehr wie vorher funktionierte? Dass irgendwas darin passiert sein musste, als ich auf dem Eis aufgekommen war, dass jetzt alles dunkel und kalt wurde, wenn ich die Eishalle betrat? Wie sollte ich etwas erklären, für das ich selbst keine Worte fand?

»Noch nicht.« Die Lüge kam mir viel zu leicht über die Lippen. Mein Herz donnerte in meiner Brust, als wollte es mich darauf hinweisen, dass ich etwas Falsches tat.

Als wüsste ich das nicht selbst gut genug.

Mitleid breitete sich auf Jeans Gesicht aus, sosehr er auch versuchte, es zu verstecken. Ich erkannte es daran, wie er den Blick für ein paar Sekunden abwandte. Seine rechte Hand in die Hosentasche schob, damit ich nicht sah, wie er sie zu einer Faust ballte.

Es fühlte sich schlimmer an als meine Lüge selbst.

»Tut mir leid, Aaron«, sagte er leise. Er sah mich an, sein Blick aufmerksam, als erwartete er, dass ich etwas darauf erwiderte. Aber wie sollte ich, wenn alle Worte in meinem Hals feststeckten und mir die Luft zum Atmen nahmen?

Als ich nichts sagte, deutete Jean über seine Schulter. »Möchtest du was mit mir essen? Wir könnten rausgehen, das neue Restaurant die Straße runter soll großartige vegane Ramen machen.«

Ja. Ich wollte – mit Jean reden, etwas unternehmen, lachen, einen Abend genießen. Doch der viel größere Teil von mir wollte sich zurückziehen. Allein sein. »Ich hole mir was, wenn ich Hunger habe«, entkam es mir, bevor ich weiter darüber nachdenken konnte. Ich wandte mich der geschwungenen Treppe zu, die in den ersten Stock führte.

»Aaron.« Sprich mit mir.

Die Hand auf dem Geländer abgelegt, hielt ich inne. »Ich hole mir was, wenn ich Hunger habe«, wiederholte ich und fügte still hinzu: Wenn ich mich dazu aufraffen kann.

Jeans Seufzen verfolgte mich bis in mein Zimmer. Es blieb an meinen Wänden kleben und sah dabei zu, wie ich mich auf die Kante meines Betts setzte. Die Vorhänge waren beinahe vollständig geschlossen, der Raum so dunkel, als wäre es draußen bereits Nacht. Ein einzelnes Licht erhellte von der Steckdose aus mein Zimmer. Es war ein einfaches Nachtlicht, das auf Bewegungen reagierte. Solange ich auf meinem Bett saß und mich nicht rührte, blieb es gedimmt. Ging ich daran vorbei, wurde es heller und warf verzerrte Schatten an die Wände.

Aus Gewohnheit wollte ich meine Haare nach hinten streichen – bis mir einfiel, dass nicht mehr viel davon übrig war. Stattdessen tastete ich nach der Narbe an meinem Hinterkopf, spürte dem Schauer hinterher, der bei der Berührung durch meinen Körper schoss, und ließ meine Hand wieder sinken.

Ein Klopfen an der Tür ließ mich zusammenzucken. Jean kam herein, ohne meine Antwort abzuwarten, ein Tablett in der Hand.

»Ich hab gesagt, dass ich mir etwas hole, wenn …«

»Du Hunger hast, ja«, beendete er meinen Satz und reichte mir das Tablett, auf dem zwei Teller mit Sandwiches standen. Er bedeutete mir, Platz zu machen und setzte sich dann neben mich auf das Bett. Ein Bein hatte er dabei vor seinem Körper angewinkelt, das andere stand fest auf dem Boden. Er nahm einen Teller und balancierte ihn auf seinem Knie. »Aber ich habe keine Lust, schon wieder allein zu essen, also tu mir den Gefallen und wirf mich erst aus deinem Zimmer, wenn ich aufgegessen habe.«

»Ich hatte nicht vor, dich rauszuwerfen«, merkte ich an. Er antwortete nicht, viel zu sehr damit beschäftigt, das Sandwich zu inhalieren. Es schien, als hätte er mindestens genauso lange wie ich nichts mehr gegessen.

Ich betrachtete das Sandwich auf meinem Teller. Jeans Ausrede war offensichtlich fadenscheinig – er schien sich nicht einmal darum zu kümmern, sich eine auszudenken, die mich überzeugte. Und ich brachte es nicht über mich, ihn völlig auszusperren.

Jean war eine Konstante in meinem Leben. Seine Mom und mein Dad hatten sich vor etwas über zwölf Jahren kennengelernt und kurz darauf geheiratet. Soweit ich mich erinnern konnte, war das die längste Beziehung, die Dad bisher hatte.

Ich erinnerte mich noch sehr lebhaft an meine erste Begegnung mit Jean. Unsere Eltern hatten beschlossen, dass es an der Zeit war, uns einander endlich vorzustellen, und in ein schickes Restaurant ausgeführt.

Als Dad und ich dort ankamen, warteten beide schon auf uns. Und das Erste, was Jean tat, war, sich auf die merkwürdigste Weise vorzustellen, die ich mir ausmalen konnte. Seine Worte hatten mich so aus der Bahn geworfen, dass ich mich bis heute noch klar und deutlich an sie erinnern konnte: »Hey, ich bin Jean und ja, das ist Französisch, aber nein, außer Oui und Non kann ich selbst keins sprechen.«

Ich hatte ihn angestarrt, mehr als ein wenig verwirrt und mindestens ebenso fasziniert von einer Person, die mit jedem Detail, das ich über sie lernte, mehr zu unzähligen Widersprüchen zu werden schien.

Ein sanftes Lächeln und kinderhaft leuchtende Augen, die nicht ganz zu den Tattoos und Piercings passen wollten, die ihn schmückten. Ein großer, schlanker Körperbau, hinter dem sich eine Person verbarg, die nicht mal im Ansatz sportlich war. Jemand, der auf den ersten Blick aussah, als könnte er jede Person um den Finger wickeln, aber sofort rot wurde und anfing vor Verlegenheit zu stammeln, wenn tatsächlich jemand mit ihm flirtete.

Ich hatte mir nie vorgestellt, Geschwister zu haben – aber irgendwie war aus dieser ersten Begegnung eine Freundschaft geworden, die die Stille, die mich hin und wieder in diesem riesigen Haus heimsuchte, mehr als erträglich machte.

Ich nahm einen Bissen von meinem Sandwich. Wir aßen schweigend, und Jean sah sich in meinem Zimmer um, als wäre er nicht jeden zweiten Tag mit einem neuen Vorwand hier, um mich aus dem Bett zu bekommen. Ich registrierte den Geschmack des Essens nicht wirklich. Das Brot war weich, der Salat darauf knackig, die Tomaten saftig. Hätte ich die Augen zugemacht, wäre mir vermutlich nicht mal bewusst gewesen, dass es ein Sandwich war, das ich aß.

»Mom hat mir geschrieben«, sagte Jean in meine Gedanken. »Weil sie in ein paar Tagen nach Hause kommen werden.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Davon hat Dad bei seinem letzten Anruf nichts erzählt.« Mein Sandwich verlor nun auch den letzten Hauch Geschmack.

»Ich glaube, die Entscheidung war relativ kurzfristig. Vermutlich bleiben sie nicht lange, weil das nächste Projekt kurz darauf startet.«

Entgegen meiner ersten Reaktion freute ich mich darüber, Anya und Dad wiedersehen zu können. Es war nur so schwer. Mehr Leute, die ich anlügen musste, wenn ich nicht schnell herausfand, wie ich das, was mit mir nicht stimmte, reparieren konnte.

Ich unterdrückte ein erschöpftes Ausatmen. Jean war so empathisch wie sonst kaum eine Person, die ich kannte. Er hätte selbst mit diesem kleinen Geräusch sofort gewusst, dass etwas nicht stimmte.

»Danke, dass du mir davon erzählt hast.«

Er rieb die Hände über seine Hose, wischte die letzten Krümel seines Sandwiches damit von den Handflächen ab und drückte sich anschließend von meinem Bett hoch. Seine Hand kam auf meinem Kopf zum Liegen und rieb mir über die kurzen Haare. »Ich wollte nur nicht, dass dir das Herz stehen bleibt, wenn du ihre Autos in der Einfahrt siehst. Ich weiß, dass du immer erst mal etwas Zeit brauchst, dich wieder umzugewöhnen, wenn das Haus etwas voller wird.«

Ich schob seine Hand beiseite. »Ich brauche Zeit, meinen Magen auf das viele Essen vorzubereiten, das Dad kochen wird.«

Er sah fragend zu mir hinunter. »Als wärst du das nicht jeden Tag deines Lebens. Cornflakes und Sandwiches und Pasta mit Pesto schmecken nicht für immer.«

»Sagst du«, scherzte ich. »Aber wenn die andere Wahl ist, zu hungern, schmecken Nudeln und Brot plötzlich einmalig, versprochen.«

»Du sagst das, als wäre der Kühlschrank nicht immer voll mit Essen, das du dir nur kochen müsstest.«

»Eben – ich müsste es kochen«, warf ich ein. »Tut mir leid, aber dafür reicht meine Geduld leider nicht aus.«

Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, überlegte es sich allerdings schnell anders. »Hast du heute noch was vor? Ansonsten habe ich mir nämlich endlich den dritten Teil von Life is Strange gekauft und bin bereit, mich emotional fertigmachen zu lassen.«

»Sorry, ich kann nicht.« Sosehr ich auch mit ihm Videospiele spielen wollte … »Ich hab noch eine Hausarbeit vor mir, die ich schon die ganzen Semesterferien aufschiebe, und Emilia wartet darauf, dass ich in der Eishalle auftauche und ihr erzähle, wie der Arzttermin gelaufen ist.«

»Was meinst du, wie sie reagieren wird, wenn sie erfährt, dass du weiter aussetzen musst?«, fragte Jean mich.

Mit Wut. Enttäuschung. Mitleid. Alles, was ich an ihrer Stelle auch empfinden würde. Kurz vor meinem Unfall hatten wir uns darüber unterhalten, was wir im nächsten Jahr erreichen wollten. Wir hatten mit Sponsoren gesprochen, die wir jetzt Woche um Woche vertrösten mussten. Wegen mir. Wegen … dem, was in mir wütete.

Mein Blick blieb an dem gerahmten Bild auf meinem Nachttisch hängen. Emilia und ich nach unserem allerersten Wettkampf, an dem wir als Team angetreten waren. Wir beide grinsten breit und schmiedeten innerlich bereits Pläne für unsere Zukunft, die an dem Tag so hell gestrahlt hatte.

Mittlerweile schien sie noch nie weiter entfernt gewesen zu sein. Ich schob den Gedanken beiseite. »Vermutlich genauso gut wie ich.«

Sein offener Gesichtsausdruck fiel in sich zusammen. Er nickte und nahm mir das leere Tablett kommentarlos aus der Hand.

Jean war die Art Person, die anderen immer zuerst helfen musste. Und wenn das keine Möglichkeit war, wurde er unruhig und nervös, weil er keine Ahnung hatte, was er tun konnte, um anderen ihre Last abzunehmen. Ich war mir nicht sicher, ob es für ihn ein Segen oder ein Fluch war. Manchmal kam es mir vor, als käme er zwischen all dem Helfen selbst oft zu kurz.

Ich stand auf. Ich hatte mir nicht mal die Mühe gemacht, meine Jacke auszuziehen – die ganze Zeit war mir überaus bewusst gewesen, dass die schwerste Aufgabe mit Emilia heute noch auf mich wartete.

Jean begleitete mich den Flur entlang zurück zum Eingangsbereich. Er blieb stehen, statt rechts in Richtung Küche abzubiegen, eine Hand in der Hosentasche, die andere das Tablett umfassend. »Viel Glück.«

»Danke.« Ich deutete auf das Tablett. »Auch für das Essen.«

Ich sah noch, wie er nickte. Eine langsame Bewegung, während er meinen Blick suchte. Aber statt ihn zu erwidern, tat ich, als hätte ich es nicht mitbekommen und machte das, was ich in letzter Zeit besonders gut konnte:

Ich lief weg.

3. KAPITEL

Aaron

Mein Nacken kribbelte, als ich den Supermarkt betrat. Es war, als könnte ich die Blicke der Leute wie Nadelstiche auf meiner Haut fühlen.

Es passierte nicht oft, aber hin und wieder kam es vor, dass Leute mich erkannten. Winnipeg hatte trotz seiner knapp siebenhundertfünzigtausend Einwohnenden mehr Kleinstadtcharakter als die meisten Kleinstädte selbst – oder vielleicht war das auch nur meine ganz eigene Wahrnehmung der Stadt.

Man ging in einen Supermarkt, und die Mutter eines Freunds rief quer durch den Laden »Hallo«. Oder ein Eiskunstlauf begeisterter Fan erkannte mich aus dem Video eines Interviews, Auftritts, Wettkampfs. Irgendetwas gab es immer.

Normalerweise genoss ich es. Die Aufmerksamkeit, die staunenden Blicke, das Rampenlicht, das jedes Mal ein wenig heller zu strahlen schien, wenn ich mit Emilia einen Preis gewann. Aber seit ein paar Monaten … seit diese furchtbare Panik in meinem Hinterkopf feststeckte, war es anders.

Wann immer jemand meinen Namen sagte, klang es für mich nach einem Fluch, der mich das Weite suchen ließ. Die Sorge, jemand könnte Fragen stellen, die ich selbst nicht zu beantworten wusste, war zu groß. Wann würde ich wieder auf dem Eis stehen? Wann würde ich mit Emilia wieder bei Wettkämpfen antreten?

Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht.

Ich lief die Gänge schnell ab, in Gedanken bereits vor der Eishalle. Ich musste mit Emilia reden, mit unserem Coach, konnte mir im Augenblick allerdings nichts Schlimmeres vorstellen, als ihnen Rede und Antwort stehen zu müssen. Machte mich das zu einem egoistischen Menschen? Ja. Offensichtlich. Nur konnte ich daran nichts ändern. Ich wünschte, ich hätte gewusst, wie.

Mit einer großen Tafel von Emilias Lieblingsschokolade im Gepäck fuhr ich zur Century Arena. Ich lenkte mich mit den Songs im Radio ab, die ich mittlerweile auswendig konnte. Draußen war es so kalt, dass die Fensterscheiben leicht beschlugen. Gleichzeitig schien die Sonne erbarmungslos durch das Seitenfenster in mein Gesicht und blendete mich, bis ich auf den Parkplatz der Eishalle fuhr.

Den Motor ausstellte.

Mich in den Sitz lehnte und wartete.

Worauf? Das wusste ich selbst nicht. Auf einen Anflug von Mut. Auf eine Eingebung, wie ich mit den Fragen, die in der Halle auf mich warteten, umgehen sollte.

Ich fuhr mir über meine Haare – über das, was von ihnen übrig geblieben war, nachdem ich sie kurz rasierte hatte. Die Bewegung beruhigte mich zumindest so weit, dass ich mich aus dem Auto kämpfte. Meine Beine trugen mich nur langsam vorwärts.

Ich sagte mir, dass es genug war. Es reichte aus, einen Schritt nach dem anderen zu tun, solange ich irgendwie vorwärtskam. Meine Frustration sagte etwas anderes, doch nach drei Monaten, die wir Hand in Hand verbracht hatten, wurde mir langsam bewusst, dass ich mich auf den kurzen Motivationsschub, den sie mir brachte, nicht verlassen konnte.

Im Eingangsbereich schlug mir der Geruch nach Bratfett, Schweiß und dem Bodenbelag entgegen und rief eine Erinnerung nach der anderen wach. Geglückte Hebefiguren und Sprünge. Emilias Lachen, das wie ein defekter Scheibenwischer klang, wenn wir unsere Choreografie ohne Fehler schafften. Dieses unverwechselbare Gefühl von Stolz und Ehrgeiz, das mich immer vorangetrieben hatte. Nur blieb es diesmal nicht dabei. Die positiven Gefühle zogen einen Schatten nach sich, der das letzte Mal während der Eisdisco über mich hinweggerollt war.

Von der Narbe an meinem Hinterkopf breiteten sich Phantomschmerzen in meinem gesamten Kopf aus. Ich sah mich selbst fallen und auf dem Eis liegen, als wäre dieser Unfall nicht mir passiert, obwohl sich jeder Muskel in meinem Körper nur zu gut daran zu erinnern schien.

»Aaron?«

Ich zuckte zusammen. Die Bilder verschwanden. Hinterließen kaum wahrnehmbare Spuren, bis sie das nächste Mal aus dem Nichts auftauchten.

Emilia stand vor mir, als hätten meine Gedanken sie heraufbeschworen. Zwischen ihren blonden Augenbrauen bildete sich eine Falte, die immer tiefer wurde, je länger sie mich ansah. So, wie sie mich betrachtete, hatte sie erwartet, dass ich mich vor ihrer Nase in Luft auflöste. Ich hatte einen ähnlichen Wunsch, aber nach mehreren Sekunden, in denen nichts passierte, war ich mir sicher, dass das Universum gerade zu abgelenkt war, um uns diesen Gefallen zu tun.

Ich setzte ein Lächeln auf. Wappnete mich. Wartete auf Anschuldigungen, weil ich kaum auf ihre Nachrichten reagierte und ihre Anrufe meistens klingeln ließ, bis sie aufgab. Nichts dergleichen kam. Stattdessen machte sie einen Schritt auf mich zu, breitete die Arme aus, als wollte sie sie um mich schließen und entschied sich im letzten Moment dagegen.

Dabei wünschte ich mir eine ihrer Luft abdrückenden Umarmungen. So sehr, dass es beinahe wehtat. Ich wollte es ihr sagen, aber … es ging nicht. Ich tat, als würde ich es nicht mitbekommen und verschränkte die Arme vor der Brust. Mein Herz stach schmerzhaft, als Emilia daraufhin ein gezwungenes Lächeln aufsetzte.

Wir kannten uns, seit wir klein waren. Als ich sieben oder acht war, ist ihre Familie nach Winnipeg gezogen. Sie war unserem Verein beigetreten und neben mir, Lucy und Sofia mittlerweile am längsten dabei. Emilia war eine meiner engsten Freundinnen. Wir verbrachten die meiste Zeit miteinander, stritten uns, trainierten zusammen, munterten uns auf, wenn wir fielen und feierten jeden Sieg zusammen. Dennoch verstummte ich bei ihrem Anblick.

»Bist du hier, um mir zu sagen, dass ich endlich nicht mehr allein trainieren muss?«, fragte sie hoffnungsvoll in die Stille. Sie war kaum einen Kopf kleiner als ich und musste sich nicht mal anstrengen, um mir in die Augen zu sehen. »Coach Roy ist schon in der Halle und drangsaliert die zwei Neuzugänge, die vor ein paar Tagen ihren Test für das Senior Level bestanden haben.«

Sie gab mir gar keine Chance, zu antworten, packte mich einfach an der Hand und zog mich hinter sich her. Ich fühlte mich wie eine Puppe ohne eigenen Willen – viel mehr noch, als wir die Halle betraten und die Kälte des Eises mir entgegenschlug.

»Em …« Ich war viel zu leise. Meine Stimme verschwand unter der Geräuschkulisse, die hier herrschte. Mein Herz hämmerte mir in der Brust. »Em«, versuchte ich es noch einmal. Drängender.

Sie sah über ihre Schulter zu mir. Ihre blonden Haare waren länger, als ich sie in Erinnerung hatte. »Coach Roy wird sich freuen, dich zu sehen. Himmel, ich freue mich wie ein kleines Kind. Das Training macht nur halb so viel Spaß, wenn ich niemanden habe, mit dem ich mich streiten kann.«

Sie tat es nicht absichtlich und trotzdem traf jedes ihrer Worte einen wunden Punkt in mir. Einen, der vor lauter schlechtem Gewissen jeden Tag ein bisschen unerträglicher und erstickender wurde.

Emilia führte mich den Gang entlang, als wäre ich hier nicht mein halbes Leben Tag für Tag durchgelaufen. Ich versteifte mich, je näher wir dem Eis kamen. Sieben Meter, sechs, fünf … In der Sekunde, in der ich aufsah und mein Blick auf die Bahn fiel, schaltete mein Körper auf Autopilot. Mein Herz dröhnte mir in den Ohren, und ich blieb so abrupt stehen, dass Emilias Griff von meiner Hand abrutschte. Sie ging ein paar Schritte weiter, bis sie bemerkte, dass ich ihr nicht länger folgte.

Aus den Augenwinkeln bekam ich mit, wie sie sich verwirrt zu mir umdrehte. Ich bemerkte, wie sie näher zu mir trat, meinen Namen sagte und mich etwas fragte. Was genau das war, nahm ich allerdings nicht wahr.

Ich fühlte mich wie hypnotisiert. Nicht vom Anblick des Eises, sondern von der puren, ungefilterten Panik, die daraufhin durch mich hindurchschoss. Sie kroch mir den Nacken hinunter und erfüllte meinen gesamten Körper auf eine Weise, die mich erstarren ließ.

»Aaron?«, drang ihre Stimme irgendwann zu mir durch. Emilia stand direkt vor mir, einen besorgten Ausdruck auf dem Gesicht. Ich wusste, dass sie ihn mir nicht zeigen wollte. Wie sie die Lippen aufeinanderpresste, um sich möglichst keine Regung anmerken zu lassen, machte das deutlich.

Aber ich kannte sie. Lange und gut genug, um jede Veränderung aus ihrem Gesicht lesen zu können. Und das Wissen, dass sie mir meine Panik anmerken musste, entfachte diese nur noch mehr.

»Ich kann noch nicht zurück zum Training kommen.«

Ich hörte kaum, wie die Worte meinen Mund verließen. Der einzige Hinweis, dass ich sie tatsächlich ausgesprochen hatte, war die Verwirrung, die sich auf Emilias Gesicht abzeichnete. Sie wurde abgelöst von Enttäuschung, von unendlich vielen Fragezeichen und dann von einer Resignation, die ich von ihr nicht kannte. Zwischen ihr und mir war es immer sie, die bis zum Ende an ihrem Optimismus festhielt.

»Dein Arzt hat dir immer noch nicht sein Okay gegeben?«, fragte sie. »Dein Sturz ist fast drei Monate her. Waren die Verletzungen doch schlimmer, als du uns erzählt hast? Sonst sollten sie doch längst verheilt sein, oder nicht?«

»Ich …« Die Worte blieben mir im Hals stecke. In ihrer Stimme schwang nicht ein Hauch von Misstrauen mit. Sie wusste, wie sehr ich es liebte, eiszulaufen. In ihrem Kopf bestand keine Möglichkeit, dass ich sie belügen könnte.

Du lügst deine Partnerin an, weshalb? Weil du Angst hast?

Ich beantwortete ihre Frage mit einem leichten Nicken. Lachte beinahe über mich selbst. Über die Tatsache, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich damit umgehen sollte – und die Schuld auf diese Weise einfach von mir schob.

»Ich hab immer noch Schmerzen in meinem Bein, wenn ich es zu lange ohne Pause belaste«, sagte ich. »Mein Arzt …« Ich räusperte mich. »Ich will nicht riskieren, dass es wieder schlimmer wird. Immerhin wartet eine Saison voller Goldmedaillen auf uns, oder?«

Es war nicht die ganze Wahrheit, aber auch keine aus der Luft gefischte Lüge. Hin und wieder fühlte ich einen Schmerz durch meinen Unterschenkel ziehen – ich war mir nur nicht sicher, ob es wirklich wehtat oder mein Kopf es mir vorspielte.

Emilia senkte den Blick. Sie sah mein Bein an, als wollte sie die einzelnen Muskelfasern darin mit reiner Willenskraft dazu überreden, wieder problemlos zu funktionieren. Bei dem Anblick wurde mir warm ums Herz – zumindest für drei Sekunden. Bis das Gefühl von diesen klebrigen, düsteren Gefühlen aufgefressen wurde.

Sie kräuselte die Nase, wischte die Enttäuschung aus ihrem Gesicht und nickte. »Skate Canada, kanadische Meisterschaften, Olympia.«

Ich stieß ein Lachen aus. Hoffentlich hörte sie nicht, wie verzweifelt es klang. »Nur kein Druck oder so.«

Sie knuffte mir leicht gegen den Oberarm und grinste. »Ich weiß, dass du das Eis rocken wirst, sobald du wieder drauf kannst«, erwiderte sie. »Ich habe mir nicht umsonst den besten Partner von allen ausgesucht.«

Meine Hände kribbelten, meine Beine waren angespannt. Alles in mir wollte weglaufen. Vor dem bedingungslosen Vertrauen, das Emilia und ich in den ganzen Jahren, die wir zusammen eisliefen, aufgebaut hatten. Vor ihrem Optimismus, von dem ich mir wünschte, dass er ansteckend war. Der mich aber stattdessen nur mit einem flauen Gefühl im Magen zurückließ.

Ich tat es nicht. Weglaufen, meine ich. Natürlich nicht – wie hätte ich es auch erklären sollen? Mein Körper war gefangen zwischen Taubheit und Alarmbereitschaft und pingte im Sekundentakt dazwischen hin und her. Es wunderte mich nicht mal, dass ich mich mit jeder Minute erschöpfter fühlte.

»Hat dein Arzt gesagt, wie lange es sich noch ziehen kann, bis du ohne Schmerzen wieder trainieren kannst?«

»So ein, zwei Wochen …« Ich verschluckte mich beinahe an der Aussage. Atmete langsam aus der Nase aus, weil – mein Gott, eine Woche? Es klang nach zu wenig Zeit, um mich vorzubereiten. Um herauszufinden, wie ich die Kontrolle über meinen Kopf und Körper wieder zurückbekam, wenn die Zügel mir im Augenblick nur immer weiter entglitten.

»Okay. Bis dahin werde ich es schon irgendwie ohne dich beim Training aushalten«, sagte Emilia. Ein fröhlicher Glanz hatte sich in ihre Augen geschlichen. »Außer Coach Roy lässt mich noch mehr Himmelspirouetten drehen. Dann kann ich für nichts garantieren.«

»Du weißt, dass du sie eigentlich magst.«

Emilia winkte ab. »Jaja.« Sie zuckte betont gleichgültig mit den Schultern. Dabei war mir nur zu deutlich bewusst, was es für sie bedeutete, so lange ohne Partner trainieren zu müssen.

Es war kein Schritt zurück – immerhin konnte sie sich auf sich selbst konzentrieren. Ihre Sprünge und Figuren weiter perfektionieren. Aber genauso wenig war es einer nach vorn. Und wenn überhaupt, war es das, was mich am meisten traf: Dass ich es war, der sie dabei aufhielt, nach den Sternen zu greifen. Obwohl ich nie mehr gewollt hatte, als mit ihr hoch zu fliegen.

»Du willst bestimmt mit Coach Roy reden, oder?«, holte sie mich aus meinen Gedanken zurück.

»Kein Gespräch, auf das ich mich sonderlich freue«, merkte ich trocken an.

»Ach komm, bisher hat er alles sehr gut aufgenommen. Er hatte nur einen winzig kleinen Nervenzusammenbruch, als ihm bewusst geworden ist, dass ich allein keine Hebefiguren üben kann.«

Ich lächelte, auch wenn es sich etwas gezwungen anfühlte. »Du könntest dir für die Zeit einen anderen Partner suchen.«

Emilias entspannter Gesichtsausdruck verschwand auf meine Aussage hin. Sie schob die Augenbrauen zusammen und presste die Lippen aufeinander. »Keine Chance. Du würdest das an meiner Stelle auch nicht tun.«

Ja. Ich wusste es. Und ich hörte auch die Worte, die sie nicht aussprach: Wirbeide.Zusammen. Ein Schwur, den wir uns nach unserem ersten Wettkampf gegeben hatten. Wir waren beide noch grün hinter den Ohren gewesen, nicht mal annähernd gut genug, um eine Trophäe mit nach Hause zu nehmen. Aber uns beiden war schon damals klar, dass dieses blinde Vertrauen, das wir von Anfang an ineinander hatten, besonders war. Und dass weder Emilia noch ich jemals darüber nachdenken wollten, wie es sein würde, nicht miteinander auf dem Eis zu stehen.

Nach dem Unfall hatte ich auch nicht darüber nachdenken wollen. Und trotzdem tat ich es die ganze Zeit. Ich hatte den Vorschlag in der egoistischen Hoffnung ausgesprochen, dass sie den Gedanken teilen und all meine Probleme lösen würde, indem sie sich einen neuen Partner suchte. Gleichzeitig war ich erleichtert, dass sie es nicht getan hatte.

Ich verstand mich selbst nicht.

»Kannst du Coach Roy sagen, dass ich in seinem Büro auf ihn warte?«, bat ich Emilia.

Sie hob beide Augenbrauen an. Sah zur Halle zurück, dann wieder zu mir. »Möchtest du nicht reingehen und allen Hallo sagen? Sofia ist auch da.«

»Sofia würde ihr Training nicht unterbrechen, um mir Hallo zu sagen«, gab ich zurück. Ich schickte ein schiefes Lächeln hinterher, für den Fall, dass meine Worte zu scharf klangen. Meine Ausrede zu einstudiert.

Für einen Moment sah es aus, als wollte Emilia widersprechen. Sie verstand nicht, dass ich nicht in die Eishalle gehen konnte – wie sollte sie auch? Ich wollte nicht, dass sie davon erfuhr, wie panisch mein Herz schlug, wenn ich an die Eisbahn dachte. Wenn mir die Kälte in den Sinn kam, die das letzte Mal, als ich dort mitten auf der Bahn gelegen hatte, bis in meine Knochen gekrochen war und jetzt zwischen meinen Rippen feststeckte.

Manchmal wünschte ich, ich könnte dorthin greifen und sie einfach aus mir herausziehen.

Was auch immer Emilia hatte sagen wollen: Sie behielt es für sich. Sie wippte auf den Füßen vor und zurück, und ich konnte genau sehen, dass ihr Worte auf der Zunge lagen, von denen sie sich nicht sicher war, ob sie sie aussprechen oder für sich behalten sollte.

Nach einigem Zögern seufzte sie leise und schien ihre Entscheidung getroffen zu haben. »Tust du mir einen Gefallen?«

Unruhig rieb ich meine Fingerkuppen übereinander. »Das kommt darauf an, um was du mich bittest.«

»Eine deiner Nieren«, sagte sie völlig ernst. Dann verdrehte sie die Augen und hob die Mundwinkel an. »Zumindest könnte es für dich auf das Gleiche hinauslaufen.«

Beruhigend.

»Antwortest du mir bitte ab und zu auf meine Nachrichten?«, fragte sie vorsichtig. »Ich weiß, gerade ist alles sehr anstrengend. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es mir an deiner Stelle gehen würde, so lange das Training aussetzen zu müssen. Aber du und ich – wir sind ein Team. Und du kannst immer auf mich zählen, wenn du etwas brauchst.«

Gegen all die möglichen Dinge, die mir gerade durch den Kopf geschossen waren, fühlte sich »auf Nachrichten antworten« sehr machbar an. Ich nickte. Wenigstens das war ich ihr schuldig. »Tut mir leid, dass ich die letzten Wochen nicht sehr gesprächig war.«

Emilia zuckte mit den Schultern. »Ich muss mich einfach daran gewöhnen, jetzt die Rolle der Quasselstrippe einzunehmen. Vielleicht lernst du dann endlich mal, richtig zuzuhören.«

»Haha.«

»Na gut«, wechselte sie das Thema. »Dann schick ich dir Coach Roy gleich hinterher, ja?«

»Danke.«

Ich wollte mich abwenden, als sie mich noch einmal aufhielt. »Und Aaron?«

»Ja?«

»Keine Sorge. Egal, wie lange du fehlst, wir kriegen das hin«, versuchte sie mich aufzumuntern. Vielleicht auch sich selbst. »Und grüß Jean von mir.«

Sie verabschiedete sich mit einer Umarmung von mir. Fast hätte ich sie nicht losgelassen – das Gefühl war so vertraut, der Geruch ihres Shampoos so beruhigend, dass meine Nerven für einen kurzen Augenblick aufhörten, ununterbrochen zu summen.

Ein Stechen fuhr durch meinen Brustkorb, als sie mich wieder losließ und in die Halle ging.

Ich rieb mir durch mein Sweatshirt über die Brust. Als könnte ich das Ziehen auf diese Weise lindern.

Konnte ich natürlich nicht. Es verfolgte mich den gesamten Weg bis in Coach Roys Büro.

Es war nur ein kleiner quadratischer Raum. In der Mitte fand ein breiter Schreibtisch Platz, davor zwei Stühle, die so unbequem waren, wie sie aussahen. Die Wand links von mir war übersät mit Auszeichnungen, die Coach Roy während seiner Zeit als aktiver Eiskunstläufer erhalten hatte.

Nur wenige Minuten vergingen, bis die Tür mit einem Quietschen aufging. Aus Gewohnheit wollte ich sofort aufstehen, aber Coach Roys Stimme hielt mich davon ab.

»Bleib sitzen«, beruhigte er mich. Er schloss die Tür hinter sich und umrundete seinen Schreibtisch mit langen Schritten, um sich mir gegenüber hinzusetzen. Hundertmal hatte ich in diesem Stuhl gesessen – nie hatte es sich so qualvoll angefühlt wie heute.

Ich versuchte mich abzulenken, während er die Arme auf dem Tisch ablegte und die Hände vor sich verschränkte. Angestrengt starrte ich auf die Urkunden, Trophäen und Medaillen an den Wänden. Jede Woche polierte Coach Roy sie voller Stolz. Ich war mir nicht sicher, ob es mich beruhigte, zu sehen, dass sich das nicht geändert hatte – oder ob es mich nervöser machte, weil jeder Winkel in diesem Raum normal schien, obwohl ich mich alles andere als das fühlte.

»Emilia hat erzählt, dass du noch nicht zurück zum Training kommen kannst?« Er sah an mir hinunter, als könnte er meine Verletzungen unter der Kleidung erspähen und auf diese Weise herausfinden, was noch nicht verheilt war.

Unwillkürlich fing ich an, mit dem Daumen an der Haut um den Nagel meines Zeigefingers herum zu kratzen. Als es mir auffiel, ballte ich meine Hände zu Fäusten. »Ja, noch … noch nicht.«

»Und ab wann wirst du wieder trainieren können?«