When We Hope - Anne Pätzold - E-Book

When We Hope E-Book

Anne Pätzold

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Beschreibung

Was, wenn wir doch zu hoffen wagen?

Jae-yong ist ein Mitglied der erfolgreichsten K-Pop-Gruppe der Welt, Ella eine ganz normale Studentin aus Chicago. Eigentlich hätte den beiden klar sein müssen, dass eine Beziehung zwischen ihnen unmöglich ist. Nicht nur trennen sie Tausende von Kilometern und mehrere Zeitzonen, auch die Welten, in denen sie leben, sind grundverschieden. Und egal, wie nahe sich Ella und Jae-yong in den letzten Monaten gekommen sind - sie müssen sich nun fragen, ob ihre Liebe stark genug ist, allen Widerständen zu trotzen ...

"Wunderschön und herzzerreißend, gleichermaßen ernst und lustig. When We Fall hat mich weinen lassen - weil es so perfekt war und weil mein Herz mit den Charakteren gelitten hat." Lilagedanken_

Die LOVE-NXT-Reihe von Anne Pätzold:

1. When We Dream
2. When We Fall
3. When We Hope

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Seitenzahl: 434

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Anne Pätzold bei LYX

Impressum

ANNE PÄTZOLD

When We Hope

Roman

Zu diesem Buch

Ellas Welt bricht in sich zusammen, als ihre Schwester Mel einen Schwächeanfall erleidet und mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus muss. Nicht nur macht Ella sich schreckliche Vorwürfe – schließlich ist es ihre Schuld, dass Mel in den vergangenen Wochen so viel um die Ohren hatte –, sondern sie fühlt sich auch so allein wie nie zuvor. Jae-yong reagiert nicht auf ihre Nachrichten und Anrufe, dabei wünscht sich Ella nichts mehr, als seine Stimme zu hören, die ihr sagt, dass alles wieder gut werden wird. Was Ella nicht ahnt: Während sie im Krankenhaus um ihre Schwester bangt, steht Jae-yong gemeinsam mit seinen Bandmitgliedern vor der größten Entscheidung in der Geschichte von NXT: Sollen sie den Beschluss ihres Managements hinnehmen und darauf verzichten, eigene Ideen und Konzepte in ihre Musik einzubringen – oder sollen sie sich trennen? Egal, wie nahe sich Ella und Jae-yong in den letzten Monaten gekommen sind, ihnen wird erst jetzt so richtig bewusst, wie schwierig es ist, füreinander da zu sein, wenn Tausende Kilometer und mehrere Zeitzonen sie trennen und die Welten, in denen sie leben, so unterschiedlich sind. Doch Ella will nicht aufgeben zu hoffen – dass ihre Liebe stark genug ist, allen Wider-ständen zu trotzen, und dass es für sie und Jae-yong doch ein Happy End geben kann …

Für jeden, der mich bis hierhin begleitet hat.

Danke. Von Herzen.

1. KAPITEL

Nach einer Nacht im Krankenhaus fühlte ich mich, als hätte ich wochenlang nicht geschlafen. Ich schleppte mich hinter Mel die Treppe hoch und beobachtete, wie sie vorsichtig jede Stufe nahm – ohne das Selbstbewusstsein, das sonst immer in ihren Schritten lag. Mit ihrer Tasche über meiner Schulter blieb ich ein paar Stufen unter ihr. Die Angst, sie könnte noch einmal ohnmächtig werden, kratzte an meinen Nerven.

Wir sagten beide nichts. Seit Mel heute Morgen im Krankenhausbett aufgewacht war, hatten wir kaum miteinander geredet. Das war auch nicht nötig gewesen. Ich hatte die Nacht an ihrem Bett verbracht und höchstens zwischendurch für ein paar Minuten die Augen zugemacht. Viel zu laut waren die Geräusche in der Notaufnahme, viel zu groß die Sorge, die ich um meine große Schwester hatte. Auch die Visite der Ärztin hatte mich nur oberflächlich beruhigen können. Auf dem Papier sahen Mels Werte gut genug aus, um sie entlassen zu können. Nur halfen mir diese Werte nicht, zu verstehen, was in ihrem Kopf vorging. Wenn es nur halb so viele Dinge waren wie in meinem, wunderte mich ihre Schweigsamkeit nicht. Aber all das behielt ich für mich. Nachdem Josh aufgetaucht war, um uns vor der Arbeit abzuholen und zu Hause abzusetzen, hatte er ohnehin den Sprechpart übernommen.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis wir auf unserer Etage standen. Mel wirkte noch erschöpfter als zuvor, und ich beeilte mich, die Wohnungstür aufzuschließen. Ich hielt sie ihr auf und ließ Mels Tasche und meinen Rucksack im Flur auf den Boden fallen, als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Mel schleppte sich ins Wohnzimmer und setzte sich sofort auf die Ecke der Couch. Überall auf dem Boden war noch das Konfetti von gestern verteilt. Geschenkpapier lag neben dem Couchtisch, als wären seit dem Auspacken nur ein paar Minuten vergangen. Ein leises Klirren, das in der Küche erklang, lenkte mich ab. Liv.

»Möchtest du was trinken?«, fragte ich Mel. Meine Stimme war ganz rau von den Tausenden Emotionen, die mich seit gestern Abend erfüllten. Mel nickte stumm, und ich machte mich auf den Weg in die Küche. Meine kleine Schwester hockte neben dem Tisch, wo die Scherben noch immer den Boden bedeckten. Sie hatte uns anscheinend gar nicht reinkommen hören. Um sie nicht zu erschrecken, machte ich mich mit einem leisen Klopfen an den Türrahmen bemerkbar. Liv zuckte trotzdem zusammen und drehte sich zu mir um.

Ihre Augen waren so groß und ängstlich, dass mir mein Herz wehtat. Strähnen fielen aus ihrem Pferdeschwanz, und sie war so blass, dass ich mich fragte, ob sie diese Nacht überhaupt ein Auge hatte zumachen können.

Mein Blick glitt an ihr vorbei zum Boden. Eine Gänsehaut überkam mich, als ich getrocknete kleine Blutflecken zwischen den Scherben sah. Kein Wunder, dass Liv so blass war.

»Da seid ihr ja«, sagte Liv. Ich hörte die unausgesprochene Frage zwischen ihren Worten: Geht es Mel gut?

Ich zwang ein winziges Lächeln auf meine Lippen, das sie beruhigen sollte – auch wenn sich in mir drin alles dagegen sträubte. »Die Ärztin hat gesagt, es ist so weit alles in Ordnung. Mel soll sich eine Weile ausruhen, aber bis auf die leichte Gehirnerschütterung und die Schnitte an ihrer Hand ist alles gut.«

Liv nickte mehrmals, als bräuchte sie einen Augenblick, um die Infos zu verarbeiten. Dann stieß sie zittrig den Atem aus. »Ich bin eben erst von Charlie nach Hause gekommen«, erklärte sie. »Und hab das hier gesehen, als ich mir etwas zu essen machen wollte. Ich hatte vor, es aufzuräumen, bevor ihr kommt, aber …« Sie stockte und wurde noch ein bisschen blasser.

Ich ging zu ihr, hockte mich ebenfalls auf den Boden und nahm sie in die Arme. Liv fühlte sich viel kleiner an als sonst. Kleiner und verletzlicher – ich hatte das Bedürfnis, sie vor dem Rest der Welt zu beschützen. Beruhigend strich ich in Kreisen über ihren Rücken und spürte, wie sie sich in meinen Armen ein klein wenig entspannte. Ein paar Minuten vergingen auf diese Weise schweigend.

»Ich übernehme das Aufräumen«, sagte ich, und Liv löste sich von mir, die Augen leicht gerötet, als hätten gerade noch Tränen darin gestanden. »Bringst du Mel dafür ein Glas Wasser? Ich hab ihr schon vor zehn Minuten gesagt, dass ich was zu trinken aus der Küche hole. Nicht, dass sie uns am Ende noch verdurstet.«

Liv schniefte und grinste bei meinem schlechten Scherz schief. Sie zögerte einen Augenblick, aber ich sah die Erleichterung in ihren Augen, dass sie sich um die zerbrochenen Teller nicht kümmern musste. »Danke, Ella.«

Ich strich ihr die wirren Haare aus dem Gesicht, bevor sie aufstand, und wartete, bis sie mit einem Glas Wasser im Wohnzimmer verschwunden war, ehe ich mich dem Chaos auf dem Boden zuwandte.

Die ganze Nacht über hatte ich mich zusammengerissen. Ich hatte an Mels Bett gewartet, bis sie aufgewacht war, hatte alle Gedanken weit, weit nach hinten geschoben, die mich sonst lähmen würden. Aber jetzt, mit Liv und Mel außer Sichtweite und einem kurzen Moment Ruhe, jagte die Angst durch meinen Körper. Meine zittrigen Hände bekamen die Scherben kaum zu greifen. Ich warf sie in den Müll und fegte die kleinen Splitter zusammen. Nachdem ich auch die entsorgt hatte, sah ich mich in der Küche um, in der mehr als genug zu tun war. Aber statt mich darum zu kümmern, stand ich stumm in der Mitte des Raumes, meinen Blick zu Boden gerichtet.

Mel hätte nur ungünstiger fallen, anders auf den Scherben aufkommen müssen, und ich hätte noch einen Menschen in meinem Leben verloren, der mir alles bedeutete. Ich wollte keinen »Was wäre, wenn«-Szenarien nachhängen, aber der Anblick meiner großen Schwester, die am Boden lag … Es schnürte mir die Brust zu, als sich das Bild für einen kurzen Augenblick über meine Realität schob.

Ich wollte mich nur in mein Bett verkriechen, die Zeit zurückdrehen, aus der Wohnung fliehen – irgendwas tun, das mich aus dieser Schockstarre befreite, in der ich mich seit gestern Abend befand. Leider war das keine Option. Nicht, während Liv mit Mel, die jederzeit wieder zusammenbrechen könnte, allein war. Ich hörte sie leise reden, verstand aber kein Wort. Musste ich auch gar nicht, um zu bemerken, wie erschöpft Mel klang. Wie zittrig, als könnte sie selbst kaum glauben, was passiert war.

Mir ging es genauso. Mel war mein Fels. Mein sicherer Hafen. Wenn ich nicht weiterwusste, wandte ich mich an sie, weil ich darauf vertraute, dass sie mir helfen konnte. Aber als hätte sich durch diesen Unfall plötzlich etwas verschoben, hatte ich das Gefühl, in diesem Augenblick dafür verantwortlich zu sein, einen ruhigen Kopf zu bewahren. Ich hätte gelacht, wenn ich die Kraft dazu gehabt hätte. Als wäre ich je in der Lage gewesen, einen ruhigen Kopf zu bewahren.

Ein Seufzen entkam mir, so tief und lang, als hätte es schon seit Jahren in meinem Brustkorb gesteckt. Alles ist gut, Ella.

Mit dem Gedanken verließ ich die Küche und trat ins Wohnzimmer. Mel und Liv auf der Couch steckten unter einer Wolldecke, die für die Jahreszeit viel zu dick war. Mel war weit nach unten gerutscht und hatte die Augen geschlossen, während Liv ein bisschen steifer als gewöhnlich neben ihr saß und aus dem Fenster schaute.

Ich legte meine Hand auf Livs Schulter, spürte, wie sie zusammenzuckte. Sie warf mir einen fragenden Blick über die Schulter zu.

»Hast du Hunger? Soll ich uns etwas zu essen machen?«, flüsterte ich.

Liv zögerte einen Moment, ehe sie nickte. »Können wir Spaghetti mit Tomatensoße essen? So wie Mel sie manchmal macht?«

»Natürlich«, sagte ich. »Willst du mir helfen?«

Ihr Blick zuckte zu Mel, die neben ihr ruhig und tief atmete. Sie war innerhalb von Minuten eingeschlafen. »Ist es okay, wenn ich bei Mel bleibe? Ich …« Sie räusperte sich leise. »Ich will sie nicht allein lassen.«

Ich auch nicht, Liv. »Keine Sorge. Spaghetti schaffe ich auch allein.« Ich schenkte ihr ein kleines Lächeln und ging zurück in die Küche. Nachdem ich einen Topf mit Wasser aufgesetzt hatte, versuchte ich mich an der Tomatensoße. Für das Essen brauchte ich keine halbe Stunde, aber ich war insgeheim froh um die Ablenkung. Sie half mir, das schlechte Gewissen zu verdrängen, das mich seit gestern Abend immer wieder in Schüben überkam.

Als die Nudeln fertig waren, trug ich den Topf und eine Unterlage zum Couchtisch. Liv sprang auf, half mir Teller, Besteck und die Soße zu holen. Nachdem wir alles ins Wohnzimmer gebracht hatten, setzten wir uns links und rechts von Mel auf die Couch. Sanft drückte ich ihren Arm, um sie aufzuwecken.

Sie blinzelte träge, verzog das Gesicht, als hätte sie Schmerzen, und setzte sich dann auf. »Ihr habt Essen gemacht?« Sie sah von Liv zu mir und wieder zurück. »Ihr hättet mich wecken sollen. Ich hätte euch geholfen.«

Mein Blick war fest auf das Essen vor uns gerichtet. Ich brachte es nicht über mich, meine große Schwester anzusehen. »Schon gut. Die Ärztin sagte, du sollst dich ausruhen.«

»Wir brauchen eine Kelle …« Der Verband an Mels Hand sprang mir in die Augen, als sie die Decke von sich schob und Anstalten machte aufzustehen, als hätte sie meine Worte gar nicht gehört.

»Ich hol sie«, sagte ich lauter als gewollt, drückte mich von der Couch hoch und eilte in die Küche. Mein Herz hämmerte so stark in meiner Brust, dass ich mich nur schwer zwingen konnte, mich zu beruhigen. Ich fuhr mir mit einer Hand durchs Haar, ehe ich sie auf meinen Brustkorb presste. Der Druck half mir, mich auf meinen Atem zu konzentrieren, als die Vorwürfe mir durch den Kopf donnerten.

Es geht ihr gut, Ella. Es ist nicht deine Schuld.

Ich wiederholte die Worte in Gedanken wie ein Mantra. Wie jedes Mal seit dem letzten Abend, wenn mich negative Gefühle zu überrennen drohten. Ich sagte sie mir leise, wenn ich daran dachte, wie die Reporter ihr mehr Stress gemacht hatten, als sie ohnehin schon hatte. Wenn mir in den Sinn kam, was meine Beziehung mit Jae-yong ihr für Sorgen bereiten musste. Wenn der Gedanke an den Kunstkurs die Schuldgefühle in mir hochkommen ließ, sodass ich die Entscheidung sofort wieder rückgängig gemacht hätte, wenn ich damit die letzten vierundzwanzig Stunden ungeschehen machen könnte.

Ich brauchte mehrere Minuten, bis mein Herz wieder in einem normalen Takt schlug. Dann schnappte ich mir die Kelle und ging zurück ins Wohnzimmer. Niemand fragte, warum ich so lange gebraucht hatte – wir waren anscheinend alle viel zu sehr in unseren eigenen Köpfen gefangen. Mel tat sich ihr Essen auf, dann Liv und schließlich ich. Die ganze Zeit über herrschte dieses beklemmende Schweigen. Eins von der Sorte, das so viele unausgesprochenen Worte in sich liegen hatte, dass es mich über kurz oder lang nervös machte. Der Fernseher blieb aus, und so war das einzige Geräusch das Kratzen der Gabeln und Löffel auf unseren Tellern, was die Stille nur hervorhob.

»Mrs Elliot war hier, bevor ihr gekommen seid«, durchbrach Liv da unser Schweigen. Ich hätte ihr nicht dankbarer sein können. »Sie hat gesagt, sie hat ein Geschenk für dich zum Geburtstag, Mel. Aber sie will es dir lieber persönlich geben.«

Mel runzelte die Stirn. »Ich kann mich nicht erinnern von Mrs Elliot schon mal ein Geschenk bekommen zu haben.«

»Vielleicht schenkt sie uns ihre Katze«, sagte Liv. Ich konnte hören, dass sie sich um einen lockeren Tonfall bemühte, und hatte das starke Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen, wie großartig sie war.

»Du möchtest nicht, dass Petra bei uns wohnt. Sie würde alle Poster an deiner Wand zerkratzen, die sie erreichen kann«, gab ich zu bedenken.

Liv stockte einen Moment, in dem sie meine Worte blinzelnd verarbeitete. »Ich hoffe, es wird nicht Petra.«

Wir lachten – ein wenig zu leise, ein wenig zu vorsichtig, als für uns normal war. Aber es sorgte dafür, dass ich mich etwas entspannte und die Gedanken, die mich umtrieben, zu einem Hintergrundgeräusch in meinem Kopf wurden.

Die nächste Stunde verging mit kurzen Gesprächen und zu viel Essen. Ich hatte anfangs gar nicht gemerkt, wie hungrig ich war. Das Einzige, was ich seit gestern Abend gegessen hatte, war ein Nussriegel gewesen, den ich mir irgendwann an einem Snackautomaten im Krankenhaus geholt hatte. Mein Hunger war seitdem vollständig in den Hintergrund gerückt.

Als die Töpfe mit den Nudeln und der Soße leer waren, brachte ich alles zurück in die Küche und stellte es neben die Spüle. Um den Abwasch würde ich mich später kümmern – wenn ich mich heute überhaupt noch dazu aufraffen konnte.

Mel war gerade dabei aufzustehen, als ich wieder ins Wohnzimmer trat. »Ich leg mich ein bisschen hin. Sagt Bescheid, wenn ihr etwas braucht, in Ordnung?«

Liv und ich nickten, sahen Mel hinterher, bis sie ihre Zimmertür hinter sich schloss. Mit dem leisen Klicken schien auch das letzte Adrenalin aus meinem Körper zu verschwinden, das mich bisher noch aufrecht gehalten hatte.

Ich ließ mich auf die Couch neben Liv fallen, legte meinen Kopf auf der Rückenlehne ab und schloss die Augen für einen Moment. Etwas ließ sie mich kurz darauf wieder öffnen und zu Liv gucken. Ein Kloß machte sich in meinem Hals breit.

Sie hatte den Blick auf ihren Schoß gesenkt und bemühte sich sehr, die Tränen zurückzuhalten. Ihre Arme hatte sie vor der Brust verschränkt, als wollte sie unbedingt stark bleiben. Trotzdem sah ich eine Träne über ihre Wange kullern und rutschte sofort über die Couch zu ihr, um sie in die Arme zu nehmen.

»Alles ist gut«, sagte ich und strich ihr über den Rücken. Die Worte hätten es beinahe nicht aus meinem Mund geschafft, sosehr ich sie auch glauben wollte.

Ein Schniefen war Livs Antwort. »Meinst du … Meinst du, das wäre auch passiert, wenn wir die Geburtstagsparty nicht geplant hätten?«

Es dauerte ein paar Momente, bis ich wirklich verstand, was sie gesagt hatte. Ich schloss meine Arme fester um sie, hoffte, dass sie hörte, wie ehrlich ich es meinte. »Liv, es ist nicht deine Schuld, hörst du?«

Und deine auch nicht, Ella.

Meine kleine Schwester sah zögerlich auf. Sie runzelte die Stirn und wirkte, als machte sie sich mindestens genauso viele Vorwürfe wie ich mir. »Sie war den ganzen Tag mit Josh unterwegs gewesen. Vielleicht … wenn sie nicht noch mit uns gefeiert, sondern sich ausgeruht hätte …«

»Liv«, unterbrach ich sie. »Sie ist nicht umgefallen, weil sie mit uns gefeiert hat, sondern weil sie seit Monaten viel zu viel arbeitet und sich nie eine Pause gönnt.« Ich wusste nicht, wen ich davon zu überzeugen versuchte – sie oder mich. »Wenn es nicht bei der Geburtstagsfeier gestern passiert wäre, dann vielleicht bei einem ihrer Dates mit Josh oder auf der Arbeit.«

Liv schien mir nicht sofort zu glauben. Ich sah regelrecht, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Verübeln konnte ich es ihr allerdings nicht, vor allem da es mich selbst so viel Kraft kostete, diese Gedanken beiseitezuschieben.

Eine Weile saßen wir stumm nebeneinander. Meine Hand kreiste im immer gleichen Rhythmus über ihren Rücken. Schließlich richtete Liv sich auf. Sie strich sich ihre Locken fahrig aus dem Gesicht und wischte die Tränen von ihren Wangen. »Wir sollten das Chaos von gestern aufräumen, oder?«

Ich nickte nur und drückte mich von der Couch hoch. Ablenkung. Ablenkung war gut.

2. KAPITEL

Das Konfetti einzusammeln dauerte nicht so lange, wie ich erwartet hatte. Als ich später in mein Zimmer ging und die Tür hinter mir schloss, war es gerade mal früher Nachmittag – aber die Müdigkeit hatte sich mittlerweile bis in meine Knochen gefressen.

Ich stellte meinen Rucksack neben dem Schreibtisch ab und ließ mich mit einem Seufzen aufs Bett fallen. Mein Blick hing an der Decke, und ich sog die Ruhe in mich ein. Es war wie die Stille, direkt nachdem ein großer Sturm vorbeigezogen war. Immer noch aufgeladen, aber mit dem Wissen, dass ich mich jetzt für einen winzigen Moment entspannen konnte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als die Augen zuzumachen und den Schlaf der letzten Nacht nachzuholen. Aber wie mir das Summen, das noch durch meinen Körper zog, sagte, würde es ein aussichtsloser Kampf werden. Vielleicht hätte mir ein kleiner Spaziergang gutgetan. Wenn ich mich nur nicht so ausgelaugt fühlen würde. Im Augenblick bestand ich aus zwei Polen, die sich voneinander abstießen.

Mein Blick wanderte durch mein Zimmer, bis er an meinem Rucksack hängen blieb. Ich hatte seit gestern Abend nicht mehr auf mein Handy geschaut. Nachdem ich versucht hatte, Jae-yong zu erreichen, und von ihm keine Antwort gekommen war, hatte sich unter die Verzweiflung, Mel in diesem Krankenhausbett zu sehen, Enttäuschung gemischt. Ich wusste rein rational, dass er auch gerade einiges durchmachte und es nicht leicht war, immer füreinander da zu sein. Trotzdem war es gestern für mich unmöglich gewesen, vernünftig zu denken. Meine Gefühle hatten das Steuer übernommen und alle gleichzeitig einen Alarm ausgelöst, der jetzt langsam wieder abklang, mich aber so erschöpft hatte, dass selbst ein Blick aufs Handy zu viel Anstrengung gekostet hätte.

In meiner Position auf dem Bett verharrend, überredete ich meinen Körper, sich aufzurichten und meinen Rucksack ans Bett zu holen. Ich kramte darin, bis ich mein Handy zu greifen bekam, und zog es unter meinem Skizzenblock und der Federmappe, die ich nie auspackte, hervor. Als ich versuchte, es zu entsperren, wurde ich von einem dunklen Display begrüßt. Frustriert stöhnte ich auf. Natürlich hatte der Akku aufgegeben.

Ich steckte es an das Ladekabel und wartete einige Sekunden, bis der Bildschirm ansprang. Unzählige Nachrichten von Jae-yong und Erin erschienen in der Benachrichtigungsleiste. Sie hatten mir beide geschrieben und mehrmals versucht anzurufen. Ich tippte zuerst auf Jae-yongs und meinen Chat.

Jae-yong: Ella? Ist alles in Ordnung?

Jae-yong: Ich hab versucht, dich anzurufen, aber es geht nur die Mailbox ran.

Jae-yong: Ich mach mir Sorgen.

Jae-yong: Bitte ruf mich zurück, wenn du meine Nachrichten liest.

Ich spürte einen Stich, wo das schlechte Gewissen in meinem Brustkorb saß. Wäre ich an seiner Stelle gewesen und hätte ihn stundenlang nicht erreicht, wäre ich vermutlich durchgedreht. Und nicht nur das … Ich erstarrte, als ich mich an das Gespräch erinnerte, das bei ihm gestern angestanden hatte. In meinem Kopf war alles andere nach hinten gerutscht in meiner eigenen Überforderung.

Ich öffnete meine Kontakte, wollte Jae-yong anrufen, um ihm von allem zu erzählen. Bevor ich überhaupt seine Nummer wählen konnte, erschien Erins Name auf meinem Display. Ich nahm ihren Anruf sofort an.

»Es wird auch Zeit!«, schrie mir meine beste Freundin ins Ohr. »Weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Ich seh deinen Anruf auf meinem Handy, aber du reagierst weder auf meine Nachrichten noch auf sonst irgendwas. Ich hab Liv gestern anrufen müssen. Liv!« Sie atmete tief aus, nachdem sie die Flut ihrer Gedanken ausgespuckt hatte. »Geht es dir gut? Ist Mel wieder zu Hause?«

Ich zog meine Bettdecke unter mir hervor und legte sie mir um die Schultern. Nur an den gestrigen Abend zurückzudenken sorgte dafür, dass mir kalt wurde. »Was hat Liv dir erzählt?«

»Dass Mel im Krankenhaus ist und du bei ihr bist«, erklärte Erin. »Aber sie war selber so fertig, dass ich sie nicht weiter ausfragen wollte.«

»Ja, sie hat bei einer Freundin übernachtet, und ich habe mein Lager an Mels Krankenbett aufgeschlagen.« Ich spürte die Nacht, die ich auf dem Besucherstuhl verbracht hatte, in meinen Muskeln. Mein Nacken war so verspannt, dass die Schmerzen bis in meinen Kopf zogen. »Wir hatten doch gestern für Mel die Geburtstagsfeier organisiert. Mel wollte unbedingt die Teller in die Küche bringen, und kurz darauf haben wir ein lautes Scheppern gehört.« Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht, als könnte ich so die Panik beiseitewischen, die mich mit der Erinnerung überkam.

»Haben die Ärzte gesagt, warum sie einfach umgefallen sein könnte?«

»Sie ist völlig überarbeitet«, sagte ich. Meine Stimme hörte sich tonlos an, wie die eines Roboters. Dabei tobten die Gefühle in mir noch immer ohne jeglichen Halt. Nach meinem kleinen Zusammenbruch im Treppenhaus des Krankenhauses hatte ich diese lähmende Angst in einen hinteren Winkel meines Kopfes verbannt. Ich hatte funktionieren, für Liv stark sein wollen. Aber die Angst wegzuschieben half nicht. Sie war trotzdem da. Ich spürte sie in der Gänsehaut, die hin und wieder meine Arme überzog.

»Ich hab keine Ahnung, wann sie das letzte Mal einen richtigen Urlaub hatte, in dem sie sich wirklich ausgeruht hat. Wenn sie nicht arbeitet, stehen meinetwegen eine Horde Reporter vor der Tür. Und wenn es das nicht ist, muss sie ihre Zeit zwischen Josh, Liv und mir aufteilen.«

Erin schwieg einen Moment. Ihre Stimme war sanft, beinahe zurückhaltend, als sie wieder sprach. »Es ist nur ein Gefühl, also korrigier mich, wenn ich falschliege … aber du klingst so wütend. Kann es sein, dass da noch mehr dahintersteckt, außer dass Mel sich keine Pausen gönnt?«

Manchmal war es gruselig, wie gut Erin mich kannte. Als hätte sie einen sechsten Sinn dafür, wenn bei mir etwas nicht stimmte.

»Es war so offensichtlich, dass es Mel nicht gut ging«, begann ich und musste mir einen Ruck geben, mich beinahe dazu zwingen, auszusprechen, was mir durch den Kopf ging. »Aber ich war so beschäftigt mit mir selbst, mit Jae-yong, mit allem anderen, dass ich es bis gestern einfach immer weggeschoben habe.«

»Ella … du weißt, dass das nicht deine Schuld ist, oder?«

Ich schwieg.

»Ella«, sagte sie, ernster diesmal. »Du bist nicht für Mel verantwortlich. Sie ist alt genug, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Es ist nicht deine Aufgabe, ihr das abzunehmen.«

»Ich weiß das«, erwiderte ich. Genau das hatte ich vorhin auch Liv erklärt. »Aber …« Ich stockte, frustriert darüber, wie schwer es mir fiel, auszusprechen, was mich beschäftigte. »Ich wünsch mir so sehr, dass Mel und Liv glücklich sind. Und wenn ich daran denke, dass es bei Mel vielleicht nicht so ist, weil sie denkt, sie müsste wegen uns so viel arbeiten …«

»Sag mal«, unterbrach mich Erin mitten im Satz. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass Mel nicht wegen euch so viel arbeitet?«

Ich stockte. »Was meinst du?«

»Ich weiß, dass Mel viel für euch tut. Und ich will auch gar nicht ausschließen, dass das teilweise mit reinspielt. Aber du hast mir auch mal erzählt, dass sie damals wegen dieses Jobs ganz allein nach Chicago gezogen ist. Und ich habe gedacht: Vielleicht arbeitet sie ja so viel, weil es ihr Spaß macht. Weil der Job ihr so viel gibt und sie liebt, was sie tut.«

Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Über einen anderen Grund hatte ich nie nachgedacht, weil es mir immer logisch erschien, dass es ohne Liv und mich nicht so wäre.

»Aber sie ist immer so erschöpft, wenn sie nach Hause kommt. Sie beschwert sich über die Arbeit, über zu viele Aufgaben und zu wenig Zeit. Das klingt für mich nicht, als würde es ihr Spaß machen.«

»Du beschwerst dich doch auch ab und an über deine Schwestern, oder? Liebst du sie deswegen weniger?«

»Natürlich nicht«, antwortete ich sofort und wusste mit einem Mal, worauf sie hinauswollte. Ich lachte leise. »Manchmal bist du viel zu schlau für mich, Erin.«

Ihr breites Grinsen sah ich beinahe vor mir. »Ich gebe mir Mühe.«

Ich rutschte auf meinem Bett nach hinten und lehnte mich an den Kopfteil, um es mir bequemer zu machen. »Übrigens wusste ich gar nicht, dass du Livs Nummer hast.«

»Wir haben sie ausgetauscht, kurz bevor ich nach Australien geflogen bin. Sie wollte, dass ich ihr unbedingt Fotos schicke, wenn ich Kängurus oder Wombats sehe. Ich glaube, sie hat dir nicht vertraut, dass du sie ihr weiterleitest.«

»Das Misstrauen ist stark in ihr.«

»Hast du Star Wars gerade falsch zitiert?«

»… eventuell.«

Erin lachte laut auf, und ich spürte, wie meine Mundwinkel ebenfalls zuckten. Unser Telefonat ging noch nicht lang, trotzdem fühlte ich mich schon wesentlich leichter.

Als wir uns langsam wieder beruhigten, kam mir ein ernüchternder Gedanke. »Ist es nicht ironisch, dass die zwei Leute, die ich am meisten um mich herum haben möchte, beide am anderen Ende der Welt leben?« Ich schüttelte den Kopf, auch wenn Erin es nicht sehen konnte.

»Was das angeht …«, begann sie, hielt dann aber inne. Nach ein paar Sekunden seufzte sie so leise, dass ich es beinahe überhört hätte. »Hast du ihm schon erzählt, was passiert ist?« Es schwang etwas in ihrer Stimme mit, das ich nicht ganz identifizieren konnte.

»Ich hab ihm geschrieben«, erklärte ich. »Gestern Abend, als wir im Krankenhaus gewartet haben. Und vorhin habe ich gesehen, dass er mir auch geantwortet hat, aber in dem Moment hast du mich dann angerufen.«

»Tut mir leid, dass ich deine Nachricht auch nicht früher mitbekommen habe, Ella.« Ihr war anzuhören, wie sehr es sie belastete.

Vor Australien hatte immer eine kurze Textnachricht gereicht, damit die jeweils andere sich auf den Weg gemacht hatte, wenn es die Situation erfordert hatte. Wenn jetzt etwas passierte und ich sie brauchte, konnte ich nur darauf hoffen, dass sie ihr Handy gerade in der Nähe hatte und es bei ihr nicht mitten in der Nacht war – so wie gestern.

»Schon gut, du kannst ja nichts für die Zeitverschiebung.« Oder die Distanz, fügte ich gedanklich hinzu.

»Ich weiß. Aber das macht es nicht besser, oder?«

Ich lehnte meinen Kopf an die Wand hinter mir, schloss die Augen. Für einen Moment dachte ich darüber nach, ihr zu sagen, dass alles in Ordnung war – dass es mir nichts ausmachte und sie sich nicht schlecht fühlen sollte. Ich wollte es ihr nicht noch zusätzlich zu dem auftischen, was sie gerade wegen Eric durchmachte. Aber ich verwarf die Idee gleich darauf. Es war anstrengend, immer darauf aufzupassen, niemandem auf die Füße zu treten. Und ich konnte nicht behaupten, heute noch viel Kraft dafür übrig zu haben. Zumal Erin mich ohnehin sofort durchschauen würde.

»Ganz ehrlich? Nicht wirklich«, sagte ich. »Wir waren gestern im Krankenhaus, und ich war einfach so … so fertig, weil ich weder dich noch Jae-yong erreicht habe.« Meine freie Hand fuhr nervös über den Stoff meiner Bettdecke. »Aber im gleichen Moment hab ich mich so schlecht gefühlt, weil ich genau weiß, dass niemand etwas dafür kann und ich trotzdem wütend war.«

»Ella.« Erins Stimme hatte diesen sanften Klang, den sie immer annahm, wenn wir über Dinge redeten, die mich belasteten. »Du musst dich nicht schlecht fühlen, weil du mal wütend auf mich bist. Oder auf Jae-yong«, fügte sie schnell hinzu. »Wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte ich dich ziemlich sicher verflucht und danach mein Handy vor Wut gegen die Wand geworfen.«

Ich lachte kurz auf. Bei Erin konnte ich mir das tatsächlich vorstellen.

»Es ist in Ordnung. Solche Gefühle machen dich nicht zu einem schlechten Menschen oder weniger liebenswert, weißt du?«

Ich erwiderte nichts, sog ihre Worte aber in mich auf. Aus irgendeinem Grund war mein Hirn darauf programmiert, dass ich wie auf rohen Eiern um alle herumlaufen musste. Erin verstand das, ohne dass ich es ihr überhaupt erklären musste. Das waren meist die Momente, in denen ich mir sicher war, die beste Freundin gefunden zu haben, die ich mir hätte wünschen können.

»Kann ich dich dazu etwas fragen?«, wollte sie nach ein paar Sekunden des Schweigens wissen.

»Schieß los.«

»Du weißt, dass ich bald wieder in Chicago sein werde«, begann sie. Ein kaum wahrnehmbares Knarzen hallte durch die Leitung, als hätte sie sich irgendwo hingesetzt. »Aber wie ist das bei Jae-yong?«

Mein Herz machte einen kleinen Sprung. »Was ist mit ihm?«, fragte ich, obwohl ich ahnte, worauf sie hinauswollte.

»Bei ihm wird es sich nicht ändern«, sagte sie. »Die Entfernung, meine ich. Klar ist er zwischendurch mal auf Tour, aber sein Leben spielt sich in Südkorea ab. Und ich glaube, das wird wohl erst mal so bleiben.«

»Es ist nicht so, als hätte ich das nicht gewusst, als ich nach dem New-York-Debakel wieder auf ihn zugegangen bin«, murmelte ich.

»Ich weiß«, stimmte sie mir zu. »Nur bin ich mir nicht sicher, ob du dir in den letzten Wochen mal die Zeit genommen hast, wirklich darüber nachzudenken. Die Entfernung ist das eine – aber sein Leben in der Öffentlichkeit noch mal etwas ganz anderes.«

Die Aussage, die zwischen den Zeilen mitschwang, war klar und deutlich: Selbst wenn er die Zeit hätte, einfach in den Flieger zu steigen, um nach Chicago zu kommen, setzte er damit die Karriere von NXT aufs Spiel – ein Risiko, das er wegen mir einginge. Es war nichts Neues – Jae-yongs Berühmtheit nicht, ebenso wenig wie sein Leben in Seoul. Aber es aus Erins Mund zu hören machte es realer, als ich bisher bereit gewesen war, mir einzugestehen.

Als ich nichts erwiderte, fügte Erin noch hinzu: »Ich hoffe, ich hab es damit nicht schlimmer gemacht, als es ohnehin schon war.«

»Nein«, beeilte ich mich, sie zu beruhigen. »Nein, ich bin dir ja dankbar für deine Ehrlichkeit.«

»Aber?«

»Aber ich weiß nicht, ob ich heute noch die Kapazitäten habe, darüber nachzudenken.« Hätte ich mich für die nächste Zeit in einen winterschlafähnlichen Zustand versetzen können, hätte ich es getan.

»Das ist okay.« Sie ließ für den Moment von dem Thema ab, wofür ich sie gern umarmt hätte. »Du kannst mir stattdessen von dem Kuchen erzählen, den Liv für Mel gemacht hat. Ich hab das Foto, das du mir gestern geschickt hast, eventuell einmal zu viel angesabbert.«

Ich schnaubte amüsiert. Erin stand Liv und mir in nichts nach, was die Vernarrtheit in Süßspeisen anging. Ich erzählte ihr ausführlich von dem Naked Cake, von den Geschenken und den unbeschwerten Stunden, die wir fünf miteinander verbracht hatten, bevor Mel ohnmächtig geworden war. Es tat gut, sich darauf zu konzentrieren, statt weiter über die Nacht im Krankenhaus nachzudenken.

Erst nachdem wir aufgelegt hatten, weil Erin langsam mit der Arbeit anfangen musste, wurde mir bewusst, dass ich nicht einmal daran gedacht hatte, sie zu fragen, wie es ihr ging. Ob ihr die Sache mit Eric noch zu schaffen machte. Was ihr Plan war. Ich nahm mir vor, es in den nächsten Tagen nachzuholen – sie sollte genauso ihre Probleme bei mir abladen können. Egal, wie viel hier gerade los war.

Ich lag auf meinem Bett, Beine und Arme von mir gestreckt, den Kopf auf die unzähligen Kissen gebettet, ohne die das Bett viel zu leer für mich wirkte. Die Uhr auf meinem Nachttisch sprang mir ins Auge. Es war kurz vor halb acht am Abend hier in Chicago. Vermutlich war Jae-yong längst auf den Beinen. Ich überlegte, ihm eine Nachricht zu schreiben, entschied mich dann aber dafür, ihn anzurufen. Wir hatten sicher beide einiges zu erzählen.

Es dauerte eine Weile, bis ein leises Knacken in der Leitung ertönte, als Jae-yong abnahm.

»Tut mir leid, dass ich jetzt erst anrufe«, sagte ich sofort. »Gestern Abend habe ich nicht mehr auf mein Handy geguckt, und dann war mein Akku leer. Ich hab es gerade erst wieder angemacht und deine Nachricht gesehen, aber Erin hat mich in der gleichen Sekunde angerufen.«

»Ella! Hey, hier ist Min-ho«, sagte Jae-yongs bester Freund – und versetzte mich ungewollt in eine Schockstarre. »Ist alles in Ordnung? Ich hab deinen Namen auf Jae-yongs Handy gesehen und bin rangegangen, weil er die ganze Nacht versucht hat, dich zu erreichen. Er schläft gerade, aber er hat vorhin erzählt, dass es deiner Schwester nicht gut geht.«

Ein Stechen schoss in meinen Brustkorb, als ich mir ausmalte, wie schlimm es für Jae-yong gewesen sein musste, mich nach meiner letzten Nachricht nicht zu erreichen. Ich brauchte einen Moment, um meine Stimme wiederzufinden. »Ja, sie … sie war im Krankenhaus, aber es geht ihr besser. Wir sind erst vor ein paar Stunden wieder nach Hause gekommen, deswegen rufe ich erst jetzt an. Kann ich mit ihm reden?«

Ein Rascheln drang durch die Leitung, und Min-ho zögerte mit seiner Antwort. Schließlich seufzte er. »Tut mir leid, Ella. Ich möchte ihn ehrlich gesagt nicht aufwecken. Er ist gerade erst eingeschlafen. Die letzte Nacht war … hart für ihn. Nicht nur, weil er dich nicht erreicht hat.«

Plötzlich pochte mir das Herz bis in die Ohren. »Ist es bei euch nicht gut gelaufen?«

»Es ist beschissen gelaufen«, bestätigte Min-ho meine Vermutung leise.

Ich schloss die Augen. Das konnte nicht wahr sein. Nicht, nachdem sie so viel Arbeit in ihr Vorhaben gesteckt hatten.

»Was bedeutet das?« Die Stille, die auf meine Frage folgte, gefiel mir nicht im Geringsten. »Min-ho?«

Er seufzte. Es klang so zittrig, als läge eine riesige Last auf seinen Schultern, die ihn langsam in die Knie zwang. »Ich denke, das sollte dir Jae-yong selbst erzählen.«

Seine Worte ließen mir das Blut in den Adern gefrieren. »Das klingt nicht gut.«

Min-ho atmete mit einem schwachen Lachen aus. »Ja.« Ein weiteres Seufzen, voller Erschöpfung. »Aber deswegen möchte ich ihn gerade nicht aufwecken. Er hat die halbe Nacht mit mir gesprochen, weil ich einfach nicht …« Seine Stimme brach weg.

»Min-ho …«

Er räusperte sich. »Ich richte Jae-yong aus, dass du angerufen hast, sobald er aufwacht, in Ordnung?«

»Ja, natürlich«, erwiderte ich. »Und ruh du dich auch etwas aus.«

Er lachte leise. »Wird gemacht.«

Ich legte auf, meine Gedanken ein einziges Chaos. Meine Gefühlslage hatte sich von jetzt auf gleich verändert: Hatte ich vor wenigen Minuten noch diese Enttäuschung in meinem Bauch, Jae-yong nicht erreicht zu haben, als ich ihn gebraucht hatte, wurde sie nun von einem schrecklichen Schuldgefühl begraben.

Wenn das Meeting so schlecht gelaufen war, wie Min-ho angedeutet hatte, musste es Jae-yong richtig mies gehen. Wahrscheinlich konnte ich mir nicht einmal annähernd vorstellen, wie mies. Er und die anderen hatten so viel Zeit in ein neues Konzept und ihre Musik gesteckt, dass eine Absage ihres Managements unendlich wehtun musste. Es fiel mir leicht, immer das Schlimmste zu erwarten. Aber bei dem Feuer, das in Jae-yongs Stimme gelegen hatte, sobald er darüber redete, war es selbst mir unmöglich gewesen, an etwas anderes zu denken als eine Zusage von ihrem Label.

Ich legte mir einen Arm über die Augen, um die Welt für ein paar kostbare Sekunden auszublenden. In meinem Brustkorb saß ein freudloses Lachen. Vor ein paar Tagen hatte es noch den Anschein gehabt, als würden die Dinge sich sowohl für mich als auch für Jae-yong zum Besseren wenden. Doch es hatte nur einen Wimpernschlag gebraucht, um dieses Gefühl wieder verschwinden zu lassen. Wenn ich jetzt an meinen Kunstkurs dachte, kam mir immer Mel in den Sinn, die im Krankenhausbett lag.

Mit kreisenden Bewegungen massierte ich meine Schläfen, versuchte, die Muskeln in meinen Schultern zu entspannen. Es war ein aussichtsloser Kampf gegen den Stress, der mich innerlich zu überrollen drohte. Nach einem tiefen Atemzug stand ich auf und setzte mich an den Schreibtisch. Meine Finger schlossen sich um die vertraute Form des Bleistiftes, und ich führte die Mine übers Papier.

3. KAPITEL

Fünf Minuten. Nur noch fünf Minuten, verhandelte ich das dritte Mal in Folge mit mir selbst. Ich war noch nicht bereit, aufzustehen. Lieber versank ich in meinem Kissenberg und zog mir die Decke über den Kopf. Die Motivation, den Tag zu beginnen, hatte sich verflüchtigt, als ich nach dem Aufwachen auf mein Handy gesehen hatte: Es gab immer noch keine Nachricht von Jae-yong darauf. Ich versuchte, mir zu sagen, dass er anrufen würde, sobald er konnte – trotzdem ließ die Sorge mich beinahe die Wände hochgehen.

Ich war mit dem Zuschlagen der Wohnungstür aufgewacht, als Liv sich auf den Weg zur Schule gemacht hatte. Keine Ahnung, wie sie es überhaupt aus dem Bett geschafft hatte – ich fühlte mich wie von einem Lastwagen überfahren und bat Matt, für mich in den Vorlesungen mitzuschreiben. Immerhin war ich so mit Mel allein für das Gespräch, das ich vorhatte, mit ihr zu führen. Es fiel mir so schon schwer genug, mich dazu durchzuringen … Ein weiterer Grund, weswegen ich immer noch in meinem Bett lag.

Als ein dumpfes Poltern durch die Wohnung drang, saß ich mit einem Mal im Bett. Es hatte sich nicht angehört, als wäre etwas kaputtgegangen, aber mein Herz schlug mir trotzdem bis zum Hals. Ich befreite mich aus meiner Decke, verließ mein Zimmer und ging in die Küche, wo ich Mel fand, deren Arme halb im Abwaschbecken verschwanden.

»Alles okay?« Ich bemühte mich, nicht so atemlos zu klingen, wie ich mich fühlte.

Sie drehte sich für ihre Antwort nicht mal zu mir um. »Mir ist eine Schüssel aus der Hand gerutscht.«

Ihre Erklärung half nichts – die Bilder der zersprungenen Teller, die ich gestern Abend aufgeräumt hatte, waren noch zu präsent in meinem Kopf. »Du musst nicht abwaschen. Ich kann das machen, ruh du dich lieber aus.«

»Ich hab gestern den ganzen Tag nichts getan. Wenn ich noch länger nur im Bett oder auf der Couch liege, ohne was tun zu können, verschwinden mit allen Muskeln auch alle Hirnzellen, die ich besitze.«

Mel war von ihrer Ärztin angewiesen worden, es die ersten Tage ruhiger angehen zu lassen. Sie sollte so gut wie möglich Dinge meiden, die anstrengten, und das sowohl körperlich wie auch geistig, hatte man uns erklärt. Kein Fernsehen, keine Bücher. Und vor allem auch keine Hausarbeiten, wenn sie sich eigentlich ausruhen sollte. Ich schnappte mir das Handtuch, das an der Ofentür hing, und übernahm das Abtrocknen für Mel. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht von mir davon abhalten lassen würde, den Abwasch zu erledigen.

Wir redeten erst wieder, als alles in den Schränken verstaut war und Mel das Wasser aus der Spüle ließ. Ich hängte das Geschirrtuch zurück an seinen Platz und drehte mich dann zu Mel um. Sie war dabei, das Spülbecken mit dem Lappen auszuwischen und stand leicht vornübergebeugt. Im Profil sah ich ihre leicht gerunzelte Stirn. Ihre Haut war immer noch wesentlich blasser als normalerweise.

»Willst du dich nicht lieber hinsetzen?«, fragte ich. Hätte ich Mel nicht genau angesehen, wäre mir vielleicht entgangen, wie sie sich verspannte.

»Alles gut, Ella«, sagte sie. Wir beide wussten genau, dass kein Weg daran vorbeiführte, den Abend ihres Geburtstags noch einmal anzusprechen. Ihre Erschöpfung, die sich über mehrere Wochen aufgebaut hatte. Ein Thema, das sie am liebsten beiseitegewischt hätte, das war mir klar. Ich haderte mit mir, dem Scheinfrieden nachzugeben. Es einfach hinzunehmen und still zu sein, um nicht Gefahr zu laufen, sie wütend zu machen. In der Hoffnung, dass es sich von allein bessern würde. Nur hatte ich das in letzter Zeit so häufig getan. Und wenn ich stark sein und endlich das aussprechen musste, was ich dachte, damit ich meine große Schwester nicht noch einmal in diesem Krankenhausbett liegen sehen musste, würde ich das tun. Für meine Familie würde ich mich all meinen Ängsten stellen.

Ich holte tief Luft und sprach aus, was ich wirklich sagen wollte. »Ist es nicht.«

Mel wandte mir den Kopf zu, die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. »Es geht mir ehrlich gut«, versuchte sie, mich zu beruhigen. Weil das ihre Rolle war – die der großen Schwester, die keine Hilfe brauchte.

»Du hast eine Gehirnerschütterung«, erinnerte ich sie. »Das ist nicht ›gut‹.« Ich war überrascht, wie fest sich meine Stimme anhörte, obwohl mein Magen doch Saltos schlug.

»Ich habe die Tage davor einfach nicht gut geschlafen.« Ob sie sich oder mich eher überzeugen wollte, war mir nicht ganz klar. Es machte keinen Unterschied.

»Mel.« Sei ehrlich. »Du hast nicht geschlafen, weil du keine Pausen nimmst, weil du dich nicht ausruhst, weil dein letzter Urlaub Monate her ist und du die Erste bist, die unter der Woche das Haus verlässt, und die Letzte, die abends wieder heimkommt.«

»Das passiert nun mal, wenn man in dieser Branche einen Job hat. Ich kann es mir nicht erlauben, nur acht Stunden am Tag zu arbeiten. Ich würde nie mit allem hinterherkommen, was ich zu tun hätte.«

Merkte sie nicht, wie sehr alles, was sie sagte, nach Ausreden klang? »Dann arbeiten alle anderen auch, bis sie ohnmächtig werden? Bis sie ins Krankenhaus müssen und damit ihre Familie und Freunde erschrecken?«

Ich sah, wie sehr sie mit sich rang, zurückzuhalten, was auch immer ihr durch den Kopf ging. Allerdings hatte ich nun einmal angefangen zu sprechen, die Worte purzelten nur so aus meinem Mund. »Wenn dir auch etwas passiert …« Ich schüttelte den Kopf, wollte diese Möglichkeit gar nicht weiterverfolgen. »Was sollen Liv und ich dann tun, Mel? Wir haben Mom und Dad schon verloren. Glaubst du, wir würden das noch mal verkraften?« Das Blut rauschte mir in den Ohren. Ein mir zu gut bekannter Druck legte sich auf meinen Brustkorb.

Mel war mit einem Mal so still neben mir, dass ich mir nicht mal sicher war, ob sie überhaupt atmete. Die Worte hingen in dem Raum zwischen uns, so grell und leuchtend, dass wir es beide nicht länger ignorieren konnten.

Dann stieß Mel die angehaltene Luft lautstark aus. Die Anspannung wich so schnell aus ihrem Körper, wie sie gekommen war, und sie strich sich ihre blonden Haare fahrig hinters Ohr. »Ich lasse euch nicht einfach allein.«

»Wie kannst du das wissen?«, fragte ich. Meine Stimme brach am Ende des Satzes ein wenig.

»Kann ich nicht.« Sie verzog das Gesicht. Dass das zwischen Liv, Mel und mir immer eine Angst sein würde, konnte nicht einmal sie ändern. »Aber ich kann dir sagen, dass ich viel zu stur und dickköpfig bin, als dass ich irgendetwas anderes zulassen würde.«

Ich rang mir ein kleines Lächeln ab. Es war kein Versprechen. Nichts, was irgendein Unfall oder eine Krankheit in der Zukunft nicht doch zunichtemachen könnte. Dennoch wurde der Druck auf meiner Brust ein wenig geringer. Ein wenig leichter zu ertragen. Auch wenn die Befürchtung blieb, dass es eben diese Dickköpfigkeit war, die uns hierhergebracht hatte.

»Und was heißt das? Dass alles so bleibt wie bisher?« Bitte sag Nein, bitte sag Nein.

Mel wandte den Blick ab. Ich konnte den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht deuten – die aufeinandergepressten Lippen hätten alles bedeuten können. Aber so gern ich auch zurückgerudert wäre, brauchte ich etwas Handfestes. Worte, an denen ich festmachen konnte, dass es Mel ernst war. Ob sie die am Ende auch in die Tat umsetzen würde, war eine andere Sache.

Schließlich seufzte sie. »Ich weiß nicht mal, warum ich mit dir diskutiere, wenn ich ohnehin das Gleiche denke.«

Ich blinzelte überrascht. »Tust du?«

»Ich hätte gern mehr Zeit für euch und Josh. Und wenn ich mal mehr als sechs Stunden Schlaf bekommen könnte, wäre ich ziemlich froh. Aber es fällt mir schwer, Nein zu sagen, wenn ich auf Arbeit um etwas gebeten werde.« Ein kleines Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Es tut gut zu wissen, dass ich in der Firma nicht ersetzbar bin.«

Mir kamen Erins Worte in den Sinn – es schien, als würde sie Mel besser verstehen, als ich es tat.

»Ich werde versuchen, meine Stunden etwas runterzufahren, in Ordnung?«, schlug Mel vor. »Wer weiß – vielleicht habe ich Glück, und meine Chefin gesteht mir eine Assistenz zu, wenn ich endlich mal nachfrage.«

»Verdient hättest du sie.«

»Wenn du ihr das auch sagen könntest …«

»Ich komme einfach mit an deinem nächsten Arbeitstag«, sagte ich und entlockte Mel damit ein Grinsen. »Aber vorher mache ich uns etwas zu essen, und du legst dich auf die Couch und ruhst dich aus.«

Das Grinsen verschwand so schnell, wie es gekommen war. Von jetzt auf gleich waren wir in ein Paralleluniversum gefallen, in dem unsere Rollen komplett vertauscht waren. Mel musste sich ähnlich unwohl damit fühlen – ich sah den Widerspruch auf ihren Lippen. Als hätte ich in den ganzen Jahren noch nie Essen für uns gemacht.

Zu meiner Überraschung behielt sie ihre Gedanken aber für sich. »Bitte lös kein Feuer aus«, scherzte sie stattdessen.

Gespielt empört sah ich sie an. »Ich habe nie gesagt, dass ich etwas zu essen kochen werde.«

»Ich würde dir auch zutrauen, den Toaster aus Versehen in Flammen aufgehen zu lassen.« Mit den Worten ließ sie mich in der Küche stehen.

Ich warf ihr einen bösen Blick hinterher, konnte aber nicht mal widersprechen, immerhin war die Sorge nicht völlig unbegründet. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Mel sich auf die Couch fallen ließ, widmete ich mich meiner Aufgabe. Im Kühlschrank war nicht sonderlich viel zu finden – wenigstens das hatte sich nicht geändert. Daher entschied ich mich für belegte Brote. Ich bestrich einige Scheiben mit Butter oder Aufstrich und legte Käse oder Wurst darauf. Auf ein Stück gab ich ein wenig Ketchup und musste beinahe lachen, als ich mir Mels angeekelten Gesichtsausdruck vorstellte, sobald sie das auf dem Teller zu sehen bekommen würde. Mom hatte ihre Brote früher öfter so gegessen, aber außer mir hatte sich niemand sonst damit anfreunden können.

Ich trug den vollen Teller ins Wohnzimmer, stellte ihn auf die Couch und holte mir ein Buch aus meinem Zimmer, bevor ich mich neben Mel setzte. Ich legte es vorerst neben mich auf das Polster, konnte aber gar nicht warten, endlich mal wieder zwischen den Seiten eines Buches zu verschwinden. Es kam mir vor, als hätte ich das schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gemacht.

Wir ließen den Fernseher aus und redeten über nichts und alles. Mel erzählte mir von Josh und seiner Idee, sich einen Hund zulegen zu wollen. Und ich redete von den letzten Büchern, die ich gelesen hatte, davon, wie es Erin ging, und ein bisschen von Jae-yong. Mir fiel auf, dass es bereits Wochen her sein musste, seit wir das letzte Mal zusammengesessen hatten. Nur wir zwei, ohne irgendwelche Dramen, die im Raum standen und besprochen werden mussten. Ich hatte es vermisst. Ich hatte Mel vermisst. Und nicht nur, weil sie in letzter Zeit so viel gearbeitet hatte. Ich war in Gedanken so häufig bei Jae-yong gewesen, alles andere um mich herum war ein wenig in den Hintergrund getreten. Vielleicht war Mels Unfall, so viel Angst er mir auch bereitet hatte, ein kleiner Silberstreifen am Horizont. Etwas, das Mel, Liv und mich nach all den Dingen, die gerade passierten, wieder ein wenig zusammenbrachte.

Irgendwann, als die belegten Brote schon längst aufgegessen waren, schaltete Mel den Fernseher an, und ich klappte das Buch auf meinem Schoß auf, das ich vorhin aus dem Regal gezogen hatte. Der Zauberer von Oz. Ich hatte es zum ersten Mal gelesen, kurz nachdem Liv und ich bei Mel eingezogen waren. Mel hatte es mir zum Geburtstag geschenkt, und ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie fasziniert ich von dieser Geschichte gewesen war – und ungläubig, dass so etwas dem Kopf eines Menschen entsprungen war.

Das gleiche Gefühl hatte ich auch diesmal. Ich liebte es, durch Buchhandlungen zu stöbern, neue Geschichten zu entdecken und mehr und mehr Bücher in Stapeln in meinem Zimmer zu sammeln. Aber manchmal überkam mich der Wunsch nach etwas Bekanntem. Nach einem Buch, dessen Seiten sich wie Nach-Hause-Kommen anfühlten. Manchmal gab es Tage und Wochen, in denen ich vergaß, wie sehr mir Bücher halfen. Wenn zu viel los war und ich mich auf keine Geschichte richtig konzentrieren konnte, war es, als würde ein Teil von mir fehlen – genauso wie das Zeichnen. Ich brauchte dieses kreative Outlet wie die Luft zum Atmen.

Die Stimmen im Fernseher waren nur ein Hintergrundrauschen, das mir half, mich aufs Lesen zu konzentrieren. Erst als ich ein gutes Viertel des Buchs gelesen hatte, tauchte ich wieder aus meiner Welt auf und brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass das Handy in meiner Hosentasche vibrierte. Ich legte das Lesezeichen zurück zwischen die Seiten und zog mein Handy hervor.

Ein eingehender Videoanruf von Jae-yong sprang mir in die Augen, und ganz kurz erstarrte ich zur Eissäule. Mel wusste zwar von ihm, trotzdem hatte mich für eine Sekunde das Gefühl, ich würde etwas Falsches tun, überkommen. Ich schüttelte den Kopf, um es loszuwerden, und drückte mich von der Couch hoch. »Das ist Jae-yong«, beantwortete ich Mels fragenden Blick und wartete ihr Nicken ab, ehe ich in meinem Zimmer verschwand.

Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Klicken hinter mir. Ich strich mir fahrig über die Haare – bisher hatte ich es noch nicht einmal geschafft, sie zu kämmen –, während ich mich auf den Schreibtischstuhl setzte, und nahm den Anruf an. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis das Video sich aufgebaut hatte, aber die reichten meinem Herzen, um mir bis in die Hose zu rutschen. Ich wusste nicht mal ansatzweise, wo ich dieses Gespräch beginnen wollte.

Seine Haare fielen mir als Erstes auf. Die dunkelbraunen Strähnen fielen ihm unordentlich in die Augen und sahen ein wenig aus, als hätte er, ähnlich wie ich, heute noch keinen Kamm in der Hand gehabt. An einem seiner Ohren glänzte ein silberner Ohrring im schwachen Licht der Deckenbeleuchtung. Er saß in seinem Studio. Im Hintergrund war das Keyboard zu erkennen, an dem er oft arbeitete. Er wirkte müde. Genauso erschöpft wie ich. Aber das hinderte ihn nicht daran, mir ein Lächeln zu schenken, als er mich sah.

»Hey«, begrüßte er mich leise.

»Ich habe gestern mit Min-ho geredet«, fiel ich mit der Tür ins Haus – und sah, wie das Lächeln plötzlich von seinen Lippen fiel.

Er rieb sich über den Nacken. »Ja, er hat es mir erzählt. Als ich deine Nachrichten gesehen habe, waren wir gerade mitten im Gespräch und …« Er schüttelte den Kopf, zuckte hilflos mit den Schultern. »Alle waren so aufgebracht nach dem Meeting, tut mir leid, dass ich mich nicht eher gemeldet habe.« Entschuldige dich nicht, wollte ich sagen, aber er kam mir zuvor. »Was ist passiert?«

»Das wollte ich dich gerade fragen«, sagte ich drängend. »Was ist passiert, Jae-yong?«

Sein Blick glitt auf einen unbestimmten Punkt hinter der Kamera. »Sie haben uns nicht ernst genommen«, begann er. »Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, als würden sie innerlich über uns lachen. Wir haben ihnen unsere Ideen vorgestellt, und sie haben sie mit einem Lächeln beiseitegewischt.«

»Aber … sie können doch nicht einfach …«

»Doch«, unterbrach Jae-yong mich. »Können sie. Was haben wir für Mittel in der Hand? Die Musik, die jetzt produziert wird, funktioniert. Warum sollte man irgendetwas ändern, wenn es sich bisher bewährt hat?« Er klang so bitter dabei. Meine Arme kribbelten mit dem Verlangen, ihn zu umarmen. »Wir sind nach Hause gefahren und haben geredet. Keiner von uns hat es wirklich gut verkraftet …« Er hob eine Schulter an. »Ich hätte nie gedacht, dass wir so ein Gespräch jemals führen müssten.«

»Was für ein Gespräch?«

Ein freudloses Lachen entkam ihm. »Darüber, ob wir uns trennen sollten.«

Die Antwort kam so schnell, so unerwartet, dass ich ihn einige Sekunden nur entgeistert anstarren konnte. »Wie bitte?!«