Risotto mit Otto - Angela Troni - E-Book

Risotto mit Otto E-Book

Angela Troni

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Beschreibung

Die italienische Studentin Angela verlässt für ein Jahr den Schoß ihrer grande famiglia und landet mitten in einer Münchner Studenten-WG – mit Putzplan, Spontanpartys, reichlich Augustiner Edelstoff und versifftem Etagenklo. Angelas fröhliches, unbedarftes, südländisches Temperament wird in der Fremde auf eine harte Probe gestellt. Als sie sich dann auch noch in den falschen Mann verliebt, steht kurz darauf Mamma Raffaella vor der Tür – und damit ist das Chaos perfekt!

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Das Buch

Der Schock sitzt tief, als die 24-jährige italienische Studentin Angela erfährt, dass sie das ersehnte Stipendium für das Auslandssemester als Italienisch- und Deutschlehrerin nicht für Berlin, sondern »nur« für München bekommt. München, von dem jeder Italiener weiß, dass die Bewohner ihre Stadt völlig zu Unrecht für die nördlichste Italiens halten und die ganze Zeit in seltsamen Kleidern wie aus Omas Mottenkiste und Lederhosen mit halben Strümpfen um die behaarten Waden herumlaufen.

Trotzdem wagt Angela sich für ein Jahr aus dem Schoß der italienischen grande famiglia in die Arme einer Münchner Männer-WG. Mit ihrem italienischen Temperament mischt sie die Herren mächtig auf – und am Ende winkt die große Liebe …

Die Autorin

Angela Troni, geboren 1970, lebt als freie Lektorin und Autorin in München. Sie hat bereits mehrere Sachbücher verfasst und Anthologien herausgegeben. Dies ist ihr erster Roman der Halbitalienerin, deren Familie aus Rimini stammt.

Mehr über die Autorin erfahren Sie unter www.angelatroni.de

Von der Autorin sind in unserem Hause bereits erschienen:

Gebrauchsanweisung für Männer und Frauen Ich hab schon Schlimmeres erlebt

Angela Troni

Risotto mit Otto

Ein italienisches Jahr in München

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-taschenbuch.‌de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

3. Auflage April 2011

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011

Umschlaggestaltung und Gestaltung des Vor- und Nachsatzes: Sabine Wimmer, Berlin

Titelillustration: © Jakob Werth

Satz und eBook: LVD GmbH

Per il babbo più buono del mondo

Prolog

»Vado al massimo«

»Porca madonna e tutti santi!«, entfuhr es mir, nachdem ich den Brief mit dem hellgrünen Umschlag aufgerissen hatte und mit klopfendem Herzen die Zeilen überflog, um an drei Wörtern hängenzubleiben, die ein Unbehagen in mir auslösten, als hätte mich der Carabiniere in der Via Dante wieder mal beim Vespafahren ohne Helm erwischt.

Völlig verschwitzt schleppte ich mich die Stufen bis zu unserer Wohnung im sechsten Stock hoch, verdammte den seit Wochen kaputten Aufzug und versuchte, die Tür aufzuschließen, die wie immer klemmte. Mit einem gezielten Tritt überredete ich sie dazu, endlich nachzugeben, und ging in den Flur.

»Monaco di Baviera – München, Bayern«, stand da in fettgedruckten Lettern, und ich konnte nicht verhindern, dass mir ein weiterer Fluch über die wie immer dunkelrot geschminkten Lippen kam. Mit dem Handrücken wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und fuhr mir mit dem Ringfinger unter den Augen entlang, um die bröckelnde Wimperntusche wegzureiben. Ich musste mir wirklich dringend eine neue kaufen, aber momentan hatte ich andere Sorgen.

Dann ging ich in die Küche, in der sich von meiner Geburtstagsparty gestern Abend Essensreste, Geschirr, Flaschen und Kippen stapelten, und ließ mich auf den gedrechselten Küchenstuhl sinken, den ich mit mamma neulich erst auf dem Flohmarkt in Rimini ergattert hatte. Das alte Holz stöhnte, als würde es mit mir fühlen.

Da hätten sie mich auch gleich nach Sibirien ins Arbeitslager schicken können, jammerte ich stumm vor mich hin. Was haben die sich nur dabei gedacht? Was hab ich bloß verbrochen? Ob ich Paola neulich doch hätte die Wahrheit sagen und gestehen sollen, dass ich ihr die Baci di Dama weggegessen hatte? Oder hat es etwa damit zu tun, dass ich mamma die zwanzig Euro, die ich mir letzte Woche heimlich aus ihrem Portemonnaie »geliehen« habe, nie zurückgeben wollte? Wenn ich das geahnt hätte! Den Preis war mir der Spaß dann doch nicht wert.

Mit dem Brief in der Hand saß ich da, starrte wie gebannt auf die Zeilen, und je häufiger ich den Satz »Ihrem Antrag auf ein einjähriges Auslandsstudium in Deutschland wurde stattgegeben. Bitte setzen Sie sich bis zum 15. 09. 2010 mit der Ludwig-Maximilians-Universität in München in Verbindung« las, desto kälter wurde mir. Dabei waren draußen mindestens fünfzig Grad im Schatten, und hier drinnen war es, trotz der zugezogenen Fensterläden, kaum kühler. Aber das sag mal einem unter Schock stehenden Körper.

Hätte ich doch bloß nicht auf babbo, wie ich meinen Vater liebevoll nannte, gehört und mein Schicksal dieser kleinen privaten Förderorganisation anvertraut. Ursprünglich hatte ich wie alle meine Kommilitonen, die ins Ausland gingen, am Erasmus-Programm teilnehmen wollen, doch mein ach so kluger und grundsätzlich alles besser wissender Vater meldete mich bei der Fondazione Francesco D’Assisi an. Weil er dort jemanden kannte, der jemanden kannte, der jemanden … Egal! Auf die Fondazione war jedenfalls auch kein Verlass mehr, genau wie auf die italienische Opposition, das Wetter und die Lottozahlen. Dabei hatte ich irgendwo mal gelesen, der selbstlose und weise Mönch Franz von Assisi habe einen großherzigen Charakter. Nun ja, nach seinem Tod schien das ganz offensichtlich nicht mehr zu gelten – oder vielleicht war die Großherzigkeit nach mittlerweile achthundert Jahren endgültig verjährt?

Ich stützte die Ellbogen auf den Küchentisch und rieb mir die pochenden Schläfen, doch leider wollte der Kopfschmerz nicht nachlassen. Er war eher stärker geworden.

München – ich wusste nicht viel über diese Stadt, in der meine beste Freundin Valeria als Fünfzehnjährige mal zum Schüleraustausch gewesen war, nur dass sie in Bayern lag und dass diese Bayern ein recht seltsames Volk sein mussten. Immerhin behaupteten sie, München sei die nördlichste Stadt Italiens, was mir per se höchst verdächtig erschien. Hatten die denn keinen Nationalstolz? Die festa della birra, das Oktoberfest, das Mekka der Biertrinker, von dem alle immer ganz begeistert erzählten, schien zwar tatsächlich ein Knaller zu sein, aber warum mussten die Leute sich dazu verkleiden? Feierte man in Deutschland im September Fasching? Nicht dass ich wüsste … Ich hatte immer mal wieder Fotos vom Münchner Oktoberfest gesehen und konnte es einfach nicht fassen. Die Mädels in den seltsamen Kleidern, die aussahen wie aus Omas Mottenkiste, ließ ich mir ja vielleicht noch gefallen, und so mancher deutsche Mann hatte in seiner Lederhose echt einen knackigen Hintern. Aber was sollten diese oben und unten abgeschnittenen groben Wollstrümpfe, die da auf halber Höhe an den Waden hingen? Und wieso mussten sie Bier aus Eimern trinken, zumal in industriellen Mengen? Hatten diese Menschen denn gar keine Kultur?

Beim Gedanken an die riesigen Bierkrüge bekam ich Durst und stand auf, um nach einer Flasche Wasser zu suchen. Überall entdeckte ich angebrochene Plastikflaschen von der Party, aber ich brauchte eine frische. Abgestandenes Wasser löst bei mir Allergien aus. Mehrere.

Was sollte ich in diesem »Millionendorf«, wie die Münchner ihre Stadt laut meiner Freundin Valeria nannten? Noch dazu mutterseelenallein? Auf einmal bekam ich Angst vor meiner eigenen Courage, schließlich war ich noch nie länger als zehn Tage von meiner Familie getrennt. Nicht mal Urlaub hatte ich ohne meine Eltern und meine beiden Schwestern, die Zwillinge Laura und Paola, gemacht, und ehrlich gesagt konnte ich mir auch nicht richtig vorstellen, wie es ohne sie sein würde. So ganz ohne Familie. Dabei war es zugleich mein sehnlichster Wunsch, endlich selbständig zu werden und auf eigenen Beinen zu stehen.

Ich hatte extra Berlin als Wunschstadt angegeben, weil dort Onkel Fabio und Tante Ivana mit Daniela und Pietro lebten. Alles war nämlich schon so gut wie abgemacht: Ich hätte bei ihnen im Haus ein kleines Appartement mit eigenem Eingang bekommen, meine Cousine hätte mir die Stadt und die besten Kneipen gezeigt, und ihr Bruder Pietro, den ich schon als kleines Mädchen vergöttert hatte, hätte mir sicher ein paar seiner coolen Freunde vorgestellt. Ein Stückchen Heimat hätte ich damit in der Fremde auch gehabt, und überhaupt: Es wäre perfekt gewesen. Offenbar zu perfekt.

Na ja, Hamburg hatte ich ebenfalls genannt, als einzig akzeptable Alternative, da Papas Cousine Elena dort wohnte, die mich mit ihrem deutschen Mann unter ihre Fittiche genommen hätte. In die dritte Zeile hatte ich München in die dafür vorgesehenen Kästchen geschrieben und darüber in Druckbuchstaben »BITTE NICHT« gekritzelt. – War das jetzt die Folge davon? Wurde man, sobald man in dieses hyperkorrekte Deutschland wollte, etwa sofort mit der Höchststrafe belegt, sofern man Formulare nicht korrekt ausfüllte? Das fing ja gut an …

Ich ließ den Blick über die verkrusteten Spaghettireste auf den Tellern wandern und blieb an dem selbstgemalten, gerahmten Cartoon auf der Anrichte hängen, den Valeria, die chaotischste, aber genialste Grafikerin, die ich kannte, mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Darauf war eine völlig ramponierte Sechzigjährige in Rock und Bluse mit abstehenden Haaren und Löchern in den Strümpfen zu sehen, die offensichtlich eine wilde Nacht hinter sich hatte. Darunter stand in Großbuchstaben: WENN DAS LEBEN DIR ZITRONEN ANBIETET, DANN BESORG TEQUILA UND SALZ UND RUF MICH AN. Darunter hatte meine beste Freundin mit Kuli ihre Handynummer und einen Smiley gekritzelt.

Das war typisch Vale. Sie hatte zwar einen etwas seltsamen Geschmack, was ihre schwarzen Biker-Klamotten und die superkurzen rot gefärbten Haare anging, aber sie war eine Seele von Mensch und immer für mich da, wenn ich sie brauchte.

Daher fackelte ich keine Sekunde, kramte mein Telefon aus der blaugrün gemusterten Filztasche, die noch immer über meiner Schulter hing, und drückte die Wahlwiederholungstaste. Da wir sowieso eine Standleitung hatten, war klar, dass ich ihre Nummer als Letztes gewählt hatte. Sie würde mich verstehen, sie wusste, was das bedeutete: M-Ü-N-C-H-E-N. Ungeduldig wartete ich, es tutete … und tutete … und tutete.

Gefühlte drei Stunden später, ich hätte inzwischen die komplette Küche aufräumen, die Wohnung neu streichen und den kaputten Aufzug reparieren können, ertönte die mir vertraute, wenn auch verschlafene Stimme meiner Retterin in letzter Not.

»Pronto?«

»Ciao, Vale, ich bin’s. Stell dir vor …« Weiter kam ich nicht.

»Weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist?«, maulte sie am anderen Ende der Leitung.

Ich sah förmlich vor mir, wie Valeria sich am späten Vormittag neben Giorgio, ihrem aktuellen Lieblings-Kuschelkissen, im Bett umdrehte und dabei mit den Augen rollte. Ihre Mutter duldete so etwas, meine Eltern dagegen würden mir den Kopf abreißen, wenn ich ein männliches Wesen über Nacht bei uns einschleusen würde – noch dazu jede Woche ein anderes. Valeria und mich trennte nicht nur dieses eine Detail, dafür einte uns umso mehr, zum Beispiel unsere Abneigung gegen München. Seit meine Freundin dort zum Schüleraustausch gewesen war, verachtete sie diese Stadt, in der sie mehr als ein unschönes Erlebnis hatte erdulden müssen. Ich durfte gar nicht daran denken, da wurde mir schon wieder ganz schlecht. Das konnte unmöglich allein der Kater sein, den ich von gestern hatte.

»Ja«, erwiderte ich leicht verschnupft, »Viertel vor zwölf, aber das hier ist ein Notfall!« Ich sprang vom Küchenstuhl auf und fing an, im Stechschritt durch die Wohnung zu laufen.

»Und deshalb rufst du mich mitten in der Nacht an?«

»Ein Not-fall«, wiederholte ich dramatisch und überlegte, ob ich einfach auflegen sollte. Tatkräftige Unterstützung war von Vale heute offensichtlich nicht zu erwarten.

»Was ist? Sind deine Eltern doch früher zurückgekommen?«, fragte sie und gähnte laut.

»Nein, schlimmer.«

»Du hast dir einen Fingernagel abgebrochen?«

Der dämliche Witz brachte meinen Puls zum Rasen. Ich setzte mich wieder auf den Stuhl, konzentrierte mich, um mein Reptiliengehirn zu aktivieren, atmete brav meine Wut weg und sagte erst mal nichts.

»Bist du noch da?«, drang es leise durch den Hörer, gefolgt von einem weiteren Gähnen.

»Nein!«, blaffte ich und legte tatsächlich auf, bevor ich heulend am Küchentisch zusammenbrach.

Sofort klingelte mein Telefon Sturm, doch ich ging nicht ran. Sollte Vale ruhig in ihrem schlechten Gewissen schmoren, das hatte sie nun davon. Nur leider war mir damit auch nicht geholfen. Buddhistisch versuchte ich, mein Schicksal anzunehmen, was mir nicht so recht gelingen wollte, und tröstete mich mit dem Gedanken, dass Buddha sicher auch mal klein angefangen hatte.

Letztlich blieb mir nichts anderes übrig, als in dieses München zu gehen, schließlich wollte ich unbedingt nach Germania, da ich für mein Studium als Italienisch- und Deutschlehrerin für die scuola superiore nichts Besseres tun konnte, als zwei Semester in dem Land zu verbringen, dessen Sprache ich meinen Schülern vermitteln wollte. Und weitere zwölf Monate zu verlieren, um mich dann nächstes Jahr doch wie alle anderen für das Erasmus-Programm zu bewerben, das sah ich auch nicht ein. Angesichts der Tatsache, dass man in Italien unzählige concorsi absolvieren muss, um über einen dieser Wettbewerbe in den Schuldienst eintreten zu können, und man sich oft jahrelang von einer befristeten Stelle zur nächsten hangeln darf, wollte ich so schnell wie möglich meinen Abschluss machen. Sonst konnte es passieren, dass ich kurz vor der Rente stand, bis ich endlich mal einen festen Job bekam. Auf babbos Vitamin B konnte ich mich jedenfalls nicht verlassen, das hatte die Aktion mit der Fondazione Francesco D’Assisi mal wieder deutlich gezeigt.

Je länger ich dasaß, desto mehr wandelte sich meine Wut auf Vale in Wut auf meinen Vater. Wieso musste er immer alles bestimmen? Er behandelte mich nach wie vor wie ein Kleinkind, das nicht bis drei zählen konnte. Ständig hieß es: »Wir wollen nur das Beste für dich«, aber hatte mich mal jemand gefragt, ob das auch tatsächlich gut für mich war? Mehr als einmal war ich ein bisschen neidisch auf meine beste Freundin gewesen, die allein mit ihrer Mutter lebte und entsprechend viele Freiheiten hatte. Vales Vater hatte sich schon vor Jahren mit einer französischen Touristin aus dem Staub gemacht, und ihre mamma arbeitete in der Fabrik, um den Lebensunterhalt für die beiden zu verdienen. Wegen der ständig wechselnden Schichten war sie so gut wie nie zu Hause, und entsprechend selbständig lebte meine Freundin.

Meine beiden jüngeren Schwestern und ich dagegen wuchsen behüteter auf als die bestbewachten Prinzessinnen, und sobald sich mir ein junger Mann auf Freiersfüßen auch nur von fern zu nähern wagte, alarmierte meine Mutter die Burgwache, die in Person meines Vaters zeigefingerschwingend und mit drakonischen Strafen drohend ihres Amtes waltete. Wenn es nicht um Jungs ging, war mein babbo jedoch der beste babbo der ganzen Welt, denn er konnte mir so gut wie keinen Wunsch abschlagen, und im Laufe der Jahre hatte ich ganz genau gelernt, mit welcher Strategie ich ihn am ehesten um den Finger wickeln konnte. Eigentlich konnte ich alles von ihm haben, wenn ich ihm nur genügend schmeichelte und Honig um den Bart strich – na ja, fast alles. Denn in einigen wenigen Punkten blieb er nun mal hart. Wenn es ums Ausgehen, um Jungs oder meine berufliche Zukunft ging, verstand der capofamiglia in seiner Rolle als Familienoberhaupt leider keinen Spaß, und ich litt sehr darunter, dass meine Freundinnen, vor allem Vale, so viel mehr durften als ich.

Apropos dürfen: Nach München würde mein Vater mich sowieso nicht lassen, da er dort niemanden kannte, dem er die Oberaufsicht über mich übertragen konnte. Damit war mein Traum vom Auslandsaufenthalt gestorben, bevor er überhaupt richtig angefangen hatte. Ich war drauf und dran, mich meinem Frust hinzugeben und in einem See, ach, in einem Ozean aus Selbstmitleid zu versinken, da warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr.

Erschrocken sprang ich auf und verschob den Weltuntergang auf später. Oje, schon halb eins, ich musste endlich anfangen aufzuräumen. Um fünf wollten meine Eltern mit den Zwillingen vom Wochenendbesuch bei Tante Giusi und Onkel Maurizio aus Cesena zurückkommen. Ich hatte es nach langem Hin und Her geschafft, ihnen einzureden, dass ich für meinen Geburtstag die Wohnung für mich bräuchte, um eine anständige Party zu schmeißen. Da wären die Zwillinge, meine zwar süßen, aber oft nervigen, da sich ständig in den Haaren liegenden vierzehnjährigen Schwestern so fehl am Platz gewesen wie ein Metzger auf dem Jahrestreffen des Vegetarierverbandes.

Ich ließ Wasser in die Spüle einlaufen und fing an, die Essensreste, Kippen und Servietten in den großen silbernen Mülleimer zu werfen. Die Party war ein voller Erfolg gewesen, wir hatten die halbe Nacht durchgetanzt, und meine selbstkreierten Gin-Cocktails waren der Renner gewesen. Wir hatten sogar in der kleinen Bar um die Ecke noch Nachschub holen müssen, so gut war der Drink angekommen. Die letzten Gäste waren erst im Morgengrauen gegangen, und von dem vielen Alkohol und dem Schlafmangel brummte mir gewaltig der Schädel. Was soll’s, man lebt nur einmal, dachte ich und stellte mit Schwung die Teller ins Spülwasser, so dass einer prompt auseinanderbrach. Seinen Aufgaben muss man sich stellen. Ich würde es schon schaffen, auch ohne Daniela oder zia Elena, wie ich die Cousine meines Vaters nannte, obwohl sie gar nicht meine Tante war.

Nachdem ich die Scherben aus dem Spülwasser gefischt und so entsorgt hatte, dass mamma sie nicht entdecken würde, ging ich in mein Zimmer, um meine Lieblings-CD zu holen. Genussvoll schob ich sie in die Stereoanlage im Wohnzimmer, wählte Song Nummer vier und drehte den Lautstärkeregler voll auf. Als die ersten Takte von Vasco Rossis »Vado al Massimo« ertönten, ging es mir gleich besser. Der Song, mit dem mein Lieblingssänger das Festival di San Remo gewonnen hatte, den bedeutendsten Musikpreis Italiens, stammte aus dem Jahr 1982, als ich noch lange nicht geboren war, und sein Titel war mein Lebensmotto: Ich geb Vollgas.

Okay, ihr Bayern, zieht eure Lederhosen an und macht euch auf eine gehörige Portion italienisches Temperament gefasst, dachte ich und stürzte mich in die Arbeit.

1.

»Vita spericolata«

»Babbo, kannst du nicht schneller fahren? Ich verpasse noch meinen Zug!«

Nervös starrte ich von der Rückbank unseres uralten, bis unters Dach vollgepackten dunkelgrünen Fiat Punto durch die Windschutzscheibe auf den dichten Verkehr, während meine Stimme kurz davor war, sich zu überschlagen. Wieso war hier denn um die Uhrzeit noch so viel los? Wollten die etwa alle –wie wir– die sieben Euro und zehn Cent für die Autobahn sparen und hatten die Bundesstraße genommen? Wir hatten Mitte September, es war weder Urlaubsverkehr oder Wochenende noch stand irgendein Großereignis an, das gerechtfertigt hätte, dass auf der Statale Adriatica von Riccione nach Bologna alle im zweiten Gang dahinzuckelten.

Ich warf einen Blick auf die Uhr meines Handys und stöhnte, denn wir waren gerade mal knapp hinter Cesena und hatten noch mehr als die Hälfte der hundertfünfundzwanzig Kilometer bis Bologna vor uns. Normalerweise war die Strecke in eineinviertel Stunden locker zu schaffen– selbst wenn mein Vater am Steuer saß, der sich, ganz unitalienisch, an jede noch so absurde Geschwindigkeitsbegrenzung hielt.

»Kurz vor zehn! Das schaffen wir nie! Porca…« Ich sah förmlich vor mir, wie wir um 23.05Uhr und siebzehn Sekunden zu fünft, so schnell es uns mein Marschgepäck erlaubte, auf den Bahnsteig stürmten und dem Nachtzug aus Roma Termini in Richtung München-Hauptbahnhof hinterherhechelten. Ohne ihn zu erreichen, versteht sich.

»Entspann dich, figliola mia«, erwiderte mein Vater mit der für ihn typischen Gelassenheit, die so gar nicht meinem Temperament entsprach und mich erst recht in Rage brachte. »Geflucht wird in meinem Wagen nicht. Ich tu schon, was ich kann.« Er fuhr sich mehrmals durch die dichten grauen Haare und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr.

»Wir kommen sicher noch rechtzeitig am Bahnhof an«, versuchte meine Mutter mich zu beruhigen. Sie hatte sich zu uns drei Mädchen, die wir auf der Rückbank zwischen meinen riesigen Koffern eingequetscht saßen, umgedreht und lächelte mich aufmunternd an.

Meine beiden Schwestern schlummerten selig aneinandergekuschelt und bekamen von dem ganzen Drama nichts mit, während mein Puls mit der Stärke eines Presslufthammers pochte und ich, um ihn zu beruhigen, an den Fingernägeln kaute.

»Von wegen!«, rief ich aufgebracht. »Bis um elf schaffen wir es nie bis zur stazione centrale, wenn das hier so weitergeht. Ich hab euch gleich gesagt, wir nehmen besser die Autobahn. Aber nein, der da vorne…«

»Red nicht so von deinem Vater!«, ermahnte mich mamma, und ich merkte genau: Wenn ich jetzt nicht langsam einen Gang zurückschaltete, drohte ein Temperamentsausbruch, der sich gewaschen hatte. Als sie sich mit Schwung zu mir umdrehte, geriet ihr kinnlanger, akkurat geföhnter Pagenkopf gefährlich durcheinander, und ihre pechschwarzen Augen bekamen einen bedrohlichen Schimmer. »Wir tun doch schon alles für dich. Sei froh, dass wir dich überhaupt fahren. Mit all dem Gepäck hättest du nie alleine in den Nachtzug umsteigen können.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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