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»WARUM BIST DU HERGEKOMMEN?«
»WEIL DU HIER BIST,« SAGTE ICH EHRLICH.
»UND WEIL ICH DIR NOCH VIEL WEITER FOLGEN WÜRDE, WENN ICH MÜSSTE.«
»Ergreifend, zärtlich und ausnahmslos direkt ins Herz. Anne Pätzold erobert uns mit der emotionsgeladenen Reise von Winnie und Jo wie im Sturm. Dieser Sog lässt uns so tief ins Innerste ihrer Welt blicken, dass ihre Worte in uns nachhallen und ein Teil von uns bleiben.« PETRA UND NORA VON B4PIXEL
Das große Finale von Winnies und Jos Liebesgeschichte
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Seitenzahl: 440
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
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Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Anne Pätzold bei LYX
Impressum
ANNE PÄTZOLD
A Night of Wishes and Regrets
Roman
Winnie, Jo und Sasha sind wieder vereint. Doch nichts ist, wie es mal war. Zu viel ist passiert und hat sich verändert – und zu viel steht noch immer auf dem Spiel. Der Feind ist noch lange nicht besiegt und gemeinsam mit den wenigen Verbündeten, die Winnie noch bleiben, gilt es, das Schlimmste zu verhindern. Dabei immer an ihrer Seite: Jo. Jo mit ihren leuchtend roten Haaren. Jo mit ihrem intensiven Blick, mit dem sie hinter all die Mauern sehen kann, die Winnie um sich errichtet hat. Jo, die alles dafür tun würde, um wieder Rücken an Rücken mit Winnie auf der Feuerleiter zu sitzen und gemeinsam einen Zauberwürfel zu lösen. Denn diese Zukunft ist es wert, sich jeglicher Gefahren zu stellen und endlich Antworten auf die Fragen zu finden, die ihr Schicksal für immer verändern könnten …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Diese sind:
Skin Picking, Blut, Waffengewalt, Selbstverletzung (explizit beschrieben in Kapitel 34)
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Anne und euer LYX-Verlag
MARO – we’ve been loving in silence
Belle – A Million Miles Away
Hazbin Hotel – More Than Anything – Reprise
Barbara Pravi – Voilà
ZEROBASEONE – In Bloom
Bring Me The Horizon – Kingslayer (feat. BABYMETAL)
Olivia Rodrigo – Can’t Catch Me Now
Maddoy – Knight
IU – Love wins all
92914 – Okinawa
OKDAL – Happy Ending
Kalter Wind wehte um mich herum. Ich nahm ihn nur am Rande wahr – ein Beißen, wenn er unter meine Kleidung fuhr. Kurz darauf verschwunden, weil die Kälte im Großen und Ganzen nicht wichtig war. Nicht hier draußen, nicht in dem kleinen, sicheren Hafen, zu dem mein Balkon in den letzten Monaten geworden war.
Nicht mit Jo an meiner Seite.
Sie saß auf dem kühlen Betonboden, den Rücken an die Balkontür gelehnt, die in ihre Wohnung führte. Zwischen uns nur das metallene Geländer.
Ich bemühte mich nicht, zu verstecken, dass ich sie ansah. Und obwohl ich mir sicher war, dass Jo es längst bemerkt hatte, hob sie nicht den Blick. Sie gab mir den Moment, um sie zu betrachten. Um mir ihre blasse Haut einzuprägen. Die feinen Wimpern. Zu studieren, wie das Licht der Straßenlaterne ihre Füße erhellte und den Rest ihres Körpers in tiefere Dunkelheit tauchte.
Die Straßen waren stumm. Weit nach Mitternacht wurde es selbst in Brooklyn irgendwann ruhiger. Nur das Donnern der U-Bahn, die unweit von hier einen Halt hatte, zerrüttete die Stille hin und wieder.
Jo schaute in die Nacht hinaus. Der Würfel lag in ihrer Hand, die Farben unsortiert. Sie machte keine Anstalten, mit dem Lösen des Rätsels anzufangen, und ich drängte sie nicht dazu. Wenn es nach mir ging, konnte sie sich die ganze Nacht dafür Zeit nehmen. Je länger sie brauchte, um die Farben zu sortieren, desto länger würde ich hier sitzen bleiben.
Ich wickelte meine Decke fester um mich. Lehnte mich seitlich gegen die Hauswand, um Jo besser ansehen zu können, und fragte mich, ob ein Stern mir den Wunsch erfüllen und die Zeit anhalten würde, wenn ich nur stark genug daran dachte. Oder ob es schon längst passiert war. Ob Unendlichkeit sich so anfühlte: Eine kleine Tasche im Zeitstrahl, in der ich existieren konnte, aber nichts sein musste. Ein kleiner, unendlicher Moment, in dem die Welt nicht zu laut war. In dem ich mich träge, aber nicht müde fühlte. Etwas schläfrig, aber nicht erschöpft. Als würde ich in einem Traum sitzen – in einem Traum, aus dem ich nicht erwachen wollte.
Jo drehte einmal ziellos an dem Würfel und hielt ihn dann zwischen beiden Händen fest.
»Willst du ihn mit purer Willenskraft lösen?«, fragte ich, meine Stimme leise, um den Moment nicht zu brechen.
Jos Mundwinkel hoben sich. »Mit meinen magischen Vampirkräften, meinst du?«
»Ich verspreche, nicht wütend zu sein, wenn du mir jetzt erzählst, dass du doch welche hast.«
Sie schüttelte stumm den Kopf, löste den Blick aber vom Horizont, um mich anzusehen. »Ich hab dir keine Kräfte verheimlicht.«
»Hmm«, machte ich nach einem Moment.
»Enttäuscht?«
»Nein. Nur nachdenklich.«
»Weil ich keine besonderen Kräfte habe?«
»Weil ich mich frage, wie ich mehr Stunden an die Nacht hängen kann.«
»Und, bist du zu einer Antwort gekommen?«
»Ich glaube, du hast sie.«
Verwirrt blinzelte sie. »Ich?«
»Ja. Du musst nicht schlafen, also hast du automatisch mehr von der Nacht als ich.«
»Du könntest deinen Schlafrhythmus ändern.«
»Dann müsste ich mir einen neuen Job suchen und nachts arbeiten«, gab ich zu bedenken. Ich zupfte das Loch zwischen den Enden meiner Decke zu. Sank tiefer in meinen warmen Kokon und schob die Hände zwischen meine Oberschenkel, um sie zu wärmen. »Und wenn ich nachts arbeiten müsste, könnte ich auch nicht hier sein.« Mit dir, fügte ich in Gedanken hinzu, traute mich aber nicht, es auszusprechen. Es wäre ein Schritt zu ehrlich. Ein Hauch zu viel Verletzlichkeit, für die ich gerade nicht den Mut hatte.
Aber Jo – Jo sah mich an, als könnte sie die zwei Worte in der Stille, die meiner Aussage folgte, hören. Ihr Blick intensiv, ihre Aufmerksamkeit völlig auf mich gerichtet.
Ich unterdrückte das Bedürfnis, mich komplett unter meiner Decke zu vergraben. Gab ihr zumindest die Wahrheit, die meine roten Wangen heraus posaunten, wenn ich sie schon nicht selbst aussprach: dass es mir nicht um den Ort ging, nicht um die Uhrzeit, sondern um sie.
Ein Lächeln umspielte Jos Lippen. Es ließ ihre Augen strahlen und mich wünschen, dass ich das Talent hatte, den Anblick auf Papier festhalten zu können. Unbewusst lehnte ich mich weiter nach vorn, näher zu Jo, bis das Geländer mich aufhielt. Meine Stirn sank gegen die Metallstreben, und als Jos Lächeln abklang, widmete sie sich endlich dem Würfel. Sie drehte eine Seite nach der anderen, hielt immer wieder inne, um über ihren nächsten Zug nachzudenken. Strich sich gedankenverloren die Haare hinter die Ohren, wenn der Wind sie ihr ins Gesicht blies.
Es war hypnotisierend, Jos Fingern dabei zuzusehen, wie sie den Würfel drehte. Wie jede Seite langsam ihre richtige Farbe bekam. Während ich sie beobachtete, wurden meine Lider schwerer und jedes Blinzeln länger. Ich schwebte irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein, blinzelte erschrocken, wenn ein lautes Geräusch mich daran erinnerte, dass ich noch nicht in meinem Bett lag.
Jo tippte mich an. Streckte ihre Hand zwischen den Metallstangen hindurch, auf ihrer Handfläche den gelösten Würfel balancierend. Ich nahm ihn ihr ab, aber statt ihre Hand zurückzuziehen, griff sie nach meiner. Verschränkte unsere Finger und schob sich nah genug an das Balkongeländer zwischen uns, dass ich ihre Wimpern hätte zählen können. Sie sagte nichts, ich sagte nichts – und nach ein paar Sekunden fielen meine Augen wieder zu. Ich fühlte mich sicher. Ich wäre hier draußen eingeschlafen und hätte die Kälte ignoriert, hätte Jo mich nicht wach gerüttelt. Sie half mir auf und zog die Decke vor meiner Brust zusammen, als wir standen. Und dann wartete sie, bis ich durch mein Fenster geklettert war, ehe sie mir den Rücken zukehrte und in ihrer Wohnung verschwand.
Das Klicken ihrer Balkontür hallte durch die Nacht. Es brachte ein flaues Gefühl mit sich. Einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge, den ich nicht loswurde, egal, wie oft ich schluckte. Mit Jos Verschwinden wich auch die Ruhe, die ich noch vor wenigen Sekunden gespürt hatte, und ließ mich nervös und rastlos zurück.
Ich ließ meine Decke auf das Bett fallen und kletterte wieder nach draußen. Meine Füße trafen auf nacktes, kaltes Metall und ich – wann hatte ich meine Socken ausgezogen? Ich stieg über das Geländer, das mich von Jo trennte, redete mir ein, dass ich mir alles nur einbildete. Dass es keinen Grund zur Sorge gab. Aber als meine Füße auf der anderen Seite aufkamen, bevor ich auch nur einen Schritt machen konnte, brach der Boden unter meinen Füßen weg.
Ich schrie.
Ich wartete auf den Schmerz, der eintreten würde, sobald ich auf dem Boden aufprallte.
Wartete – aber er kam nicht.
Finsternis schlug über meinem Kopf zusammen. Sie schluckte die Lichter der Stadt, bis ich nichts mehr sah, kaum noch etwas hörte.
Ich fiel und fiel, bis es sich anfühlte, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan. Als wäre die Dunkelheit, die Panik in meinem Bauch, alles, was ich kannte. Ich presste die Augen zu und stellte mir vor, dass Jo an meiner Seite war. Dass ich aufhörte zu fallen, dass irgendetwas mich stoppte.
Aber als ich schließlich aufkam,
als ich auf dem Boden auftraf,
tat es so sehr weh, dass es mir den Atem raubte,
und ich mir wünschte,
doch lieber weiter zu fallen.
Nach Luft schnappend setzte ich mich auf.
Oder versuchte es zumindest.
Ein stechender Schmerz hielt mich davon ab, mich völlig aufzurichten, und ich fiel mit einem schmerzerfüllten Stöhnen zurück in mein Kissen. Ich blinzelte mehrfach, bis meine Sicht nicht mehr verschwommen war und fand mich in einem fremden Raum wieder. Niedrige Decken, kahle Wände, keine Fenster. Die Tür direkt gegenüber vom Bett und eine nackte Glühbirne, die von der Decke hing und das Zimmer spärlich beleuchtete.
Was … wo … Meine Gedanken wirbelten aufgeregt durcheinander. Ich versuchte, einen roten Faden zwischen ihnen zu finden, bekam aber nur Bruchstücke zu greifen: Da war Blair. Ein Haus. Dylan.
Hinter meinen Schläfen hämmerte es. Ich wollte nichts lieber tun, als meine Augen zu schließen und einzuschlafen, aber gerade, als ich darüber nachdachte, es tatsächlich zu tun, stürzten die restlichen Erinnerungen auf mich ein. Gefolgt von einer Welle der Erschöpfung und einem Stechen in meiner Magengegend, das mir die Luft zum Atmen nahm.
Japsend drückte ich eine Hand auf meinen Bauch. Es fühlte sich an, als würde ich von innen brennen. Ein Feuer, das sich in meinem restlichen Körper ausbreitete, je länger ich mich darauf konzentrierte.
Der Schuss einer Waffe hallte in meinen Ohren wider. Panisch riss ich die Decke von mir, strampelte sie mit den Füßen an das Ende des Betts und riss den Pullover nach oben, bis mein Bauch frei war.
Ich bin angeschossen worden.
Ein Verband lag straff um meinen Bauch gewickelt. Ich zupfte daran, suchte nach dem Anfang, bevor ich aufgab und ihn einfach nach unten schob. Meine Finger zitterten, als ich das Pflaster darunter freilegte und anfing, an den Ecken zu zerren. Ich war mir nicht einmal sicher, warum ich es tat. Warum ich den Verband nicht einfach in Ruhe ließ, sondern mich beinahe manisch fühlte in dem Verlangen, mich zu vergewissern, dass ich mir den Schuss nicht nur eingebildet hatte. Dass alles, was durch meinen Kopf ging, tatsächlich passiert war.
Das Pflaster zog an meiner Haut. Ich biss die Zähne aufeinander, weil ein Brennen von dem Bereich, wo das Pflaster klebte, bis hoch in meinen Brustkorb schoss und mir die Tränen in die Augen trieb. Ich legte den Kopf in den Nacken, atmete zischend aus. Drei Sekunden, sagte ich mir. Dann ziehe ich es mit einem Ruck ab.
Ich brauchte mehr als drei Sekunden, um mich mental auf den Schmerz vorzubereiten. Und gerade, als ich die Ecke des Pflasters fester packte, schwang die Tür auf.
Eine braunhaarige Frau stand im Flur. Ihr Gesicht kam mir nicht bekannt vor, und die Tatsache, dass ich keine Ahnung hatte, wer sie war und wo ich war, schob sich plötzlich lautstark zwischen meine Gedanken.
Was war passiert, nachdem ich das Bewusstsein verloren hatte? Wo war Jo? Blair? Sasha.
Die Frau machte einen Schritt in den Raum, und mein gesamter Körper spannte sich an. Ich schob mich auf dem Bett nach hinten, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Ignorierte das Brennen in meinem Bauch und die weißen Punkte, die in meinem Sichtfeld tanzten. Meine Hände tasteten über die Matratze, die Decke, suchten nach etwas, womit ich mich verteidigen konnte, aber da war nichts. Ich war dieser Person schutzlos ausgeliefert, und die Tatsache, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich mich überhaupt befand, fachte die Panik in mir noch mehr an.
»Komm nicht näher«, krächzte ich und hob die Hand zwischen uns in die Höhe, als könnte sie das im Zweifelsfall tatsächlich abhalten.
Die Frau neigte neugierig den Kopf, blieb aber im Türrahmen stehen, und obwohl sie nicht den Eindruck erweckte, als müsste ich mich vor ihr fürchten, blieb mein Körper angespannt. Mittlerweile war ich mir nicht mehr sicher, wie sehr ich meiner Menschenkenntnis vertrauen wollte.
Mein pochender Herzschlag dröhnte in meinen Ohren. Mein Mund war staubtrocken, während ich mich umsah – unauffällig, hoffte ich. Alles andere als das, wenn ich danach ging, wie aufmerksam die Frau meinen Blicken folgte. Ich suchte nach einem Ausgang, aber der Raum war nicht größer als das Badezimmer in Sashas und meiner Wohnung. Ohne Fenster hatte ich keine Ahnung, wie spät es war, und ich wusste nicht, in welchem Teil der Stadt wir uns befanden. Ob wir überhaupt noch in New York waren oder ich damit rechnen musste, mich an einem ganz anderen Ort wiederzufinden, sollte ich hier jemals rauskommen.
»Winnie«, sagte die Frau.
Ich krallte meine Finger in die Bettdecke, spannte mich weiter an. Ihre Stimme klang freundlich, beinahe zurückhaltend in der Lautstärke, mit der sie sprach.
»Du solltest dich wirklich wieder hinlegen.«
»Sonst was?«, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Mein Herz raste. Ich hörte, dass mein Atem zu kurz, zu abgehackt war, besaß aber nicht die Willenskraft, etwas daran zu ändern. Meine Panik war ein Monster, das ich gerade so im Zaum hielt.
Die Frau verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. Ihre Stirn war gerunzelt. »Sonst könnte sich deine Wunde wieder öffnen, nachdem wir sie endlich in den Griff bekommen haben.«
Nur mit Mühe hielt ich mich davon ab, nach besagter Wunde zu tasten. »Hast du sie verarztet?«
Sie nickte. »Du hattest die letzten Tage Fieber, das heute Nacht endlich gesunken ist. Scheint, als würde dein Körper sich gut erholen. Wie fühlst du dich?«
Tage? Wie lange war ich ausgeknockt gewesen? »Als hätte mich jemand angeschossen.«
Ein Schmunzeln umspielte ihre Lippen. »Eine ziemlich passende Antwort.« Sie nahm mich in Augenschein, ihr Blick analytisch. Als versuchte sie, aus der Ferne meinen körperlichen Zustand festzustellen. Was sie sah, schien sie zufrieden zu stimmen, denn sie hielt die Distanz zwischen uns und deutete auf etwas rechts von mir. »Trink etwas. Vorsichtig, bis du weißt, wie dein Körper reagiert. Ich sage Jo, dass du aufgewacht bist.«
Meine Gedanken kamen quietschend zum Stillstand. »Jo?«
Ich wollte meine Beine über die Kante des Betts schwingen, bereute die Bewegung allerdings noch in der gleichen Sekunde. Meine Sicht verschwamm. In meinem Mund sammelte sich Speichel, und ich war mir sicher: Wenn ich es schaffte, nicht ohnmächtig zu werden, würde ich mich gleich übergeben.
Ich atmete dagegen an. Keine der beiden Möglichkeiten klang sonderlich verlockend. Ich wollte die Frau fragen, wo Jo war, aber allein der Gedanke daran, den Mund zu öffnen, ließ die Übelkeit ansteigen.
Eine Berührung an meiner Schulter. Es dauerte, bis das flaue Gefühl in meinem Magen und das Flimmern in meinem Blickfeld weit genug zurück gingen, bevor ich es richtig wahrnahm.
Die Frau hockte vor mir. Sie wirkte besorgt – ihr Blick zuckte immer wieder zu meinem Bauch –, aber bis auf die kurze Berührung eben, fasste sie mich glücklicherweise nicht an.
»Jo ist hier?«, fragte ich, als ich meine Atmung wieder unter Kontrolle hatte.
Ich bekam ein Nicken als Antwort. »Deine Schwester und die Freundin, mit der du unterwegs gewesen bist, auch.«
»Blair.«
»Ja, sie.«
Waren das genügend Infos, um erleichtert zu sein? Vermutlich nicht, aber ich merkte trotzdem, wie sich etwas in mir löste. Ich sackte gegen die Wand in meinem Rücken und nahm das Stechen in meinem Bauch und meine anhaltende Erschöpfung auf einmal überdeutlich wahr.
Die Frau drückte sich aus ihrer Hocke hoch. Sie griff an mir vorbei nach der Wasserflasche, die auf dem hölzernen Tritthocker stand, drehte den Deckel auf und reichte sie mir.
Ich setzte die Flasche an, kaum, dass sie den Raum verlassen hatte. Trank sie in einem Zug zur Hälfte leer. Den Deckel drehte ich zwischen meinen Fingern hin und her. Ich wollte aufstehen, zögerte aber, da ich das Pochen in meinem Bauch nicht verschlimmern wollte.
Durch die Tür, die die Frau hinter sich offen hatte stehen lassen, konnte ich nur einen kleinen Winkel eines Flurs erkennen. Grauer Teppichboden, kalt-weiße Wände.
Es konnten nicht mehr als zwei, drei Minuten vergangen sein, bis die Stille von schnellen Schritten durchschnitten wurde. Jemand kam rennend näher, und als ich das atemlose Schnaufen hörte, das auf Blairs schlechte Kondition hinwies, umfasste eine eiserne Faust mein Herz und ließ meine Augen brennen.
Blair bremste im Türrahmen ab. Ihr Brustkorb hob und senkte sich vor Anstrengung, als wäre sie einen Marathon gelaufen, und als unsere Blicke sich begegneten, traten Tränen in ihre Augen. Sie presste die Lippen aufeinander, kam an mein Bett, verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wandte den Kopf ab, die Unterlippe vorgeschoben, als versuchte sie, vorzugeben, dass sie sauer war, obwohl ich genau sehen konnte, dass alles an ihr nach Erleichterung schrie.
»Blair«, sagte ich. Streckte die Hand nach ihr aus, weil die Panik und alles, was in den letzten Stunden, Tagen passiert war, über mir zusammenschlug und ich Sorge hatte, mich darunter einfach aufzulösen.
Für einen Moment wehrte sich Blair dagegen. Ich kannte sie. Wusste, dass sie unbedingt ein unerschütterliches Bild abgeben wollte, weil es ihr manchmal schwerfiel, Emotionen zu teilen, die nicht sarkastischer Natur waren. Ich nahm es ihr nicht übel. Vor allem nicht, weil sie nach zwei Sekunden einknickte, meine Hand nahm und sich vor das Bett fallen ließ, als hätten ihre Beine einfach unter ihr nachgegeben. Ihre Finger umklammerten meine, so fest, dass sie sich nach kurzer Zeit bereits taub anfühlten, aber ich brachte es nicht über mich, sie zu bitten, mich loszulassen. Ich brauchte ihre Nähe, genauso wie sie meine.
Blair sah mich nicht an. Sie legte ihre andere Hand um unsere verschränkten Finger. Schniefte. Als ich sah, wie Tränen von ihrer Nase auf das weiße Bettlaken tropften, wollte ich mich am liebsten aufsetzen und sie fest umarmen, beließ es aber dabei, ihre Hand zu drücken und ihr mit meiner freien die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, atmete sie tief durch. Sah mich ernst an. »Mach das nie wieder. Hörst du? Nie wieder.«
Wäre ich nicht verwundet gewesen, hätte sie mich vermutlich an den Schultern gepackt und geschüttelt.
Ich nickte schwach. Räusperte mich, weil ich mir nicht sicher war, ob es eine Lüge war oder ich es wirklich ernst meinte. Im Fall der Fälle – wenn wir uns noch mal in einer Situation wie der mit Frieda befinden würden … Ich konnte nicht sicher behaupten, dass ich etwas anders machen würde. Nicht, solange es bedeuten würde, dass dafür jemand anderes verletzt werden könnte.
Blair schnaubte. »Ich weiß genau, was du denkst. Und es gefällt mir gar nicht. Wenn du mir nicht versprichst, dir in den Kopf zu hämmern, dass du genauso wichtig bist, wie ich oder Sasha oder Jo es für dich sind, kette ich dich ans Bett und lass dich erst wieder gehen, wenn dort draußen keine mordlustigen Vampire mehr rumrennen.«
»Wie gehe ich auf Toilette, wenn ich angekettet bin?«, versuchte ich, die Stimmung aufzulockern.
Blairs Sorgen hingen wie eine düstere Wolke über ihrem Kopf. Ich wollte sie wegpusten, sie vertreiben – um nicht länger in ihr besorgtes Gesicht sehen zu müssen, einerseits. Und andererseits, weil sich in meinem Nacken ein Schuldgefühl festsetzte, das so immens war, dass ich gerade nur versuchen konnte, es wegzuignorieren.
»Gar nicht«, sagte sie scharf, darum bemüht, das Lächeln, das ich in ihren Mundwinkeln zucken sah, unter Kontrolle zu halten.
»Oh je.«
»Ja, oh je. Oh je, wenn du noch mal in die Schussbahn einer Waffe springst und dabei fast stirbst, lern ich schwarze Magie und beleb dich mit eigenen Händen wieder, um dir den Hals umzudrehen. Du hast so viel Blut verloren, Winnie. Jo hat alle angefahren, dass sie dir sofort helfen sollen, und auf dem Weg hierher hat sie dich die ganze Zeit gehalten und du bist so still gewesen, dass ich mir sicher war …« Sie schluckte schwer. »Ich wusste zwischendurch überhaupt nicht, ob du noch atmen würdest, wenn wir endlich hier ankommen. Ich dachte, ich müsste mich damit abfinden, dass meine beste Freundin vor meinen Augen –« Ihre Stimme brach. Auch nach mehreren Minuten redete sie nicht weiter. Ihr Blick war glasig, ihr Gesicht weiß.
»Tut mir leid«, sagte ich.
Blair blinzelte. Schüttelte leicht den Kopf.
»Ich hab nicht darüber nachgedacht, wie schlimm es für dich wäre, wenn mir etwas passiert.«
Sie atmete langsam aus. Kontrolliert. Nickte. Noch mal und noch mal und sagte leise, so leise, dass ich es fast nicht hörte: »Ich weiß.«
Ich wartete, bis sie die Worte fand, um weiterzureden.
»Ich weiß, dass du –« Sie hob unschlüssig eine Schulter an. »Dass du denkst, du musst alle beschützen? Dass du offensichtlich davon ausgehst, dass es besser ist, wenn du dich opferst, damit alle anderen am Leben bleiben können. Aber Winnie. Winnie. Ich hab gespürt, wie mein Herz stehen geblieben ist. Wärst du nicht aufgewacht, wäre ein Teil von mir mit dir gestorben. Und ja, Gott, ja, das klingt dramatisch, aber du bist …« Sie klammerte sich an meine Hand. Neue Tränen stiegen in ihre Augen. Ich spürte, wie meine auch feucht wurden. Wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete. »Du bist meine Familie. Mein Zuhause. Ich hab keine Ahnung, was ich ohne dich machen soll. Und die Tatsache, dass du das nicht weißt, dass du dich einfach mitten in die Gefahr wirfst, weil du denkst, wenn du verletzt wirst, ist das leichter zu ertragen, als wenn Jo oder Sasha oder ich es sind …«
Blair wischte sich ihre Tränen und ihre laufende Nase am Ärmel ihres schwarzen Hemds ab. Sie ließ meine Hand nicht los, sondern packte sie noch fester, als hätte sie Angst, ich könnte vor ihrer Nase verschwinden.
Ein paar Herzschläge lang war es still zwischen uns. Das Surren der Leuchtstoffröhren drang vom Flur an meine Ohren. Der Drang, mich noch einmal zu entschuldigen, war unglaublich stark. Aber ich wusste, dass Blair keine leeren Worte hören wollte. Das war es nicht, was sie beruhigen würde.
»Ich dachte«, fing ich an und verlor mich dann mitten im Satz. Was dachte ich? Was war mir durch den Kopf gegangen, als ich gesehen hatte, dass Frieda ihre Waffe auf Sasha gerichtet hatte? Ich konnte mich nicht daran erinnern, überhaupt bewusst an etwas gedacht zu haben. Viel mehr war es ein Reflex gewesen. Etwas, das tief in meinem Sein verankert war: dass ich Sasha schützte und für sie da war, egal, was es mich kostete.
Mein Schweigen zog sich in die Länge, und ich wünschte mir, dass Blair verstand, ohne, dass ich meine wirren Gedanken in verständliche Sätze pressen musste.
Und irgendwie tat sie es auch, nahm ich an. Irgendwie verstand Blair, dass hinter meiner Stille mehr steckte als mein Zugeben, dass mein erster Instinkt in jeder Situation immer war, sicherzugehen, dass niemand anderes litt. Ich sah es in der Art, wie Blair den Kopf etwas neigte. Den Mund verzog und die Stirn in Falten legte, als würde das, was in meinen wenigen Worten mitschwang, ihr Schmerzen bereiten.
Sie seufzte lange und leise. Sah mich an und hob eine Schulter, einen Mundwinkel an. »Einsicht ist der erste Schritt, oder?«
Meine Antwort war ein Schnauben. Zu mehr konnte ich mich nicht aufraffen; das kurze Gespräch mit Blair hatte mir bereits so viel Energie abverlangt, dass ich mir sicher war, einzuschlafen, wenn ich eine Sekunde zu lange blinzelte.
Blair löste ihren Griff um meine Finger. Sie zog die dünne Decke über mich, die am Fußende des kleinen Betts lag – die ganze Zeit darauf bedacht, mich nicht am Bauch zu berühren. Als wäre sie meine Mutter, steckte sie die Enden um mich herum fest, machte es sich auf dem Boden sitzend bequem und verschränkte ihre Arme neben mir auf der Matratze.
Der Schlaf zerrte an meinem Bewusstsein. Ich kämpfte gegen meinen eigenen Körper an, um Blair zu fragen: »Sind Jo und Sasha …?«
»Keine Sorge«, beruhigte Blair mich sofort. »Ihnen geht’s beiden gut.«
Warum sind sie nicht hier?, wollte ich fragen.
Aber da verlor ich den Kampf gegen die Erschöpfung.
Als ich das nächste Mal aufwachte, war das Licht im Raum anders. Statt von der nackten Glühbirne an der Decke, kam es von einer kleinen Lampe, die hinter mir auf dem Boden stehen musste. Die Tür war geschlossen, und die Lampe spendete nicht sonderlich viel Helligkeit. Ich streckte meinen Arm über mir aus, um nach ihr zu greifen und zu schauen, ob ich sie heller stellen konnte, stöhnte dann aber leise, weil ich bei der Bewegung meine Bauchmuskeln anspannte. Ich gab auf, bevor ich die Lampe ertastet hatte und ließ den Arm zurück an meine Seite sinken.
Zu meiner Rechten erklang ein Rascheln. Ein Klicken, dann wurde das Licht etwas heller. Ich drehte meinen Kopf von der Wand weg, schob mir die Haare aus dem Gesicht und rechnete damit, Blair an meiner Seite sitzen zu sehen.
Stattdessen war Jo bei mir.
Sie saß aufrecht am Boden, genau an dem Platz, an dem Blair es sich gemütlich gemacht hatte, bevor ich eingeschlafen war. Sie sagte nichts. Rührte sich nicht und hatte den Blick auf das Bett gesenkt, das ein Quietschen von sich gab, als ich meine Position leicht veränderte, um sie besser zu sehen. Den Ausdruck in ihrem Gesicht konnte ich nicht lesen – er wirkte neutral, aber wenn ich eins über Jo wusste, dann, dass sich bei ihr das meiste unter der Oberfläche abspielte. Ihre Körperhaltung, die Züge ihres Gesichts waren nicht immer eindeutige Indizien, um zu erkennen, woran sie dachte.
»Du bist hier«, sagte ich. Zögerlich. Unsicher. Blair trug ihr Herz auf der Zunge. Es war so einfach gewesen, ihre Verärgerung und ihre Sorge zu erkennen. Herauszufinden, wie ich sie beruhigen konnte.
Bei Jo dagegen? Es war, als hielt sie ihre Emotionen absichtlich unterdrückt.
»Blair brauchte eine Pause«, erklärte sie.
Ich versuchte, die Nuancen in ihrer Stimme auszumachen. Allerdings tat mein Kopf und mein gesamter restlicher Körper zu weh, um ihre Tonlage zu interpretieren.
»Wie lange ist sie schon weg?« Wie lange sitzt du schon an meiner Seite?
Sie senkte den Kopf. Ein bläuliches Licht erhellte ihr Gesicht, als sie auf ihr Handy schaute. »Zwei Stunden. Du hast nicht lange geschlafen«, sagte sie. »Du kannst noch weiterschlafen, wenn du möchtest.«
»Ich bin nicht müde.« Oder, besser gesagt: Die Müdigkeit war zweitrangig.
Jo drehte ihr Handy schweigend zwischen den Händen. Sah mich weiterhin nicht an. Ein paar Minuten lang, bis sie es neben sich auf den Boden legte und sich auf die Beine kämpfte. »Ich hole dir was zu essen.«
Sie wandte sich ab, wollte den Raum verlassen, aber bevor sie einen Schritt tun konnte, griff ich nach dem Ärmel ihres T-Shirts und hielt ihn fest. Sie hätte sich ohne Mühe aus meinem Griff befreien können, und für den Fall, dass sie Zeit für sich brauchte, wollte ich sie nicht dazu zwingen, hierzubleiben.
Aber Jo blieb stehen, halb von mir abgewandt. Ihre Hände hingen locker an ihrer Seite, aber ich sah ihre Finger zucken, als kämpfte sie gegen das Bedürfnis an, sie zu Fäusten zu ballen. Oder gegen das Bedürfnis, mich zu berühren.
Ich pokerte auf Letzteres, als ich mich leise räusperte und das eine Wort, das mir im Hals steckte, hervorzwang, obwohl ich mich damit noch verletzlicher machte.
»Bleib?«
Ich wollte auf meinem Bett zur Seite rutschen, Platz für sie machen, damit sie verstand, wie dringend ich sie gerade bei mir haben wollte. Aber Jo griff nach meinem Arm. Hielt mich auf, als sie bemerkte, was ich vorhatte. Kein Wort verließ ihren Mund, aber ihre Finger lösten sich von meinem Handgelenk. Sie umfasste meine Hand, strich mit dem Daumen über meinen Handrücken und langsam, ganz langsam, setzte sie sich zurück neben mein Bett.
Ihr Gesicht war auf unsere verschränkten Hände gesenkt. Hin und wieder zuckten ihre Augen zu meinem Bauch. Zu dem Verband, der sich leicht unter meinem Shirt abzeichnete. Sie sah an meinem Körper auf und ab, als wollte sie sich versichern, dass ich tatsächlich hier war. Und während sie schweigend an meiner Seite saß, bildete sich ein Kloß in meinem Hals.
Sie hatte so verdammt verzweifelt geklungen. Ich hörte ihre Stimme in meiner Erinnerung. So verschwommen die Sekunden und Minuten direkt nach Friedas Schuss auch waren, Jos verzweifeltes Bitten, dass jemand mir half, hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt.
Hinter meinen Schläfen pochte es. So viele Gedanken schossen mir durch den Kopf, die ich zu müde war, zu entwirren. Ich wusste nur eins: dass ich unbedingt wollte – es brauchte, dass Jo mich endlich ansah.
Ich drückte ihre Hand, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Schob mich auf die Seite und biss die Zähne zusammen, als ein heißes Stechen bis in meine Beine fuhr. Ich streckte meinen freien Arm nach ihr aus, hielt kurz vor ihrem Gesicht inne, meine Finger nur wenige Zentimeter von ihrer Wange entfernt.
Wartete.
Wartete.
Wartete, bis sie sich nach vorn lehnte. Den letzten Abstand selbst überbrückte und ihre Wange in meine Hand schmiegte. Sie schloss die Augen. Atmete tief ein. Und mein Herz schmerzte bei dem Anblick – weil es brach oder sich wieder zusammensetzte. Vielleicht ein bisschen von beidem. Ein bisschen von allem, wie immer die letzten Wochen über.
Mein Daumen fuhr über Jos Wangenknochen. Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht, ließ die Strähnen durch meine Finger gleiten, um mich damit zu erden. Nach einer Weile stieß Jo ein Seufzen aus. Allein dieses kleine Geräusch verriet mir, dass sie die passenden Worte sammelte, um mir zu erklären, was in ihr vorging.
»Ich bin den Geruch stundenlang nicht losgeworden«, sagte sie dann. Eine Beichte. Sie hielt ihre freie Hand zwischen uns, betrachtete sie eingehend, bevor sie sie zur Faust ballte. »Von deinem Blut. Der Geruch hat ewig an mir geklebt und mich in den Wahnsinn getrieben. Ich wollte bei dir bleiben, aber ich wusste nicht, ob – wie …«
Sie brach ab und ließ den Satz unbeendet zwischen uns in der Luft hängen.
Ein neuer Gedanke setzte sich in meinem Kopf fest. Warum Jo es nicht über sich brachte, mich anzusehen. Warum sie so schnell hatte gehen wollen, warum sie ihre Schultern angezogen hatte und, obwohl sie neben mir saß, wirkte, als wartete sie nur darauf, dass ich sie fortschickte.
Nach dem Gespräch mit Blair war ich davon ausgegangen, dass sie verärgert war. Wütend darüber, dass ich mich in die sprichwörtliche Schusslinie gestellt hatte.
Aber das war es nicht.
Nein.
Jo – sie …
»Du schämst dich?«
Sie zuckte zusammen, und ich wusste, ich hatte damit ins Schwarze getroffen. Die Lippen aufeinandergepresst, hob sie unsere verschränkten Hände an ihre Stirn. Das Bild gab mir ein derart starkes Déjà-vu zum Krankenzimmer in der Organisation, dass es mir für einen langen Moment die Sprache verschlug.
»Warum?«, brachte ich schließlich hervor. »Warum würdest du … Ich weiß doch, dass du – Jo.« Als sie nicht reagierte, sagte ich noch einmal ihren Namen. »Schau mich an?«
Sie schien sich dazu überwinden zu müssen. Aber am Ende tat sie es. Sie hob den Kopf an, und endlich, endlich konnte ich ihre goldenen Augen sehen. Ich suchte darin nach – ja, nach was? Nach dem Wissen, was sie von mir brauchte, um dieses fehlgeleitete Schuldgefühl abzulegen, das sie mit sich herumzutragen schien.
»Du bist eine Vampirin«, sagte ich.
Jo atmete aus. Nickte.
»Und ich bin ein Mensch. Randvoll mit Blut, das Vampire zum Überleben brauchen.«
Sie öffnete den Mund. Ich hielt meine Hand über ihre Lippen, bevor sie mir widersprechen konnte.
»Du bist eine Vampirin. Ich bin ein Mensch. Ich weiß, dass du Blut trinkst. Ich weiß, dass der Anblick von Blut dir immer zu schaffen machen wird«, fuhr ich fort und wandte den Blick dabei nicht von ihr ab. »Du hast mich nicht gebissen. Du bist gegangen, als du es nicht mehr ausgehalten hast. Du hast meine Sicherheit über deinen Durst gestellt. Für nichts davon brauchst du dich zu schämen.«
Sie zog meine Hand von ihrem Mund, fragte leise: »Warum tröstest du mich?«
»Weil du es offensichtlich nicht selbst tust.«
»Nein, ich meine –« Sie schüttelte den Kopf. »Wie kann es sein, dass du mich tröstest?« Ihr Blick zuckte zu meinem Bauch. »Wieso versuchst du, mich aufzumuntern, wenn du gerade fast … Winnie. Ich hab gehört, wie dein Herzschlag langsamer geworden ist. Wie dein Atem immer leiser wurde. Als Emma dir Vampirblut gegeben hat, ist stundenlang nichts passiert. Das ist keine einfache Verletzung gewesen. Keine Fleischwunde. Frieda hat auf dich geschossen, mit dem vollen Bewusstsein, dass es dich töten würde.«
Ich bin aber hier, wollte ich sagen, doch die Worte schmeckten fade. Ein schwacher Trost, der nicht ungeschehen machen würde, was passiert war.
Schweigen legte sich über uns. Eine drückende Decke voller ungesagter Worte. Nichts würde Jo oder mir oder Blair die Erinnerung daran nehmen, was passiert war.
»Wo sind wir hier?« Ich lenkte das Gespräch in eine andere Bahn. Es waren Fragen, die mich bereits seit dem Aufwachen beschäftigten. »Wie sind wir hierhergekommen? Wie habt ihr es geschafft, Frieda und den Abtrünnigen zu entkommen?«
Jo öffnete den Mund. Eine Antwort blieb sie mir jedoch schuldig, denn in der nächsten Sekunde klopfte jemand am Türrahmen und holte uns beide aus unserer kleinen Blase zurück. Blair stand dort. Sie sah ausgeruhter aus, weniger gehetzt und verzweifelt als vorhin. Sie war ungeschminkt, trug keine Perücke, und die Spitzen ihrer Haare glänzten feucht – vermutlich hatte sie geduscht.
Als sie das Zimmer betrat und Platz in der Tür machte, tauchte Sasha hinter ihr auf. Mein Herz machte einen schmerzhaften Sprung, als die letzten Wochen zurück in meine Erinnerungen schossen. Ich hatte noch lange nicht verarbeitet, dass Sasha eine Vampirin war, und noch weniger, dass sie sich kaum an mich erinnerte.
Sie folgte Blair unsicher in den Raum. Sie blieb einige Schritte entfernt stehen, versuchte sich an einem Lächeln, als unsere Blicke sich kreuzten, aber es war vorsichtig und zurückhaltend.
Keine Ahnung, ob ich mich je an diese neue Version meiner Schwester gewöhnen können würde. Trotzdem erwiderte ich ihr Lächeln und steckte so viel Überzeugungskraft wie möglich hinein.
Jo drückte meine Hand, für Sasha und Blair verdeckt, und hob fragend eine Braue. Ist das ein echtes Lächeln?, fragte sie mich, ohne die Worte laut auszusprechen.
Ich drückte ihre Hand zurück. Irgendwann, hoffe ich.
Sie schien nicht glücklich mit meiner Reaktion, akzeptierte sie aber stumm.
»Wir sind im Auftrag hier«, sagte Blair.
»Wir?«
Sie deutete auf Sasha, danach auf sich selbst. »Ich bin jetzt ein inoffizieller Teil der Gruppe.«
Ihr Ton war scherzhaft, aber der Kern ihrer Aussage rief mir meine Ahnungslosigkeit in Erinnerung.
»Welche Gruppe? Aus wem besteht sie? Warum gibt es sie?« Ich wandte mich wieder an Jo. Betrachtete sie nachdenklich, bevor ich ausformulierte, was mir nicht mehr aus dem Kopf ging, seit ich in dem Haus in Port Richmond auf Dylan getroffen war: »Für welche Sachen ist Dylan tatsächlich verantwortlich gewesen?«
»Für wenige«, gab Jo leise zu.
»Wenige.« Ich wiederholte es tonlos.
Sie seufzte. »Für keine davon. Dylan hat Sasha nicht entführt. Dylan hat die Gentragenden nicht entführt. Dylan hat uns nicht eingesperrt. Sie hat die ganze Zeit versucht, uns zu helfen.«
Ihr war anzuhören, wie schwer es ihr fiel, es auszusprechen. Nicht, weil sie Dylan nicht glauben wollte, da war ich mir sicher. Sondern weil Jo unendlich loyal war und sie ihrer engsten und längsten Freundin misstraut hatte. Ihre Schuldgefühle hatten, genau wie vorhin, einen unsinnigen Ursprung. Nicht, dass es sie weniger echt machen würde, aber auch wenn ich Dylan nicht gut kannte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie Jo vorwerfen würde, Frieda vertraut zu haben.
Immerhin hatte ich es auch getan, und mich band keine Vergangenheit an die Organisation.
»Dylan«, sagte ich. Hielt inne. Suchte in Jos Gesicht nach Hinweisen, dass ich mit meiner Frage keine Wunde aufreißen würde. »Ist sie …«
»Sie lebt«, antwortete Jo sofort. »Die Kugel hat ihr Herz nicht getroffen.«
Danach zögerte sie. Ich konnte nicht sagen, ob sie nach den richtigen Worten suchte oder mir etwas verheimlichen wollte. Und nach den letzten Tagen reichte ihre kurze Sprechpause ohnehin aus, um meine Fantasie mit mir durchgehen zu lassen. Sie hatte mir immer noch nicht erzählt, wo wir uns gerade befanden. Mal ganz davon abgesehen, dass es zwischen den Abtrünnigen und Frieda für uns hätte unmöglich sein sollen, überhaupt zu entkommen. Aber weder Jo, noch Sasha oder Blair sahen übermäßig mitgenommen aus – bis auf ein paar Schrammen hier und da.
Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich angenommen, dass sie sich einfach aus der Situation gebeamt hatten, denn …
»Dylan hat gesagt, wir sollen dich holen«, sagte Sasha an Jo gerichtet in die Stille.
»Warum?«, fragte ich in den Raum. Ich spürte Jos Blick auf mir und erwiderte ihn nach einem Moment. Suchte in ihrem Gesicht nach einer Erklärung dafür, was ich die letzten Tage verpasst hatte.
»Sie will darüber reden, was wir als Nächstes unternehmen«, erklärte Jo leise.
»Unternehmen?« Eine Vorahnung breitete sich in mir aus. »Wofür?«
Gehen wir nicht weg?, rief es laut in mir. Packen wir nicht unsere Sachen und fliehen an einen Ort, an dem niemand uns findet? An dem wir sicher sind?
Jos Blick war einfühlsam. Hätte ich es nicht besser gewusst, wäre ich überzeugt gewesen, dass sie meine verzweifelten Gedanken hören konnte. Aber selbst wenn sie es konnte, tat sie mir nicht den Gefallen, mich zu beruhigen. Nein. Mit ihren Worten riss sie die leise Erleichterung, die sich nach meinem Aufwachen in mir ausgebreitet hatte, wie Tapete von einer Wand.
»Um Frieda aufzuhalten.«
Meine Muskeln verkrampften sich. Alle auf einmal, ohne mein Zutun. Lediglich vom Hören dieser Worte spannte sich alles in mir an. Der pochende Schmerz in meinem Bauch rückte in den Hintergrund, und meine eigene, körperliche Reaktion kam mir so heftig vor, dass ich mir sicher war, wieder eingeschlafen zu sein.
Anders konnte ich es mir nicht erklären. Anders verstand ich nicht, wie Jo so ruhig darüber reden konnte, Frieda aufzuhalten, nachdem wir ihr nur knapp entkommen waren. Nachdem Sasha und Jo endlich beide wieder an meiner Seite waren.
Alles in mir scheute vor dem Gedanken zurück, ihr noch einmal gegenüberzutreten. Die Vorstellung allein nahm mir den Atem, ließ mich nach hinten schnellen und mit dem Hinterkopf gegen die Wand knallen. Sterne tanzten vor meinen Augen, und je weniger ich zwischen ihnen vom Raum erkannte, desto weiter schnellte mein Puls in die Höhe.
Nichts an meiner Reaktion war logisch. Als hätte jemand bei der Erwähnung von Frieda eine Scheibe eingeschlagen und einen Notfallknopf gedrückt. Mein Brustkorb hob und senkte sich schnell, trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, genug Luft zu bekommen.
Panik strich mit einem eiskalten Finger über meine Wirbelsäule.
Ich konnte – ich brauchte … Was brauchte ich? Ich konnte mich nicht bewegen, weil mein Körper wie eingefroren war. Meine Hände zitterten, und mir war kalt, so unfassbar kalt.
Ich hörte Stimmen an meinem Ohr. Mehrere? Eine? Mal war sie lauter, mal leiser. Ich nahm weder die Worte, noch die Tonlage wahr. Mein Hirn hatte sich in einen dicken Nebel gewickelt, und dann sah ich sie vor mir.
Frieda.
Ich sah, wie sie den Arm hob und die Kugel den Lauf ihrer Waffe verließ. Wie sie in Zeitlupe auf mich zuflog, wie ich nicht ausweichen konnte. Schmerz, wie ich ihn noch nie gespürt hatte, fegte durch meinen Körper und brannte alles nieder, was mich ausmachte.
Als der Schmerz nachließ, blieb nur eine leere Hülle zurück. Winnies Körper, in Watte gepackt. Mit einer Stimme, die immer noch auf mich einredete, und nach und nach klarer wurde.
»Winnie?«
Ich hielt mich an meinem Namen fest wie an einem Anker.
»Bist du wieder hier?«
Ich bin hier. Ich bin mir nicht sicher.
Was passiert mit mir?
2 Tage zuvor
Es passierte in Zeitlupe.
Ein Schuss.
Winnie, die unter meinem und Sashas Gewicht zusammensackte. Sie presste sich die Hände auf den Bauch, und einen Herzschlag lang hatte mein Hirn Mühe zu begreifen, weshalb. Die Fäden verknüpften sich erst, als ich Blut zwischen ihren Fingern hindurch quellen sah. Als Winnie ihre Hände vors Gesicht hob, als ihre schockgeweiteten Augen zu mir aufsahen, kurz bevor ein glasiger Ausdruck in sie trat.
Sie kippte nach vorn und versuchte, sich selbst abzufangen, aber ihre Arme hielten ihren Körper nicht.
Ich bewegte mich durch Sand. Durch Treibsand, der meine Schritte schwerfällig und unbeholfen machte. Ich kam an Winnies Seite an, als sie bereits auf dem Asphalt aufgeschlagen war und sich kaum noch rührte.
Neben ihr fiel ich auf die Knie, drehte sie auf den Rücken, sah Blut an meinen Fingern und spürte, wie das Brennen in meiner Kehle anschwoll. Ich drückte meine Hände auf ihren Bauch – dort, wo Friedas Schuss sie getroffen hatte.
Aus weiter Ferne hörte ich einen weiteren Schuss sein Ziel treffen. Das Geräusch drang wie durch Watte zu mir; ich sah nicht einmal, auf wen Frieda diesmal gezielt hatte. Das leise Wimmern, das Winnie mit jedem Atemzug ausstieß, ging mir durch Mark und Bein.
Ihre Lippen bewegten sich, und ich beugte mich über sie, hielt mein Ohr an ihren Mund, um zu hören, was sie sagte, aber die Worte waren unzusammenhängende Fetzen.
»Winnie!«, sagte ich. Dann noch mal, lauter, in der Hoffnung, dass der leere Ausdruck in ihren Augen verschwand, wenn ich ihren Namen nur oft genug wiederholte. Ich spürte, dass mein Mund sich weiter bewegte, dass ich auf sie einredete, während ich sie fester an mich drückte.
Etwas berührte mich am Arm. Ich schüttelte es weg und lehnte mich schützend über Winnie. Frieda würde sie nicht noch einmal treffen. Nicht, solange ich meinen Körper als Schild nutzen konnte.
»Fuck, Jo, ist sie –«
Jemand riss mich unsanft aus meiner vorgebeugten Position. Piercings reflektierten das trübe Licht der Sonne – Dylan hockte mit verzerrtem Gesicht und aufeinander gepressten Kiefern neben mir. Ihr Griff war unnachgiebig. Einen Arm hielt sie quer über ihre Brust gedrückt – von dem dunklen Ärmel ihres Sweatshirts tropfte Blut.
Die Erleichterung, Dylan bei Bewusstsein zu sehen, dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde an. Sie zerfiel in dem Moment zu Staub, in dem Winnies Atem anfing zu stocken und Angst sich wie Gift in meinen Adern ausbreitete.
Ich hob den Blick an, sah Sasha und die Person, mit der Winnie hier aufgetaucht war, direkt vor mir stehen. Blasse Gesichter mit riesigen Augen – aber niemand rührte sich.
»Helft ihr!«
»Jo, wir müssen hier weg.«
»HELFT IHR!«
Ich erkannte meine eigene Stimme nicht. Ein flehendes, gebrochenes Etwas, das tief aus meiner Brust zu kommen schien.
Dylan biss die Zähne zusammen. Schaute sich um. Sie stieß einen lauten Pfiff aus – ein Geräusch, das mich ruckartig den Kopf nach oben reißen ließ, in voller Erwartung, Abtrünnige auf uns zustürmen zu sehen.
Aber da war niemand.
Keine Abtrünnigen, die uns einkesselten.
Keine Frieda, die uns bedrohte.
Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.
Stattdessen sprang der Motor eines Autos an. Der schwarze Ford, mit dem wir hergekommen waren, hielt mit quietschenden Reifen vor uns. Billy stieg aus, umrundete den Wagen und riss die beiden Türen auf der Beifahrerseite auf. Kurz darauf kniete sie an Winnies anderer Seite.
Sie und Dylan tauschten einen Blick aus. Dylan nickte stumm und kämpfte sich unter schmerzerfülltem Stöhnen auf die Beine, schob Sasha und die Frau, mit der Winnie hierhergekommen war, vor sich her zum Auto. Die beiden rutschten auf die Rückbank, Dylan selbst ließ sich schwerfällig auf den Vordersitz fallen.
»Jo.«
Billys Stimme war leise aber eindringlich. Sie lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf Winnie. Instinktiv presste ich meine Hände fester auf ihren Bauch und flehte sie innerlich an, die Augen zu öffnen.
Ein paar Sekunden nur. Bitte. Bitte.
Im Gegensatz zu Dylan fasste Billy mich nicht an. Sie ließ ihre Hände vor meinem Gesicht schweben, damit ich sie beachtete.
»Hier ist sie nicht sicher«, sagte sie.
Nicht: Wir werden ihr helfen.
Billy machte mir keine Versprechen. Und so sehr ich mir auch wünschte, von jemandem versichert zu bekommen, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte, so wenig hätte ich diese leeren Worte vermutlich gerade ertragen.
Ein Teil von mir wollte hierbleiben. Winnie nicht bewegen, um ihr keine unnötigen Schmerzen zuzufügen. Der andere registrierte, wie feucht meine Hände waren. Wie rasselnd Winnies Atem.
Ich schob meine Arme unter Winnie, den einen unter ihren Rücken, den anderen unter ihre Knie, und drückte sie an mich, während ich aufstand. Ihre Arme lagen schlaff in ihrem Schoss, ihr Kopf an meiner Brust. Am Auto angekommen, ließ ich mich vorsichtig auf dem Rücksitz nieder. Sasha drängte sich zu Winnies Freundin, um mir Platz zu machen, und half mir dabei, Winnies Beine über die Schöße der beiden zu strecken.
Ich bekam nicht mit, wie wir losfuhren. Niemand redete. Niemand erklärte, wohin wir fuhren. Hin und wieder drang ein unterdrücktes Stöhnen von Dylan zu mir durch, wenn Billy einem Schlagloch nicht völlig auswich, aber Winnie blieb stumm und bewegungslos.
Ich senkte den Kopf, drückte meine Stirn an ihren Hals. Mein Durst wollte sich in den Vordergrund drängen, aber ich hielt ihn zurück, zwang ihn so weit aus meinem Bewusstsein, dass ich ihn nur noch am Rande mitbekam. Stattdessen hielt ich mich an Winnies Atem fest, der kaum merklich über meine Wange strich.
Es tut mir leid, dachte ich.
Vielleicht sagte ich es laut.
Bitte halte durch.
Wir hätten fortgehen sollen, als wir noch die Möglichkeit hatten.
Bitte bleib bei mir.
Als ich das nächste Mal aufsah, wurde die Tür an meiner Seite aufgezogen. Wir parkten in einer Wohnsiedlung, und Emma stand neben mir, die Stirn konzentriert in Falten gelegt, während sie Winnie eingehend betrachtete.
Mein Blick traf im Rückspiegel auf Dylans. Kaum einen Herzschlag lang. Ich vergaß den ernsten Ausdruck auf ihrem Gesicht, als Emma mir half, auszusteigen und Winnie in das Haus zu tragen.
Wir brachten Winnie in den Keller. Emma legte ihren Oberkörper frei, versuchte, die Wunde zu säubern, um etwas erkennen zu können. Und obwohl ich um meine Selbstbeherrschung kämpfte, obwohl ich den Durst mit aller Kraft zu ignorieren versuchte, brannte er beim Anblick des Blutes in meiner Kehle auf.
Ich weigerte mich zu gehen, spürte aber, wie der Durst mich überwältigte. Wie ich geistesabwesend die Fingernägel in meine Handflächen bohrte.
Es brauchte Emma, die mir sagte, dass ich gehen sollte, und Billy, die mich schließlich aus dem Zimmer schob.
Als die Tür vor meiner Nase zufiel, sackte ich in mich zusammen. Meine Beine trugen mich kaum hoch ins Erdgeschoss. In mir kämpfte der Drang, zu sehen, wie es Winnie ging, mit dem Bedürfnis nach ihrem Blut.
Ich tigerte durchs Haus. Fand einen leeren Raum, in dem ich mich einschloss,
und wartete,
wartete,
wartete.
Die Panik überfiel sie von jetzt auf gleich. Die zarte Röte, die endlich wieder ihre Wangen überzogen hatte, verschwand. Für einen Moment dachte ich, es lag an ihrer Verletzung. Dass sie mehr Schmerzen hatte, als sie zugeben wollte. Aber dann klangen meine eigenen Worte in meinem Kopf nach. Ich hörte Friedas Namen noch durch den Raum hallen und sah vor mir, wie er Winnie mit einer Wucht traf, die einem Schlag gleichkam.
Sie hatte Angst. Pure, ungebändigte Angst vor dieser Frau, die ich am liebsten aus der Welt radiert hätte. Seit Dylan mir von Friedas falschem Spiel erzählt hatte, hatte ich mir alle Mühe gegeben, nicht darüber nachzudenken, wer Frieda wirklich war. Die Erinnerung an mein Vertrauen ihr gegenüber kam mit dem Wissen, dass ich meiner engsten Freundin misstraut hatte. Dass ich bereit gewesen war, all die Jahre, die Dylan mir geholfen hatte, in der Welt der Vampire Fuß zu fassen, komplett zu ignorieren.
Ich wollte mir einreden, dass es dafür einen guten Grund gab. Immerhin hatte alles gegen sie gesprochen. Trotzdem war der Gedanke daran bitter. Also hatte ich es ignoriert. Es zusammen mit Friedas Verrat in eine Ecke meines Hirns gedrängt, in der es mich erst einmal nicht belastete.
Bis jetzt. Jetzt, wo ich Winnie vor Angst zittern sah und meine angestauten Gefühle sich mit einem Schlag aus ihrem Käfig befreiten.
Ich hatte mit Trauer gerechnet.
Mit dem schambelasteten Wissen, an der Nase herumgeführt worden zu sein.
Was ich nicht hatte kommen sehen, war die Wut. Für Winnie, für Dylan. Für all die Leute, denen Frieda weh getan hatte. Aber vor allem für mich selbst.
Ich brütete darüber, während ich versuchte, Winnies Angst einzufangen. Tauschte einen kurzen Blick mit Blair und Sasha, die auf mein Deuten hin den Raum verließen, obwohl ich spüren konnte, wie ungern sie es taten. Sie wollten an Winnies Seite sein, sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Aber sie wussten, dass sie Raum brauchte, um sich durch die Welle purer Panik zu arbeiten, die von ihr Besitz ergriffen hatte.
Ihr Atem wurde ruhiger und ich sagte ihren Namen. Sah dabei zu, wie sie sich die Tränen aus den Augen blinzelte. Ich wollte sie ihr von den Wangen wischen, war mir aber nicht sicher, ob sie mich richtig wahrnahm. Ob meine Berührung sie erschrecken würden.
»Bist du wieder hier?«
Ein zögerliches Nicken.
Ich strich über ihren Handrücken. Ein rhythmisches Auf und Ab, von dem ich hoffte, dass es etwas war, an das Winnie sich klammern konnte. Minuten vergingen, bis sie sich im Raum umsah und schließlich mich anschaute.
»Was«, krächzte sie, brach dann aber ab und räusperte sich. Ich griff nach der Wasserflasche, drehte den Deckel auf und reichte sie ihr. Als sie fertig war, gab sie sie mir zurück und schob ihre Hand über das helle Bettlaken, bis unsere Finger sich berührten.
»Winnie«, sagte ich, weil ich wissen wollte, ob sie ihre eigenen Gefühle verstand. Ob dieser eine Name tatsächlich ausgereicht hatte, um Todesangst in ihr heraufzubeschwören. »Was ist gerade passiert?«
Sie zögerte. Schüttelte den Kopf. Hob eine Schulter an, als wüsste sie es selbst nicht genau. Ihre Unsicherheit war wie Öl, das meine feurige Wut auf Frieda anschwellen ließ.
Winnie antwortete nicht darauf, und ich drängte sie nicht dazu. Sie musste immer noch erschöpft sein, nachdem sie gerade erst dem Tod von der Schippe gesprungen war. Die Panikattacke hatte dafür gesorgt, dass sie die Augen kaum aufhalten konnte, und ich wollte sie nicht vom Schlafen abhalten.
Winnie war stur. Sie wehrte sich eine ganze Weile gegen ihre Müdigkeit. Rieb sich immer wieder die Augen, wenn ihre Lider sich für zwei, drei Sekunden schlossen.
»Wenn Frieda hinter allem steckt«, fing sie unvermittelt an. Ihre Worte klangen genuschelt. Schlaftrunken. »Wenn Frieda für alles verantwortlich ist, was ist dann ihr Ziel? Warum sammelt sie Abtrünnige um sich? Warum …?«
Am Ende schaffte sie es nicht einmal, die Frage zu vervollständigen, bevor sie den Faden verlor. Kurz darauf schlief sie ein.
Ein paar Minuten lang blieb ich an ihrer Seite sitzen. Ich brachte es nicht über mich, den Raum zu verlassen, während sie derart schutzlos wirkte. Nicht, dass ihr hier Gefahr drohte … Das Bedürfnis, bei ihr zu bleiben, hatte keinen rationalen Ursprung.
Ich hielt ihre Hand fest zwischen meinen. Ihre schmalen, kühlen Finger, ihre weiche Haut. Alles, was ich sah und fühlte, prägte ich mir ein – weil da plötzlich diese Angst war, irgendwann nur noch von meiner Erinnerung leben zu müssen. Weil mir, als sie blutend in meinen Armen gelegen hatte, auf einmal schmerzlich bewusst geworden war, was es bedeutete, dass sie ein Mensch war.
Dass sie sterblich war.
Sie konnte jederzeit sterben. Durch Frieda. Durch die Hand anderer Menschen. Oder einfach so – wenn sie alt war und ihr Körper aufhörte zu arbeiten.
Mit meiner Unsterblichkeit hatte ich mich in den letzten zehn Jahren kaum auseinandergesetzt. Ich erinnerte mich nicht daran, wie es war, sie nicht zu haben. Wie es war, zu wissen, dass die eigene Lebenszeit begrenzt war. Aber während ich neben ihr saß, ging es mir nicht aus dem Kopf.
Ich drückte Winnies Finger und sah dabei zu, wie ihre Lider kurz flatterten. Hätte ich die Wahl gehabt, wäre ich neben ihrem Bett sitzen geblieben, bis sie wieder aufwachte. Aber zehn, zwanzig Minuten nachdem sie eingeschlafen war, klopfte Dylan an den Türrahmen und bedeutete mir mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen.
Wir liefen den schmalen Flur des Hauses zur Treppe entlang. Das Gebäude, in dem wir uns aufhielten, befand sich westlich der Grenze von New York und New Jersey. Ein kleiner, wohnlicher Ort, in dem die Häuser sich nicht mehr wie in der Stadt aneinanderreihten, sondern gut gepflegte Gärten an Garagen grenzten.
Es war nicht zu weit von New York entfernt, aber hoffentlich weit genug, dass Winnie sich für ein paar Tage ohne Sorgen erholen konnte. So viel lieber es mir auch gewesen wäre, sie in ein Krankenhaus zu bringen – dort würde Frieda uns ohne Probleme aufspüren können.