A Night of Promises and Blood - Anne Pätzold - E-Book
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A Night of Promises and Blood E-Book

Anne Pätzold

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Beschreibung

Sie sah mich an, mit ihren dunklen, dunklen Augen voller Geheimnisse. Irgendwann, versprach ich mir, irgendwann werde ich jedes einzelne davon kennen.

Als Winnie mit ihrer Schwester Sasha nach New York zog, hatte sie nur ein Ziel: ihren Vater zu finden und zu erfahren, warum er vor vierzehn Jahren plötzlich aus ihrem Leben verschwand. Doch den Mut aufzubringen, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen, ist leichter gesagt als getan, zumal Winnie mehr denn je das Gefühl hat, ein Auge auf ihre jüngere Schwester haben zu müssen. Diese hat sich nämlich mit Jo angefreundet, einer jungen Frau, die vor Kurzem in die Wohnung nebenan eingezogen ist und die Winnie nicht nur wegen ihrer mysteriösen Ausstrahlung, sondern auch mit der Art, wie sie ihr Herz schneller schlagen lässt, gehörig verwirrt. Dabei ahnt Winnie nicht, dass Jo ein Geheimnis hat. Ein Geheimnis, das so unglaublich wie gefährlich ist - und das Winnie alles nehmen könnte, was ihr lieb ist ...

"Verzaubernd und gleichermaßen einnehmend, dunkel und gefühlvoll. Anne Pätzold vermischt Geheimnisse, Spannung, Gänsehaut-Momente und zarte Wohlfühl-Romantik - Jo und Winnie werden mein Herz wohl nie mehr loslassen." ZWISCHEN PRINZEN UND BAD BOYS

Dramatisch, spannend und wunderschön romantisch

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Seitenzahl: 438

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Playlist

Prolog

Part 1

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Part 2

13

14

15

16

17

18

19

20

21

Epilog

Die Autorin

Die Romane von Anne Pätzold bei LYX

Impressum

ANNE PÄTZOLD

A Night of Promises and Blood

Roman

ZU DIESEM BUCH

Als Winnie mit ihrer Schwester Sasha nach New York zog, hatte sie nur ein Ziel: ihren Vater zu finden und zu erfahren, warum er vor vierzehn Jahren plötzlich aus ihrem Leben verschwand. Doch den Mut aufzubringen, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen, ist leichter gesagt als getan, zumal Winnie mehr denn je das Gefühl hat, ein Auge auf ihre jüngere Schwester haben zu müssen. Diese hat sich nämlich mit Jo angefreundet, einer jungen Frau, die vor Kurzem in die Wohnung nebenan eingezogen ist und die Winnie nicht nur wegen ihrer mysteriösen Ausstrahlung, sondern auch mit der Art, wie sie ihr Herz schneller schlagen lässt, gehörig verwirrt. Dabei ahnt Winnie nicht, dass Jo ein Geheimnis hat. Ein Geheimnis, das so unglaublich wie gefährlich ist – und das Winnie alles nehmen könnte, was ihr lieb ist …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Diese sind:

Skin Picking, depressive Verstimmungen/Depressionen, Blut

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Anne und euer LYX-Verlag

Für Mama und Papa und André.

Ich euch auch. ♥

PLAYLIST

My Chemical Romance – Vampires Will Never Hurt You

Loveless – Middle of the Night

ENHYPEN – Drunk-Dazed

Charlie Puth – Light Switch

Imagine Dragons – Bones

SawanoHiroyuki[nZk], mizuki – Avid

Eve – Yuseiboushi

Belle – Lend Me Your Voice (English Version)

Yu-Peng Chen, HOYO-MiX – Another Hopeful Tomorrow

Ado – (Eien No Akuruhi)

League of Legends – Star Guardian 2022 – Official Orchestral Theme

SawanoHiroyuki[nZk]:Yosh – scaPEGoat

ON OK ROCK – Save Yourself

RADWIMPS, Taka – IKIJIBIKI

Loveless – Running Up That Hill

Eversolitude – (Withered Summer)

Evan Call – On That Fateful Night

PROLOG

Blut.

Es war alles, was ich sah, als ich die Augen aufschlug. An meiner Kleidung, meinen Händen. Auf dem Boden neben mir in einer großen Lache. Die flackernde Deckenbeleuchtung spiegelte sich darin.

Meine Haut klebte. Lautes Surren bohrte sich in meinen Kopf.

Mein Hals brannte, und je mehr ich mich darauf konzentrierte, desto schlimmer wurde es.

Unter mir ein Bettlaken – vollgesogen mit Blut. Ich stieß mich davon weg, rollte über den Boden, meine Arme gaben unter mir nach. Das Surren wurde lauter.

Ich drückte meine Stirn auf den Boden, presste mir die Hände gegen die Ohren. Alles war laut. So unendlich laut. Ein Rauschen, ein Pochen, ein Husten, Atem, Schritte, Motorgeräusche. Ich hörte Gespräche, aber sie flossen zusammen zu einer Kakophonie, der ich nicht entkam. Meine Hände halfen kaum.

Ich riss an meinen Haaren, lenkte mich mit dem Schmerz ab, bis ich die Schritte näher kommen hörte. Tack, tack, tacktacktack.

Das Knarzen der aufschwingenden Tür kratzte an meinem Trommelfell.

Das Licht wurde heller. Ich kniff die Augen zusammen, aber da war dieses Pochen. Das Rauschen, viel lauter. Das Brennen in meinem Hals war unerträglich, und dann, dann war da ein Körper, das Rauschen noch viel näher, das Pochen unendlich anziehend, und ich spürte einen Herzschlag, flatternd unter meinen Fingern, und endlich, endlich verschwand das Brennen in meinem Hals, und das Rauschen wurde leiser, immer leiser, bis es völlig verschwand.

Etwas schob sich in mein Blickfeld. Ich hob den Kopf an, sah ein Handtuch, eine blasse Hand, die es hielt, und ein Gesicht, das mich anlächelte.

»Willkommen in deinem neuen Leben.«

PART 1

Winnie

1

Ich hatte meine Augen gerade zugemacht.

Nein, vergesst das.

Ich hatte sie vor genau drei Stunden zugemacht und mich seitdem in meinem Bett hin- und hergeworfen.

Das Kissen fühlte sich mittlerweile an, als wäre es nur dafür da, mir Nackenschmerzen zu bereiten. Ich drehte mich probeweise auf die andere Seite und hörte mehrere Knochen in meinem Rücken knacken.

Das konnte nicht gesund sein. Nicht mit Mitte zwanzig. Ich war noch nicht bereit für Rückenschmerzen, Knieprothesen und eine künstliche Hüfte. Ehe ich es mich versah, würde sich mein Rücken krümmen, meine Haare würden grau und strohig werden und ich würde auf all die Jahre zurückblicken, in denen ich auf meinem verdammten Schreibtischstuhl gesessen und absolut nichts für meine Gesundheit getan hatte, weil es mich rasend machte, dass nichts so lief, wie ich es mir vorstellte.

Möglicherweise lag es aber auch daran, dass ich den gesamten Tag über auf meine Bildschirme gestarrt und mich gefragt hatte, wie oft man die Lösung für ein Problem beim Programmieren im Internet suchen und nicht verstehen konnte, bis es erlaubt war, den Computer aus dem Fenster rauszuwerfen.

Mein Hirn hatte sich so daran festgebissen, dass ich mittlerweile in Frage stellte, ob ich überhaupt wusste, wie man Software programmierte. Oder ob ich mir das letzte Jahrzehnt, in dem YouTube-Tutorials und wikiHow meine treuesten Lehrer gewesen waren, nur eingebildet hatte.

Ja. Vermutlich war es das.

Mit einem genervten Stöhnen drehte ich mich auf den Rücken. Die Decke anzustarren war das Allheilmittel für schlaflose Nächte. Durch das offene Fenster direkt neben meinem Bett wehte ein kalter Wind über meine Arme. Ich schob sie unter die Bettdecke und rieb meine Füße aneinander, um sie aufzuwärmen. Der dünne Vorhang verdeckte kaum die Lichter, die von draußen auf mein Bett strahlten.

So still erlebte man Brooklyn selten. Die Zeit, kurz vor Tagesanbruch, zu der selbst die motiviertesten Nachteulen schon müde nach Hause getorkelt waren. Kurz bevor die ersten Leute in der Stadt wieder aufwachten und Sirenenheulen, Motorgeräusche und ein Wirrwarr aus Gesprächen ein unangenehmes Hintergrundrauschen verursachten, das wie ein wütender Bienenschwarm in meinen Ohren brummte. Selbst das Pärchen über uns, das bis spät in die Nacht auf der Feuertreppe gesessen und offensichtlich viel Spaß gehabt hatte, bis dieser schließlich ins Schlafzimmer verlagert worden war, war wie ausradiert.

Mit einem Seufzen setzte ich mich in meinem Bett auf und lehnte mich quer über die Matratze, um das Fenster zu schließen. Die kalte Luft half mir normalerweise dabei, besser einzuschlafen, aber heute lenkten mich selbst die kleinsten Geräusche ab, die von draußen in mein Zimmer drangen.

Eine Gänsehaut breitete sich bei dem kühlen Luftzug auf meinen Armen aus. Bevor ich allerdings dazu kam, die Außenwelt komplett auszusperren, hielt ich inne.

Zwei leise Stimmen. Sie unterhielten sich direkt unter meinem Fenster. Obwohl ich mit meiner Schwester in der ersten Etage des kleinen Wohnhauses lebte, konnte ich die Worte nicht ausmachen. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Wand neben dem Fenster. Es jetzt zu schließen, kam nicht infrage. Ich wollte keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen und vor allem nicht mitten in der Nacht.

Die Digitaluhr auf dem Schreibtisch stand genau in meinem Blickfeld. Zwei Minuten vergingen. Dann fünf. Meine Neugier ließ mich den Vorhang ein Stück beiseiteziehen und einen Blick auf den Gehweg direkt vor dem Haus werfen.

Zwei Personen standen dort im Halbschatten. Eine war in einen Mantel gewickelt und hatte kurze Haare. Ihr Gesicht lag im Dunkeln. Die andere trug einen schwarzen Pullover, in dem ich längst erfroren wäre, beide Hände in die Bauchtasche geschoben. Sie wäre mit der Nacht verschmolzen, wären nicht die knallroten Haare gewesen, die selbst im Dunkeln einem Warnsignal glichen. Sie wehten ihr ins Gesicht und verdeckten den größten Teil davon. Ohne meine Brille konnte ich nicht viele Details ausmachen.

Aber es reichte, um zu sehen, wie sie den Blick nach oben richtete.

Wie die Person mit dem Mantel es ihr gleichtat.

Und wie beide genau in mein Zimmer schauten. Wie sie mich anschauten.

Ich zuckte zurück. Ließ den Vorhang vors Fenster fallen, bevor der logische Teil meines Hirns übernehmen konnte.

Meine Gänsehaut hatte plötzlich nichts mehr mit der Kälte zu tun.

Ich legte mich vorsichtig in mein Bett, zog die Decke bis zum Kinn hoch und steckte sie an meinem Körper fest.

Das hatte ich mir eingebildet, richtig? So dunkel wie es in meinem Zimmer war, konnte man von draußen nichts erkennen. Selbst wenn, hatten sie im Zweifelsfall nur aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen.

Mein Fenster blieb die ganze Nacht über offen. Und ich ignorierte das mulmige Gefühl in meinem Magen. Das Flüstern in meinen Träumen, als ich es doch endlich schaffte, in einen unruhigen Schlaf zu fallen.

Nur ein Zufall. Es war nur ein Zufall.

»Wenn der Anblick mal nicht für gute Laune sorgt«, begrüßte mich meine Schwester, als ich ins Wohnzimmer taumelte.

Sie legte den Kopf in den Nacken, um mich über die Sofalehne hinweg sehen zu können. Ihre braunen Haare waren ein wildes Durcheinander, das sie notdürftig in einen Zopf gequetscht hatte, und ihre hellrosa Haut war im Gesicht selbst im Winter von Sommersprossen übersät, um die ich sie insgeheim beneidete.

Ich schlurfte quer durch das Wohnzimmer zu ihr, setzte mich neben sie und nahm mir eins der Kakistücke mit Zimt von dem Teller, den sie auf ihren Oberschenkeln balancierte. Beim Kauen starrte ich auf den Fernseher, in dem die Nachrichten liefen. Gerade wurde zu einer Journalistin geschaltet, neben ihr ein Schild mit der Aufschrift »NEW YORK – Botanical Garden«.

Ihre Stirn war in Falten gelegt, ihre Stimme ernst: »… wo eine junge Studentin tot aufgefunden wurde. Eine weitere wird derzeit noch vermisst. Die Polizei hat sich zu den Umständen und der Todesursache bisher noch nicht geäußert, in einem Gespräch wurde uns aber mitgeteilt, dass allein in diesem Jahr zwei Mordfälle mit ähnlichem Muster stattgefunden haben …«

Die Journalistin wurde von Frank Martin in Transporter abgelöst. Dann von einer Backsendung. Von einer Reality-TV-Show. Sasha zappte sich gelangweilt durch die Sender, bis sie eine Doku über das alte Ägypten fand, die sie vorerst zufriedenstellte.

»Du bist heute früher wach als sonst«, merkte sie nach ein paar Minuten nachdenklich an. »Wirst du jetzt ein Morgenmensch?«

Den Kopf in ihre Richtung zu drehen wäre zu anstrengend gewesen, daher sah ich sie nur aus den Augenwinkeln an. Mein Körper war schlapp und schrie nach Schlaf, aber meine Träume hatten die Nacht über zu real gewirkt. Das Flüstern zu echt. Im Bett zu liegen machte mich unruhig.

»Es ist kurz nach zwölf.«

»Eben. Normalerweise stehst du am Wochenende nicht vor eins auf. So wie gestern.«

»Gestern war Samstag.«

»Heute ist Sonntag.«

Ich nickte zustimmend, als würde unser Gespräch irgendeinen Sinn ergeben, und rieb mir über die Arme. Ich hatte keine weiteren Stimmen vom Gehweg gehört. Niemanden, der einbrechen wollte und den besten Weg in unsere Wohnung suchte. Mein Hirn wollte mir die Stille als falsche Ruhe verkaufen, bis es kurz nach Sonnenaufgang endlich aufgegeben und mich hatte schlafen lassen.

»Tja, mich hat heute Morgen der Einzug unserer neuen Nachbarin geweckt«, beklagte sich Sasha. »Ich dachte immer, Sonntage sind heilig.«

»War sie so laut?« Sashas Zimmer war dem Treppenhaus am nächsten, und zwischen unseren Räumen lag das Wohnzimmer. Trotzdem hätte ich in meinem unruhigen Halbschlaf sicher gehört, wenn jemand lautstark durch die Wohnung direkt nebenan gepoltert wäre.

»Nur einmal. Hat sich angehört, als wäre es auch genau auf der anderen Seite der Wand gewesen, an der das Kopfteil von meinem Bett steht. Vermutlich hat jemand was fallen lassen – das Fluchen klang zumindest danach.« Sie schob den restlichen Zimt auf dem Teller mit dem Zeigefinger zu einem kleinen Häufchen zusammen.

Ich rutschte auf der Couch nach unten, lehnte meinen Kopf an die Rückenlehne des Sofas und legte meine Füße neben Sashas auf dem Couchtisch ab. Sie stieß sie mit ihren an und versuchte, meine vom Tisch zu rangeln, gab aber auf, als sie sich ihren kleinen Zeh an der Kante stieß.

»Ich dachte, die Wohnung sollte erst renoviert werden, bevor sie neu vermietet wird«, sagte ich.

Sasha zuckte mit den Schultern. Ihr Blick war auf den Fernseher gerichtet.

Eine halbe Stunde blieb ich neben ihr sitzen und gab mein Bestes, nicht direkt wieder einzuschlafen. Neben Sasha wurde das Rauschen in meinen Ohren leiser.

Sie rüttelte mich unwirsch aus meinem Halbschlaf, als sie einen Anruf entgegennahm, von dem ich vermutete, dass es Moms regelmäßiger Check-in war, und in ihrem Zimmer verschwand. Und dann direkt noch einmal, als es etwas später klingelte und Sasha in ihrer Eile, zur Wohnungstür zu kommen, über irgendetwas im Flur stolperte.

Ich drückte mich vom Sofa hoch, schaffte es aber nicht, mich in mein Zimmer zu verziehen, bevor Sasha die Tür aufriss.

»Bereit, bei Mario Kart zu verlieren?«, hörte ich sie fragen.

Ich winkte Victor zu. Sōma nahm mich in seiner Empörung nicht einmal wahr, bevor ich in meinem Zimmer verschwand.

»Entschuldige bitte?!«, hörte ich ihn rufen.

»Schrei nicht so rum«, erwiderte Victor ruhig. »Sie hat recht.«

»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«

»Auf meiner«, warf Sasha dazwischen.

Schuhe fielen zu Boden und ein Grummeln erklang, dann drückte ich meine Zimmertür zu.

Ich ließ mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen und wackelte an der Maus. Die zwei Bildschirme auf dem Tisch erwachten zum Leben und begrüßten mich mit dem Android-Emulator – der Grund meiner Kopfschmerzen. Ich richtete meinen Blick daran vorbei auf die weiße Wand dahinter und rieb mir über die Schläfen.

Das Licht der Monitore war zu hell für meine Augen. Mein Brillengestell drückte hinter meinen Ohren. Das Surren des Computers und der Lüftung war zu laut. Und als am unteren rechten Rand des Bildschirms pingend eine Nachricht aufploppte, fühlte es sich wie ein Nadelstich direkt in mein Hirn an.

golden_blair:

sorry, dass ich gestern nicht mehr geantwortet hab

ich bin ins bett gefallen und hab geschlafen wie ein stein

hast du einen cold boot versucht?

winnie_the_pooh:

golden_blair:

ich frag ja nur

winnie_the_pooh:

mein stolz und ich werden diesen chat jetzt verlassen

:P

golden_blair:

:D

der android emulator ist einfach mist und stürzt jedes mal ab, bevor das avd komplett eingerichtet werden kann

winnie_the_pooh:

ich sag das nur ungern, aber eventuell liegt das an deinem steinzeit-computer und nicht am programm

golden_blair:

psscht

hör nicht zu, bernie, du bist großartig

winnie_the_pooh:

außerdem läuft das avd schon und die app lässt sich darauf auch ausführen, aber es zerschießt in der ansicht den creative-bereich und ich weiß nicht warum

golden_blair:

du meinst, wo die leute dann ihre eigene kunst hochladen und gegenseitig einschätzen sollen?

winnie_the_pooh:

ja, genau

golden_blair:

hast du nachgeschaut, ob du gestern einen fehler eingebaut hast, nachdem du den syntax error wegen der dislike-funktion behoben hast?

winnie_the_pooh:

das würde mir doch aber nicht den gesamten aufbau der creative-seite durcheinanderwerfen

oder doch

ugh, okay, ich schau noch mal nach

golden_blair:

golden blair, stets zu diensten

Bevor ich antworten konnte, klopfte es an der Tür.

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und schob meine Brille nach oben, um mir über die Augen zu reiben. »Ja?«

Sasha steckte ihren Kopf zur Tür rein. »Hast du Lust, mit uns Mario Kart zu spielen? Sōma gibt eine Runde Pizza aus.«

»Sagt wer?!«, rief er seine Antwort aus dem Wohnzimmer.

Sasha reagierte nicht auf ihn, sondern grinste nur. »Also? Mario Kart?«

Zögernd sah ich von ihr zu meinen Bildschirmen und wieder zurück. »Nicht heute.«

Sie verzog den Mund, überspielte ihre Enttäuschung aber ansonsten gut. Ich ignorierte das schlechte Gewissen, das sich in mir breitmachte. Es war ungewohnt, Nein zu Sasha zu sagen. Daran änderte auch das halbe Jahr nichts, das wir jetzt schon ohne unsere Mutter in New York lebten.

»Ich bestell dir trotzdem eine Pizza mit, okay?«, schlug sie vor.

Ich bedankte mich bei ihr und wartete, bis sie die Tür wieder geschlossen hatte, ehe ich mich erneut meiner Arbeit zuwandte.

Die Stimmen der drei schallten den ganzen Nachmittag bis zu meinem Zimmer. Entweder schrien sie sich an, wenn sie sich gegenseitig von einer Strecke bei Mario Kart stießen oder sie lachten so laut, dass es sich anfühlte, als säßen sie direkt neben mir und brüllten mir ins Ohr.

Sasha und Sōma waren am lautesten. Beide redeten, als hätten sie Angst, sonst nicht gehört zu werden, und ich wunderte mich wirklich, dass Victor dabei noch nicht das Trommelfell geplatzt war.

Ich schob mir meine Kopfhörer in die Ohren und stellte leise Musik an. Irgendwann brachte Victor mir mit einem zurückhaltenden Lächeln meine Pizza, ließ mich dann aber sofort wieder allein. Nach zwanzig Minuten war der Karton leer – abgesehen von dem größten Stück, das ich mir für später aufhob.

Blair war vor einer halben Stunde zu einem Treffen mit zwei ihrer Freundinnen verschwunden. Sie wohnte ein Stück außerhalb von Seattle und damit auf der anderen Seite des Kontinents. Wir hatten uns in einem Forum kennengelernt, nachdem ich mir, größenwahnsinnig wie ich war, vorgenommen hatte, eine App zu programmieren, mit der andere Leute Kunst entdecken konnten, wie ich sie sah: als etwas, das Personen miteinander verband und Gefühle auf die ehrlichste Art und Weise auffing.

Ihre Begeisterung war, seitdem ich ihr von der Idee erzählt hatte, nie abgebrochen. Sie war immer neugierig, immer online und immer bereit, sich mit mir über eine neue Fehlermeldung den Kopf zu zerbrechen. Zumindest wenn sie nicht gerade in einer Vorlesung saß und ihre Dozentin anschmachtete. Oder ihren Dozenten. Oder den Teaching Assistant. Und selbst dann war sie trotzdem meistens online.

Als mein Programm sich zum dritten Mal in Folge aufhängte, seufzte ich frustriert und schob mich vom Schreibtisch weg. Es gab jetzt genau zwei Möglichkeiten: Entweder starrte ich weiter auf den Bildschirm und lief Gefahr, genau wie gestern, an dem Punkt anzukommen, an dem ich an meiner gesamten Existenz zweifelte und den Computer aus dem Fenster werfen wollte. Oder ich ging spazieren.

Die Entscheidung fiel mir nicht schwer.

Ich stand auf, kramte eine Jeans, ein braunes Top und einen grauen Hoodie aus meiner Kommode und zog mich an. Meine Haare band ich zu einem tiefen Pferdeschwanz zusammen und suchte geschlagene fünf Minuten nach meinem Geldbeutel, den ich schließlich dort fand, wo ich eventuell als Erstes hätte nachsehen sollen: in meinem Rucksack.

Im Laufen zog ich mir meine Jacke und eine Cap über und stolperte beim Versuch, gleichzeitig noch in meine Schuhe zu schlüpfen und mir die Kopfhörer in die Ohren zu stecken, mehrfach über meine Füße.

Ich rief Sasha ein »Ich bin kurz draußen!« zu, das in ihrem Gelächter unterging, steuerte überhastet die Treppen an, um möglichst schnell an die frische Luft zu kommen, und stieß genau in dem Moment mit einem Karton zusammen.

Ich versuchte, ihn aufzufangen, bekam aber nur eine Ecke zu greifen. Er rutschte mir aus der Hand und verstreute seinen gesamten Inhalt auf dem Treppenabsatz.

»Ach scheiße«, entkam es mir. »Tut mir leid.«

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie die Person, die den Karton getragen hatte, sich hinkniete. Ich nahm einen Kopfhörer aus dem Ohr und beeilte mich, ihr beim Aufsammeln zu helfen. Es war eine Mischung aus buntem Krimskrams. Eine LED-Lampe zum Aufhängen in Form eines Halbmondes und einer Wolke, ein winziges Wörterbuch, eine kleine, silberne Schatulle, deren Inhalt klimperte, als ich sie zurück in den Karton legte.

»Ich hoffe, es ist nichts kaputt gegangen.«

»Es ist nichts Wichtiges drin.«

Ihre Stimme war ruhig. Monoton. Ich sah auf, nachdem ich den letzten Stift eingesammelt hatte. Hielt ihn ihr entgegen, als sie ebenfalls den Kopf anhob.

Meine Finger verkrampften sich um den Stift. Sie zog daran, und als ich nicht losließ, hob sie eine Augenbraue an, die zwischen den Strähnen ihres Ponys hervorblitzte.

Zwischen roten Strähnen.

Wie ein Warnsignal, kam mir der Gedanke von heute Nacht wieder in den Sinn.

Sie sah auf meine Hand hinunter. »Darf ich?«

Meine Finger lösten sich von dem Stift, als hätte ich mich daran verbrannt. Sie warf ihn in den Karton, klappte die Laschen zu und stand auf. Ich tat es ihr gleich, konnte meinen Blick aber nicht von ihr lösen.

Ihre Haare. Ihre fast schneeweiße Haut. Ihre Augen. Sie waren bernsteinbraun und erwiderten meinen Blick. Unbeeindruckt, aber wachsam.

Sie stand vor mir, als wartete sie, dass ich noch etwas sagte. Als kein Wort meinen Mund verließ, nickte sie kurz und schob sich dann an mir vorbei.

Ich sah ihr hinterher. Den gesamten Weg, bis sie am nächsten Treppenabsatz verschwand. Meine Füße waren wie am Boden festgefroren und die Gänsehaut auf meinen Armen kehrte mit voller Kraft zurück.

Erst als ein Lied endete und ein neues durch meine Kopfhörer drang, kam wieder Leben in mich. Aber selbst da verschwand dieses merkwürdige Gefühl nicht. Nicht auf dem Weg zum Park, nicht während des gesamten Spaziergangs und nicht, als ich anderthalb Stunden später im Regen durch die vollen Straßen zurück nach Hause lief.

Immer wieder warf ich einen Blick über die Schulter. Zog meine Cap tiefer ins Gesicht und beschleunigte meine Schritte, sobald ich jemanden hinter mir gehen hörte.

Es war gruselig. Die Stadt war mir noch nie so unheilvoll vorgekommen.

2

Ich lief die Treppe zur ersten Etage hinauf, nahm meine Cap ab und strich mir die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Meine Kleidung war zwar nicht durchnässt, aber meine Jeans fühlten sich klamm an und klebten an meiner Haut.

Die Wärme in der Wohnung war mir willkommen, als ich die Tür hinter mir schloss und meine Sachen an der Garderobe ablegte. Stimmen drangen vom Wohnzimmer aus zu mir. Sah ganz so aus, als hätten Sasha, Sōma und Victor ihren Mario-Kart-Abend immer noch nicht beendet.

Ich hatte fest vor, nur mit einer kurzen Begrüßung am Wohnzimmer vorbeizugehen und mir frische Klamotten anzuziehen, wurde aber von Sashas Stimme aufgehalten.

»Winnieeee?«, rief sie. Sie kicherte, als hätte sie einen Witz gemacht. »Winnifred Brown, bist du das?«

»Nein, deine andere Schwester«, sagte ich und blieb im Türrahmen stehen.

»Oh, natürlich! Anastasia, ich habe dich vermisst!«

Ich verdrehte die Augen. Wenn Sasha und Sōma längere Zeit zusammen waren, pushten sie sich gegenseitig hoch, bis sie so viel Energie hatten, dass sie jeder Person im Umkreis von fünf Meilen die Nerven rauben und danach noch einen Marathon laufen konnten.

Im Türrahmen blieb ich stehen. »Anastasia?«

Sasha legte den Kopf in den Nacken und versuchte, sich weit genug zu verrenken, um mich zu sehen, ohne sich umdrehen zu müssen. Sie scheiterte kläglich und befreite sich aus dem Knäuel, zu dem Victor, Sōma und sie in den letzten Stunden geworden waren.

Ihre Augen glänzten, ihre Wangen waren rot, und der Anblick erinnerte mich daran, wie sie als Kind geguckt hatte, wenn sie ihre Geschenke im Krankenhaus ausgepackt hatte.

Sasha war damals häufig krank gewesen und hatte Weihnachten drei Jahre hintereinander mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus verbringen müssen. Mom hatte die Feiertage immer bei ihr verbracht. Bevor ich morgens aufgestanden war, hörte ich sie in der Küche ein riesiges Blech Plätzchen backen und in eine große Tupperdose umfüllen. Einmal hatte ich mich in die Küche geschlichen, um sie zu erschrecken. (Ich war damals überzeugt davon gewesen, dass Mom die besten Gesichter machte, wenn man sie erschreckte.) Aber sie hatte die auf dem Boden verstreuten Plätzchen nicht halb so witzig gefunden wie ich als Teenagerin und hatte sie mich aufsammeln lassen, bevor sie ein zweites Blech backte und zu Sasha fuhr.

Anfangs war ich häufig mitgegangen. Später kaum noch.

Dann war das nächste Jahr vergangen, das nächste Weihnachten gekommen, und wenn ich mich morgens aus dem Bett gerollt hatte, hatte ich mir fast einreden können, es nach den vergangenen zwei Jahren gewohnt zu sein, dass nur das stetige Ticken der Standuhr im Wohnzimmer mir Gesellschaft leistete.

Und dann das nächste. Selbst die Standuhr hatte in dem Jahr aufgegeben, die Stille zu füllen. Sasha war noch nie so häufig und lange im Krankenhaus gewesen wie in dem Jahr, und jedes Mal, wenn sie entlassen wurde, hatten Mom und sie mehr Insiderwitze, mehr geteilte Erinnerungen, mit denen ich nichts zu tun hatte. Ich hatte nie wütend auf Sasha sein wollen – sie konnte nichts für ihr Immunsystem. Aber sie war mir immer mehr wie eine Fremde vorgekommen, und unsere Mutter war zu beschäftigt mit der Überwachung eventueller Krankheitszeichen gewesen, um Zeit mit mir zu verbringen.

Ich war eine dickköpfige, stolze Teenagerin gewesen und hätte es niemals freiwillig zugegeben, aber als Sasha im vierten Jahr über die Feiertage gesund und munter zu Hause war, hatte ich diese Vorstellung von heißer Schokolade mit Marshmallows. Von Plätzchen, die wir zusammen backten, von einem Filmemarathon von Santa Claus, bis keine von uns mehr Lust auf Tim Allen als Weihnachtsmann hatte und wir stattdessen Buddy – Der Weihnachtself in Dauerschleife guckten.

Buddy war auch in Dauerschleife gelaufen. Aber Mom und Sasha hatten keine Lust mehr auf den Film gehabt, wenn ich von Freundinnen nach Hause kam. Die Plätzchen waren gebacken und es gab heiße Schokolade mit Marshmallows, aber meine Vorstellungen wirkten nur noch halb so besonders, wenn ich selbst nicht Teil von ihnen war.

Ich vermisste es, jemanden für mich zu haben. Ich vermisste Dad, der mich mit ins Museum nahm. Ich vermisste es, Teil der Familie zu sein – aber ich hatte auch keine Ahnung, wie ich mir einen Platz hätte freischaufeln sollen, wenn Sasha und Mom wirkten, als bräuchten sie niemanden sonst in ihrer kleinen Welt.

Die Erinnerungen waren so fern ab von der Beziehung, die Sasha und ich jetzt hatten, dass sie sich teilweise unecht anfühlten. Trotzdem ploppten sie manchmal auf. Ich hatte jedes Mal Mühe, sie fortzuwischen. Ich ließ meinen Blick über den Couchtisch gleiten, um mich von ihnen zu lösen.

Mehrere offene Tüten mit Gummibärchen lagen darauf verstreut, die meisten davon bereits zur Hälfte leer. Ich wusste von Sashas Erzählungen, dass Victor keine Süßigkeiten mochte, also ging das meiste davon auf die Kappe von Sasha und Sōma. Sasha, Sōma und Süßigkeiten. Drei S-Wörter, die niemals gemeinsam in einem Satz fallen sollten.

Ich konnte nur hoffen, dass sie von der Grenze zu Bauchschmerzen und Erbrechen noch ein Stück entfernt waren.

»Wir haben vorhin den Film geguckt – du weißt schon, Tochter der russischen Zarenfamilie verliert ihre Erinnerungen«, erklärte sie.

Sie rappelte sich vom Sofa auf und stolperte dabei fast über die sechs Paar Beine – ihre eingeschlossen –, ehe sie es schaffte, die Couch zu umrunden. »Mein Geburtstag ist Ende Februar. Das gibt mir noch sechs Wochen, bis dahin wünsch ich mir auch solche roten Haare.«

»Ich kann dir bestimmt eine Perücke besorgen.«

Sie verzog den Mund. »Lass mich das spezifizieren: Vor dem sechsundzwanzigsten Februar gehe ich zum Friseur und lasse mir solche roten Haare machen.«

»Zum Glück hast du dafür noch über einen Monat Zeit.«

»Ich habe nur noch etwas über einen Monat Zeit«, korrigierte sie mich. »Mein achtzehnter Geburtstag wird die größte Feier, die New York jemals gesehen hat. Alle werden eine Einladung haben wollen zum großen Höhepunkt.«

Sōma verkniff sich hinter ihr ein Lachen, und Victor rieb sich mit einem Schmunzeln über die Stirn. Sasha fiel es nicht auf. Sie schwang ihre Faust feierlich vor meinem Gesicht hin und her, bis ich sie aus der Luft griff. Auf ein blaues Auge konnte ich wirklich verzichten.

»Will ich wissen, was der große Höhepunkt beinhaltet?« Ich ließ ihre Hand los.

»Eine Torte, die größer ist als ich.«

»Die dir wer macht?«

Sie drehte mir sofort den Rücken zu und blinzelte Sōma und Victor bittend an.

»Mich brauchst du nicht angucken«, sagte Sōma. »Ich hab in meinem Leben noch nichts Essbares gebacken.«

Victor schüttelte ebenfalls den Kopf, wich ihrem Blick aber aus. Man konnte Sasha nur schwer Dinge abschlagen, wenn man ihr direkt in die Augen sah.

Sasha schob ihre Unterlippe vor und seufzte schwer. »Dann muss ich ein paar Dinge umplanen.«

Ich klopfte ihr auf die Schulter. »Wir besorgen dir schon eine Torte. Aber versuch, nicht ganz so enttäuscht auszusehen, wenn niemand aus ihr herausspringt. Für solche Ausmaße hab ich kein Geld.«

»Und wenn sie gerade groß genug ist, damit ein winzig kleines Hundebaby aus ihr herausspringen kann?«

»Sasha.«

Sie seufzte tief. »Ja ja, keine Tiere in der Wohnung. Ich weiß.« Sie ließ das Thema fallen. Vorerst. Ich war mir fast sicher, dass in naher Zukunft eine PowerPoint-Präsentation auf mich wartete – mit Gründen, warum wir uns doch ein Hundebaby zulegen sollten.

»Oh, übrigens. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass …« Ein Rauschen unterbrach sie. Das Wasser kam im Bad mit so viel Druck aus dem Hahn, dass man es in der gesamten Wohnung und vermutlich auch noch im Treppenhaus hörte. Da die vier Leute, die ständig in dieser Wohnung ein und aus gingen, alle hier im Wohnzimmer versammelt waren, runzelte ich die Stirn.

»Habt ihr noch jemanden eingeladen?«

»Unsere neue Nachbarin«, erklärte Sasha, als die Tür zum Bad aufging und leise Schritte sich dem Wohnzimmer näherten. »Sie ist für den Zuckerschock verantwortlich.«

Das ungute Gefühl überkam mich in Wellen.

Die erste, als Sasha von unserer neuen Nachbarin sprach.

Die zweite, als diese Nachbarin zu uns ins Wohnzimmer stieß.

Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass es die Frau mit dem Karton war, die ich vor ein paar Stunden im Treppenhaus umgerannt hatte.

Ich tat es trotzdem. Mein Herz schlug einen ungesunden Rhythmus an, obwohl ich es dazu aufforderte, aus einer Mücke keinen Elefanten zu machen.

Es fiel mir schwer, als ich ihr ins Gesicht sah. Alles, was ich wahrnahm, war Rot, Rot, Rot, das ihr Gesicht einrahmte und ihr glatt auf die Schultern fiel. Direkt gefolgt von einem Paar heller Augen, das meinen Blick erwiderte. Ein Lächeln lag auf ihrem Mund, freundlich und zugänglich und ganz anders als vor ein paar Stunden.

Je länger ich sie ansah, desto stärker wurde das mulmige Gefühl in meinem Bauch.

Ich mochte ihr Lächeln nicht. Ich mochte die Erinnerung an gestern Nacht nicht. Und am allerwenigsten mochte ich, dass diese Erinnerung sich gerade in meinem Wohnzimmer manifestiert hatte. Erst der Ellenbogen, den Sasha mir leicht in die Rippen stieß, lenkte meine Aufmerksamkeit woanders hin.

»Die meisten Leute finden es merkwürdig, wenn man sie länger als ein paar Sekunden anstarrt«, flüsterte sie mir zu. Dann wandte sie sich an unsere neue Nachbarin. »Lass dich von ihr nicht vergraulen. Winnie vergisst manchmal, wie man mit Menschen umgeht. Sie ist übrigens meine Schwester, von der ich vorhin erzählt habe. Wir wohnen zusammen hier. Winnie, Jo. Jo, Winnie«, stellte sie uns gegenseitig vor.

Jo streckte mir ihre Hand entgegen. Kalt, dachte ich als Erstes. Dann: Ihre Haut ist weich. Ihre Finger schlossen sich um meine, und mein gesamter Arm kribbelte.

Als sie mich losließ, fiel mir auf, was mich an ihrem Lächeln störte. Es wirkte nicht ganz rund. Fast unvollständig. Als hätte sie vergessen, dass auch der obere Teil ihres Gesichts involviert hätte sein sollen.

Unser Schweigen zog sich, mein Herzschlag war ein einziges Dröhnen. Als es zu lange anhielt, drängelte Sasha mich zur Seite und zu dem alten, zerkratzten Sessel, den wir auf einem Flohmarkt gefunden hatten. Sie drückte mich darauf und ließ sich dann vor meine Füße auf den Teppich fallen, bevor sie Jo zu uns winkte, die immer noch an der Tür stand.

Als wir alle saßen, war sie es auch, die ein Gesprächsthema in den Raum warf und Sōma dazu anstiftete, die nächste halbe Stunde von seinem Hund, Otto, zu schwärmen und uns allen Fotos zu zeigen. Sōma war von uns allen der Größte, gut einen Kopf größer als ich, und seine hellbraune Haut bekam an den Wangen manchmal einen rosafarbenen Hauch, wenn er von etwas redete, das ihn begeisterte – so wie jetzt.

Mir fielen seine schwarzen Fingernägel ins Auge, deren Spitzen er blau lackiert hatte. Ich hätte ihn gefragt, ob er sie absichtlich an seine derzeitige Haarfarbe angepasst hatte, wäre meine Aufmerksamkeit nicht ständig abgeschweift.

Ich wollte Jo nicht ansehen, konnte mich aber nicht davon abhalten. Immer, wenn ich es tat, blieb mein Blick an ihr hängen. Es war nichts Greifbares, nichts, das ich hätte benennen können, um irgendwem zu erklären, weshalb ich es immer wieder tat. Es war nur … Irgendetwas an ihr versetzte mich instinktiv in Alarmbereitschaft. Sorgte dafür, dass die Härchen an meinen Armen sich aufstellten. Und die Tatsache, dass ich nicht wusste, was es war, ließ mich sie jede zweite Minute anschauen.

Sasha merkte davon gar nichts. Nicht nur, weil ihr letzte Nacht keine Person ins Fenster geguckt hatte, die heute plötzlich nebenan einzog. Sondern ganz einfach, weil sie fremden Leuten im Gegensatz zu mir einen Vertrauensvorschuss schenkte wie andere ihren Liebsten Blumen. Sie war wie die andere, freundlichere Seite meiner Münze. Der Optimismus zu meinem Pessimismus.

Vielleicht war es gut, dass wir so waren. Sasha war mein Segel und ich ihr Anker. Wenn es zu sehr stürmte, hielt ich uns fest, und sie brachte uns voran, wenn der Himmel blau war.

Rational wusste ich das alles. Vielleicht log mein Bauchgefühl. Aber das änderte nichts daran, dass ich Jo schnellstmöglich aus unserer Wohnung haben wollte.

Als Sōma irgendwann aufhörte zu reden, war es Victor, der den Gesprächsfaden aufnahm. Er saß direkt neben Sōma. Victor war zierlich gebaut, ungefähr so groß wie ich, seine Haut war ein helles Beige, und die blonden, fast weißen Haare trug er meistens in einem Seitenscheitel aus seinem Gesicht frisiert. Die Frisur unterstrich seine feinen Gesichtszüge. Bisher hatte er, ähnlich wie ich, nur zugehört.

»Bist du aus New York?«, wollte er von Jo wissen.

»Ja«, antwortete sie. »Aus Manhattan.«

Sōma lehnte sich neugierig nach vorn. »Lebt deine Familie dort?«

»Genau.«

»Warum bist du nach Brooklyn gezogen?«

Ein kurzer Blick in meine Richtung. »Ich wollte allein wohnen.« Sie hob eine Schulter an. »Die Stille ist beim Lernen angenehmer.«

So wie sie es sagte, klang es, als wäre es eine Leichtigkeit, hier eine Wohnung zu bekommen und sich die allein leisten zu können.

Sasha und ich bekamen von unserer Mutter finanzielle Unterstützung. Trotz Sashas Stipendium, meinem Job im Café in Williamsburg und den gelegentlichen Aufträgen von Firmen, die ihre Websites gestaltet haben wollten, kamen wir nur knapp über die Runden.

Jos Wortwahl machte deutlich, dass sie sich um so etwas keine Gedanken machte. Wenn sie vorher in Manhattan gewohnt hatte, war es nicht unwahrscheinlich, dass ihre Familie wohlhabend war und Geldsorgen für sie keine Rolle spielten.

»Du studierst?«, sprang Sasha sofort auf Jos Aussage an. »Wo? Was? Seit wann?«

»Seit diesem Semester an der NYU«, antwortete Jo. Ihr Lächeln wurde freundlicher, als sie mit Sasha redete. »Art History.«

»Wirklich?« Sasha sprang fast von ihrem Platz auf dem Boden auf, so aufgeregt war sie. Sie beugte sich über den Couchtisch, der zwischen den beiden stand. Ihre Hand hinterließ einen großen Abdruck auf der Glasplatte. »Ich auch!«

Jo behielt ihr Lächeln die ganze Zeit bei. »Wirklich?«

Sasha nickte, und ihr Pferdeschwanz schwang dabei rauf und runter. Sie deutete auf Victor. »Er übrigens auch, gleiches Semester. Wir haben zusammen angefangen und uns beim Western-Art-Kurs kennengelernt.«

Jo betrachtete ihn kurz, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Sasha richtete.

»Hey«, warf Sōma ein. Er saß auf der Sofakante und wippte mit den Beinen. »Was ist mit mir?«

»Was ist mir dir?«, wiederholte Sasha.

Sōma sah sie empört an und dann hilfesuchend zu Victor. Der hob nur die Hände an, als wollte er sagen, dass er in das Gespräch nicht mit reingezogen werden wollte.

»Ich bin im gleichen Department.«

»Ich weiß.«

»Wieso erwähnst du das nicht?«

»Weil du etwas anderes studierst?«

»Aber im gleichen Department.«

»Ja, aber …«

Ich schaltete ab, als die beiden zwei Minuten später immer noch darüber diskutierten. Victor hatte in der Zwischenzeit sein Handy rausgeholt und tippte eine Nachricht, und Jo sah dem Schlagabtausch zwischen Sasha und Sōma aufmerksam zu.

Meine Finger tippten einen Rhythmus auf die Sofalehne, als mein Handy vibrierte. Ich schob meine Hand in die Bauchtasche meines Hoodies, holte es heraus und schaltete den Alarm aus. Abwesend drehte ich es in meinen Händen hin und her.

Sasha legte ihre Hand kurz auf meine, als sie es bemerkte, und lehnte sich an meine Beine. »Hast du noch was vor?«

Nachdem Sōma die Diskussion mit Sasha aufgegeben hatte, hatte er Victor in eine über ihr Abendessen verwickelt. Sasha redete leise genug, damit niemand außer mir es hörte.

Ich war mit Blair verabredet, zögerte aber, es zu sagen. Solange Jo hier war, wollte ich den Raum nicht verlassen und sie lieber im Auge behalten, um … um … Um dein Bauchgefühl bestätigen zu können, Winnie? Wirklich?

Ich schob mein Handy zurück in meine Tasche. »Schon gut.«

Sie wartete einen Moment. Sah mich mit einem fragenden Gesichtsausdruck an.

Zur Antwort deutete ich mit einem Nicken auf Sōma, der sich gerade eine Handvoll Gummibärchen nahm. Die leere Tüte flatterte zurück auf den Tisch und Sasha kletterte darüber, um ihn davon abzuhalten, sie zu essen.

»Hey!«

Er hielt mitten in der Bewegung inne, die Augen weit aufgerissen, als hätte er ein Verbrechen begangen. Als er Sashas Blick bemerkte, beeilte er sich, alle Gummibärchen mit einem Mal in seinen Mund zu stopfen.

»Hey!«, wiederholte Sasha und versuchte, ihn davon abzuhalten. »Du hast gesagt, ich kann den Rest haben.« Sie zog an seinem Hemdsärmel und hätte Vic dabei fast mit ihrem Ellenbogen die Brille von der Nase geschlagen. Er rückte daraufhin einen guten halben Meter auf dem Sofa von den beiden weg. Sōma gab sich währenddessen alle Mühe, von Sasha loszukommen.

»Du hast nicht mal mehr daran gedacht, bis ich sie mir genommen habe«, verteidigte Sōma sich und warf mir über den Kopf meiner Schwester hinweg einen anklagenden Blick zu. Im gleichen Moment riss er sich von ihr los, sprang von der Couch auf und floh in den Flur. Sasha rappelte sich vom Boden auf und sprintete ihm hinterher. Man hörte ein Krachen, als die Tür zu Sashas Zimmer zuflog und dann, wie die beiden sich durch das Holz anschrien.

Die Streitereien zwischen den beiden waren nichts Neues. In dem halben Jahr, in dem Sasha ihn und Victor kannte, waren sie so oft hier bei uns gewesen, dass sie mittlerweile schon als Inventar durchgehen konnten. Und mindestens einmal pro Treffen kam es zu Auseinandersetzungen wie der gerade.

Jo hatte sich aufgerichtet, als Sasha über den Tisch geklettert war und noch mehr, als sie hinter Sōma her aus dem Wohnzimmer gestürmt war. Sie runzelte besorgt die Stirn. »Sollte man nicht dazwischengehen?«

Victor setzte seine Brille wieder auf. »Wenn die beiden so drauf sind, läufst du nur Gefahr, dir dabei aus Versehen eine einzufangen.«

»Und wenn sie sich verletzen?«

»Dann lernen sie vielleicht endlich daraus.«

Die Falten auf Jos Stirn vertieften sich mit Victors Aussage. Sie setzte ihren Fuß vor sich auf, als wollte sie aufstehen, überlegte es sich dann aber anders.

Irgendwann gab Sasha auf und kam ins Wohnzimmer geschlurft. Sie ließ sich auf den freien Platz neben Victor fallen, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Ich wollte morgen Nachmittag nach der Arbeit einkaufen«, sagte ich beiläufig. »Ich glaube, ich habe Lust auf eine Jumbo-Tüte Gummibärchen.«

Sasha löste ihre Arme und grinste dankbar. Dann zog sie die Nase kraus. »Ich hab morgen den ganzen Tag Vorlesungen.«

»Dann kannst du dich auf den Zuckerschock am Abend freuen.«

»Wann hast du morgen deine erste Vorlesung?«, fragte Jo.

»Um halb zehn, und du?«

»Auch um den Dreh. Ich hab meinen Wochenplan noch nicht ganz drauf.«

»Ich fahr montags immer früher los, um in einem Café in der Nähe zu frühstücken. Willst du mitkommen? Sōma und Vic sitzen da beide schon in ihren Vorlesungen, deswegen bin ich normalerweise allein.«

Es war ihr kleines Ritual, um den Wochentag mit den meisten Vorlesungen mit etwas Schönem zu verbinden.

Es gab keinen einzigen Grund, der dagegen sprach – aber in der Sekunde, in der sie Jo eingeladen hatte, war es mir zum ersten Mal wie eine schlechte Idee vorgekommen.

»Du könntest …« … mit mir zu Hause frühstücken.

»Ja, gern«, fiel Jo mir ins Wort.

Sasha hatte mich völlig überhört. Sie strahlte übers ganze Gesicht, und mein Magen verknotete sich.

Reiß dich zusammen, Winnie, rief ich mich zur Ordnung.

Das Quietschen einer Tür hallte durch den Flur, und Sōma kam ins Wohnzimmer. Er lief auf die Couch zu und drängelte sich zwischen Sasha und Vic, bevor er entschuldigend grinste. Sasha kniff die Augen kurz böse zusammen, erwiderte sein Grinsen dann aber.

Jo fuhr unbeirrt fort. »Vielleicht kannst du mir dann auch erklären, wie ich zu den richtigen Vorlesungssälen finde?«

Sasha reckte beide Daumen in die Höhe. »Überlass das nur mir. Wenn wir fertig sind, wird es sich anfühlen, als hättest du nie nicht an der NYU studiert.«

»Das Gefühl stellt sich schnell genug von allein ein«, murmelte Sōma.

»Ich klingle um kurz vor acht bei dir«, schlug Sasha vor, sah auf ihre Armbanduhr und dann kurz zu mir. »Und damit ich kein Zombie bin, wenn ich morgen aufwache, werf ich euch jetzt alle liebevoll raus.«

Victor stand als Erster auf. Er zog Sōma mit sich, der sich auf dem Sofa breitmachen und schlafend stellen wollte, und schob ihn dann vor sich her aus dem Wohnzimmer. Sasha folgte den beiden fröhlich summend und ließ mich mit Jo allein.

Sie stand nur langsam auf und klopfte sich gefühlt jedes Staubkörnchen einzeln von der Hose.

»Nett, dich kennengelernt zu haben«, sagte sie dann.

»Ja«, erwiderte ich zögernd. »Gleichfalls.«

Sie sah mich an, auf ihren Lippen lag kaum mehr ein Hauch ihres bisherigen Lächelns. »Bis später, Winnie.« Sie verließ das Wohnzimmer, und ich hörte, wie sie sich bei Sasha verabschiedete. Sasha schloss die Tür zu, als Jo endlich draußen war. Ihre Verabschiedung hallte noch minutenlang in meinen Ohren nach. Und obwohl ich endlich durchatmete, war der Gedanke, dass uns nur eine Wand von ihr trennte, die ganze Zeit in meinem Hinterkopf.

3

»Was war los?«, fragte Sasha mich, als sie mich vor dem Sofa stehen sah, die Hände in der Bauchtasche meines Hoodies versteckt. »Du warst still. Stiller als dein normales Still, und hast Jo die ganze Zeit angestarrt. Armer Victor.«

»Was hat Victor damit zu tun?«

»Ach nichts.«

Sie umrundete das Sofa und ließ sich in die Polster fallen. Sie sah erschöpft aus, nicht länger fröhlich und aufgedreht wie noch vor wenigen Sekunden. Als hätte sich mit dem Schließen der Haustür ein Schalter in ihr umgelegt. Sie zog die Beine an und schlang ihre Arme darum, und ich wusste, ohne, dass sie es aussprach, dass das »schwarze Loch« – ihre Worte – nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.

Es kam in unregelmäßigen Abständen, und der einzige Grund, weshalb ich davon wusste, war, dass wir zusammenlebten. Vorher hatte ich keine Ahnung von den Tagen gehabt, an denen sie mit niemandem redete, weil ihr die Energie fehlte.

»Die Frage bleibt: Was war los?«, fuhr sie fort. »Waren das ›Ich hab dich gesehen und beschlossen, dass ich dich nicht ausstehen kann‹-Vibes? Oder ›Ich hab versucht, dir schöne Augen zu machen und dabei versagt‹-Vibes? Du hättest nicht sitzen bleiben müssen, wenn du schon was vorhattest. Denk nicht, ich hab deine Ablenkungstaktik nicht bemerkt. Wobei es eine Lüge wäre zu sagen, dass ich mich nicht freue, wenn du mal mit uns hier sitzt. Seit wir nach New York gezogen sind, bist du kaum noch …« Sie brach den Satz ab. Räusperte sich. »Ich seh dich weniger.«

Bist du kaum noch bei mir.

Mein Daumen rieb über die raue Schutzhülle meines Handys, hin und her und hin und her. Es fiel mir erst auf, als Sasha aufhörte zu reden und das monotone Rauschen in meinen Ohren verklang. Mit ihm stoppte ich auch die Bewegung meiner Finger.

»Du könntest dich mit in mein Zimmer setzen und mir helfen, eine Website für diesen Zahnarzt, der mich letztens angeschrieben hat, zu basteln«, sagte ich.

»Für einen Zahnarzt?«

»Ja, ein alternativer Zahnarzt. Arbeitet ohne Betäubungen und scheint eine Vorliebe für schmerzhafte Eingriffe zu haben, wenn man seiner E-Mail glauben darf.«

»Ich weiß die Einladung zu schätzen, aber ich glaube, ich verzichte.« Sie starrte an mir vorbei, schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich geh mir eben die Zähne putzen.«

Sie verschwand im Bad. Das Rauschen des Wassers hallte Sekunden später durch die gesamte Wohnung und begleitete mich in mein Zimmer. Ich setzte mich an den Schreibtisch und schaltete die Bildschirme ein.

Vor meinem Spaziergang hatte ich den Creative-Bereich der App halbwegs wiederhergestellt und war dafür auf ein anderes Problem gestoßen. Mich dazu zu zwingen, es zu lösen, brachte auch nichts: Mein Hirn konzentrierte sich nicht auf die Aufgabe vor mir.

Ich klickte mich durch meine Mails, suchte nach Aufträgen, die nicht allzu zwielichtig klangen. Aber mein Blick wanderte immer wieder von den Worten vor mir zu dem gerahmten Bild, das in der linken Ecke meines Tisches stand.

Das Kind darauf war noch keine sechs Jahre alt, hatte gerade zwei untere Milchzähne verloren und grinste so breit in die Kamera, dass es vermutlich wehtat. Ihre Hand war weit, weit nach oben gestreckt und hielt sich an einer anderen fest. Der Mann, zu dem diese andere Hand gehörte, hatte den Kopf in den Nacken geworfen und lachte.

Wenn man das Foto ansah, konnte man das Lachen beinahe hören. In meinen Ohren hallte es selbst heute noch nach.

Es war eins von zwei Bildern, die ich von meinem Vater besaß. Aufgenommen direkt vor dem Museum of Modern Art, das für mich damals wie ein riesiger Spielplatz gewirkt hatte.

Das andere lag direkt daneben. Vierzehn Jahre später, ausgeschnitten aus einer lokalen Zeitung vor wenigen Monaten, als er zum Police Comissioner und damit zum höchstrangigen Polizeibeamten des New York Police Departments befördert worden war.

Es waren die gleichen Bilder, die ich jedes Mal anstarrte, wenn ich an meinem Schreibtisch saß. Die gleichen Bilder, die ich angestarrt hatte, als ich mich vor ein paar Tagen endlich dazu durchgerungen hatte, ihm eine E-Mail zu schreiben.

Die gleichen Bilder, die ich auch dann anstarrte, wenn ich wartete und wartete, dass er antwortete.

Vielleicht ignoriert er es einfach, dachte ich. Es war das, was mich in den letzten Jahren immer davon abgehalten hatte, mit ihm Kontakt aufzunehmen: Die Vorstellung, dass er einfach kein Teil meines – unseres Lebens sein wollte.

Er war nicht unauffindbar. Er war nicht plötzlich von der Bildfläche verschwunden, nachdem er und Mom sich getrennt hatten. Aber ich hatte mir eingeredet, dass es so war, weil es die Träume, in denen er irgendwann nach Hause kam und ich nicht länger das fünfte Rad am Wagen war, realer wirken ließ.

Es kostete mich einige Anstrengung, mich von dem Bild loszureißen und mich auf die Arbeit vor mir zu konzentrieren. An manchen Tagen war mein Hirn zerstreut – als hätte es vergessen, sich festzuketten – und flog ohne Anker durchs All. Alles lenkte mich ab und jedes Geräusch war eins zu viel.

Heute war einer dieser Tage. Ich würde einige Zeit brauchen, um meinen Fokus zu finden und dann vielleicht noch etwas Arbeit schaffen, aber viel zu spät ins Bett gehen, weil ich mich nicht lösen konnte, wenn der Bienenschwarm endlich verstummt war und ich mich im Coden verlor.

Seufzend schob ich mich vom Schreibtisch weg. Ich wollte morgen nicht verschlafen und zu spät zur Arbeit kommen.

Ich drehte mich im Kreis und sah mich in meinem Zimmer um, zögerte es heraus, ins Bett zu gehen, weil ich an gestern Nacht dachte – an leise Stimmen, an rote Haare – und es nicht besser werden würde, wenn ich keine Ablenkung hatte.

Nach einer halben Stunde gab ich auf. Ich machte mich fürs Bett fertig und lag keine zehn Minuten später unter der Decke, die Augen geschlossen, und …

… schlief fast …

… schlief fast …

… schlief fast …

Ruckartig drehte ich mich auf den Rücken. Meine Ohren waren gespitzt und lauschten jeder Bewegung und jedem Gesprächsfetzen, der durch das gekippte Fenster zu mir drang. Überraschung: Da war nichts. Zumindest nichts, was direkt unter meinem Fenster stattfand.

Je mehr ich mich darüber aufregte, dass ich Jo und ihre Begleitung von gestern Nacht nicht einfach fallen lassen konnte, desto wacher wurde ich. Dass die Studierenden aus der WG in der dritten Etage auf den Feuertreppen hoch und runter rannten, half nicht sonderlich. Das Metall schepperte jedes Mal, wenn jemand beschloss, nach oben zu jagen, weil sich in den Stockwerken über uns anscheinend eine ganze Freundesgruppe eingemietet hatte.

Gelächter ertönte, kurz darauf schallte Musik zu mir, danach wurden die Geräusche dumpfer. Alles was blieb, war der Bass, der durch die Wände hämmerte und mein Bett vibrieren ließ.

Ich schlug meine Decke zurück und öffnete das Fenster weit. Der Wind hinterließ eine Gänsehaut auf meinen Armen, und ich fluchte leise, als ich nach draußen stieg und meine nackten Füße das eiskalte Metall der Feuerleiter berührten. Ich beugte mich zurück in mein Zimmer, suchte in meinem Bett nach dem dicken Paar Socken, das ich gestern beim Schlafen getragen hatte, und zog sie mir über.

Der Ausblick hatte das Wort nicht einmal verdient. Man sah auf die Straße und die Wohnhäuser auf der anderen Seite. Autos parkten auf beiden Straßenseiten, so weit das Auge reichte, und der Himmel war ein dreckiges Orange, das man nur in Großstädten fand, in denen die künstlichen Lichter niemals ausgingen. Hin und wieder zerschnitten Schreien oder Lachen die basslastige Musik. Hier draußen war es nachts nicht besonders schön und tagsüber dank des Geräuschpegels der Straße kaum auszuhalten.

Es war mein liebster Teil der ganzen Wohnung. Ich konnte hier draußen sitzen, wenn ich das Gefühl hatte, mein Kopf platzte. Wenn ich mich mit Sasha stritt und etwas anderes anstarren wollte als meine eigenen vier Wände. Oder wenn Mom Sasha zum Quatschen anrief und ich mich fragte, wie viele Wochen wohl wieder vergehen würden, bis ich eine Nachricht von ihr erwarten konnte.

Und es war eiskalt. Ich wippte von einem Fuß auf den anderen, damit meine Zehen nicht einfroren, und lief die zwei Stockwerke nach oben. Es passierte viel zu häufig, dass jemand am Sonntagabend beschloss, eine Party zu schmeißen und den gesamten Block damit wachzuhalten. Der Weg nach oben war längst ein vertrauter.

Ich hob meine Hand, um am Fenster zu klopfen – auf ein Klingeln an der Tür reagierten sie schon lange nicht mehr –, aber kaum sah mich eine der Bewohnerinnen, hob sie entschuldigend die Hand, mit der sie eine Bierflasche hielt, und drehte die Musik sofort leiser.

Auf dem Weg nach unten glitt meine Hand die ganze Zeit über das Geländer, weil ich mich mit meinen dicken Socken schon ausrutschen sah, und ich bemerkte erst auf der letzten Stufe, dass ich nicht mehr allein hier draußen war.

Direkt neben meinem Fenster war das Ende der Feuertreppe, eingerahmt von einem verzinkten Stahlgeländer, das an einer Stelle eine tiefe Kerbe hatte, an der ich immer hängen blieb, wenn ich hier draußen saß und mit meinen Klamotten nicht aufpasste. Einige Hemden hatten deswegen schon das Zeitliche gesegnet.

Es war wie mein eigener, privater Balkon, an den ein noch viel winzigerer von der Wohnung nebenan grenzte. Er war gerade so groß, dass eine Person sich darauf im Kreis drehen konnte.

Jo hatte die Arme auf das Geländer gestützt und sah auf die Straße.

Ich verlangsamte meine Schritte. Mein Fluchtinstinkt wollte mich zurück nach oben schicken, durch das Fenster, um den Umweg durch den Hausflur in Kauf zu nehmen, nur, um ihr auszuweichen. Bevor ich allerdings umdrehen konnte, wandte sie sich von der Straße ab. Vermutlich wollte sie zurück in ihre Wohnung gehen, als sie mich ein paar Meter entfernt stehen sah.

Sie sagte nichts, und die Stille verunsicherte mich. Ihr Blick wanderte über mich, blieb an meinen Füßen hängen und glitt dann an mir hinauf, bis sich unsere Blicke kreuzten. Sie hatte eine Augenbraue angehoben, oder vielleicht bildete ich es mir nur ein, weil ich blinzelte und ihr Gesichtsausdruck völlig neutral war.

Ich wollte zu meinem Fenster gehen, aber konnte meine Beine nicht bewegen. Ihr Blick nagelte mich am Boden fest und raubte mir den Atem vor Angst, vor Sorge, vor … irgendetwas anderem, das ich nicht in Worte fassen konnte.

Dann sah sie weg, und ich bekam wieder Luft. Ich machte einen Schritt auf mein Zimmer zu, noch einen, noch einen, schob das zugefallene Fenster wieder auf und spürte die ganze Zeit über Jos Blick im Rücken.

Es war kein angenehmes Gefühl. Eher, als versuchte jemand, Löcher in meinen Rücken zu brennen. Es ließ mich wünschen, mein Zimmer nicht verlassen zu haben. Oder noch besser: dass diese Frau gar nicht erst neben uns eingezogen wäre.

Als ich schließlich wieder in meinem Raum war, schloss ich mein Fenster und zog ruckartig den Vorhang zu. Ich legte mich in mein Bett und wartete, bis ich hörte, dass nebenan ebenfalls das Fenster zuging. Erst da schaffte ich es, mich weit genug zu beruhigen, um einzuschlafen.

Am nächsten Morgen wachte ich auf und wollte mein Bett am liebsten nicht verlassen. Ich hatte mich die zweite Nacht in Folge hin- und hergeworfen, keine Ruhe gefunden und zu wenig geschlafen, um jetzt mehrere Stunden im Café freundlich Leute zu bedienen. Ich zwang mich trotzdem dazu.

Sasha war bereits weg, und ich brauchte nicht lange, um mich fertig zu machen und die Wohnung ebenfalls zu verlassen.

Mit dem Bus war ich in einer guten halben Stunde in Williamsburg. Ich hätte die Bahn nehmen können, die häufiger fuhr und schneller ankam, aber ich konnte das Rattern und die grelle Beleuchtung in den Waggons nicht ausstehen. Für Sasha war gerade das die reinste Entspannung. Sie kam ständig erst Stunden später nach Hause, weil sie einfach über ihre Haltestelle hinaus sitzen blieb und mit der Bahn kreuz und quer durch Manhattan und Brooklyn fuhr.