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Die Rockmusik der Sechziger, Siebziger und Achtziger des letzten Jahrhunderts hat mehrere Generationen beeinflusst und wirkt bis heute nach. In dieser Anthologie setzen die Autoren ihren Helden ein Denkmal und gestatten auch private Einblicke darüber, wie die Rockmusik sie gefunden hat. Alle waren sich einig, dass nicht wir die Musik, sondern die Musik uns gefunden hat und findet. Die Geschichten in dieser Anthologie wurden von Songs der Bands Free, Led Zeppelin, Iron Maiden, Black Sabbath, Uriah Heep, AC/DC, The Who, Deep Purple, Golden Earring und anderen inspiriert. Titelbild und Illustrationen von: Uli Bendick, sowie weitere Illustrationen von Mario Franke, Frank G. Gerigk, Veith Kanoder-Brunnel, Detlef Klewer, Marianne Labisch und Andreas Schwietzke.
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Seitenzahl: 404
Veröffentlichungsjahr: 2024
Marianne Labisch (Hrsg.)
AndroSF 204
Marianne Labisch (Hrsg.)
ROCK PLANET
Anthologie
AndroSF 204
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Juni 2024
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Uli Bendick
Illustrationen (nur in der Printausgabe): Uli Bendick, Mario Franke, Frank G. Gerigk, Veith Kanoder-Brunnel, Detlef Klewer, Marianne Labisch, Andreas Schwietzke
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 404 5
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 721 3
schon länger wollte ich Golden Earring mit »Radar Love« ein Denkmal setzen, weil die es waren, die mich zur Rockmusik gebracht haben. Als ich die Idee leise äußerte, waren viele meiner Stammautoren sofort Feuer und Flamme. Seltsamerweise scheint es so zu sein, dass wir Rockfans uns gegenseitig auf Anhieb sympathisch sind. Die Begeisterung hatte ich vorausgesehen, denn Rockmusik ist ein Thema, das ebenjene Rockfans sofort anspricht. Ich wollte von meinen Autoren allerdings gerne, dass sie mir nicht nur eine fantastische Geschichte schicken, sondern mir und somit auch Ihnen verraten, wie sie zur Rockmusik gekommen sind. Die Allermeisten sind dieser Aufforderung, die uns ja einen recht privaten Blick offenbart, nachgekommen.
Das erste Mal erlebte ich bei der Arbeit an dieser Anthologie allerdings, dass sich mein Vorhaben herumsprach und so noch ein paar Autoren anfragten, ob sie nicht auch eine Story beitragen dürften. Das hat mich natürlich sehr gefreut. Sollte die Anthologie gut ankommen, könnte ich mir durchaus eine Fortsetzung vorstellen. Wie ich höre, sind die ersten Storys hierfür schon in Arbeit. ;-)
Ich wünsche viel Vergnügen bei der Lektüre und empfehle, die Songs beim Lesen, davor oder danach anzuhören. Es sind einige echte Schätzchen dabei.
Liebe Grüße
Marianne Labisch
Besonders die harte Variante davon, nämlich Metal. Heute höre ich zwar eine größere Bandbreite, durchaus auch Klassik und experimentellere elektronische Sachen wie Witchhouse, Dark Ambient und Black/Death Industrial, aber dem Metal bin ich immer treu geblieben. Musikalisch war ich ein Spätzünder, denn ich konnte mit dem Mainstream-Zeug, was im Radio lief, selten was anfangen. Als Kind hatte ich die ›Neue Deutsche Welle‹ geliebt, aber dann kam lange Zeit gar nichts mehr. Meine Klassenkameraden haben nur Pop gehört und das war nicht meins. Erst mit fünfzehn habe ich wieder angefangen, mich für Musik zu interessieren.
Wenn ich jetzt ein monumentales Erweckungsereignis beschreiben sollte, müsste ich überdramatisieren. Also schön, versuchen wir es: Es war ein heißer Sommertag und ich lebte auf dem Dorf, zwanzig Minuten Fahrt mit Bus in die nächste Kleinstadt, wo ich zur Schule gegangen bin und wo es die einzigen Einkaufsmöglichkeiten gab. Musik war mir oft ein Gräuel, bestenfalls akustische Umweltverschmutzung, die sich als Hintergrundbelästigung ertragen ließ. Damit meine ich das Popzeug, das meine Klassenkameraden hörten. Von zu Hause rede ich gar nicht erst. Ich sage nur: NDR1. Heute hat sich der Sender etwas gebessert und qualifiziert sich nicht mehr vollumfänglich als Folter, doch damals haben die nur Volksmusik der übelsten Sorte gespielt. »Macht doch bitte das Radio aus«, ist wohl einer der am häufigsten gesagten Sätze meiner Jugend gewesen.
Halt, genug Exposition, zurück zu jenem Sommertag: Ich hatte mich mit dem Fahrrad auf den Weg zum nächsten Freibad gemacht, waren etwa fünfundzwanzig Kilometer – nur um dann festzustellen, dass heute niemand dort war, den ich kannte. Verdammt, das würde ein langweiliger Nachmittag werden, ich ärgerte mich schon, die Fahrradtour bei der Hitze auf mich genommen zu haben. Ich ging schwimmen und setzte mich danach allein auf ein Handtuch ins Gras. Dann passierte es. Ein Höllenlärm brach los und die Leute um mich herum flohen, doch ich blieb sitzen. Die Geräuschquelle war schnell lokalisiert, drei langhaarige Typen mit einem Gettoblaster, wie man Kassettenrekorder damals nannte. Wow, Musik mit so viel Power hatte ich Hinterwäldler-Dorfjunge ja noch nie gehört, das gefiel mir richtig gut. Auch dass die drei offensichtlich viel Spaß daran hatten, andere Badegäste mit ihrer Musik aus der näheren Umgebung zu vertreiben. Ich aber blieb und hörte ehrfurchtsvoll zu, der Spirit des Heavy Metal hatte mich sofort in Besitz genommen. Ich bin nie der sozialste Typ gewesen, aber ich wollte wissen, was das für Musik war, also nahm ich irgendwann allen Mut zusammen, ging zu den drei Typen rüber und fragte: Was hört ihr da eigentlich und wo kriegt man das her?
Wir kamen ins Gespräch, einer von denen hatte den halben Rucksack voller Musikkassetten und ich erhielt einen ausführlichen akustischen Einführungsstreifzug durch eine Musikrichtung, von der ich am Tag vorher noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte. Ich hab die drei nie wieder gesehen, aber am nächsten Tag kam ich in unserer Kleinstadt mit einem breiten Grinsen aus dem einzigen Plattenladen, stolz meine erste selbstgekaufte Schallplatte in den Händen: »Seventh Son of a Seventh Son« von Iron Maiden. Mein Schatz!
Es war der im Schwimmbad gehörte Song »Can I play with Madness«, der mich zu diesem Album greifen ließ, und die anderen Stücke darauf gefielen mir nicht minder gut. Und es dauerte nicht einmal ein Jahr, bis ich selbst mit langen Haaren und einer ›Kutte‹, wie man verschlissene Jeansjacken mit unzähligen Bandaufnähern damals nannte, herumlief. Die hängt übrigens noch heute bei mir im Schrank und ich werde sie niemals entsorgen, auch wenn ich sie seit Jahrzehnten nicht mehr getragen habe.
Iron Maiden haben mir die von Pop und NDR1 zerstörte Liebe zur Musik zurückgebracht, und daher möchte ich ihnen und speziell diesem Song und Album auch meine Kurzgeschichte widmen.
Veith Kanoder-Brunnel begann seine Existenz im Jahr 1973 in Norddeutschland, studierte Geschichte und Anglistik (mit Schwerpunkt Literaturwissenschaft) und hatte schon immer einen Hang zum Unkonventionellen und eine Menge verrückter Ideen. Er ist in einem Oldenburger Schriftstellerverein tätig und viel im Schriftstellerforum dsfo.de unterwegs, wo er mehrere Wettbewerbe für Kurzgeschichten gewonnen hat; außerdem hat er Geschichten in diversen Verlagsanthologien unterbringen können. Er hat eine starke Vorliebe für Metaebenen, skurrilen Humor und die Alltäglichkeit des Absurden. Momentan arbeitet er an einem experimentellen Mystery-Thriller über den Drehbuchautor einer trashigen Fernsehserie, dessen Kreationen sich zu verselbstständigen scheinen und in seinem realen Leben auftauchen. Mit diesem Projekt versucht er, seinen aus Überlegungen zu einer eigenen Literaturtheorie entstandenen CAT7 genannten Nischenschreibstil, der das Ernsthaft-Anspruchsvolle mit dem Spannend-Unterhaltsamen und absurdem Humor mischt, zugänglicher und mainstreamtauglicher zu machen.
»Vielleicht sind wir ja alle nur Eintagsfliegen«, erwidere ich und verziehe das Gesicht zu einem Grinsen.
»Wie meinst du das denn? Und was hat das mit der Mathearbeit morgen zu tun?«
Fred sieht mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank, und ich genieße die Situation. Kann man mit dem Wahnsinn spielen? Klar kann man. Man muss nur aufpassen, dass er am Ende nicht gewinnt.
»Nun, wir schlafen ja vorher noch. Das Bewusstsein zerfasert und beim Aufwachen setzt es sich wieder zusammen. Nur woher kann man wissen, ob es dann noch dasselbe ist und nicht nur ein gleiches? Wie bei Theseus’ Schiff, weiß’te? Niemand kann sagen, ob das noch das Original ist, oder nur ein aus Originalteilen nachgebautes. Bin ich noch ich, wenn ich wieder aufwache und mein Bewusstsein sich aus dem Traumchaos neu zusammengepuzzelt hat? Wenn nein, ist Vektorgeometrie nicht mehr mein Problem, sondern das einer Nachfolgeinstanz.«
»Alter, da kriegt man ja mehr Schiss vorm Schlafengehen als vor der Mathearbeit, will ich gar nicht drüber nachdenken.« Fred überlegt trotzdem kurz. »Warum Spinner keine Philosophie-AG mitmachen sollten«, sagt er dann, nimmt den letzten Schluck aus der Bierdose, drückt sie in seiner Hand zusammen und wirft sie zielsicher in den bestimmt zwei Meter entfernten Abfallkorb bei der Parkbank. »Treffer, versenkt. Geilomat, wa?«
Ich zucke mit den Schultern. »In einem anderen Universum hast du ihn verfehlt. Es ist reiner Zufall, dass wir uns in jenem befinden, wo du getroffen hast. Nichts, worauf du stolz sein könntest.«
»Quatsch«, sagt Fred. »Wie kommst du immer auf solchen Unsinn?«
»Weil ich der Prophet bin.« Ich fixiere ihn mit einem eisigen Blick, oder versuche das zumindest. »Siehst du das Höllenfeuer in meinen Augen? Deine Seele wird in einem See aus Feuer brennen.«
»Up the irons!« Er lacht und streckt die Hand zum Hörnergruß empor. »Geile Scheibe. Danke fürs Überspielen noch mal.«
Moment. Nee, so war das gar nicht. Fred hat immer nur dieses Popzeug wie Bros gehört, und ich kann mich nicht daran erinnern, diese Konversation je mit ihm geführt zu haben. In welchem Universum bin ich jetzt wieder gelandet? Wie dem auch sei, die Mathearbeit morgen ist wirklich nicht mein Problem. Nicht mehr. Denn das war vor sechzig Jahren. Glaub ich jedenfalls, einen Moment lang. Und komm mir vor wie Graham Chapman, der als pedantischer Kunstlehrer durch ein unterirdisches Höhlensystem stolpert und seine Seele in einem Kühlschrank findet. Oder irgendwie so. Das Video für Iron Maiden war sein letzter Filmauftritt, bevor der Krebstod ein weiteres Monty-Python-Mitglied aus der Welt schaffte und dafür sorgte, dass es immer weniger zu lachen gab. Irgendwie ist das Leben eine Abwärtsspirale, egal, wann man geboren wird. Ich könnte mich noch mit Fred über dieses Video zu dem Song unterhalten, aber ich bin sicher, er kennt es gar nicht. Woher denn auch? MTV zeigt so was nicht und ich hab es erst Jahrzehnte später mal auf YouTube gesehen, und im Moment, also hier und jetzt, wissen wir ja noch nicht einmal, was ›Internet‹ bedeutet. Ich komme zurück, nehme deinen Körper in Besitz und lasse dich brennen, flüstersingt Bruce Dickinson einen weiteren Maiden-Song durch meine Gedanken. Satanic Panic, anyone? Verdammt, das ist kein Gedankenspiel mehr. Wieso bin ich wirklich zurück in den Achtzigern und sitze hier mit Fred im Park? Ja, seine Seele wird brennen, das weiß ich, auch ohne Prophet zu sein. Fällt mir gerade wieder ein, als ich ihn ansehe. Zumindest sein Körper hat gebrannt, als er zwei Jahre später kurz nach dem Abi mit dem Motorrad zu weit aus der Kurve geriet und frontal in ein entgegenkommendes Fahrzeug krachte. Sollte ich ihn warnen? Kann ich etwas verändern? Bin ich vielleicht aus der Zukunft in meinen damaligen Körper am Ende meiner Schulzeit zurückgekehrt, um Fred retten zu können? Ich hab nie wieder einen besten Freund gehabt, mit dem man sich stundenlang über allen möglichen Schwachsinn unterhalten und sich dabei wie der Weise vom Berge fühlen konnte. Oder ist das alles nur ein Traum? Und gibt es überhaupt einen Unterschied? Realität ist subjektiv, immer das, was du daraus machst.
»Sorry, Tim, ich will mich aufs Ohr hauen. Oder doch noch ein bisschen für Mathe lernen.« Fred steht auf und blickt zum kleinen Hügel mit dem Kriegsdenkmal hinauf. »War mal wieder echt nett hier mit dir.«
Oh ja, die guten alten Achtziger. Da konnte man noch als Schüler im Stadtpark sitzen und Dosenbier trinken, ohne dass sich jemand aufregte. Ich verabschiede mich von meinem Kumpel und mache mich auch auf den Weg. Nur – wohin? Ich hab damals bei meinen Großeltern gewohnt, nachdem mein Vater mit seiner neuen Flamme zu einer Sekte nach Südamerika abgehauen war und meine Mutter schon zum dritten Mal vergeblich in einer Suchtklinik den Fallout des überraschenden Beziehungsendes zu überwinden versuchte. Von wegen gute alte Zeiten!
Mein Opa starb Ende der Neunziger und meine Oma wenige Jahre später. Ich überlege kurz, es müsste jetzt 1988 sein. Da kam Iron Maidens »Seventh Son«-Album raus, über das wir uns eben unterhalten haben. Meine Großeltern müssten also noch leben, und irgendwie schaudere ich bei dem Gedanken, sie wiederzutreffen. Egal, ein anderes Ziel habe ich nicht, ich brauche ein Dach über dem Kopf. Zum Glück ist es nicht weit vom Stadtpark, einfach die Burggrabenstraße runter, von dort in die Bahnh–
Erschrocken bleibe ich stehen. Da ist sie wieder, diese Erscheinung. Die alte Frau mit dem schlohweißen Haar, das Gesicht unter einem Schleier verborgen. Mitten auf der Hauptstraße wandelt sie entlang, die Stadt wirkt plötzlich verlassen und ausgestorben, und ich hab das Gefühl, die Umgebungstemperatur ist auch gerade ein paar Grad gesunken.
»Hallo! Hallo! Ist jemand hier?«, ruft sie mit ihrer zitternden, aber irgendwie doch mächtigen Stimme. Meine Banshee, die mich ins Totenreich holen soll? Panisch renne ich zum Park zurück und verkrieche mich hinter einem Busch. Kann sich nicht einfach wieder so ein Strudel hier auftun und mich zurückbringen?
Irgendwie so bin ich jedenfalls hergekommen, auch wenn mir die Erinnerung schwerfällt. Das Haus meiner Großeltern, genau, dort ist es passiert. Daher wohl auch mein Unbehagen, dorthin zurückzukehren. Ich war noch einmal hin, die alten Sachen aus meinem Zimmer durchsehen, die schon jahrelang dort verstaubten. Seit dem Tod der beiden stand das Haus leer, und ich wollte noch einmal nach Andenken suchen, bevor es endlich verkauft wurde, und ein Teil meiner Jugend unbarmherzig einer Entrümpelungsfirma zum Opfer fallen und auf der Müllkippe landen würde.
Wieder bin ich dort, parke den Wagen an der Straße und krame nach dem Schlüssel. Kurz erhasche ich meine Reflexion im Rückspiegel und stutze. War ich nicht eben noch siebzehn? Verdammt, wie schnell die Zeit vergeht. Das Haus liegt nicht direkt an der Straße, es geht etwa hundert Meter eine Einfahrt runter, doch diese ist so zugewachsen, dass sie mir nicht mehr befahrbar erscheint. Hinter dem Gebäude erstreckt sich ein kleines Waldgrundstück, dessen Vegetation jetzt nahtlos in das Gemäuer übergeht. Hach, dieser Wald. Oft bin ich als Kind dort gewesen, um mit anderen aus der Nachbarschaft kulturelle Aneignung zu betreiben, wie man heute sagen würde. Cowboys und Indianer spielen meine ich. »Run to the hills, run for your life«. Mir scheint, Iron Maiden haben schon mein Leben kommentiert, lange bevor ich die Band mit sechzehn entdeckte. Wie der Chor eines antiken Dramas, der die Tragödie des Protagonisten begleitet. Warum kenne ich all diese Songtexte noch auswendig, wenn der Rest meiner Erinnerung so verschwommen ist? Wahrscheinlich, weil ich sie so oft gehört habe, während alles andere nur einmal passierte. Wobei sich Letzteres ja mittlerweile geändert zu haben scheint.
Jedenfalls befällt mich ein geradezu beängstigendes Déjà-vu, als ich den Schlüssel ins Schloss stecke und herumdrehe. Bin ich schon einmal hier gewesen, um meine alten Sachen durchzuschauen, bevor die auf dem Müll landen? Quietschend und knirschend öffnet sich eine Haustür, die schon seit Jahren keinen Besucher mehr gesehen hat.
»Hallo! Ist jemand hier?«
Die geisterhafte Stimme der Frau lässt mich erschaudern, denn sie klingt falsch, wie beim Einatmen statt beim Ausatmen artikuliert. Verdammt, das kam von oben. Da ist jemand im Haus! Wie ist das möglich, die Tür war doch verschlossen und alle Fenster sahen intakt aus. Knirschende, schlurfende Schritte im Obergeschoss. »Hallo! Hallo?« Aber die Stimme scheint sich zu entfernen, statt näher zur Treppe zu kommen.
Sollte ich die Polizei rufen? Nein, kein Feigling sein, ich sehe erst mal selbst nach. Obwohl ich sicher bin, dass er nicht funktionieren wird, drücke ich einen Lichtschalter im Eingangsflur. Zu meiner Überraschung wird es tatsächlich hell. Warum ist hier noch Strom, das Haus ist doch seit Jahren unbewohnt? Schlagartig wird es oben still, als hätte der Schalter Licht gegen Geräuschkulisse getauscht. Ich lausche angestrengt, doch kann nichts mehr hören, keine Schritte, kein Knarzen, nichts. Hab ich mir das eingebildet?
Ich eile die Treppe hinauf. Eine dicke Staubschicht auf dem Boden zeugt davon, dass hier seit Jahren niemand mehr war. Jedenfalls kein Lebender. Klar, Tim, du hast einen Geist gehört, das wird es sein. Mann, das kam irgendwo aus der Nachbarschaft, irgendeine verwirrte alte Frau ist aufgewacht und suchte ihre Angehörigen. Doch egal, wie oft ich diese Erklärung in meinen Gedanken hin und her wälze, richtig glauben kann ich sie nicht, auch als ich mich im Obergeschoss davon überzeugt habe, dass hier niemand außer mir ist und keinerlei Spuren auf einen weiteren Besucher hindeuten. Bin ich übermüdet und hab schon halb geträumt?
Muss wohl, denn ich hab die Episode schon fast vergessen, als ich mein altes Zimmer betrete. Eddies kämpferische Fratze vom »Live after Death«-Poster heißt mich willkommen, und wie dieser komme ich mir vor, als würde ich aller Widrigkeiten zum Trotz gerade meinem Grab entsteigen und in mein Leben zurückkehren. Links und rechts vom Iron Maiden Tourplakat hängen die Stoffkarten von Ultima IV und V, und der C64 mit dem kleinen alten Fernseher als Monitor steht noch auf dem Schreibtisch, als wolle auch er mich in lange vergessene Welten zurückrufen, die ich mal mein Zuhause nannte. Wie soll ich das ganze Zeug in meiner Zweizimmerwohnung unterbringen? Ich kann jedenfalls nicht zulassen, dass es auf dem Müll entsorgt wird – verdammt, das war einmal mein Leben. Selbst der alte Plattenspieler ist noch da, ich durchstöbere das Regal mit den Vinylscheiben darunter. Def Leppard, Judas Priest, Blind Guardian – und da steht sie, meine erste selbstgekaufte Schallplatte. Iron Maidens »Seventh Son of a Seventh Son«. Zitternd halte ich sie in den Händen. Mein Schatz!
Der Plattenspieler scheint noch zu funktionieren, auch wenn der Klang der alten Boxen alles andere als optimal ist. War eine Kompaktanlage mit Kassettendeck, die ich mal zu Weihnachten bekommen habe, hat wahrscheinlich keine zweihundert Mark gekostet. Trotzdem erfüllt sie immer noch ihren Zweck und schon lausche ich dem Intro. Sieben heilige Pfade zur Hölle und die Reise beginnt. Werde auch ich am Ende zur ewigen Nacht verdammt? Vorsichtig hebe ich den Tonarm mit der Nadel an und setze sie in die Anfangsrille meines Lieblingsstücks des Albums. »Can I Play with Madness?« Habe ich je etwas anderes getan?
Ich lasse mich im staubigen alten Sessel nieder, schließe die Augen und singe in Gedanken mit. Das Stück scheint sich endlos zu wiederholen, jedenfalls kommt es mir viel länger vor, als ich es in Erinnerung habe. Verliert man mit geschlossenen Augen nicht jegliches Zeitgefühl? Erst jetzt bemerke ich die harten Sprünge in der Musik und erinnere mich. Billige Anlage, der Tonarm war wohl etwas zu leicht, wenn da ein Staubkorn zu viel auf der Platte lag, sprang die Nadel schnell mal ein paar Rillen zurück. Ich hab dem Problem immer Abhilfe verschafft, indem ich eine Streichholzschachtel auf den Tonabnehmer legte, dann stimmte das Gewicht. Die müsste sogar noch irgendwo bei den Platten liegen. Ich erhebe mich – und starre auf den Plattenteller. Die Rillen scheinen sich aus der Platte erhoben zu haben, schweben wie eine weiß leuchtende Spirale in der Luft und der erhobene Tonarm hängt in diesem seltsamen Strudel fest.
Was habe ich mir dabei gedacht, ihn zu greifen? In diesen Strudel zu fassen, statt panisch das Weite zu suchen, weil ich einem Phänomen gegenüberstehe, das nicht in mein Realitätskonzept passen sollte. Aber es passte. Es fühlte sich richtig an. Wie etwas, das ich tun muss. Und schon saß ich mit Fred im Park und führte diese Konversation von früher, die sich garantiert nie so ereignet hat.
Der Strudel ist jedenfalls nicht mehr aufzufinden, im Park ist alles normal, und auch die Straße sieht wieder heller aus. Ich riskiere einen neuen Versuch, immer vorsichtig Ausschau nach dieser geisterhaften alten Frau haltend, aber sie lässt sich nicht blicken. Schließlich stehe ich wieder vorm Haus meiner Großeltern, das jetzt bewohnt aussieht.
»Tim, gut, dass du da bist«, begrüßt mich mein Opa, »da wartet jemand auf dich.«
Ich komme nicht dazu, mich über das Wiedersehen zu freuen. Wer zum Teufel sollte auf mich warten? Hoffentlich nicht diese alte Frau. »Was? Wer? Wo?«
»Ein alter Mann mit Bart, kannte ich nicht. Er sitzt im Garten im Indianerzelt.«
»Indianerzelt?«
»Das, wo ihr Fred mal in den Schrank gesperrt und vergessen habt, ihn wieder zu befreien«, sagt er so vorwurfsvoll, als sei es gestern gewesen. Da war ich sieben oder acht, okay, war aber auch ‘ne große Panik. Die ganze Nachbarschaft hat ihn gesucht, bis mir abends im Bett wieder einfiel, wo er steckte. Gab einen Mordsärger, ich hab bestimmt drei Tage lang nicht sitzen können. Und Martin, dessen Idee das war, kam mit zwei Tagen Stubenarrest davon. Manchmal ist das Leben echt unfair. Aber wieso soll das Zelt heute noch dort sein? War ein altes Vorzelt, das wir als Kinder an den Balken vom Schuppen befestigt und eingerichtet hatten, das ist doch schon lange weg. Halt, vielleicht ein Hinweis. Soll ich Fred wieder irgendwo einsperren, damit er keinen Unfall haben kann? Unsinn, das passiert doch erst in ein paar Jahren, ich kann ihn doch nicht so lange gefangen halten.
»Willst du den Propheten noch länger warten lassen?«, unterbricht Opa meine Gedanken.
»Propheten?«
»Der sah aus wie einer. Keine Ahnung, was der von dir will. Wenn was ist, rufst du einfach und ich zieh ihm was mit dem Handstock über.«
»Ja, Opa, sicher.« Ich eile in den Garten, das Zelt ist tatsächlich noch dort. Sieht aber irgendwie anders aus. Wie das eines Wahrsagers auf dem Rummelplatz, inklusive ein paar kitschig bunter Glühbirnen über dem Eingang. Drinnen wartet wirklich ein bärtiger alter Mann auf mich, an einem kleinen Tisch, mit Turban um den Kopf und Kristallkugel vor sich. Seltsam, die Gesichtszüge kommen mir bekannt vor, obwohl ich ihn noch nie gesehen habe. Ein bisschen wie mein Vater, aber irgendwie doch ganz anders. »Du hast Glück gehabt, zu entkommen, junger Mann«, beginnt er das Gespräch.
»Wer ist diese alte Frau?«, frage ich und setze mich ihm gegenüber.
»Frau? Ach, die. Um die mach dir keine Sorgen, die nimmt dich gar nicht wahr. Du hast deine eigenen Probleme.«
»Stimmt. Wie kann ich absolut sicher verhindern, dass Fred in ein paar Jahren bei einem Unfall umkommt?«
»Oh, das ist ganz einfach.« Der Alte grinst mich diabolisch an und legt ein Jagdmesser vor mir auf den Tisch. »Das ist der Weg.«
»Hä?«
»Wenn du ihn morgen damit erstichst, kann er in ein paar Jahren keinen tödlichen Unfall mehr haben. Logisch, oder?«
»Sehr witzig. Ich will ihn retten, und nicht schon vorher umbringen.«
»Das Böse, das man tut, lebt immer weiter.«
»Mag sein. Aber das Opfer doch nicht.«
»Du weißt, was du zu tun hast. Oder du wirst es wissen. Ich weiß es nicht, aber ich vertraue dir. Du spielst mit dem Wahnsinn und machst das gerade richtig gut.«
»Muss das so kryptisch sein?«
»Natürlich, Junge, was erwartest du? Hat sich je ein Prophet klar ausgedrückt?«
»Der aus dem Iron Maiden Song definitiv.«
Wieder dieses eklig süffisante Grinsen. »Was klar ist, weißt du doch schon. Aber Blindheit ist ein Segen. Manchmal, für ein paar Stunden.«
»Muss ich dem eine rüberhauen?«, unterbricht eine Stimme von draußen.
»Nein, Opa, alles gut.« Mann, dieser Kerl! Glaubt immer noch, sein Handstock könne alle Probleme lösen. Hat schon bei mir nicht geklappt; seit ich mich das erste Mal gewehrt habe, traut er sich nicht einmal mehr, mir damit zu drohen. Aber war es wirklich okay, ihm eine zu zimmern und die Nase zu brechen, um der nächsten Tracht Prügel zu entgehen?
»Es wäre das einzig Richtige«, entgegnet der Prophet, der anscheinend meine Gedanken gelesen hat. »Wenn es denn so gewesen wäre. Manchmal ist Gewalt durchaus eine Lösung, ganz egal, was dir die Lämmer erzählen. Du bist ein Löwe, der sich nicht unterkriegen lässt. Du kämpfst, auf jede erdenkliche Weise, und nutzt alles, was dir zur Verfügung steht. Dann wird eine alte Frau, die vergeblich um Hilfe ruft und in der ewigen Dunkelheit gefangen bleibt, schnell zum Schreckgespenst. Wie viele Streichhölzer sind noch in deiner Schachtel?«
Die zur Beschwerung des Tonarms vom Plattenspieler? »Ich weiß es nicht.«
Der Prophet deutet auf seine Kristallkugel, aber keinerlei Vision – Halt, doch! Ein einziger bereits brennender Streichholzkopf, und er trägt Eddies Gesichtszüge. Irre grinsend wie auf dem umstrittenen Plattencover, wo er gerade Margaret Thatcher niedergestochen hat. Die sich auf einem späteren Cover rächte und ihm beim Flirt mit zwei Mädels mit einer Maschinenpistole auflauerte. Alles nur Spaß, natürlich. Mit dem Wahnsinn spielen.
Okay, ich hab eine neue Frage: »Muss ich wirklich morgen wieder zur Schule und eine Mathearbeit mitschreiben?«
»Wo du schon hier bist, warum nicht? Du solltest sie doch bereits kennen. Erinnerst du dich an deine Note?«
Kein Schimmer, nicht der blasseste. »Ich hab alles vergessen.«
»Geometrie vergisst man nicht. Du wirst eine Eins schreiben, genau wie damals.«
Eine Eins in Mathe? Ich? »War das wirklich so?«
»Es liegt bei dir. Wie alles andere auch. Wirst du den alten Pfad erneut beschreiten, oder einen neuen einschlagen?«
Fred. Ich kann also wirklich etwas verändern und ihn retten. Nur wie?
Jetzt spricht er rückwärts, doch ich verstehe ihn trotzdem genau. »Tu es!«
»Was? Ihn umbringen?«
»Deine Seele wird eh in der Hölle brennen. Oder ausbluten, Hitze ist ja nicht das Problem dort, sondern die Einsamkeit.«
»Du meinst, ich kann ihn mitnehmen? Um in der Hölle nicht allein zu sein?«
»Kannst du mit dem Wahnsinn spielen?«
Hey, das ist meine Frage. »Kann ich?«
»Wärst du sonst hier?«
Eine gute Frage. Bin ich das überhaupt?
Nein, natürlich nicht. Das Zelt steht schon lange nicht mehr im Garten, ich sitze mit Oma und Opa in der Küche beim Abendbrot und tagträume wildes Zeug von noch älteren Zeiten als jene, in die ich zurückgekehrt bin.
»Dass du morgen bloß nicht wieder zu viel trinkst, Junge«, mahnt Oma gerade.
»Warum sollte ich?«
»Was war denn nach der letzten Party? Als du besoffen nachts auf dem Dach rumgeklettert bist und mir ins Rosenbeet gekotzt hast.«
Hab ich mal so was getan? Cool, ich erinnere mich gar nicht. »Nein, Oma, mach dir keine Sorgen. Ist denn morgen eine Party?«
»Ihr wolltet doch feiern gehen, wenn ihr die Mathearbeit hinter euch habt.«
Stimmt, ich erinnere mich. Irgendwann bin ich mit Fred aus der Disko raus, um frische Luft zu schnappen. Wir waren beide strunzenhackedicht, Fred noch mehr als ich, der kriegte gar nichts mehr mit. Wir liefen über ein Maisfeld, und ich habe es getan. Ihm einfach eine reingehauen, mit voller Wucht, einfach nur so, um zu wissen, wie es sich anfühlt. Seinem besten Freund heimtückisch in den Rücken zu fallen. Ich denke, jeder hat ein Ereignis in seiner Jugend, auf das er nicht stolz ist. Dieses ist meins. Etwas, für das ich mich immer geschämt habe. Klar war auch ich betrunken, aber entschuldigt das etwas? Ich war noch klar genug im Kopf, um zu realisieren, dass Fred im Gegensatz zu mir gar nichts mehr mitkriegt und sich auch nicht erinnern können wird. Du bist gestolpert und auf einen Stein gefallen, konnte ich ihm am nächsten Tag sagen. Aber es war trotzdem der Anfang vom Ende unserer Freundschaft. Weil ich ihm nicht mehr ins Gesicht sehen konnte, ohne mich für das zu schämen, was ich getan hatte, auch wenn sein blaues Auge schon nach wenigen Tagen wieder normal aussah.
Und morgen muss ich wirklich wieder auf diese Party? Verdammt, von allen Wochenenden meiner Jugend, warum musste ich gerade zu diesem zurückkehren?
Noch etwas fällt mir wieder ein, plötzlich ist meine Erinnerung sonnenklar. Mein Opa hat mich nie mit seinem Stock verdroschen, das hat er immer nur scherzhaft jedem angedroht, der ihm irgendwie blöd kam. Ich habe mir das eingeredet, wahrscheinlich weil ich mir wünschte, er hätte es getan. Für die Sache mit Fred. Den ich auch nie als Kind in einen Schrank gesperrt und dort vergessen habe. Nein, ich habe ihn auf einem Maisfeld umgehauen und dort liegen lassen. Einfach nur so.
Vielleicht sollte ich meine Rückkehr zu diesem Ereignis als zweite Chance begreifen. Habe ich die Gelegenheit, es diesmal besser zu machen? Einen schlimmen moralischen Ausrutscher in meinem Leben zu korrigieren?
Zeitraffer, ich scheine zu springen. Kurz sehe ich mich in der Schule sitzen und Formeln auf ein Blatt kritzeln. Ich verstehe nichts mehr davon, aber es kommt ganz von selbst. Mathe ist ein Handwerkzeug, das man nicht verlernt, genau wie der Prophet sagte.
Abends sitzen wir im ›Stein‹, wie der Schuppen kurz genannt wird. Ein seltsames Gefühl. Ich bin später noch einmal dort gewesen, die Dorfdisko meiner Jugend steht jetzt in einem Museumsdorf, etwa fünfzig Kilometer von ihrem ursprünglichen Standort entfernt, als Denkmal einer Jugendkultur der Achtziger, die nie wirklich meine war. Aber da merkt man, wie alt man geworden ist. Auch wenn ich mich dort nie zu Hause gefühlt habe, Metal haben die ja nie gespielt, nur dieses tote Retortenzeug wie Dr. Alban und so, eben diese ganze Popscheiße rauf und runter, der ich nie etwas abgewinnen konnte. Aber es war das Einzige in der Umgebung, wo man hinkonnte, und dem Gruppenzwang konnte selbst ich mich nie entziehen. Ich bin oft mal raus, etwas in der Umgebung spazieren gehen, wenn ich die Musik nicht mehr aushielt. So auch jetzt, genau wie damals. Fred kommt mit, sturzbesoffen wie gehabt. Ich glaub, die haben uns da drinnen keinen harten Alkohol verkauft, aber wir hatten immer eine billige Flasche Rum oder Weinbrand vom Aldi dabei, die konnte man damals als Siebzehnjähriger einfach so kaufen, ohne dass jemand nach dem Ausweis fragte.
Fred stolpert hinter mir her, kaum noch zu einer Konversation fähig. Ich bin diesmal nüchterner geblieben, hab den Abend über meist nur so getan, als würde ich trinken, wenn wir draußen die Flasche in der Clique herumreichten. »Eine Stadt, die sich immer durchs Land teleportiert und jeden Tag woanders ist, wie cool wäre das denn?«, faselt Fred mir gerade vor.
»Durch die Zeit wäre noch interessanter«, spinne ich weiter.
»Quatsch«, sagt Fred. »Da müsste man ja immer auf die Paradingsdas aufpassen.« Und kommt leicht ins Stolpern, aber fängt sich wieder. Oder hätte sich gefangen, wenn ihn meine Faust nicht getroffen hätte.
»Ey, was soll’n das?«, lallt er und presst die Hände vors Gesicht. »Scheiße, Alter, das tut echt weh.«
Ich beuge mich zu ihm runter und schlage noch einmal zu, dann noch ein drittes Mal, bis er wimmernd am Boden liegen bleibt. »Ich zeig dir mal was zum Thema Zeitparadoxon«, sage ich und hole das Jagdmesser des Propheten hervor. Niemand hat gesehen, dass ich mit ihm raus bin, ich habe akribisch darauf geachtet. Und wie der Prophet sagte, weiß ich jetzt, was ich zu tun habe. Umbringen ist zu drastisch, aber ich kann sicherstellen, dass er niemals Motorrad fahren wird. Es kostet mich einige Überwindung, aber ich rede mir ein, ihm einen großen Gefallen zu tun, dann ramme ich ihm das Messer mehrfach frontal ins rechte Knie, bis es mir aus der Hand rutscht und ich es nicht über mich bringe, es wieder aufzuheben und auf der anderen Seite weiterzumachen. Das muss so reichen, ich bin kein Monster, ich kann nicht mehr. Ich renne, weg von seinen Schreien, immer tiefer in den Wald hinein, bis ich stolpere und mich erst einmal übergeben muss. Gott, was habe ich getan?
Langsam gelingt es mir, mich zu beruhigen. Es war das Richtige, das einzig Richtige. Und ich habe der alten Sünde, die ich mir nie vergeben konnte, einen nachträglichen Sinn gegeben. Ich habe ihn nicht grundlos angegriffen, sondern um ihn zu retten. Ich werde ihm ins Gesicht sehen können, ohne Abscheu vor mir zu empfinden. Jetzt muss ich nur noch glauben, dass es wirklich so war. So spielt man mit dem Wahnsinn – und gewinnt.
»Hallo! Ist jemand hier? Hallo!«
Oh nein, die hat mir gerade noch gefehlt. Jetzt geistert sie hier durch den Wald. Moment, sollte das nicht ein Maisfeld sein? Ach was, ein Wald ist mir viel lieber, und dann ist es auch ein Wald hier. Ich bin der Meister der Phantasmagorie; Prophet, Prophezeiung und Empfänger in Personalunion, ich habe mein Leben unter Kontrolle und keine Angst vor Gespenstern. Entschlossen trete ich aus dem Dickicht, der Erscheinung entgegen. »Ja, Frau Fischer, ich bin hier, und Sie sehen mich auch. Sie müssen es nur wollen.«
Für einen Moment habe ich das Gefühl, dass unsere Blicke sich begegnen. Dass sie den Wahnsinn in meinen sieht und sich dem Spiel anschließt. Denn ich bin jetzt sicher, man kann dieses Spiel gewinnen. Nicht nur ich, sie auch. Lodert da ein Funke in ihrem Bewusstsein auf? Für einen Moment sehe ich ihn, dann entgleitet er mir wieder. Wie alles. Der Wald, der Geist, die Amortisierung der Schuld.
Tische und Stühle, ein paar Zeitschriften, die niemand hier versteht, monoton graue Wände, an wenigen Stellen durchbrochen von ungekonnten Bildern, die der Wahnsinn mit zitterigen Händen malte. Oben im ersten Stock läuft Frau Fischer an der Balustrade entlang, wie immer im Bademantel und mit starr ins Nichts gerichtetem Blick. »Hallo! Ist jemand hier? Hallo?«
»Can I play with madness?« Der Leadsinger hat die letzte Zeile beendet, der letzte Akkord verstummt. Ich starre auf das Smartphone in der Hand der jungen Frau, die sich zu mir gesetzt hat. Sie hingegen starrt wieder auf mein altes T-Shirt, nur noch ein Lumpen, ich weiß, aber ich gebe es nicht her. Und nein, ich trage es nicht nur so, es bedeutet mir was. Ich zeige auf ihr Handy. »Geiler Song, danke dafür.«
»Guhlung Ball?«, fragt sie zurück und lacht. Wobei es kein spöttisches Lachen ist, sondern ein freundliches.
Scheiße, habe ich das gesagt? Wo sind die Worte, die sie versteht? Langsam ziehe ich eins aus der Dunkelheit und zwinge es über meine Lippen, die ganz eigene Laute von sich geben wollen. »Neuhhh?«
Sie nickt. »Ja, aber ich bin nur für ein paar Wochen hier. Der Richter hat mir mal wieder Sozialstunden aufgebrummt. Und meint wohl, ich hätte selbst nicht alle Tassen im Schrank, wenn er mich in dieses Irrenhaus schickt.« Wieder lächelt sie. »Sorry, Altenheim, war nicht böse gemeint.«
So, so, ich bin jetzt also schon die richterliche Strafe für andere, so weit ist es gekommen.
»Hab ich dir mit dem Song zum T-Shirt eine Freude gemacht?« Sie hebt ihr Handy hoch, als wolle sie mir erklären, wo die Musik herkam, und steckt es dann wieder in die Tasche. »Verstehst du noch was davon?«
Oh ja, und was für eine Freude sie mir gemacht hat, da kam so vieles nach oben, so viele klare Bilder und Szenen, ein Ausflug zurück in ein Leben, das vielleicht mal meins war, oder auch ganz anders, ich kann es nicht mehr sagen. Aber ein paar Worte drängen an die Oberfläche, Worte, die sie verstehen muss, als wollten sie die Eisdecke eines Wintersees durchbrechen. »Ja … ich …«
»Du verschwendest deine Zeit, Sabine«, unterbricht ein Pfleger von hinten. »Der Kerl ist schizophren und dement, der lebt komplett in seiner eigenen Welt und kriegt nichts mehr mit.«
Ein prüfender Blick dringt in meine Augen. »Mir kommt der eigentlich ganz aufmerksam vor«, widerspricht sie dann.
Schnell greife ich ihre Hand. »Danke … dass du dir Zeit für mich nimmst.«
»Dafür bin ich doch hier.«
Sie hat mich verstanden? Ja, sie hat mich wirklich verstanden. Ein bisschen Zeit, und Ruhe, mit ein bisschen Zeit geht alles. »Time … is always on my side.«
»Bist du auf der Tour gewesen?«, fragt sie und deutet auf mein altes Shirt.
Ich nicke. »Und der Prophet hatte recht, ich komme in die Hölle«, resümiere ich mein Leben, oder was noch davon übrig ist.
Sie lacht. »Hölle ist ein absurdes Konzept, das sich ein paar geldgierige alte Männer ausgedacht haben, um Bauern Angst zu machen und sie besser ausbeuten zu können. Ich glaube nicht an solchen Unsinn, und du solltest dir da auch keine Gedanken machen. Nach dem Tod ist einfach Schluss, da kommt nichts mehr. Es gibt keine Hölle, glaub mir.«
Sie hat gut reden, ich muss ja gar nicht an etwas nach dem Tod glauben. »Aber ich bin bereits dort«, sage ich – und ihr Lächeln fällt in sich zusammen.
»Quatsch«, sagt Fred. »Ich bin doch auch hier.«
Hastig drehe ich mich um und starre auf den Mann, der auf eine Krücke gestützt an der Wand lehnt und mir mit seinem Dosenbier zuprostet.*
* »Can I play with madness« ist auf der LP »The seventh son of the seventh son« von 1988 komponiert und getextet von: Adrian Smith, Bruce Dickinson, Steve Harris.
Und bin bereits als Winzling mit Musik aufgewachsen. Es wurde mir in die Wiege gelegt: Mein Vater ist Musiker, zwar kein Rock, aber das tut der ganzen Sache keinen Abbruch.
Als Kind nahmen mich meine Eltern auf Musikveranstaltungen mit.
Mit der Rockmusik der Siebzigerjahre kam ich bewusst erst Anfang der Achtziger in Berührung, als ich das Radio für mich entdeckte. Einer meiner Lieblingssender damals war SWR3 und dort gab es regelmäßig Sendungen zum Thema Rock. Neben Stefanie Tücking gab es noch einen begeisterten Rock-Moderator und die erzählten viel und oft über die Bands, die Sänger und die Songs. Led Zeppelin, AC/DC, Steppenwolf, Black Sabbath, Lynyrd Skynyrd, Eagles, Kansas, Eric Clapton. Eine endlose, tolle Liste an Bands.
Abends ab achtzehn, neunzehn Uhr saß ich im Wohnzimmer an unserer Stereoanlage, Kopfhörer eingestöpselt, Musikkassette bereit zur Aufnahme – ich musste nur die Pause-Taste lösen – und schon würde ich die Musik aufnehmen. Hatte ich einen Song aufgenommen, notierte ich ihn auf das Inlay der Kassettenhülle. Songs, die ich nicht kannte, weil der Moderator diese nicht angekündigt hatte oder den Interpreten nicht nannte, notierte ich im Inlay mit einem Bindestrich als Platzhalter. Nach dem Abendessen eilte ich wieder zum Radio. Bis es Zeit war fürs Bett. An verregneten Wochenenden saß ich nachmittags an der Stereoanlage, hörte Radio und lauschte Elmar Hörig, der auch ein großes Wissen an Musikhistorie hatte und einiges erzählte, bevor er Musik spielte.
Was ich richtig toll fand, waren die Live-Aufnahmen, die im Radio gespielt wurden: z. B. Claptons »Layla«, Peter Framptons »Show me the Way«, Frees »All right now«, AC/DCs »Highway to Hell«, Queens »Bohemian Rhapsody«.
In den Achtzigern bespielte ich sehr viele Musikkassetten, für die ich mein Taschengeld sammelte. In meinem Zimmer hatte ich einen kleinen Kassettenspieler, über den ich meine Tapes oder das Radio laufen ließ.
Später als Teenager bekam ich einen Walkman geschenkt und der ermöglichte es mir, Musikkassetten für unterwegs mitzunehmen.
Das ist meine früheste Erinnerung, was die Rockmusik der Siebziger angeht: Vor der Stereoanlage mit Kopfhörern sitzend und Musik auf Kassette aufnehmend. Sobald mitten im Song reingequatscht wurde vom Moderator oder der Song zu spät oder zu früh ausgeblendet wurdet, war ich verärgert, stoppte die Aufnahme, spulte zurück und wartete auf eine neue Gelegenheit, Songs relativ vollständig aufzunehmen. Ich versuchte, mir zu merken, welcher Song gerade vom Moderator verhunzt worden war und hoffte, dass er bald wieder gespielt würde, damit ich ihn aufnehmen konnte. Bis circa Anfang der Neunziger entstand meine Sammlung. Die Bänder habe ich immer noch und ab und zu höre ich eine meiner Aufnahmen an und bin begeistert, was ich so alles auf Kassette habe. Besonders faszinierend sind die Liveaufnahmen von Songs oder sogar ganzen Konzerten.
Und aus dem ganzen Fundus an bekannten und weniger bekannten Rocksongs der Siebzigerjahre kommt die Qual der Wahl, welchen Song möchte man wiederbeleben, als Inspirationsquelle für eine Geschichte nehmen. Keiner der großen Klassiker, aber ein toller Song mit der kraftvollen Stimme von Paul Rodgers und mit einem Wink auf unsere Vergänglichkeit, der wir uns entgegenstellen können oder auch nicht.
Zum ausgewählten Song für die Anthologie:
Ich wähle den Song »Wishing Well« der Band Free.
www.youtube.com/watch?v=LLSAGnHNqGc
Rudolf Arlanov wurde 1973 in Karlsruhe geboren. Nach einer Ausbildung zum Biologielaboranten studierte er Diplom-Biologie in Mainz. Danach folgte eine mehrjährige Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Stuttgart. Eine berufliche Neuorientierung führte ihn zur IT. Er schulte zum Fachinformatiker um und arbeitet seitdem in diesem Fachbereich.
Mit dem Schreiben begann Rudolf bereits als Teenager, mehr für sich und im stillen Kämmerchen, ab und an kam er aus seinem Schneckenhaus und nahm an Ausschreibungen für Kurzgeschichten und Lyrik teil.
Mit zunehmendem Alter – ob die Reife zunahm, sei dahingestellt –, mehr Ernst und Zielorientierung dauerte es bis 2013, dass Rudolf seine erste Veröffentlichung in der Anthologie »Schrecken der Vergangenheit« feierte. Unter einem neuen Herausgeber wurde diese 2017 veröffentlicht.
Weitere Veröffentlichungen folgten, darunter Kurzgeschichten und Gedichte.
Seine Storys bewegen sich in den Bereichen Fantastik, Horror, Thriller, aber auch die Satire und Science-Fiction kommen nicht zu kurz bei ihm.
Gegenwärtig lebt und arbeitet er in Karlsruhe.
Walter war jetzt schon genervt. Nicht nur davon, dass er heute nicht den ersten Tag als Pensionär genießen konnte, weder ausschlafen noch länger im Bett liegen bleiben durfte, weil ihn seine Frau Jutta morgens aus dem Bett gescheucht hatte. Nicht nur davon, dass ihn Jutta dazu überredet hatte, der Britta, ihrer liebsten und besten Freundin, beim Ausrichten des gemeinsamen Stands beim anstehenden Flohmarkt zu helfen. Nicht nur davon, dass er den Kaffee, das Frühstück, die Morgenzeitung nicht in Ruhe genießen und ohne Hektik in den Tag starten konnte, nein, insgesamt nervte ihn, dass Jutta bereits den Tag für ihn verplant und ihn mit einem »Hopp, hopp, wer rastet, der rostet« rauf auf den Dachboden gedrängt hatte.
Jetzt stand er hier oben, umgeben von Boxen und Kartons, mit allem Möglichen darin, was sich im Laufe des Lebens angesammelt hatte und irgendwann im Keller oder auf dem Dachboden landete.
Jutta und ihre so innig geliebte Freundin Britta. Blöde Britta! Muss sie mir so den Tag versauen? Du Schlappschwanz! Hättest Jutta sagen sollen, dass du keine Lust hast, den beiden zu helfen.
»Geht’s dir gut da oben?«, rief Jutta vom Flur aus in den Treppenaufgang, durch die Öffnung der Deckenluke.
»Ja.«
»Was?«
»Ja!«, rief er, und am liebsten hätte er noch ein »verdammt noch mal« hinterhergeschoben, konnte sich aber beherrschen.
»Beeil dich, Schatz. Um vierzehn Uhr müssen wir dort sein und Britta kommt bald zum Verladen der Sachen. Wenn du Hilfe brauchst …«
»Nein.«
»Was?«
»Ich schaff’ das schon! Brauche keine Hilfe!«
»Okay«, antwortete sie und kehrte in die Küche zurück.
Gottergeben seufzte er, blickte hinter sich auf den Haufen aussortierter Klamotten und setzte seine Suche fort. Vor ihm türmten sich beschriftete Kartons. Auf einem stand nur sein Name, auf einem anderen der seiner Frau. Er zog den Karton mit seinem Namen zu sich und löste die verkeilten Laschen.
Als Erstes erhaschte sein Blick Asterix- und Lucky-Luke-Bände, anschließend ein weißes T-Shirt, eine Musikkassettenhülle und einen kleinen Bilderrahmen. Die Comics aus den Siebzigern waren vielleicht etwas wert, weil sie in gutem Zustand waren, aber ansonsten uninteressant. Er mochte Comics nicht (mehr). Beim weißen T-Shirt lachte Walter, als er es ausbreitete. Nicht wegen des Hot-Lips-Logos auf der Brustpartie, sondern wegen der Größe M, die ihm deutlich zu klein geworden war. Er schleuderte es zum Klamottenhaufen. Die Musikkassettenhülle hingegen irritierte ihn.
Wie lange habe ich so ein Ding nicht mehr in den Händen gehalten?
Walter schüttelte die Hülle und hörte deren Inhalt klappern. Auf dem rosa Cover waren eine in weiß gezeichnete Person mit Mikrofonständer und simplen zwei Worten »Free Heartbreaker« als Titel abgebildet.
Was soll ich denn damit anfangen?
Im Bilderrahmen befand sich eine Fotografie mit seinen besten Freunden aus der Studienzeit. Walter erkannte sich mit den langen Haaren und dem Schnauzer kaum wieder.
Wie lange mochte das her sein? Fünfunddreißig, vierzig Jahre?
»Wo bleibst du?«, rief Jutta. »In zwei Stunden müssen wir dort sein.«
»Komme.«
Trotz des mistigen Tagesbeginns und Vormittags hatte das Stöbern auf dem Dachboden doch etwas erbracht, dem er nachspüren würde. Walter steckte die Kassettenhülle in die Hosentasche und klemmte sich das Foto unter dem Arm. Dann raffte er die Klamotten zusammen und stieg hinab.
Unten im Flur begrüßte ihn ein lautstarkes »Wow, das ist fette Beute«.
Britta. Die wundervolle Britta. Die beste Freundin. Wie schnell doch ein positives Gefühl verpufft.
»Hm-hm«, erwiderte er, seine Begeisterung über ihre Anwesenheit war mehr geheuchelt als herzlich.
»Klasse. Vielen Dank, dass du uns«, Britta blickte dabei verschwörerisch zu Jutta, »hilfst und unterstützt.«
»Sicher doch.«
Seine Frau stand nur da und lächelte, dann fiel ihr Blick auf den Bilderrahmen.
»Was hast du da, Walter?«, fragte sie.
Er reichte ihr die Klamotten und zeigte ihr den Fund.
»Ein Foto von mir und den Jungs: Robert, Matthias, Georg und Jürgen.«
»Ach du heiliger Bimbam«, erwiderte Jutta und verkniff sich ein Schmunzeln, aber eines konnte sie sich natürlich nicht verkneifen: »Schau mal, Britta. So sahen damals junge Männer aus.«
»Putzig, voll die Streuner«, sagte Britta, »will mich gar nicht daran erinnern, wie wir Mädels damals rumgelaufen sind.«
»Nee, bloß nicht«, antwortete Jutta und lachte herzhaft, verstummte aber sogleich, als sie Walters ernster werdenden Gesichtsausdruck bemerkte. »Heute Abend ist wieder Stammtisch, oder?«
Ah, du versuchst, die Situation wieder zu entspannen.
»Ja«, sagte Walter kurz und knapp.
»Wie die Zeit verfliegt«, sprach Jutta schnell weiter, »dass wieder ein Monat rum ist. Unglaublich. Richte den anderen bitte einen Gruß von mir aus und ich wünsche euch ein schönes Wiedersehen.« Dieses Mal verkniff sich Walter ein Schmunzeln, als Jutta seinem Blick auswich und sich in die Klamotten zu krallen schien.
»Werde ich gerne machen, Schatz«, antwortete er und schenkte ihr ein siegesbewusstes Lächeln.
»Ach, übrigens«, unterbrach ihn Britta, »willkommen im Klub.«
»Hm?«
»Na, im Klub der Rentner, mein Lieber. Und, vermisst du schon das Büro?«
Ja.
»Nein.«
»Sehr gut«, sagte Britta. »Hannes und ich freuen uns sehr, mehr Zeit mit Jutta und dir verbringen zu können. Nicht wahr, Jutta?«
»Absolut«, antwortete diese und strahlte dankbar und erleichtert wie ein Honigkuchenpferd.
»Jutta und ich planen den nächsten gemeinsamen Urlaub. Hab ihr grad von unserem neuen Wohnmobil erzählt. Hannes hat es heute abgeholt. Da passen locker vier Leute rein.«
Walter warf seiner Frau einen scharfen Blick zu und hoffte sie würde seinen Protest darin erkennen. Als sie nicht reagierte, räusperte er sich und entfernte sich mit einem »Ich muss dringend kacken«.
»Sein Humor ist göttlich. Das wird ein toller Urlaub mit euch werden«, hörte er Britta frohlocken, bevor er die Toilettentür hinter sich schloss und am liebsten einen befreienden Schrei losgelassen hätte. Er war in der Hölle angekommen. Ruhestand. Endlich tun, wonach einem der Sinn steht.
Scheiße, nein. Dass ich nicht lache!
Den letzten Krimskrams legte er auf dem Flohmarkttisch der beiden Frauen, und noch bevor Jutta etwas sagen konnte, verzog er sich mit einem »Ich dreh ‘ne Runde.«
Playmobilfiguren. Porzellanteller. Gedenkbierhumpen. Lederstiefel. Matchboxautos. Glasaschenbecher. Walkman. Münzen und Briefmarken. Silberbesteck. Asterixcomics. Halsketten. Broschen. Mobiltelefone. Babystrampler. Walkman. Zippos. Elektrorasierer. Legosteine. Toaster. Sportschuhe. Nintendokonsolen. Souvenirs. Teddybären. Pfeffermühlen. Holzschnitzereien. Tischdecken. Gürtel. Walkman. Schall-
Das ist es.
Er blieb stehen und wandte sich einem Stand zu, an dem ein Mädchen gelangweilt saß und auf ihr Handy starrte.
»Wie viel dafür?«
»Fünfzehn Euro«, antwortete das Mädchen.
»Ist Zubehör dabei?«
»Nö.«
»Sind Batterien drin?«
»Nö.«
»Okay. Ich nehme ihn.«
Jutta hatte es sich auf der Couch gemütlich gemacht und schaute ihre Quizshow, bei der sie gerne mitriet. Das war ihre Abendbeschäftigung. Sie war dermaßen vertieft in ihrer Sendung, dass sie Walter nicht hörte. Er seufzte und wiederholte seine Frage, diesmal lauter, direkter: »Hast du die Kopfhörer gesehen?«
Sie wandte ihm den Kopf zu und sah ihn verwundert an. »Was? Was willst du denn mit den Kopfhörern?«
»Was macht man mit Kopfhörern?«
»Ich dachte«, entgegnete sie, »du triffst dich heute mit deinem Stammtisch.«
»In einer halben Stunde«, antwortete er, unterdrückte dabei einen erneuten Seufzer und schluckte seine beginnende Gereiztheit runter. »Weißt du nun, wo sie sind oder nicht?«
Walter wollte sie nicht stören, wollte nicht auffallen und auch kein großes Thema daraus machen, sich nicht erklären, sondern nur die Kopfhörer nehmen und sich auf dem Weg machen.
»Schau in der Schreibtischschublade nach«, sagte sie und widmete sich wieder ihrer Quizsendung.
»Danke.«
Unterwegs blieb er an der nächsten beleuchteten Straßenecke stehen und kramte im mitgeführten Tragebeutel. Er wusste nicht, was er sich aus dieser ganzen Aktion erhoffte. Warum er es für sich behalten hatte und Jutta so kalt angegangen war. Vielleicht wollte er zuerst etwas nur für sich, was ihm dieser Tag, was ihm Britta und Jutta verwehrt hatten. Wahrscheinlich erwartete er nichts, folgte nur einem Impuls, etwas Spinnertem, dem er nachspüren wollte.
Aus dem Beutel holte er die Musikkassette hervor, hielt sie in beiden Händen und wunderte sich über die Vielfalt an Gefühlen und Gedanken, die dieses Ding – weißer, beschrifteter Kunststoff, darin ein aufgerolltes Magnetband, funktional wie zig Millionen andere Musikkassetten, doch diese hatte er behalten – in ihm auslöste: Ehrfurcht, Zweifel, Freude, Neugier, Angst.
Er nahm den erstandenen Walkman, den er im Schlafzimmer mit Batterien ausgestattet und getestet hatte, und legte die Kassette hinein. Anschließend stöpselte er die Kopfhörer ein und hielt kurz inne. Ihm war plötzlich zu lachen zumute.
Hey, es ist doch nur eine Kassette. Was machst du dir so ins Hemd, Mann!
Er betätigte den Play-Knopf.
In seinem Kopf spielte das Gitarrenriff als Dauerschleife.
Da-da-dadaaaa da-da-dadaaa da-da-dadaaa daaa daaa.
Seitdem sich Walter an den Tisch gesetzt und ein Bier bestellt hatte, folgte er den Gesprächen der anderen nur halb und ergab sich dem Ohrwurm. Er bekam am Rande mit, wie Robert versuchte, mit der Bedienung zu flirten, und nicht merkte oder ignorierte, dass sie kein Interesse an einem übergewichtigen, alten Sack hatte, wie Georg ein Glas nach dem anderen leerte und bereits beim vierten Bier angelangt war, oder wie Jürgen mal wieder eine Anekdote von seiner Arbeit über die Unfähigkeit von Kunden erzählte und wie Matthias dabei mit Zwischenfragen Jürgens Spott zu sabotieren versuchte.
Walter trommelte währenddessen leise mit den Fingerspitzen vor seinem Bierglas und summte still die Melodie.
Da-da-dadaaaa.
»Hey, Walter«, riss ihn Robert aus den Gedanken, »liegst ein Kräusen zurück.«