When We Dream - Anne Pätzold - E-Book
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When We Dream E-Book

Anne Pätzold

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Beschreibung

Wenn sich der größte K-Pop-Star der Welt in ein ganz normales Mädchen verliebt ...

Die 19-jährige Ella lebt seit dem Tod ihrer Eltern bei ihrer älteren Schwester in Chicago. Die Stadt ist ihr zu groß, zu laut, zu voll, und am liebsten würde sich Ella mit ihren Büchern und ihrem Zeichenblock in ihr Zimmer zurückziehen und die Außenwelt, so oft es geht, vergessen. Doch dann lernt sie Jae-yong kennen. Dass er ein Mitglied der bekanntesten K-Pop-Gruppe der Welt ist, weiß sie nicht. Was sie weiß, ist, dass der junge Mann mit den tiefbraunen Augen ihre Welt von einem Moment auf den anderen aus den Angeln hebt ...

"Anne Pätzold hat eine zauberhafte Liebesgeschichte geschrieben, bei der sich die Seiten wie ein Zuhause anfühlen." MONA KASTEN

Die LOVE-NXT-Reihe von Anne Pätzold:

1. When We Dream
2. When We Fall
3. When We Hope

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Seitenzahl: 438

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Anne Pätzold bei LYX

Impressum

ANNE PÄTZOLD

When WeDream

Roman

Zu diesem Buch

Als Ella auf Jae-yong trifft, hat sie keine Ahnung, dass er ein Mitglied von NXT ist – der erfolgreichsten K-Pop-Gruppe der Welt. Was sie weiß, ist, dass er eine Sprache spricht, die sie noch nie in ihrem Leben gehört hat. Dass er Bücher mindestens genauso sehr liebt wie sie. Und dass seine tiefbraunen Augen und sein ansteckendes Lächeln ihr Herz gefährlich schnell schlagen lassen. Jae-yong weckt Gefühle in ihr, die sie noch nie zuvor empfunden hat – nicht nur, weil sie mit ihm über Dinge reden kann, die sie für gewöhnlich mit aller Kraft in sich verschlossen hält: wie zum Beispiel die Tatsache, dass sie ihre Eltern an manchen Tagen so sehr vermisst, dass sie nicht atmen kann. Oder dass ihre größte Leidenschaft das Zeichnen ist und ihr Wirtschaftsstudium sie deshalb mit jedem neuen Semester unglücklicher macht. Doch dann erfährt Ella, wer Jae-yong wirklich ist, und ihr Wunsch, dass das zwischen ihnen mehr werden könnte, rückt in unerreichbare Nähe. Nicht nur ist NXT die derzeit erfolgreichste Band der Welt, Jae-yong ist ein Idol für Millionen von Fans. Jeder seiner Schritte wird verfolgt, und sein Management verbietet ihm, Beziehungen zu führen. Ein Bruch dieser Regel könnte das Ende seiner Karriere – und auch das Ende von NXT –bedeuten. Und bald müssen sich Ella und Jae-yong fragen, ob sie bereit sind, dieses Risiko einzugehen, oder ob ihre Liebe nichts weiter sein wird als ein wunderschöner Traum …

Für Simone – 90 000 Wörter und kein einziges dabei, das wirklich aussagt, wie dankbar ich bin.

1. KAPITEL

»Arbeiten Sie den ausgehändigten Text bis zum nächsten Mal durch.«

Papierrascheln und lautstarke Gespräche erfüllten den Hörsaal. Meine Kommilitonen erhoben sich und wühlten in ihren Taschen. Kaum einer schenkte dem Professor noch Aufmerksamkeit.

»Und vergessen Sie nicht, Ihre Hausarbeit bis Freitagabend einzureichen«, fügte er hinzu und rückte seine Brille zurecht.

Die meisten Studenten waren bereits durch die Doppeltüren an der Rückseite des Saals nach draußen verschwunden. Ich wartete, bis der größte Ansturm vorüber war, während ich mein Notizheft und die Stifte in meinem Rucksack verstaute. Als nur noch eine Handvoll Leute in den vorderen Reihen saßen, schulterte ich meinen Rucksack und verließ ebenfalls den Saal.

»Internationales Management« war eine der letzten Vorlesungen an diesem Tag, und der Korridor des Unigebäudes lag nahezu leer vor mir – jeder versuchte, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Auch mir ging es nicht anders. Ich hatte seit dem Vormittag in überfüllten Sälen gesessen und konnte es kaum erwarten, mich in mein Zimmer zurückzuziehen. Der Gedanke an mein Bett, ein gutes Buch und eine Tasse Tee hatte mich durch den Nachmittag gebracht.

Kühle Abendluft strich über meine Arme, als ich aus dem Gebäude trat. Die letzten Tage waren für Ende April ungewöhnlich warm gewesen, und ich genoss die Abkühlung. Hitze machte mich bestenfalls träge. Es fiel mir ohnehin schwer genug, mich auf die Vorlesungen zu konzentrieren. Wenn die Temperaturen über fünfundzwanzig Grad stiegen, war meine eher knappe Aufmerksamkeitsspanne dahin, und ich konnte an nichts anderes mehr denken, als so schnell wie möglich jegliche Menschenmassen hinter mir zu lassen und mich an einen kühlen Ort zurückzuziehen. Meistens waren dieser Rückzugsort meine eigenen vier Wände. Die Wohnung war nicht allzu weit vom College entfernt, und ich freute mich jeden Abend wieder darüber, nicht noch quer durch die ganze Stadt pendeln zu müssen.

Das Studium laugte mich ohnehin schon aus. Mehr, als vermutlich normal war. Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie erschöpft ich mich an den meisten Tagen fühlte. Wie sehr sich alles in mir sträubte, morgens aus dem Haus zu gehen.

So geht es jedem mal. Oder nicht?

Ich schüttelte meinen Kopf, schob die Kopfhörer in meine Ohren und drehte die Musik an meinem Handy lauter. Sanfte, beruhigende Töne vertrieben die unerwünschten Gedanken.

Mein Leben ist gut so, wie es ist.

Die Stimme meiner kleinen Schwester war bis in den Hausflur zu hören. Ich hatte mir unterwegs eine heiße Schokolade gegönnt und balancierte den Becher in einer Hand, während ich mit der anderen die Wohnungstür aufschloss, als Livs lautstarker Gesang zu mir drang. In meinen Ohren klang es wie willkürlich aneinandergereihte Laute – definitiv kein Englisch. Ich stieß die Tür mit dem Fuß auf, aber selbst in der ungedämpften Version machte ihr Gesang für mich keinen Sinn.

Ich hängte meinen Schlüssel an einen der Haken neben der Tür, ließ meine Schuhe, Jacke und Tasche im Flur zurück und folgte Livs schiefem Trällern in die Küche. Sie war gerade dabei, sich Cornflakes zu machen. Ein Milchkarton stand neben der Spüle, und ich war mir nicht ganz sicher, ob sie die Schüssel verfehlt oder versucht hatte, die Cornflakes auf dem Tisch zuzubereiten.

Liv stand mit dem Rücken zu mir. Ihre blonden Locken waren zerzaust, ein Haargummi hielt sie notdürftig zusammen. Als ich an den Türrahmen klopfte, drehte sie sich zu mir um und zog ihr Handy aus der Hosentasche. Im nächsten Moment war die Musik nur noch ein leises Hintergrundgeräusch.

»Hast du ohne mich eine Party gefeiert?«, fragte ich und deutete auf das Chaos auf dem Tisch.

Einige Strähnen fielen Liv ins Gesicht. Sie pustete sie sich aus den Augen, ehe sie mir antwortete.

»Ich hab Musik gehört und beim Tanzen die Schüssel umgeschmissen«, erklärte sie. Das Grinsen in ihrem Gesicht zeigte, dass sie nichts bereute, und unwillkürlich spürte ich, wie sich meine Lippen ebenfalls verzogen. Liv irgendetwas übel zu nehmen war ein Ding der Unmöglichkeit.

»Die Musik war nicht zu überhören, glaub mir. Mrs Elliot von gegenüber hat sicher mit dir gefeiert.«

Mrs Elliot war unsere Nachbarin und inoffiziell ein Teil unserer kleinen Familie. Wenn Melanie, die Älteste von uns dreien, erst spätnachts nach Hause kam oder für ihre Arbeit verreisen musste, sah die ältere Dame ab und an nach uns, um sicherzustellen, dass wir nicht den ganzen Tag von Fastfood lebten. Liv und ich waren beide nicht sonderlich gut im Kochen, deswegen war diese Befürchtung nicht abwegig.

»Ist Mel noch auf Arbeit?«, fragte ich und stellte meinen halb leeren Becher auf dem Tisch ab. Ich schnappte mir den Lappen vom Wasserhahn und begann, die Cornflakes-Milch-Pampe aufzuwischen. Liv nahm die Schüssel vom Tisch und trug sie zur Spüle.

»Sie hat vorhin eine Nachricht geschrieben, dass es heute wieder spät wird.«

Mel arbeitete als Teil des Managementteams bei einem der größten nationalen Veranstalter. Momentan hatte sie viel zu tun wegen einer Award-Show, die in wenigen Tagen in Chicago stattfinden sollte. Ich wusste nicht, wie Mel den Überblick über Sponsoren, Service-Angestellte, Lichttechniker, Moderatoren und Co. behielt und dabei mit dem absoluten Minimum an Schlaf überlebte, aber sie schaffte es immer irgendwie.

Nachdem ich die aufgequollenen Cornflakes im Müll entsorgt hatte, warf ich einen Blick in den Kühlschrank. Gähnende Leere hatte ich zwar erwartet, dennoch verzog ich beim Anblick von ein paar Scheiben Brot und Ketchup das Gesicht.

»Wir müssen morgen einkaufen gehen«, sagte ich an Liv gewandt. »Scheint, als wäre heute erst mal wieder Pizzatag.«

»Ich bin dir drei Schritte voraus, Ella«, erwiderte sie und hielt ihr Handy in die Höhe. »Margherita, wie immer?«

Wortlos zog ich eine Augenbraue in die Höhe.

Liv grinste. »Zwei Margherita-Pizzen mit extra Käse. Kommen sofort.«

Ich streckte einen Daumen nach oben. »Ich bin in meinem Zimmer, wenn du mich brauchst.« Damit ging ich an ihr vorbei durch den Flur und zur hintersten Tür, die in mein Zimmer führte.

Die Lichterketten um meine Buchregale waren das Erste, was ich einschaltete. Sie erhellten nur schwach die Dunkelheit im Zimmer, aber ich mochte, wie gemütlich das Licht den Raum wirken ließ. Er war nicht groß – mein Bett, ein Schreibtisch, zwei Buchregale und ein kleiner Kleiderschrank passten gerade so hinein –, aber es war mein Reich. Der Ort, an dem ich ich sein und mich in andere Welten fallen lassen konnte, ohne mir Sorgen um die Realität machen zu müssen.

Ich suchte meine bequemste Schlafhose und ein übergroßes T-Shirt aus dem Schrank heraus, denn ich hatte nicht vor, die Wohnung heute noch einmal zu verlassen. In Gedanken sah ich mich bereits mit der Pizza im Bett liegen. Ich war gerade dabei, mir das Shirt über den Kopf zu ziehen, als Liv klopfte und den Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Essen ist in zwanzig Minuten hier. Hast du Lust, eine Serie mit mir zu gucken?«

Ich befreite meine Haare aus dem Kragen und band sie mir in einem lockeren Pferdeschwanz zusammen. »Woran hast du gedacht?«

»Wir könnten Friends weiterschauen oder irgendeinen Anime.«

Mein Blick glitt zu dem Chaos, das mein Schreibtisch war. »Ich wollte eigentlich an einem Bild arbeiten, das ich gestern angefangen habe«, sagte ich zögernd. Und ein wenig Ruhe genießen, bevor ich morgen den halben Tag auf der Arbeit verbringen würde.

Allerdings reichte das Liv als Ausrede nicht. »Du kannst deinen Zeichenblock doch mitnehmen.« Dass es schwierig werden würde, einem Film, unseren Gesprächen und meinem Skizzenblock gleichzeitig Aufmerksamkeit zu schenken, ignorierte sie geflissentlich.

Liv musste mein Zögern spüren, machte aber keine Anstalten, lockerzulassen. »Oooder …«, begann sie mit einem Funkeln in den Augen, »wir gucken einen Disneyfilm und du kannst so laut mitsingen, wie du willst.«

Ihrem breiten Grinsen nach zu urteilen wusste sie genau, dass ich zu Disney nicht Nein sagen konnte. Und sie hatte recht. Statt einer Antwort ging ich an ihr vorbei zur Tür raus und ins Wohnzimmer, bevor sie ein weiteres Wort sagen konnte. Dann würde mein Skizzenblock wohl morgen mit mir auf die Arbeit kommen.

Liv hatte mit ihren fünfzehn Jahren bereits mit Abstand eine der größten DVD-Sammlungen, die ich je gesehen hatte – und sie hütete sie wie einen Schatz. Die Filme und Serien im Regal neben dem Fernseher waren alphabetisch sortiert und vermutlich staubte Liv sie sogar regelmäßig ab.

»Und du meinst, ich bin die Merkwürdige von uns beiden? Wer bei Disneyfilmen nicht mitsingt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.« Ich zog Mulan aus dem Regal und schaltete den Fernseher ein.

Liv nahm mir die Hülle ab und schob den Film in den DVD-Spieler ein. »Wer hat schon völlige Kontrolle über sein Leben?«

Ich stutzte. Diese plötzliche Wendung des Gesprächs hatte ich nicht erwartet. »Das ist überrraschend weise.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich bin jung, nicht dumm.«

»Ja. Ich weiß.« Manchmal vergaß ich, dass sie nicht mehr das kleine Mädchen war, das mit acht Jahren in mein Bett gekrochen kam, weil sie von unseren Eltern geträumt hatte und allein nicht wieder einschlafen konnte.

Im Vorbeigehen nahm ich eine Wolldecke von der Couchlehne und warf sie mir auf dem Weg in die Küche über. Zwar mochte ich es kühl, aber Mel und Liv erschafften eine ganz neue Definition für den Begriff »Eiszeit«. Mich hätte es wenig gewundert, wenn Schneeflocken aus unserer Klimaanlage gekommen wären.

»Möchtest du auch etwas trinken?«, rief ich.

»Cola bitte«, kam es sofort zurück. Liv und ihre Cola. Manchmal fragte ich mich, wie sie überhaupt noch gesunde Zähne haben konnte bei den Massen an süßen Getränken, die sie zu sich nahm. Nicht dass ich viel besser war. Ich liebte meinen Tee am Abend zum Herunterkommen – und gesüßter Tee war nun einmal der bessere Tee.

Mit einer Colaflasche und zwei Gläsern kehrte ich zurück ins Wohnzimmer und stellte sie auf dem kleinen Holztisch vor dem Sofa ab, ehe ich mich auf die Couch fallen ließ und die Beine unter die Decke zog. Liv schob sich auf dem Boden sitzend nach hinten, bis sie mit dem Rücken an die Couch stieß, und machte es sich so bequem.

Bis zum ersten Song waren wir beide völlig im Film versunken. Ich stimmte gerade aus vollem Herzen in den Refrain ein, als es klingelte. Liv sprang auf und rannte zur Tür, um dem Pizzaboten zu öffnen, und ich pausierte den Film. Ich roch die Pizza, bevor Liv die Wohnungstür wieder geschlossen hatte. Als sie die Schachteln auf den Tisch legte und die erste öffnete, grummelte mein Magen freudig.

Ich war heute Morgen viel zu spät aufgestanden, hatte mich innerhalb von zwanzig Minuten fertig machen müssen und war mit einem Stück Toast im Mund losgehetzt, das ich auf dem Weg zum Campus verschlungen hatte. Den Schoko-Nuss-Riegel, den ich mittags in der Bibliothek gegessen hatte, konnte man wohl kaum als sättigend bezeichnen. Eine große Pizza dampfend und duftend vor mir liegen zu haben, war die sprichwörtliche Erfüllung meiner Träume.

Ich war so damit beschäftigt, sie anzuhimmeln, dass mir die dritte, wesentlich kleinere Schachtel erst auffiel, als Liv sie mir direkt vor die Nase hielt. Auf meinen fragenden Blick hin drückte sie mir diese in die Hand und ließ sich mit einem breiten Grinsen neben mich fallen.

Ein süßer, vertrauter Geruch stieg in meine Nase, und mein Blick ging wieder zu Liv. »Ist das …«

Livs blonde Haare flogen um ihr Gesicht, als sie aufgeregt nickte. »Haben sie seit Kurzem neu auf ihrer Karte. Und wenn du ganz tief im Tiefkühlschrank kramst, findest du bestimmt auch noch Eiscreme.«

Es kostete mich viel Kraft, mich nicht sofort auf die Süßspeise zu stürzen. Liv hatte mir zu der Pizza einen Lava Cake bestellt – die Nachspeise, mit der man mein Herz gewinnen konnte. Er fühlte sich warm an in meinen Händen, und mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich daran dachte, ihn in einer Kugel Eiscreme zu ertränken.

»Du bist die Beste.«

»Wehe, du isst ihn nicht als Erstes! Ich habe extra geschrieben, dass sie sich beeilen sollen, damit du ihn warm bekommst«, sagte Liv. Sie nahm sich ein Stück Pizza, biss hinein und sank dann genüsslich kauend wieder zurück in die Kissen.

Ich holte schnell eine Schüssel, Löffel und die Eiscreme, bevor ich es Liv gleichtat und den Film wieder startete. Gemütliche, ruhige Abende wie dieser waren es, die mich durch den Tag brachten.

Ein dumpfes Klacken weckte mich.

Meine Augen öffneten sich nur mit einiger Willenskraft, und als ich versuchte, mich aufzurichten, beschwerte mein Nacken sich über die verdrehte Position, in der ich die letzten Stunden verbracht hatte. Liv war in der zweiten Hälfte des Films eingeschlafen und lag am anderen Ende der Couch. Die Beine hatte sie in meine Richtung ausgestreckt, und während ich halb im Sitzen eingeschlafen war, machte sie sich so breit, wie es nur meine kleine Schwester konnte.

Ich strich mir meine wirren Haare aus dem Gesicht und blinzelte müde Richtung Eingangstür, die in diesem Moment aufging. Mel hatte ihre hochhackigen Schuhe vor der Tür ausgezogen und betrat leise die Wohnung.

Ich streckte meine Beine, ließ die Füße kurz kreisen und stand auf. »Hey«, flüsterte ich, um Liv nicht zu wecken.

Mel hob den Blick von ihrem Handy, von welchem sie sich arbeitsbedingt nur selten löste, und fragte ebenso leise: »Habe ich dich geweckt?«

Ich schüttelte den Kopf und folgte ihr in die Küche. »Wir haben einen Film geguckt und sind irgendwann ins Fresskoma gefallen.«

Mel musste nicht einmal die Pizzakartons auf dem Couchtisch sehen, um ihre nächste Vermutung zu äußern. »Lieferdienst?«

»Der Tag war lang, und Pizza ist immer lecker …«

»Du kannst leckeres Essen auch selbst kochen.« Sie befreite ihre Haare aus dem strengen Zopf, den sie meistens trug, wenn sie die Wohnung verließ. Sie hatte die gleichen blonden Haare wie Liv und ich, nur waren ihre glatt und trockneten nach dem Waschen nicht in einem lockigen Chaos wie meine.

»Aber so ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass die Küche meinetwegen in Flammen aufgeht«, gab ich zurück.

Ein Schnauben war ihre Reaktion. Im nächsten Moment ließ Mel sich seufzend auf einen Stuhl fallen.

Ich zog den Stuhl ihr gegenüber vom Tisch und setzte mich. »Viel zu tun?«

»Kann man so sagen.« Mel fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und begann, einzelne Knoten darin zu entwirren. »Alle spielen verrückt wegen der Award-Show übermorgen. Mein Senior Manager macht mir Stress, und ich muss den Leuten, die beim Veranstalter arbeiten, Stress machen. Als würden wir das alles zum ersten Mal tun.«

Mel arbeitete mittlerweile seit einigen Jahren in einem ziemlich großen Betrieb im Veranstaltungsmanagement. Sie war, grob gesagt, die Ansprechpartnerin für alle Mitarbeiter des Veranstalters, der sie beschäftigte. Was allerdings auch hieß, dass sie dafür geradestehen und ihrem Senior Manager Bericht erstatten musste, wenn etwas nicht ganz glatt lief.

Jedes Mal, wenn eine Show näherrückte, konnte ich dabei zusehen, wie die Ringe unter ihren Augen ein wenig tiefer wurden. Es war mir ein Rätsel, wie sie den Stress immer wieder aushielt. Mich machte es schon fertig, wenn die Deadline einer Hausarbeit anstand. Und darunter litten dann nur meine eigenen Noten, nicht mehrere Tausende oder Millionen Leute.

»Willst du ein Stück Pizza? Liv hat nicht alles geschafft.« Ich machte Anstalten aufzustehen, aber Mel hielt mich davon ab.

»Nein, schon gut.« Sie hob die Hand vor den Mund und gähnte ausgiebig. »Ich gehe direkt ins Bett. Ich kann mir nicht erlauben, morgen zu verschlafen.«

Ihr war deutlich anzusehen, dass sie nichts lieber getan hätte, als sich einen freien Tag zu gönnen.

Mel band sich das Haargummi ums Handgelenk. »Bist du morgen wieder im Museum?«

»Ja. Ich hab Lanas Schicht übernommen und werde vermutlich den ganzen Tag dort sitzen.« Und mich langweilen.

Ich hatte kurz nach Beginn meines Studiums beschlossen, mir einen Job zu suchen. Durch Zufall war ich auf einen Aushang in der Unibibliothek gestolpert und hatte mich, ohne lange darüber nachzudenken, als Garderoben-Aufpasserin in einem Kunstmuseum beworben. Glücklicherweise waren die Anforderungen nicht allzu hoch gewesen. In meiner Schulzeit hatte ich nebenbei nie gejobbt, daher war mein Lebenslauf auch dementsprechend überschaubar gewesen.

Mel nickte nur. Ihre Gedanken widmeten sich offensichtlich bereits dem nächsten Thema, denn ihr Blick ging zum Wohnzimmer.

»Weckst du Liv oder soll ich es tun?«, fragte sie.

»Geh ins Bett«, antwortete ich nachdrücklich und stand nun doch auf. »Ich kümmere mich um Liv.«

Mit einem Nicken tat Mel es mir gleich. Sie schob den Stuhl zurück unter den Tisch und verließ mit einem leisen »Gute Nacht« an mich und einem weiteren Gähnen die Küche. Ihre Zimmertür fiel ins Schloss und kurz darauf war es in der Wohnung beinahe vollständig still. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören, und ein Rascheln, als Liv sich auf der Couch bewegte.

Mein Blick ging aus dem Fenster über der Spüle nach draußen in die Dunkelheit. Sie wurde von vorbeifahrenden Autos und den unzähligen Straßenlaternen durchbrochen, die die Stadt am Abend künstlich erhellten. Ich vermisste es, nachts die Sterne am Himmel sehen zu können. Und mir fehlte frische Luft, die nicht voll von Abgasen war.

In der Gegenwart meiner Schwestern würde ich es nie laut sagen, aber manchmal hatte ich das Gefühl, von den vielen Geräuschen und Lichtern, die hier nie nachließen, erdrückt zu werden. Liv und ich waren zu Mel in die Großstadt gezogen, nachdem unsere Eltern gestorben waren. Das war mittlerweile sieben Jahre her. Aber an manchen Tagen waren die Bilder von Camping unter freiem Himmel in unserem Garten oder von langen Waldspaziergängen so lebhaft, als wären sie erst gestern entstanden.

Das Leben in einer Stadt konnte aufregend sein. Spannend. In der Masse unterzugehen war etwas, das sicher viele genossen. Überall war etwas los, und man war nie allein. Mich machte genau das unglaublich nervös. Es gab kaum einen Ort, an dem ich einfach … sein konnte. Ohne ungewollt Telefonate mit anhören zu müssen, ohne das Plärren von Sirenen oder hupende Autos.

Trotzdem hatte ich schon vor einer ganzen Weile beschlossen, es einfach hinzunehmen. Mel hatte viele Dinge aufgegeben, um Liv und mich bei sich aufzunehmen und versorgen zu können. Ich wollte mein Studium abschließen, ohne ihr weitere Sorgen zu bereiten, einen guten Job finden – und vielleicht konnte ich ihr dann wenigstens einen kleinen Teil von dem zurückgeben, was sie in den letzten Jahren für mich getan hatte.

Ich holte tief Luft und stieß meinen Atem langsam aus, dabei versuchte ich, meine Schultern zu entspannen. Es war nur eine kleine Übung, aber sie half mir in den Augenblicken, wenn mein Kopf zu laut wurde und meine Gedanken im Kreis rannten.

Ein paar Sekunden blieb ich noch in der Küche stehen und sog die Stille in mich auf, ehe ich ins Wohnzimmer ging, um Liv aufzuwecken. Sie blinzelte verschlafen, als ich sanft an ihrer Schulter rüttelte, und murrte, dass sie einfach auf der Couch weiterschlafen würde. Ich versuchte mehrmals, sie dazu zu bringen, doch in ihr Zimmer zu gehen, aber wenn Liv einmal schläfrig war, brachten sie keine zehn Pferde dazu, sich weiter als nötig zu bewegen.

Kurzerhand ging ich in ihr Zimmer, um ihre Decke und ein Kissen vom Bett zu holen. Livs Wände waren voller Poster von Bands, die sie gerade anhimmelte. Meistens wechselten sie so schnell, dass ich irgendwann aufgegeben hatte, den Überblick darüber behalten zu wollen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals eine solche Phase gehabt zu haben – aber vielleicht lag das auch daran, dass ich schon immer lieber für fiktionale Charaktere schwärmte.

Zurück im Wohnzimmer, breitete ich die Decke über Liv aus und hob ihren Kopf vorsichtig an, um das Kissen darunterzuschieben. Sie kuschelte sich sofort darin ein, bis nur noch ihr Haaransatz und ihr Gesicht zu sehen waren. Wie sie auf der unbequemen Couch überhaupt längere Zeit schlafen konnte, war mir ein Rätsel. Obwohl ich in ihrem Alter sicher auch öfter die Nacht auf dem Boden verbracht hatte, weil ich beim Lesen eingeschlafen war. Damals hatte mir so etwas keine Probleme bereitet – das waren wohl die Privilegien der Jugend, von denen alle sprachen.

Ich stockte kurz. In meinen Gedanken war ich offensichtlich schon zweiundsiebzig und nicht neunzehn Jahre alt.

Nach einem letzten Blick durch den Raum schaltete ich das Licht aus und zog mich in mein Zimmer zurück. Während ich ins Bett kletterte, versuchte ich, nicht daran zu denken, dass am nächsten Morgen wieder mehrere Vorlesungen und stickige College-Säle auf mich warteten. Ich stieß ein wohliges Seufzen aus, als mein Kopf das weiche Kissen berührte und meine nackten Füße über das kalte Bettlaken strichen. Es konnten nicht mehr als fünf Minuten vergangen sein, als die Müdigkeit mich überkam und mir die Augen zufielen. Die Realität wurde von einem zusammenhanglosen Traum abgelöst.

2. KAPITEL

Mein Kopf pochte.

Ich hatte mich in die hinterste Ecke der Bibliothek zurückgezogen und Kopfhörer aufgesetzt, um die Geräusche um mich herum zu unterdrücken, doch das Hämmern hinter meinen Schläfen wollte nicht aufhören. Meine Konzentration war auf dem Nullpunkt, und ich hatte Mühe, den Text zum Thema Mikroökonomie vor mir überhaupt zu verstehen.

Nach einer weiteren Stunde Quälerei gab ich es auf, damit weiterzukommen. Ich hatte die meisten Hausarbeiten und den restlichen Lesestoff für die Vorlesungen diese Woche erledigt – den Rest konnte ich genauso gut auf morgen verschieben. Ich liebte es, neue Dinge zu lernen, wenn ich dafür eine Leidenschaft hatte. Nur war meine Leidenschaft für Mathematik und Statistik bereits in der Schulzeit eher begrenzt gewesen.

Ich fuhr meinen Laptop herunter und verstaute ihn zusammen mit meinen Lehrbüchern und den Kopfhörern in meinem Rucksack. Es war später Nachmittag, und die Bibliothek platzte aus allen Nähten. Studenten, die ihre Arbeiten in Ruhe fertigstellen wollten, und solche, die sich hier die Zeit bis zur nächsten Vorlesung vertrieben. Die Glaskuppel ließ die Bibliothek zwar groß und offen wirken, trotzdem war ich erleichtert, als ich aus dem alten Gebäude trat.

Ein Windstoß blies mir die Haare ins Gesicht. Ich schob mir die widerspenstigen Strähnen mit der rechten Hand hinter das Ohr, ehe ich mein Handy aus meiner Hosentasche zog.

Ich: Lust auf Waffeln mit Eis?

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Erin: Klar. Gib mir zwei Tage.

Erin: Und wo du schon dabei bist, auch 1000 Dollar, billiger bekomm ich hier last minute nichts mehr.

Ich: Du musstest dir auch UNBEDINGT genau das Land aussuchen, das am weitesten weg ist.

Erin: Sorry, sorry.

Sie schickte ein GIF, das einen traurig guckenden Hund und den Text »please forgive dog« darunter zeigte. Ich grinste mein Handy an und hoffte nicht zum ersten Mal, dass die nächsten fünf Monate schnell vergehen würden. Erin war letzten November für ein Work-and-Travel-Jahr nach Australien geflogen, und ich hatte sie seitdem nur ab und an auf dem Bildschirm gesehen.

Wir hatten uns während unserer Highschoolzeit über das Internet kennengelernt und später bemerkt, dass wir in derselben Stadt lebten. Das war mittlerweile fünf Jahre her, und bis letztes Jahr hatte es uns den größten Teil der Zeit nur im Doppelpack gegeben. Aber Dinge veränderten sich – sosehr sich auch alles in mir drin dagegen sträubte.

Ich: Wie mies. Du weißt, dass ich bei Tieren nicht standhaft bleiben kann.

Erin: Irgendwelche Schwächen muss ich ja ausnutzen. Aus 9000 Meilen Entfernung sind meine Möglichkeiten begrenzt.

9241 Meilen und siebzehn Stunden Zeitdifferenz, ergänzte ich im Kopf.

Ich schob das Handy zurück in meine Hosentasche und machte mich auf den Weg nach Hause. Die Bibliothek befand sich glücklicherweise am nördlichsten Ende des riesigen Campus. Ich bog auf die Straße, die von parkenden Autos gesäumt war, und ließ die Bibliothek mit schnellen Schritten hinter mir. Das gesamte College war ein Mix aus Neubauten und Gebäuden im gotischen Stil, die sich abwechselten. Merkwürdigerweise bildeten die Glaspaläste und die mit Efeu überwucherten Hauswände zusammen ein beinah rundes Bild. Den Kontrast dieser Architekturstile hatte ich schon häufiger in meinem Skizzenblock festgehalten.

Mein Weg führte mich am Department für Biologie und Anatomie vorbei und ein paar Straßen weiter zu meinem Lieblingsbäcker. Hätte ich mehr Geld dabeigehabt, wäre vermutlich die gesamte Auslage in meiner Tasche gelandet. So entschied ich mich für einen Cupcake für Liv, Cheesecake für Mel und zwei mit Schokoladenglasur überzogene Brownies für mich. Am liebsten hätte ich auf dem Weg alles allein gegessen, aber ich konnte mich gerade so beherrschen.

Stattdessen schickte ich ein Bild meiner Ausbeute an Erin und verfluchte mich auf den letzten Metern dafür, nicht regelmäßiger Ausdauersport für meine Kondition zu betreiben. Unsere Wohnung lag im fünften Stock, der Aufzug war schon seit einigen Wochen defekt, und als ich endlich oben ankam, musste ich erst einmal kurz stehen bleiben, um nach Luft zu schnappen.

Als ich die Wohnung betrat, war es überraschenderweise Mels Stimme, die ich als Erstes hörte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal vor mir zu Hause gewesen war. Dem eingeschalteten Laptop und den Unterlagen auf dem Couchtisch nach zu urteilen, hatte sie sich ihre Arbeit mit nach Hause gebracht.

Ich verstand nicht genau, was Mel sagte. Livs nächste Worte hingegen waren auf einer Frequenz, die man kaum überhören konnte. »Bitte, Melanie, biitte.«

Ich blieb im Türrahmen zur Küche stehen, als ich sah, wie Liv unsere große Schwester flehend mit vor der Brust verschränkten Händen anschaute.

»Ich kann dich nicht einfach mit auf meine Arbeit nehmen, Liv. Vor allem nicht morgen«, erwiderte Mel kopfschüttelnd.

»Gerade morgen! Weißt du, wer dort sein wird?«

Mel sah Liv abwartend an. Es dauerte ein paar wenige Sekunden, aber selbst ich konnte die Glühbirne sehen, die mit etwas Verzögerung über Livs Kopf ansprang.

»Ja, okay. Vermutlich weißt du es«, gab sie ein wenig kleinlaut zu. Schon hatte sie wieder ihren Welpenblick aufgesetzt. Als hätte sie ihn in ihrer Freizeit vor dem Spiegel geübt und nur auf den Tag gewartet, an dem sie ihn endlich einsetzen konnte. »Bitte, bitte, mit all meiner Liebe! Ich werde dich nie wieder um so etwas bitten. NXT sind meine Lieblingsband, und hätten sie früher bekannt gegeben, dass sie dabei sind, hätte ich mir ein Ticket für die Show geholt. Aber jetzt ist es vielleicht das einzige Mal, dass ich im selben Gebäude wie sie sein kann. Bitteee, Mel. Ich mache auch das ganze nächste Jahr den Abwasch für dich.«

Mel legte den Gemüseschäler beiseite und die Karotte, die sie in der anderen Hand hielt, auf einen Teller voller klein geschnittener Tomaten, Mozzarella und Gurkenspalten.

Mit einem Nicken deutete sie in meine Richtung. »Ella kümmert sich normalerweise um den Abwasch.« Ihre Miene war unbewegt. Würde ich sie nicht bereits mein ganzes Leben lang kennen, wäre mir nicht aufgefallen, wie der Zug um ihren Mund etwas sanfter wurde, als ihr Blick wieder über Liv strich.

Meine kleine Schwester blinzelte ein paarmal. »Die Wäsche?«

Mel verneinte auch das stumm.

»Was genau machst du eigentlich in unserem Haushalt?«, fragte Liv, und ich hatte große Mühe, mir nicht mit der flachen Hand gegen die Stirn zu schlagen. An ihren Verhandlungskünsten musste sie noch arbeiten.

»Meinst du, es ist deiner Sache zuträglich, wenn du solche Fragen stellst?« Es war kaum erkennbar, aber ich meinte, ein Zucken in Mels Mundwinkeln zu sehen.

Verständlich. Man konnte Liv einfach nicht allzu lange böse sein. Zwar schoss sie mit den Dingen, die sie sagte, manchmal über das Ziel hinaus, aber nie mutwillig. Außerdem war sie von uns diejenige, die sich am ehesten entschuldigte, wenn wir uns stritten. Vermutlich wäre es ihr am liebsten gewesen, hätten wir uns immer blendend verstanden – auch wenn das bei drei Geschwistern in den unterschiedlichsten Phasen des Lebens so gut wie unmöglich war.

»Wenn du mich so fragst«, begann Liv zögernd, »vermutlich nicht?« Sie warf Hilfe suchend einen Blick zur Tür, von der ich mich nicht fortbewegt hatte. Meine Antwort war ein Schulterzucken. In diese Diskussion würde ich mich nicht einmischen. Das musste Liv allein bewältigen.

»Ich tue alles, was du willst, wenn ich mitkommen darf«, schlug Liv schließlich entschlossen vor.

Mel ließ auf ihre Antwort warten. Als wäre sie eine Schauspielerin und müsste eine dramatische Pause einlegen – obwohl wir alle bereits wussten, wie ihre Antwort ausfallen würde. Andernfalls hätte Liv schon längst aufgegeben.

Mel seufzte. »Ich schaue, was ich tun kann.«

Das glückliche Grinsen, das sich auf Livs Gesicht ausbreitete, blendete mich beinahe. Sie wollte sich Mel um den Hals werfen, doch diese verschränkte die Arme vor der Brust.

»Unter einer Bedingung.«

Livs Freude war mit einem Mal gedämpft. Vermutlich machte sie sich innerlich auf das Schlimmste gefasst. »Was für eine Bedingung?«

Mels Blick zuckte kurz zu mir. Es war nur ein winziger Augenblick, aber in meiner Magengegend breitete sich sofort ein ungutes Gefühl aus.

»Ella kommt mit, und ihr bleibt den ganzen Abend über zusammen.«

Moment.

»Was?« Ich starrte Mel entgeistert an. »Niemals …«

»Auf jeden Fall!«, fuhr Liv mir über den Mund. Sie richtete ihren Welpenblick auf mich und formte mit den Lippen ein lautloses Bitte, bitte.

»Nein, Liv, vergiss es«, sagte ich entschlossen. »Ich habe bis siebzehn Uhr Vorlesungen.«

»Du könntest sie schwänzen«, schlug sie vor. »Studenten lassen doch ständig Vorlesungen ausfallen.«

»Weißt du, wie viel Stoff ich dann nacharbeiten müsste?«, erwiderte ich und schüttelte den Kopf. »Nein, Liv.«

Sie schob die Unterlippe vor und sah mich flehend an. »Bitte, Ella. Du weißt, dass ich dich nicht fragen würde, wenn es mir nicht wirklich, wirklich wichtig wäre.«

Ehrlicherweise musste ich ihr diesen Punkt geben. Von alltäglichen Dingen abgesehen, bat sie mich nur in Ausnahmefällen um etwas. Sie musste mein Zögern spüren, denn sie schickte ein zaghaftes Lächeln in meine Richtung.

»Ich mache auch das ganze nächste Jahr den Abwasch für dich«, wiederholte sie ihren Vorschlag hoffnungsvoll.

Ich legte den Kopf in den Nacken, als könnte ich an der Decke die Antwort auf all meine Fragen finden. »Wenn es nur die letzte Vorlesung ist, verpasse ich vielleicht nicht ganz so viel …«

Liv quiekte. »Heißt das, du kommst mit?«

Ich seufzte und nickte kapitulierend.

»Danke, Ella!«

Sie fiel mir so schwungvoll um den Hals, dass ich ein paar Schritte zurücktaumelte. Ich strich Liv über den Rücken, ehe ich sie von mir schob.

»Versprich mir, dass du dich benimmst«, sagte Mel ernst an Liv gewandt. »Wenn irgendjemand sich beschwert, weil meine kleine Schwester etwas angestellt hat, kann ich mir vermutlich direkt einen neuen Job suchen.«

»Keine Sorge«, beteuerte Liv und salutierte. »Ich zeige mich prinzipiell immer von meiner charmantesten Seite.« Sie löste sich von mir, um Mel kurz zu umarmen, und stürmte dann mit einem leisen Quietschen den Flur hinunter. Wenige Sekunden später fiel ihre Zimmertür zu.

Langsam drehte ich mich zu Mel um. »Worauf habe ich mich da gerade eingelassen?«, fragte ich.

Mel hatte den Schäler wieder in die Hand genommen und antwortete mir, ohne aufzusehen. »Keine Sorge. Ich werde euch dort einschleusen, wo tote Hose ist, damit Liv gar nicht erst auf die Idee kommt, etwas anzustellen.«

Ich lachte. »Klingt perfekt für mich.«

3. KAPITEL

Die Arena, in der die Award-Show stattfand, war riesig. Ich hatte nicht mitgezählt, durch wie viele Sicherheitskontrollen wir gehen mussten, aber mehr als drei waren es mindestens. Jedes Mal, wenn man Mels Ausweis verlangte und Liv und mich mit skeptischen Blicken musterte, schlug mein Magen Purzelbäume. Zumal mich diese Kontrollen nur immer wieder in dem Gefühl bestärkten, hier vollkommen fehl am Platz zu sein.

Überall liefen Leute umher, manche grüßten Mel, andere waren in aufregende Telefonate vertieft, und wieder andere standen in kleinen Gruppen zusammen und schienen irgendwelche organisatorischen Details zu besprechen. Die eigentliche Show würde erst in einigen Stunden starten, aber bis dahin gab es wohl noch genügend vorzubereiten.

Mel führte uns zu einem Raum mit einer Wand voller Spiegel. Direkt neben der Tür hing ein Fernseher in der Ecke, und im hinteren Teil stand ein kleines Sofa – abgesehen davon war der Raum leer. Vermutlich wurden in einer solchen Garderobe normalerweise irgendwelche Künstler hergerichtet – ich betete inständig, dass diese hier leer bleiben würde und ich in Ruhe das Buch lesen konnte, das ich heute Mittag noch in meine Tasche gestopft hatte.

»Ich muss noch einiges erledigen, bevor die Show losgeht. Schräg über den Gang findet ihr eine Toilette, da drüben«, sie deutete auf einen kleinen Tisch an der hintersten Wand des Raums, »stehen ein paar Wasserflaschen und Snacks, falls ihr was braucht. Wartet hier, bis ich euch holen komme.« Damit wandte sie sich an Liv und sah sie eindringlich an. »Und bitte. Macht keinen Ärger.«

Liv riss die Augen weit auf, um so unschuldig wie möglich zu wirken. »Wieso siehst du mich dabei an?«

Mel zog eine Augenbraue in die Höhe, als sollte die Antwort offensichtlich sein. Sie griff in ihre Jackentasche und reichte mir eine ihrer Visitenkarten. »Falls euch jemand fragt, warum ihr hier seid, könnt ihr die zeigen.«

»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand hierherkommt?«, fragte ich, als ich ihr die Karte aus der Hand nahm.

»Relativ gering.« Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Liv hatte es sich bereits auf dem Sofa bequem gemacht und war in ihrem Handy versunken. »Meinst du, ihr kommt zurecht?«

Ich nickte. »Mach dir keine Sorgen. Zur Not binde ich Liv ans Sofa an.«

Sie lächelte mir dankbar zu. »Ich seh euch dann nachher.«

Ich winkte ihr zu, bevor sie zurück auf den Gang trat und die Tür hinter sich zuzog. Dann durchquerte ich den Raum und setzte mich neben Liv. Sie hatte sich die Schuhe von den Füßen getreten und die Beine an den Oberkörper gezogen. Auf ihrem Handy lief stumm ein Video.

Mel würde sicher erst in ein oder zwei Stunden wiederkommen, daher versuchte ich, es mir so bequem wie möglich zu machen. Was sich als schwierig herausstellte, da sich Liv wie gewöhnlich unglaublich breitmachte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich nah an die Lehne zu drücken, wenn ich nicht auf ihrem Schoß sitzen wollte.

Als ich eine halbwegs bequeme Position gefunden hatte, zog ich mein Buch aus dem Rucksack: Sophie im Schloss des Zauberers. Ich hatte es von meiner Mom geschenkt bekommen, nachdem sie es selbst gelesen hatte. Die Ecken waren bereits ziemlich angestoßen und die Seiten ein wenig vergilbt. An einigen Stellen hatte sie sogar mit einem dunklen Stift Anmerkungen oder ihre Gedanken aufgeschrieben. Ich liebte diese Erinnerung an sie mehr, als ich in Worte fassen konnte. Immer wenn ich in die Geschichte eintauchte, war es, wie nach Hause zu kommen. Ich fühlte mich sofort ruhiger und wohler.

Leider kannten die meisten nur den Film. Und so gut der auch war – er kam bei Weitem nicht an die Textvorlage heran.

Während ich las, verschwamm die Welt um mich herum. Ich wäre mehr als zufrieden gewesen, einfach hier sitzen zu bleiben und das Buch zu beenden.

Liv hingegen machte mit jeder vergehenden Minute weniger den Anschein, als würde es sie freuen, noch länger hier warten zu müssen. Nach einer halben Stunde legte sie ihr Handy beiseite und fing an, ungeduldig mit den Fingern auf dem Sofa zu trommeln. Zehn Minuten später stellte sie die Füße auf den Boden und wippte mit den Beinen.

Ich versuchte wirklich, mich auf die Geschichte zu konzentrieren, aber ihre nervösen Bewegungen machten mich ebenfalls unruhig.

Nach weiteren fünfzehn Minuten sprang sie auf. »Ich muss auf die Toilette.«

Ich runzelte die Stirn. »Du warst zu Hause dreimal auf Toilette, bevor wir gefahren sind.«

»Ich hab einen Liter Tee getrunken, Ella. Der löst sich nicht einfach auf halbem Weg auf«, sagte sie und machte Anstalten, zur Tür zu gehen.

Ich legte Mels Visitenkarte als provisorisches Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte mein Buch zu. »Soll ich mitkommen?«

Liv runzelte die Stirn. »Die Toilette ist direkt gegenüber. Ich glaube, das schaffe ich allein.«

Das bezweifelte ich gar nicht. Eher bereitete mir der Gedanke Sorgen, dass ihr auf dem kurzen Weg jemand Interessantes über den Weg laufen könnte und Liv sich entschloss, doch nicht so dringend auf die Toilette zu müssen.

Liv seufzte. »Komm schon, Ella. Du wirst gar nicht merken, dass ich weg war.«

»Fünf Minuten«, sagte ich nach kurzem Zögern. »Und wehe, du machst einen Umweg. Mel dreht uns den Hals um, wenn einer von uns nicht da ist, sobald sie kommt.«

»Ja, ist gut«, murmelte sie und war im nächsten Moment verschwunden.

Ich warf einen Blick auf mein Handy, um nach der Uhrzeit zu sehen. Dann schlug ich mein Buch wieder auf und ließ mich in die Geschichte fallen. Davon abgesehen, dass ich meine Sitzposition ab und an geringfügig veränderte, rührte ich mich nicht vom Fleck. Und das musste ich auch gar nicht. Die Charaktere im Buch leisteten mir Gesellschaft und nahmen mich mit auf ihre Reisen. Ich konnte genau an diesem Ort sitzen bleiben und trotzdem die gesamte Welt bereisen.

Zehn Seiten vergingen, dann fünfzehn, zwanzig. Ich war so in die Geschichte vertieft, dass ich es kaum bemerkte, als die Tür sich öffnete. Erst eine leise Stimme riss mich aus meiner kleinen Welt. Ich rechnete fest damit, Liv zu sehen, als ich aufblickte, aber statt ihrer blonden Locken sah ich kurze schwarze Haare und einen Rücken, über den sich ein ebenso schwarzes Jackett spannte. Der Mann hatte den Blick auf die Tür gerichtet und ignorierte die Spiegel an der Wand völlig. Sonst wäre ihm vermutlich sofort aufgefallen, dass er sich nicht allein in dem Raum befand.

Eine Stimme drang leise durch das Handy, das er an sein Ohr gepresst hielt. Etwas, das die Person am anderen Ende sagte, schien ihm zu missfallen, denn ich sah, wie sein Rücken sich augenblicklich verspannte.

Im nächsten Moment fragte ich mich, wieso ich ihn anstarrte wie einen Außerirdischen.

Mach auf dich aufmerksam!

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da fing er selbst an zu sprechen. Ich verstand nichts von dem, was er von sich gab. Er sprach in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Sie war schön – auf eine abgerundete, sanfte Art. Allerdings konnte mein Hirn keinen Sinn hinter den Worten und Lauten entdecken. Ich konzentrierte mich, versuchte, vielleicht doch auf ein vertrautes Muster zu stoßen. Aber das Einzige, was mir auffiel, war seine überraschend tiefe Stimme, die irgendwie nicht so ganz zu der Sprache passen wollte.

Entschlossen klappte ich mein Buch wieder zu und legte es neben mich. Bemüht, ihn nicht zu erschrecken, drückte ich mich so leise wie möglich vom Sofa hoch. Ich würde einfach an ihm vorbeigehen und mich mit einer knappen Entschuldigung auf den Gang verziehen.

Als ich nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, drehte er sich ruckartig um. Ich zuckte zusammen und blieb unsicher stehen. Sein Blick kreuzte meinen, und das Erste, das mir durch den Kopf ging, war, dass die Sprache vorher eine asiatische gewesen sein musste.

Seine Haare waren in einem leicht versetzten Mittelscheitel aus seinem Gesicht gestylt. Er hatte ebenmäßige Gesichtszüge, volle Lippen und hohe Wangenknochen. Merkwürdigerweise zog es meinen Blick immer wieder zu seinen tiefbraunen Augen, bis ich bemerkte, woran es lag: Sie waren mit einem leichten, dunklen Make-up betont – auf eine Weise, die erst beim zweiten oder dritten Hinsehen auffiel.

Einige Sekunden mussten vergangen sein, ehe mir bewusst wurde, dass ich ihn anstarrte. Und er mich. Neben ihm mit seinem schwarzen Anzug kam ich mir mit meinem grauen Pullover und dem schwarzen Rock ein wenig underdressed vor.

Ich räusperte mich, um die unangenehme Stille im Raum zu durchbrechen, und das schien auch seine Sprachlosigkeit zu beenden. Er sagte etwas zu der Person am Telefon, das ich nicht verstand, dann legte er auf.

»Entschuldige.« Ich hob die Hände mit den Handflächen nach vorn vor meinen Körper. »Ich wollte nicht stören«, sagte ich langsamer als normal. Deutlicher. Auch wenn es nichts daran ändern würde, dass er meine Sprache nicht verstand. »Ich gehe raus«, fügte ich hinzu und unterstrich den Satz pantomimisch, indem ich auf mich selbst zeigte und eine Handbewegung zur Tür machte, während ich einen Schritt in die Richtung tat.

Er zog eine dunkle Augenbraue in die Höhe, was ihm einen irritierten Ausdruck verlieh, und schob sein Handy in die Tasche seiner Anzughose.

»Schon gut«, antwortete er dann ebenso langsam und deutlich. »Ich dachte, der Raum wäre leer.«

Es dauerte ein, zwei, drei Sekunden, bis ich schaltete. Hitze schoss mir in die Wangen, als ich feststellte, dass ich ihn verstanden hatte.

Sein Englisch war gut. Sehr gut sogar. Man konnte nur den Hauch eines Akzentes hören, der sich beinahe vollständig in den rauen Kanten seiner tiefen Stimme verlor.

Statt mich wie eine normale Person einfach zu entschuldigen und nach draußen zu gehen, war ich aufgrund seines Aussehens und der mir fremden Sprache, die er am Telefon benutzt hatte, davon ausgegangen, dass er mich nicht verstehen würde.

Ich überlegte fieberhaft, was ich antworten konnte, um mich aus der Situation zu retten und nicht noch unhöflicher zu wirken. Jedoch fiel mir nichts ein außer einem nervösen Lachen gefolgt von: »Ich hatte nicht erwartet, dass du Englisch sprichst.«

Wenn sich der Erdboden unter mir aufgetan hätte, wäre ich freiwillig hineingesprungen.

Bei meinen Worten verschränkte er die Arme vor der Brust und neigte den Kopf ein wenig zur Seite. Einzelne Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn, aber er ignorierte sie. »Warum, weil ich nicht wie ein typischer Amerikaner aussehe?«

Aufgeregt schüttelte ich den Kopf. »Nein! Nein, natürlich nicht.« Ich knetete meine Hände nervös vor meinem Körper und versuchte, seinem Blick standzuhalten. »Ich meine, offensichtlich siehst du anders aus, aber Amerika ist ja auch das Land der Einwanderer, also hat das gar keinen Aussagewert, mal davon abgesehen, dass Englisch eine Weltsprache ist, und ich …« Ich unterbrach mich, als ich das amüsierte Funkeln in seinen Augen bemerkte, senkte den Kopf für einen Moment, um mich zu sammeln, ehe ich ihn wieder mit entschuldigendem Blick ansah. »Ich höre jetzt besser auf zu reden.«

»Sprichst du außer Englisch keine andere Sprache?«, fragte er interessiert.

Die Tatsache, dass er sich weiter mit mir unterhielt und nicht sofort den Raum verließ, überraschte und beruhigte mich gleichermaßen. Entweder war er es gewohnt, wenn Leute sich vor ihm lächerlich machten, oder er hatte eine hohe Toleranzgrenze.

»Nicht wirklich«, antwortete ich ehrlich. »Wenn man von ein paar Brocken Spanisch mal absieht.« Die ich auch nur gelernt hatte, weil ich damals in der Highschool eine Fremdsprache hatte belegen müssen. Viel hängen geblieben war davon allerdings nicht.

»Und was machst du hier allein mit …«, er warf einen Blick über meine Schulter. »Mit Sophie im Schloss des Zauberers? Gutes Buch übrigens.«

Meine Augen wurden groß. »Du kennst die Geschichte?« Die Begeisterung in meiner Stimme war deutlich zu hören.

»Natürlich kenne ich sie. Der Film …«

»Oh nein«, stöhnte ich. »Der Film ist gut, aber das Buch ist so viel besser!«

Er stieß ein Lachen aus, das zu gleichen Teilen verwirrt und amüsiert klang. »Ja«, stimmte er zu. »Wenn du mich hättest ausreden lassen, hätte ich genau das gesagt.«

»Oh.« Ich räusperte mich. Wie viele Fettnäpfchen kann man in einem Gespräch eigentlich treffen?

Ein Lächeln hing in seinen Mundwinkeln. »Meine Frage hast du damit aber nicht beantwortet.«

Frage? Welche Frage? »Ach so! Ich warte auf meine Schwestern.«

»Und warum vertreibst du dir nicht draußen die Zeit? So kurz vor der Show gibt es einiges zu sehen.«

»Ich komme mit Menschenmassen … nicht so gut klar.« Das war die Wahrheit. Auch wenn ich mich fragte, warum es mir in dem Moment so leichtfiel, das zuzugeben. Eventuell lag es an dem Ausdruck des Verstehens, der sich in seine Augen schlich, oder daran, wie sein Lächeln ein bisschen verrutschte, ein klein wenig blasser wurde, so als wüsste er genau, wovon ich redete.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich, bemüht, die Konversation wieder in flachere Gewässer zu lenken.

Sein Gesicht nahm wieder einen unbeschwerteren Ausdruck an, als er auf meinen Themenwechsel einging. »Jae-yong.«

Ich blinzelte. »Jay … Wie?«

Er hob eine Hand und legte die Finger kurz an seine Lippen, wie um das Lächeln, das ich dahinter aufblitzen sah, zu verbergen. Keinen Herzschlag später hatte er die Hand wieder an seine Seite fallen lassen. Mir fielen geistesabwesend die Ringe auf, die zwei seiner Finger schmückten.

»Jae-yong«, wiederholte er, etwas langsamer diesmal.

Ich probierte, seine Lippenbewegungen zu imitieren. »Jay …« Es klang immer noch nicht richtig. Und dem belustigten Schnauben nach zu urteilen, das er ausstieß, stimmte er mir da zu.

Trotzdem nickte er. »Ja, okay. Du kannst mich Jay nennen, wenn du mir deinen Namen verrätst.«

»Ella«, antwortete ich und streckte ihm die Hand entgegen. »Ella Archer.«

Er umschloss sie mit seiner und drückte kurz zu. Seine Hand war größer als meine, wärmer. Die Ringe bildeten einen kühlen Kontrast dazu an meiner Haut. Sein Gesicht war weicher als noch vor wenigen Minuten. So als hätte sich ein Teil der Anspannung, die sich während des Telefonats in seinem Körper festgesetzt hatte, gelöst.

»Nett, dich kennenzulernen, Ella Archer.«

Ich meinte zu spüren, wie mein Herz beim Klang seiner rauen Stimme, die meinen Namen sagte, einen kleinen Sprung machte, ignorierte es aber geflissentlich und zog meine Hand zurück.

Mein Blick glitt über seinen Anzug. Er trug keinen Ausweis, der ihm Einlass in diesen Teil der Arena gewähren würde. Mels hing meistens um ihren Hals, damit sie ihn nicht ständig aus ihrer Tasche kramen musste, sobald danach verlangt wurde.

»Und was machst du hier, Jay?«, fragte ich und meinte nicht ausschließlich seinen Aufenthalt in diesem Raum.

Er zögerte kurz, ehe er antwortete. »Ich arbeite hier.«

Das ließ mich aufhorchen. »Du arbeitest auch hier? Vielleicht kennst du meine Schwester. Sie heißt Melanie Archer.« In seinem Gesicht blitzte kein Erkennen auf. »Groß, blond, meistens mit ihrem Handy beschäftigt«, versuchte ich es mit einer knappen Beschreibung.

»Womit du ungefähr die Hälfte der Bevölkerung dieses Landes beschrieben hättest«, sagte er und unterstrich den neckenden Tonfall mit einem Zwinkern.

»Ah, stimmt. Du hast recht.« Vermutlich gab es davon abgesehen Hunderte Angestellte, die bei Shows wie der heute Abend in der Arena arbeiteten. Es war unwahrscheinlich, dass sich da jeder kannte, zumal Mel eine externe Mitarbeiterin war.

Ich legte meinen Kopf leicht in den Nacken, um Jay besser ins Gesicht sehen zu können. Er war um einiges größer als ich, was bei meinen ein Meter sechzig nicht allzu schwer war. Selbst Liv überragte mich, und sie war noch nicht einmal ausgewachsen. Was die Größe anging, hatte ich als Einzige die Gene unserer Mom geerbt. Ich erinnerte mich noch, wie Dad immer Witze darüber gemacht hatte, dass er sie irgendwann in Menschenmassen verlieren würde, weil sie so klein war.

Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als ich Moms fröhliches Lachen und Dads funkelnde Augen vor mir aufblitzen sah. Sieben Jahre ohne sie waren eine lange Zeit. Obwohl jeder sagte, Zeit heile alle Wunden, gab es auch heute noch ab und zu Tage, die mehr wehtaten, als ich beschreiben konnte.

Jays Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Wenn du solche Events nicht magst, wieso bist du hierhergekommen?« Er schaute sich kurz im Raum um, der nur von einer grellen Leuchtstoffröhre erhellt wurde. »An der gemütlichen Atmosphäre kann es jedenfalls nicht liegen.«

»Doch, natürlich. Ich mag diese Art von Licht, bei der man sich ständig geblendet fühlt und alle Hautunebenheiten hervorgehoben werden.«

Er hob eine Augenbraue an, und sein Blick glitt über mein Gesicht. Sein Schweigen verunsicherte mich, aber gerade als ich ansetzen wollte, um das Thema ein weiteres Mal zu wechseln, sagte er: »Ich denke, darüber musst du dir keine Sorgen machen, Ella.«

Die Art, wie er meinen Namen verwendete, war merkwürdig … vertraut. Ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte. Glücklicherweise wurde ich von meinem Handy gerettet, das sich plötzlich lautstark aus meinem Rucksack meldete.

Nach einem entschuldigenden Blick zu Jay kramte ich es hervor und drückte auf Annehmen.

Livs Stimme drang an mein Ohr. »Ella, hey, hast du gerade ein wenig Zeit?«

Liv. Ich hatte in den letzten Minuten kein einziges Mal an sie gedacht. Dabei mussten die fünf Minuten, die ich ihr gegeben hatte, schon lange um sein. Die Art und Weise, wie sie die Frage stellte, gefiel mir gar nicht.

»Ja, warum? Was ist los?« Eine gewisse Vorsicht lag in meiner Stimme. Wenn vor der Toilette nicht gerade Unmengen von Menschen anstanden und sie deshalb länger brauchte, würde mir ihre Antwort vermutlich nicht gefallen.

»Nun ja, es gab eventuell einen kleinen Zwischenfall, der absolut nicht beabsichtigt von meiner Seite war, aber manche Leute scheinen zu glauben, dass …«

»Liv«, unterbrach ich sie. »Der Punkt?«

»Tja, also. Unter Umständen sitze ich einem grimmig guckenden Security-Mann gegenüber, der mich nicht aus den Augen lässt.«

»Bitte was?«, rief ich entgeistert. Ich wollte mir nicht ausmalen, was passiert war. Wenn sie irgendetwas angestellt hatte, würde Mel nicht nur sie für immer zu Hause einsperren, sondern auch mich, weil ich nicht auf Liv aufgepasst hatte.

»Keine Sorge! Das ist alles nur ein Missverständnis. Aber wenn du mich holen kommen könntest, wäre das fantastisch. Der nette Herr scheint mir nicht zu glauben, dass ich kein verrückter Fan bin.«

Ich rieb mir über die Augen, in der Hoffnung, damit die Kopfschmerzen vertreiben zu können, die sich leise pochend in meinen Schläfen meldeten.

»Wo bist du?«, fragte ich.

Liv erklärte mir knapp den Weg zu ihr, dann legten wir beide auf. Ich warf das Handy in meinen Rucksack und schulterte ihn schwungvoll.

»Sorry«, sagte ich zu Jay, der weiterhin mitten im Raum stand und neugierig gelauscht zu haben schien. »Das war meine Schwester. Ich muss sie aus den Klauen der Security retten.«

»Geschwister sind etwas Wundervolles«, sagte er und trat einen Schritt zur Seite, um mich vorbeizulassen.

»Das kannst du laut sagen.« Ich durchquerte den Raum und wollte die Tür geade öffnen, als seine Worte mich zögern ließen.

»Man sieht sich, Ella Archer.«

Ich sah über meine Schulter und warf ihm ein kleines Lächeln zu, mit den Gedanken längst einige Gänge weiter bei Liv. Bevor er etwas sagen konnte, duckte ich mich durch die Tür. Das Brennen in meinen Wangen schob ich auf die stickige Luft in den Gängen.

»Ich kann nicht glauben, dass du irgend so einem Sänger bis in seine Umkleide gefolgt bist.«

Zwar sprach ich zu Liv, aber mein Blick war auf Mel gerichtet, die sich ein paar Meter entfernt von uns mit der Security unterhielt, die Liv aufgesammelt hatte.

»Ich wusste nicht, dass es seine Umkleide ist«, murmelte Liv.

»Oh ja«, schnaubte ich. »Das ändert die Situation natürlich drastisch.«

Es war deutlich zu sehen, dass Mel sich bemühte, ihren Ärger für sich zu behalten, um nicht hier rüberzustürmen und ihn an Liv und mir auszulassen.

Als ich Liv in dem Raum auf der anderen Seite der Arena gefunden hatte, hatten sie und der Security-Mensch sich schweigend gegenübergesessen. Ich hatte ihm erklärt, dass wir beide mehr oder weniger dazu berechtigt waren, hier zu sein, jedoch schien er diese Ausrede bereits des Öfteren gehört zu haben. Letztendlich war mir keine andere Wahl geblieben, als Mel anzurufen.

Es hatte eine halbe Stunde gedauert, bis sie ihre Arbeit unterbrechen konnte, aber nun war sie hier.

Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche. Während unserer Wartezeit hatte ich Erin über meine derzeitige Situation aufgeklärt. Bei ihr musste es im Augenblick früh am Morgen sein, und wenn ich mich nicht täuschte, würde sie sich bald für die Arbeit fertig machen müssen.

Erin: …

Erin: Du willst mir also sagen

Erin: Sie hat Shawn Mendes gesehen und es verpasst, sich ein Autogramm zu holen?

Erin: WAS.

Ich: Ja, DAS ist das Problem an der ganzen Sache, gut, dass du den Überblick behältst.