Rocky Mountain Men Teil 1: Sturmwarnung - Mina Miller - E-Book

Rocky Mountain Men Teil 1: Sturmwarnung E-Book

Mina Miller

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Beschreibung

Sophie genießt als Influencerin das volle Paket: Reichweite, Einkommen und eine beneidenswerte Sammlung an Designer-Handtaschen. Ihr jüngstes Abenteuer führt sie von Los Angeles nach Kanada, genauer gesagt in das idyllische Städtchen Crystal Lake, eingebettet in die majestätischen Rocky Mountains. Doch sie ahnt nicht, dass genau dort ihre größte Herausforderung beginnen wird. Vor Ort hat Sophie eine Hundeschlittentour gebucht, deren Führer ein ebenso mürrischer wie heißer Einzelgänger namens Noah Anderson ist. Und als wäre es nicht schlimm genug, mit einem solchen Knurrkopf konfrontiert zu werden, kann Noah sich an keine Buchung erinnern und lässt Sophie abblitzen! Aber Sophie wäre nicht dort, wo sie ist, hätte sie sich je von Schwierigkeiten abschrecken lassen. Wenn sie mit Charme nicht weiterkommt, dann muss eben das Ersparte herhalten. Mit einer Zahlung, die doppelt so hoch ist wie üblich, bringt sie Noah zum Einlenken. Ein überraschender Schneesturm zwingt die beiden, in Noahs behaglichem Heim Schutz zu suchen, und bald schon ist das Prasseln des Kaminfeuers nicht das einzige, das zwischen ihnen knistert. Doch nicht alle in der Stadt sehen die Annäherung der beiden positiv, denn Noah und seine Brüder sind die begehrtesten Junggesellen in Crystal Lake, und Sophie muss sich neben ihren aufwühlenden Emotionen auch diesem Problem stellen. Noahs Wunsch, Sophie ganz für sich zu gewinnen, stürzt sie in ein emotionales Dilemma. Soll sie zu ihrem Großstadtleben zurückkehren oder kann sie sich ein Leben an der Seite von Noah in den Rocky Mountains vorstellen? Sophie muss sich entscheiden zwischen Luxus und Konsum oder der rauen Schönheit der Natur.

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Mina Miller

Rocky Mountain Men Teil 1: Sturmwarnung

© 2024 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

Covergestaltung: © Sabrina Dahlenburg

(www.art-for-your-book.de)

ISBN Taschenbuch:978-3-86495-670-6

ISBN eBook: 978-3-86495-671-3

Alle Rechte vorbehalten. Dies ist ein Werk der Fiktion. Namen, Darsteller, Orte und Handlung entspringen entweder der Fantasie der Autorin oder werden fiktiv eingesetzt. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Vorkommnissen, Schauplätzen oder Personen, lebend oder verstorben, ist rein zufällig.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Autorin

Kapitel 1

Sophie

Schneeflocken, groß wie Tischtennisbälle, prasselten gegen die Windschutzscheibe ihres Mietwagens. Sophie drehte den Scheibenwischer auf Maximum und wünschte sich, sie könnte die dichten, weißen Flocken allein mit ihrem Willen zum Schmelzen bringen. Warum gab es keine Zugverbindung von Vancouver nach Crystal Lake? Ein belebterer Ort wäre leichter erreichbar für sie gewesen, doch der neue Geschäftspartner bestand auf unberührte Natur als Kulisse für die Werbekampagne.

Im Internet hatte Sophie in der Nähe der Rocky Mountains die kleine Stadt Crystal Lake entdeckt. Mit ihren knapp dreihundert Einwohnern wirkte sie im Vergleich zu ihrem Heimatort Los Angeles wie eine Miniaturstadt auf sie.

Das einzige Grün in ihrer Wohnung war der Löwenzahn, der in einem Topf auf ihrem Balkon wuchs. Einen grünen Daumen hatte sie nicht und strebte auch nicht danach, denn ihre Follower durften sie nicht mit schmutzigen Nägeln sehen. Sie hatte schließlich hart für ihr Image als erfolgreiche Influencerin gearbeitet.

Sophie atmete erleichtert auf, als ein verwittertes Holzschild mit der Aufschrift „Crystal Lake“ vor ihr auftauchte. Nach einer Viertelstunde Fahrt erreichte sie die Kleinstadt, und zu ihrer Erleichterung waren die Straßen dort bereits vom Schnee befreit. Sie fuhr die Hauptstraße entlang, vorbei an einer Reihe von Häusern, die wohl noch aus der Zeit der Goldgräber stammten. Die Fassaden der Gebäude, in Weiß, Rot oder Blau gehalten, waren aus Holz gebaut, und große Schaufenster gewährten Einblicke in das Innere der Läden. Einige Fenster waren mit Brettern vernagelt, und es schien, als wären nicht wenige Geschäfte geschlossen. Auf den Bürgersteigen waren keine Menschen zu sehen. Crystal Lake wirkte wie eine heruntergekommene Geisterstadt, verlassen und still.

Ein paar Minuten später erreichte Sophie das Hotel, in dem sie ein Zimmer reserviert hatte. Sie parkte vor dem dreistöckigen Holzgebäude, das einst eine Augenweide gewesen sein musste. Im Gegensatz zu den anderen Gebäuden der Stadt schien bei diesem Augenmerk auf Details gelegt worden zu sein. Sophie bemerkte Schnitzereien an der Außenfassade, die teilweise unter dem Schnee verborgen waren. Die Farbe des Holzes blätterte ab, und die Treppe, die zur vorderen Haustür führte, wirkte gefährlich schief. Sie hoffte, dass das Innere des Hotels einladender war, als es von außen erschien. In diesem Moment sehnte sie sich nach nichts anderem als einer heißen Dusche und einem gemütlichen Bett.

Sophie stieg aus ihrem Wagen, schlug den Kragen ihres Mantels hoch und trat von einem Fuß auf den anderen, während die Kälte ihr ins Gesicht biss und sie für einen Moment nach Luft schnappen ließ. Sie griff schnell nach ihren zwei Rollkoffern und der Handtasche, die sie extra für diesen Trip bestellt hatte – eine Limited Edition einer bekannten Modemarke, bei der sie mittlerweile Stammkundin war. Ihr Faible für Taschen hatte ihr auf ihrem Instagram-Kanal große Beliebtheit beschert.

Vorsichtig, um auf dem verschneiten Untergrund nicht auszurutschen, näherte sie sich der Treppe, die auf eine Veranda führte. Kurzerhand ließ sie die Koffer stehen, hielt sich, während sie die Stufen erklomm, am Geländer fest und klopfte an die Eingangstür. Fast im selben Augenblick öffnete sich die Tür, und ein junger Mann mit zerzausten Haaren und dichtem Bart stand ihr gegenüber.

„Na endlich. Das wurde aber auch Zeit“, sagte der junge Mann, während er Sophie einen Schlüsselbund in die Hand drückte und dann die Treppe hinunterstieg.

Sophie erwachte aus ihrer Überraschung. „Hey, warte mal! Was soll ich mit diesen Schlüsseln anfangen? Und ich brauche Hilfe, um die Koffer reinzubringen!“, rief sie ihm hinterher.

Der Kerl drehte sich nicht einmal um, sondern hob nur seine Hand. „Das Hotel gehört jetzt dir. Ich bin nur für die Schlüsselübergabe hier“, erklärte er knapp.

Sophie blinzelte ein paar Mal ungläubig und rief ihm hinterher: „Danke für die herzliche Begrüßung.“ Der Typ reagierte jedoch nicht auf ihre Worte und bog um die Ecke in die nächste Straße ein.

„Mistkerl“, murmelte Sophie und hoffte, dass nicht alle Bewohner von Crystal Lake sich als ebenso unfreundlich herausstellen würden.

Sophie atmete tief durch. Behutsam stieg sie die drei Stufen hinunter und ergriff den ersten Koffer. Sich mit einer Hand am Geländer festhaltend, gelang es ihr, ohne auf dem glatten Untergrund auszurutschen, bis zur Haustür zu kommen. Der zweite Koffer, in dem ihr technisches Equipment verstaut war, erwies sich als größere Herausforderung. Schweißgebadet und mit letzter Kraft schleppte sie auch diesen die Treppe hinauf und zog beide Rollkoffer durch die Haustür ins Hotel.

Ein kalter Luftzug empfing sie im Inneren, der nur unwesentlich wärmer als die Außenluft war. Sophie schloss die Tür hinter sich und sah sich um. Eine Deckenlampe leuchtete über einem Tresen. Der Anblick der Möbel, bedeckt mit einer zentimeterdicken Staubschicht, ließ sie frösteln.

„Arbeitet hier denn niemand?“, fragte sie sich. Das Hotel schien verlassen, als ob seit langer Zeit kein Mensch mehr einen Fuß in dieses Haus gesetzt hätte.

Sophie warf einen Blick in den Raum rechts vom Empfangsbereich und sah mehrere Tische und Stühle, die mit weißen Laken abgedeckt waren. Offensichtlich befand sie sich im Essbereich des Hotels. Mit einem leckeren Abendessen konnte sie wohl nicht rechnen. Sie ging zurück zum Tresen und blieb unschlüssig davor stehen.

„Hallo?“, rief sie vorsichtshalber in den stillen Raum. Sie hatte doch nicht etwa versehentlich ein Zimmer in einem Gruselhotel gebucht?

In diesem Moment vibrierte das Handy in ihrer Manteltasche und ließ sie erschrocken zusammenzucken. Rasch zog sie das Gerät heraus. Auf dem Display leuchtete eine neue Nachricht auf. Sophie las die E-Mail auf ihrem Handy:

Sehr geehrte Ms. Baker, es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass uns ein Fehler unterlaufen ist. Momentan nehmen wir in unserem Stadt-Hotel keine Buchungen an. Ich habe dennoch in Auftrag gegeben, dass Zimmer drei im ersten Stock für Sie hergerichtet wird. Die Schlüssel zum Gebäude müssen Ihnen überreicht worden sein. Bitte entschuldigen Sie vielmals diesen Irrtum. Sollten Sie Hunger verspüren, empfehle ich den Anderson Pub auf der Hauptstraße. Dort gibt es zu jeder Tageszeit köstliche Gerichte. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.

Ms. Fitsch

(Sekretariat des Bürgermeisters von Crystal Lake)

Sophie überflog die E-Mail ein zweites Mal. Sie fragte sich, ob es in diesen kleinen kanadischen Städten normal war, dass Hotels in solch einem Zustand waren. Als sie Crystal Lake als Reiseziel auswählte, hatte sie nicht gerade eine große Auswahl an Übernachtungsmöglichkeiten gehabt. Im Umkreis von siebzig Kilometern gab es kein anderes Hotel.

Mit einem Seufzen schleppte sie ihre Koffer die Holztreppe hinauf. Das Geländer war staubig, darunter jedoch glatt poliert und kunstvoll gearbeitet. Im ersten Stock machte sie eine kurze Pause. Einige Türen gingen rechts und links vom Flur ab, ein schmutziges Fenster am Ende des Ganges ließ nur wenig Tageslicht herein. Sie steuerte auf die Tür mit der Nummer drei zu, fand den passenden Schlüssel und schloss die schwere Holztür auf. Sie musste kräftig dagegen drücken, da die Tür klemmte. Als Sophie das Zimmer betrat, wurde sie von einem leichten Geruch nach Putzmittel empfangen. Sie war erleichtert, weder ein Eisenbett noch gefleckte Tapeten vorzufinden. Stattdessen blickte sie in ein ordentliches, kleines Zimmer. Das Mobiliar, bestehend aus einem Bett, einer Kommode und einem Kleiderschrank, war aus dunklem Holz gefertigt. Kein Staubkorn war zu sehen, und das Bett war mit frischen Laken bezogen. Das blitzblank geputzte Fenster bot einen guten Blick auf den Wald hinter dem Hotel.

Sophie ging weiter zum angrenzenden Badezimmer. Dunkelblaue Fliesen verliehen dem Raum eine einladende Atmosphäre. Trotz offensichtlicher Anzeichen von jahrelangem Gebrauch waren Dusche, Waschbecken und Toilette gründlich gereinigt worden.

Sophie setzte sich auf das Bett und bemerkte, dass die Oberdecke frisch roch und die Matratze angenehm weich war. Eine bleierne Müdigkeit übermannte sie. Sie stand auf, holte den Beutel mit Make-up und Badeutensilien aus einem der Koffer und entkleidete sich rasch, bevor sie unter die Dusche sprang. Zum Glück war das Wasser angenehm warm, und ihre Muskeln entspannten sich allmählich. Nach der Dusche wickelte sie sich in eines der bereitliegenden Handtücher und warf noch einen Blick auf ihr Handy, bevor sie sich ins Bett legte.

Sie war erschöpft. Der Flug von Los Angeles nach Vancouver war zu kurz gewesen, um zu schlafen, und während der Zugfahrt nach Clearwater musste sie das Geschrei zweier Kleinkinder in ihrem Abteil ertragen. Die anschließende Fahrt mit dem Mietwagen durch Schnee und über glatte Landstraßen hatte dann ihre letzte Energie verbraucht.

Sophie stellte den Wecker auf ihrem Handy und kuschelte sich in die Kissen. Müde schloss sie die Augen und schlief fast augenblicklich ein.

Sophie wurde durch das Klingeln ihres Weckers aus dem Schlaf gerissen. Einen Moment lang war sie verwirrt und erkannte die gestreifte Bettdecke nicht. Sie setzte sich auf, schaltete den Wecker aus und bemerkte ein lautes Knurren in ihrem Magen. Sie erinnerte sich, dass sie gestern den ganzen Tag, außer einem Sandwich im Zug, nichts gegessen hatte. Schnell zog sie sich an, griff nach ihrem Handy und dem Schlüsselbund und verließ das Zimmer. Die Stille im Haus war beinahe greifbar.

„Gut, dass ich nicht an Gespenster glaube“, dachte sie bei sich. Im Dunklen hatten die Wandleuchter, der verschnörkelte Teppich und die alten Gemälde an den Wänden einen leicht unheimlichen Touch.

Als sie das Hotel verließ, war sie erleichtert zu sehen, dass die Wolken sich verzogen hatten und den Himmel freigaben. Mit Vorfreude auf einen entspannten Abend schlenderte sie die Hauptstraße entlang, gespannt darauf, was der Abend noch bringen würde.

Beim Betreten des Pubs fiel ihr sofort das Namensschild „Anderson Pub“ über der Tür ins Auge. Ein Zufall vielleicht? Ihr Tourguide trug denselben Nachnamen: Anderson. Ohne weiter darüber nachzudenken und um endlich der Kälte zu entkommen, betrat sie das Lokal.

Es war größer, als es von außen vermuten ließ. Tische und Stühle waren geschickt arrangiert, sodass ein Durchgang zur Bar frei blieb. Die Wände, geschmückt mit alten Fotografien, Flaggen irgendeiner Sportmannschaft und Relikten aus der Ära der Goldgräber, verliehen dem Raum einen historischen Charakter. Schaufeln, Hämmer verschiedenster Größen und Siebpfannen zeugten von der bewegten Vergangenheit der Stadt. Auf der linken Seite des Raumes, abgetrennt durch robuste Holzpfosten, erhob sich ein Podest mit einer begrenzten Anzahl von Tischen. Außer ihr hielten sich noch fünf weitere Personen im Lokal auf. Ein Mann saß an der Bar, vertieft in ein Eishockeyspiel, das auf dem Bildschirm über dem Tresen lief.

Kurz bevor Sophie sich in dem Pub verloren fühlte, tauchte hinter der Theke eine junge Frau auf. Ein warmes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie Sophie bemerkte.

„Hallo und herzlich willkommen! Mein Name ist Lucy. Ich bringe Sie zu Ihrem Tisch“, sagte sie freundlich.

Sophie schätzte die Frau auf etwa fünfundzwanzig Jahre. Sie folgte der Kellnerin, die sie zu einem gemütlichen Tisch in der Nähe der Bar führte. Mit einer einladenden Geste forderte Lucy Sophie auf, Platz zu nehmen, und reichte ihr die Speisekarte.

„Als Tagesgericht empfehle ich Ihnen unser Steak mit Pommes. Dazu ein Bier oder vielleicht eine Limo?“, fragte Lucy.

Sophie überflog die Karte und musste sich zusammenreißen, um nicht mit den Augen zu rollen. Die Auswahl schien stark auf Fleischgerichte ausgerichtet zu sein. In diesem entlegenen Städtchen waren vegetarische Optionen wohl eher die Ausnahme. Am Ende entschied sie sich für Pommes und einen großen Salat, in der Hoffnung, dass dieser nicht aus einer Tüte kam.

Sophies Unbehagen wuchs, als sie Lucys durchdringenden Blick bemerkte. Hatte sie etwa ihre Gedanken laut ausgesprochen? Sie warf einen diskreten Blick umher – die anderen Gäste schienen jedoch keinerlei Interesse an ihrem Austausch zu zeigen.

„Habe ich etwas übersehen, oder warum sehen Sie mich so an?“, fragte sie.

Lucy zuckte zusammen, warf einen schnellen Blick zur Bar und dann wieder zurück zu Sophie. „Es tut mir leid, falls ich Sie irgendwie beunruhigt habe. Es ist nur … Wir bekommen hier in Crystal Lake selten Touristen zu sehen. Und jemand so Attraktives wie Sie fällt einfach auf. Ach, ich rede schon wieder zu viel“, sagte sie und machte ein zerknirschtes Gesicht. „Bitte sagen Sie nichts meinem Chef. Er ist wirklich nett, aber bei der Arbeit ziemlich streng.“

Als Lucy sich umdrehte, um zurück zur Theke zu gehen, hielt Sophie sie auf. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Ihrem Chef kein Wort sagen. Wir haben doch nur ein bisschen geplaudert.“

Lucy lächelte dankbar, kehrte hinter die Bar zurück und verschwand durch eine Tür mit der Aufschrift „Küche - kein Zutritt“. Sophie grübelte kurz darüber nach, warum der Inhaber des Pubs etwas gegen Gespräche zwischen der Kellnerin und den Gästen haben könnte.

Eine Viertelstunde später erkannte sie den Grund. Lucy hatte ihr die bestellte Limo gebracht und sich zu ihr an den Tisch gesetzt. Plötzlich fand sich Sophie in einem Sturm von Fragen über ihr Leben in Los Angeles wieder. Wie vermutet war Lucy eine Studentin, die den Traum hatte, in einer Großstadt zu wohnen. Sophie schien die Neugierde der Frau entfacht zu haben.

Als die Tür hinter der Bar aufging, sprang Lucy vom Stuhl und murmelte etwas von weiterer Arbeit. Sophie seufzte tief, lehnte sich zurück und begann, sich die Schläfen zu massieren. Sie überlegte, ob sie eine Kopfschmerztablette nehmen sollte.

„Ich hoffe, Lucy ist nicht der Grund für Ihre Kopfschmerzen“, unterbrach eine angenehme Stimme ihre Gedanken. Sophie blickte auf und sah einen hochgewachsenen Mann mit kariertem Hemd und schwarzer Jeans vor sich stehen. Seine breiten Schultern und markanten Gesichtszüge lenkten sie kurzzeitig ab. Bei einem Date würde er auf ihrer Skala glatte Neun von zehn Punkten erhalten.

Sie ließ ihre Hand sinken. „Nein, Lucy hat mich zwar mit Fragen gelöchert, aber die Kopfschmerzen kommen nicht von ihr. Ich bin heute erst angekommen – nach einem dreistündigen Flug, einer fünfstündigen Zugfahrt und drei Stunden Autofahrt. Meine Nerven sind gerade nicht die stabilsten“, erwiderte sie.

Der Mann hob interessiert eine Augenbraue. „Das klingt nach einer ziemlich langen Reise. Crystal Lake ist genau der richtige Ort zur Erholung, vor allem wenn man die Abgeschiedenheit und die Natur liebt. Mein Name ist übrigens Charlie Anderson, ich bin der Besitzer dieses Pubs.“

Er lächelte und streckte Sophie die Hand entgegen. Sie erwiderte sein Lächeln. Charlies fürsorgliche Ausstrahlung war genau das, was sie in diesem Moment brauchte. Sie ergriff seine Hand.

„Es ist schön, Sie kennenzulernen, Charlie. Ich heiße Sophie Baker. Aber bitte, nenn mich Sophie.“

Sie meinte, ihn bei ihrem Namen etwas breiter lächeln zu sehen, dann ließ er ihre Hand los und kündigte an, ihr Essen zu holen. Sie beobachtete ihn, bis er in der Küche verschwunden war, und atmete tief durch. Warum zum Teufel gab es so einen gut aussehenden Kerl am Ende der Welt? Er hätte ohne Weiteres in einem Modemagazin abgelichtet sein können.

Sophie kramte eine Kopfschmerztablette aus ihrer Handtasche und schluckte sie mit einem Schluck Limo hinunter. Für Alkohol war sie heute nicht bereit, schließlich musste sie morgen arbeiten.

Kurz darauf kam Charlie mit ihrem Essen zurück an den Tisch. Der appetitliche Duft ließ ihren Magen laut knurren. Peinlich berührt biss sie sich auf die Unterlippe. Doch Charlie überspielte die Situation galant, indem er ihr einen guten Appetit wünschte. Sie bedankte sich und nahm ihr Besteck in die Hand. Gerade als Charlie sich abwenden wollte, kam Sophie ein Gedanke.

„Bist du zufällig mit Noah Anderson verwandt?“, fragte sie.

Charlie blickte Sophie an und nickte bestätigend. „Ja, Noah ist mein Bruder.“

„Ich habe morgen eine Hundeschlittenfahrt bei ihm gebucht“, erwiderte Sophie.

Ein warmes Lächeln umspielte Charlies Lippen. „Dann wünsche ich dir viel Vergnügen. Ich bin mir sicher, wir sehen uns noch einmal“, sagte er, bevor er sich entfernte.

Er war also der Bruder ihres Tourguides. Sophie schmunzelte bei dem Gedanken, dass es, wenn dieser Noah genauso attraktiv wie Charlie war, schwierig werden könnte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Der Duft ihres Essens zog ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Teller. Sophie begann, hungrig ihre Mahlzeit zu verspeisen. Die Pommes waren üppig und der Salat schmeckte frisch und knackig. Als sie den letzten Bissen nahm, fühlte sie sich angenehm satt.

„Wow, das nenne ich mal eine Leistung. Sie haben ja alles aufgegessen“, sagte Lucy mit einem überraschten Blick auf ihren Teller.

Sophie fühlte sich nach dem Essen entspannter, und die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. Lucys Gesellschaft empfand sie nun nicht mehr als störend, sondern eher angenehm.

„Du kannst mich gerne Sophie nennen. Ja, ich hatte wirklich großen Hunger. Ich denke, ich werde hier noch öfter vorbeischauen, hoffentlich, ohne am Ende meiner Reise fünf Kilo mehr auf den Rippen zu haben.“

Lucy lachte, während sie den Tisch abräumte. „Das freut mich zu hören. Wie lange wirst du denn in Crystal Lake bleiben?“, fragte sie nach.

Sophie leerte ihr Glas. „Ich plane, eine Woche hier zu sein. Ist es eigentlich in Ordnung, wenn ich Fotos vom Pub mache und sie im Internet veröffentliche?“

Lucy neigte nachdenklich den Kopf. „Hmm, dazu müsste ich erst Charlie fragen. Ich bin gleich zurück.“

Mit diesen Worten räumte sie den Tisch fertig ab und verschwand in Richtung Küche. Lucy kam nach einigen Minuten zurück.

„Charlie sagt, es ist kein Problem. Er freut sich sogar über ein wenig Werbung für den Pub.“

Sophie bedankte sich und zahlte, wobei sie Lucy ein großzügiges Trinkgeld gab, das sichtlich Freude in ihren Augen aufblitzen ließ.

Draußen war es bereits dunkel geworden. Sophie machte sich, begleitet von dem spärlichen Licht einiger Straßenlaternen, auf den Weg zurück zum Hotel. Der Gedanke, alleine in dem Hotel zu übernachten, ließ sie kurz frösteln, doch sie schüttelte das Gefühl ab. Sie glaubte nicht an Geister oder das Übernatürliche.

Als sie das Hotel betrat und die Tür ihres Zimmers hinter sich abschloss, schlug ihr Herz dennoch schneller. Aber die Müdigkeit, die in ihren Gliedern lag, erwies sich als stärker als die Gedanken an ein spukendes Hotel und ließ Sophie bald in einen tiefen Schlaf fallen.

Am nächsten Morgen legte Sophie einen kurzen Stopp bei der örtlichen Tankstelle ein, um sich mit Snacks und Wasser für die bevorstehende Autofahrt einzudecken. Das Navigationssystem versprach eine zweistündige Fahrt, doch es wurden letztendlich drei. Obwohl es an diesem Tag nicht mehr schneite und der Himmel wolkenlos war, musste Sophie mehrmals anhalten, weil Wildtiere die Straße überquerten.

Die Fahrt fühlte sich an, als wäre sie der letzte Mensch auf Erden. Kein anderes Auto kreuzte ihren Weg. Die umgebende Landschaft verwandelte sich von schneebedeckten Nadelwäldern zu steil abfallenden Hängen und zugefrorenen Seen. Die Schönheit der Szenerie war atemberaubend, und es fiel Sophie schwer, nicht ständig anzuhalten, um Selfies zu schießen. „Das kann ich auch auf der Rückfahrt machen“, redete sie sich ein.

Als die Rocky Mountains mit ihren majestätischen, verschneiten Gipfeln in Sicht kamen, empfand Sophie, trotz ihres normalerweise geringen Interesses an Wanderungen und Natur, eine Art Ehrfurcht vor dieser imposanten Kulisse.

Nach einer langen Fahrt bog Sophie endlich von der Straße auf einen hügeligen Weg ab. Im Gegensatz zur gut geräumten Hauptstraße war dieser Pfad offensichtlich noch nicht vom Schneepflug besucht worden. Sie betete innerlich, nicht im Schnee stecken zu bleiben, und hoffte, dass ihr Navi sie nicht in die Irre führte. Die Vorstellung, sich in der Wildnis Kanadas zu verirren, war alles andere als beruhigend.

Zwischen den dichten Tannen tauchte ein Holzhaus auf. Sie steuerte darauf zu und parkte neben einem blauen Transporter. Erleichtert, endlich angekommen zu sein, stieg sie aus und blickte sich um. Die Hütte vor ihr hatte einen rustikalen Charme, aus dem Kamin rauchte es. Neben dem Haus befand sich ein moderner Anbau mit einem Flachdach. Hinter dem Gebäude gab es einen eingezäunten Bereich, in dem mehrere Hunde aufgeregt herumrannten und bellten. Sophie vermutete, dass sie am richtigen Ort angelangt war, auch wenn ein Wegweiser an der Hauptstraße sicher hilfreich gewesen wäre.

Sophie folgte dem freigeschaufelten Pfad, der zur Eingangstür des Hauses führte. Der Schnee hier draußen reichte ihr bis zu den Knien – eine deutliche Veränderung im Vergleich zu Crystal Lake, wo die Schneemasse gerade mal bis zu ihren Knöcheln reichte. Vorsichtig, um nicht auszurutschen, erreichte sie die Tür. Eine Klingel war nirgends zu sehen, ebenso wenig ein Namensschild oder ein Hinweis darauf, dass sie am richtigen Ort war. Sie klopfte an die Tür. Ob das Geräusch wohl im Inneren des Hauses zu hören war? Sophie trat ein paar Schritte zurück und versuchte, durch die Fenster zu spähen, aber dicke Vorhänge verdeckten ihr die Sicht. Sie ging zur Tür und klopfte energischer gegen das Holz.

Genervt trat sie von einem Fuß auf den anderen und zog ihr Handy hervor, um noch einmal Ort und Uhrzeit zu überprüfen. Alles stimmte. Wo blieb dieser Noah Anderson? Sie hatte einen Termin und konnte es nicht ausstehen, wenn sich Menschen verspäteten.

„Hallo? Mr. Anderson? Sind Sie zu Hause?“, rief sie und klopfte erneut. „Ich bin Sophie Baker, wir haben einen Termin miteinander vereinbart.“

Nach weiteren fünf Minuten des Wartens ließ sie ihrem Ärger freien Lauf und trat gegen einen nahestehenden Schneehaufen. „Haben Kanadier keine Ahnung von Zuverlässigkeit oder Pünktlichkeit? Wie kann er es wagen, mich hier einfach stehen zu lassen? So ein Idiot.“

„Wen bezeichnen Sie hier als einen Idioten.“

Sophie zuckte zusammen, als sie die fremde Männerstimme hörte. Mit einem erschrockenen Aufschrei drehte sie sich um. Für einen kurzen Moment blickte sie direkt auf eine nackte Männerbrust, was angesichts der eisigen Temperaturen völlig absurd erschien. Doch dann hob sie den Kopf und sah in das Gesicht des Mannes. Seine braunen Augen, durchzogen von bernsteinfarbenen Sprenkeln, fesselten sofort ihre Aufmerksamkeit. Sie bemerkte nur kurz seinen Dreitagebart und die dunkelblonden Haare, bevor ihr Blick unfreiwillig zu seinen geschwungenen Lippen wanderte. Trotz der kalten Luft um sie herum fühlte Sophie sich in ihrer Skijacke unerträglich heiß.

Hastig wandte sie den Blick ab und bemerkte aus dem Augenwinkel seine muskulösen Arme, die Holzscheite festhielten. Ein Tattoo zog ihre Aufmerksamkeit auf sich: der Kopf eines Wolfes, der, umgeben von kahlen Bäumen, zum Vollmond heulte. Das Bild wirkte traurig, als wäre der Wolf von Schmerz erfüllt.

Der Mann bewegte sich und brach den Zauber, den sein Tattoo auf sie ausübte. Warum starrte sie diesen Fremden an? Noch vor wenigen Minuten war sie überzeugt von ihrem Single-Dasein gewesen, und nun konnte sie ihren Blick kaum von dem Kerl vor ihr lösen. Sophie hatte geahnt, dass Kanada Herausforderungen für sie bereithalten würde, aber mit einem heißen, halb nackten Mountain Man hatte sie nicht gerechnet.

Noah

Noah staunte nicht schlecht über den kunterbunten Kanarienvogel, der da vor seiner Tür stand und ihn einen Idioten nannte. Er ließ die Holzscheite zu Boden fallen und beobachtete mit einer Spur von Genugtuung, wie die Frau einen Schritt zurückwich. Er war es gewohnt, dass seine distanzierte Art ihm Ärger einbrachte, doch ließ er sich von einer Beleidigung nicht so leicht aus der Ruhe bringen.

Entschlossen trat er auf die Frau zu, und es amüsierte ihn, wie ihre Augen bei jedem seiner Schritte größer wurden. Ihr anfängliches Starren war ihm nicht entgangen, doch es beeindruckte ihn, dass sie keinen Zentimeter zurückwich, als er direkt vor ihr stehen blieb. Der Duft ihres Parfüms umwehte ihn, blumig und in der schneebedeckten Berglandschaft fehl am Platz.

„Wenn Sie nicht zur Seite treten, kann ich die Tür nicht öffnen. Wollen Sie, dass ich hier erfriere? Ich mag ja hart im Nehmen sein, aber auch mir wird irgendwann kalt“, sagte er mit einem leicht spöttischen Unterton und musterte ihre auffällige Erscheinung: die pinke Jacke, die weiße Hose, die rosa Handschuhe und die mit Pailletten besetzte Mütze.

Die Frau warf einen Blick von Noah zur Haustür und wich dann einen Schritt zurück.

„Kommen Sie rein und machen Sie die Tür hinter sich zu“, sagte Noah, während er die Tür öffnete und eintrat, ohne sich umzusehen, ob sie folgte. Er zog seine Schuhe im Flur aus und bewegte sich in Richtung Wohnbereich. Hinter ihm hörte er leise Schritte – die Frau war ihm gefolgt.

Als er sich ihr im Wohnzimmer zuwandte und auf das Sofa vor dem Kamin deutete, sagte er: „Setzen Sie sich.“

Sie nahm auf der Kante des Sofas Platz, aufrecht und angespannt, und ließ ihren Blick kurz durch den Raum huschen. Noah griff sein Hemd vom Sessel, zog es an, ohne die Knöpfe zu schließen, und positionierte sich so, dass sie zu ihm aufblicken musste.

„Nun“, begann er mit fester Stimme, „erzählen Sie mir, was Sie hierherführt und wer Sie sind.“

Die Frau zog die Schultern zurück und richtete sich kerzengerade auf. „Ich heiße Sophie Baker. Unter dem Namen Sophieuniversum bin ich als Influencerin bekannt. Ich hatte eine Schlittentour bei Ihnen gebucht. Erinnern Sie sich nicht an die E-Mail?“

Noah grübelte nach, während er Sophie aufmerksam musterte. „Entschuldigung, aber da muss ein Missverständnis vorliegen. Ich kann mich nicht an Sie erinnern, und Ihr Name sagt mir nichts.“

Er bemerkte das Kennzeichen ihres Mietwagens und ihre gepflegten Fingernägel sowie ihre teure Kleidung, was ihn zu dem Schluss brachte, dass sie eine Touristin sein musste, die sich verirrt hatte.

„Meine Reaktion war der begrenzten Zeit geschuldet“, gestand Sophie, während sie ihre Beine überschlug und die Hände im Schoß zusammenlegte.

„Ich habe definitiv keine Buchung vorgenommen“, beharrte Noah.

Sophie fasste sich genervt an die Stirn und seufzte tief. „Ich habe wirklich keine Zeit für solche Spielchen.“ Mit diesen Worten sprang sie auf, kramte ihr Handy aus der Jackentasche und begann, hastig darauf herumzutippen. Leise fluchend und sichtlich frustriert biss sie sich auf die Unterlippe. „Ihre E-Mail-Adresse endet auf @n.anderson, richtig?“ Sie streckte Noah das Handy entgegen, sodass er den Bildschirm sehen konnte.

Einen Moment lang blickte Noah von ihr zum Handydisplay und las die angezeigte E-Mail. In seinem Kopf begannen sich die Puzzleteile zu einem Bild zusammenzufügen. Plötzlich sprang er auf und eilte in sein Büro, wobei er sorgfältig die Tür hinter sich schloss, damit die Frau keinen Einblick erhielt. Kurz darauf kehrte er mit seinem eigenen Handy zurück und wählte die Nummer seines Bruders Charlie.

„Was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?“, erklang Charlies Stimme aus dem Handy.

„Spar dir dein unschuldiges Getue. Du hast mir diesen Ärger eingebrockt“, entgegnete Noah, nun mit Gewissheit, dass sein Bruder etwas mit der Situation zu tun haben musste.

„Sieh doch nicht immer alles so schwarz, Noah. Ich habe Sophie getroffen, und sie ist wirklich nett“, verteidigte Charlie sich.

Noah fragte sich, warum sein Bruder die Frau beim Vornamen nannte. „Nur weil du Zugriff auf mein E-Mail-Konto hast, heißt das noch lange nicht, dass du in meinem Namen Buchungen vornehmen darfst.“

Noah war zwar anfangs dankbar gewesen, als Charlie ihre E-Mail-Konten miteinander verknüpft hatte, doch dass sein Bruder nun eigenmächtig in seinem Namen antwortete, überschritt eine Grenze.

Charlie seufzte hörbar. „Ich bin zufällig über Sophies Anfrage nach einer Schlittentour gestolpert, als ich mein eigenes Postfach aufräumte. Sie schien so begeistert von der Idee. Ich konnte ihr einfach nicht absagen.“

Über das Handy hörte Noah, wie Charlie schmunzelte. „Findest du das etwa lustig? Sie ist jetzt hier, und ich weiß nicht, was ich tun soll“, entgegnete Noah und warf einen Blick zu Sophie, die sich wieder auf das Sofa gesetzt hatte und ihn aufmerksam beobachtete.

„Du fragst ernsthaft, was du tun sollst? Mann, Noah, du bist echt zu lange allein draußen gewesen.“

Noah konnte nicht anders, als laut zu fluchen.

„Du wirst die Tour machen, ordentlich Geld verdienen und deinen Tourguide-Charme ausspielen. So einfach ist das“, erklärte Charlie mit einer Selbstverständlichkeit, die Noah beinahe zur Weißglut brachte. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass sein Bruder recht hatte. Die finanzielle Lage war angespannt, die Hunde und die laufenden Kosten verschlangen sein Erspartes. Was ihm jedoch wirklich Sorgen bereitete, war der Gedanke, mit Sophie Baker Small Talk führen zu müssen. Schon die Vorstellung daran löste Unbehagen in ihm aus. Wie lange war es her, dass er grundlegende Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatte?

Noah richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch. „Ihr habt nicht das Recht, euch in mein Leben einzumischen.“

Charlie schnaubte. „Du bist unser Bruder. Natürlich mischen wir uns ein, besonders wenn wir glauben, dass du unsere Hilfe brauchst. Also, pass auf dich auf und versuch, ein bisschen Spaß zu haben“, sagte er, bevor er das Gespräch beendete.

Noah nahm das Handy vom Ohr und starrte es an. Ihm war bewusst, dass sich seine Brüder um ihn sorgten. Schließlich hatte er sich in seinem Haus völlig zurückgezogen. Trotz seiner Dankbarkeit für ihre Sorge, fragte er sich, wann sie begreifen würden, dass er die Einsamkeit Kanadas mit seinen Hunden bevorzugte.

„Ist alles geklärt? Werden wir die Tour machen können?“, fragte Ms. Baker und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

Mit einem tiefen Seufzer steckte Noah das Handy weg und blickte auf. „Ja, die Tour findet statt.“

Erleichterung und ein strahlendes Lächeln huschten über ihr Gesicht, doch als ihre Blicke sich trafen, wandte Noah sich rasch ab.

„Ich bin gleich zurück“, murmelte er und eilte nach oben, um sich umzuziehen.

Als er wieder hinunterkam, stand Ms. Baker an der Haustür, bereit, sie zu öffnen. Doch Noah stellte sein Bein davor, dann trat er dicht an sie heran und hielt ihr seine Hand hin. „Der Preis für die Tour hat sich verdoppelt. Ich möchte die Hälfte im Voraus“, erklärte er.

Ms. Baker hob überrascht die Augenbrauen. „Wie bitte?“, entwich es ihr ungläubig.

„Wenn ich diese Tour durchführen soll, benötige ich einen Vorschuss. Sie haben diese Buchung hinter meinem Rücken mit meinem Bruder getätigt. Ich fühle mich übergangen, also wäre eine Vorauszahlung das Mindeste. Die restliche Zahlung erfolgt nach der Tour. Betrachten Sie es als eine Art Entschädigung, da ich ursprünglich nicht derjenige war, der den Termin vereinbart hat.“

Sophie verschränkte die Arme. „Mein Geldbeutel ist im Hotel. Ich werde Ihnen das Doppelte vom abgemachten Preis zahlen, allerdings geht das nur als Überweisung, und es wäre nett, wenn wir endlich starten würden. Wir haben schon genug Zeit vertrödelt.“

Noah erkannte, dass eine Zahlung per Banküberweisung praktischer wäre, und war enttäuscht, kein Bargeld zu erhalten. Doch dann kam ihm eine Idee.

„Ich nehme auch einen Kuss von Ihnen als Anzahlung entgegen“, sagte er und beobachtete, wie ihre Augen größer wurden. Bei dem Anblick, wie sie sich auf die Lippen biss, beugte er sich zu ihr vor. Ein leises Ziehen, eine Mischung aus Nervosität und Vorfreude, machte sich in ihm breit. „Entschuldige, wie war dein Name noch gleich? Sophie, richtig? Ich denke, wir können beim Du bleiben. Ich bin Noah.“

Sophie nickte, und er war versucht, ihre Verwirrtheit auszunutzen und den Kuss einzufordern, nur um zu erfahren, ob ihre Lippen so weich waren, wie sie aussahen. Er verbarg sein Grinsen, indem er sich abwandte, zog seine Jacke und Stiefel an und setzte die Mütze auf.

Als er die Tür öffnete, trat Sophie ihm in den Weg. „Ich hoffe, das war nur ein Scherz“, sagte sie mit einem selbstbewussten Funkeln in den Augen. „Ich würde eher einen Elch küssen, als auf so einen Vorschlag einzugehen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ das Haus.

Noah blieb einen Moment lang überrascht stehen. Es war selten, dass jemand ihm so direkt entgegentrat, und es imponierte ihm, dass Sophie ihre Meinung so klar äußerte. Mit einem Schmunzeln folgte er ihr in den Schnee hinaus und schloss die Tür.

„Pass nur auf, was du dir wünschst. Elche gibt es hier tatsächlich genug, aber ich bezweifle, dass du bei ihnen mit einem Kuss viel Erfolg haben wirst.“ Noahs Lachen hallte in der kalten Luft nach, während er zum Lager ging und hörte, wie Sophie ihm fluchend folgte.

Während sie draußen wartete, holte Noah den Hundeschlitten aus dem Schuppen. Das Aluminiumgestell glänzte im Licht, und die Metallkufen versprachen eine sanfte Fahrt über den Schnee. Der Schlitten war so konzipiert, dass man darauf sitzen oder Ausrüstung transportieren konnte. Ein robuster Eisenhaken, der Anker, verhinderte, dass die Hunde davonlaufen konnten. Noah trat den Anker fest in das Eis, um den Schlitten sicher zu verankern. Er breitete die Zugleine vor dem Schlitten aus, somit war auf den ersten Blick klar, wo die Hunde mit ihren Geschirren angeleint wurden.

Als Noah sah, wie Sophie zu ihrem Mietwagen ging, keimte kurz die Hoffnung in ihm auf, dass sie die Idee vielleicht doch noch aufgeben würde. Aber sie kam mit einer Kamera und einem Rucksack zurück. „Ist es in Ordnung, wenn ich während der Fahrt Fotos und Videos mache?“, erkundigte sie sich.

„Von mir aus, aber achte darauf, dass ich nicht mit drauf bin“, gab Noah zurück.

„Keine Sorge, das Letzte, was ich möchte, ist, dich auf meinen Bildern zu haben“, entgegnete Sophie mit leichtem Spott in der Stimme und begann, den Schlitten und die Umgebung zu fotografieren.

Noah konnte sich nicht erklären, warum Sophies spitze Bemerkungen ihn so sehr aus der Fassung brachten. Im Grunde genommen war es ihm ja gleichgültig, wie viele Fotos sie schoss – das gab ihm die Gelegenheit, sich auf die Hunde zu konzentrieren und die Vorbereitungen in aller Ruhe abzuschließen. Er war fest entschlossen, die Tour so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Das Wetter war zwar sonnig und Schnee fiel auch nicht, doch er hatte keine Lust mit dem Schlitten in die Dunkelheit zu geraten. Die Vorstellung, bei Nacht mit dem Schlitten unterwegs zu sein, war alles andere als verlockend.

Noah steuerte auf den Hundezwinger zu, irritiert darüber, dass Sophie ihm folgte. Er hatte keine Zeit, sie darauf anzusprechen, bevor sie hinter ihm den Zwinger betrat. Das Rudel wurde sofort aufmerksam, und ehe Noah eingreifen konnte, war Sophie von Summer, Cookie und Sky umringt. Die drei jüngsten Hunde sprangen bellend an ihr hoch, während Sophie versuchte, ihre Kamera über dem Kopf in Sicherheit zu bringen. Noahs Kommando ging im Lärm unter, die Hunde schienen ihn zu ignorieren. Rasch war er an Sophies Seite, zog Summer und Cookie am Halsband zurück und ein kurzes Pfeifen genügte, um auch Sky zur Räson zu bringen. Sky sah ihn mit schief gelegtem Kopf an, und Noah musste sich zusammenreißen, um dem bettelnden Blick zu widerstehen. Skys Augen, von denen eines blau, das andere gelb war, erinnerte ihn schmerzlich an Abby, seine treue Gefährtin, die er vor zwei Jahren hatte gehen lassen müssen. Ihre Welpen waren in das Rudel integriert worden, doch manchmal fragte er sich, ob sie ihre Mutter vermissten. Der Gedanke an seine eigene Mutter verursachte einen Stich in seiner Brust.

Er beobachtete Sophie, die nun Fotos von den Hunden und dem Gehege machte, dann die Kamera senkte und seinen Blick bemerkte. Trotz der unerwarteten Umstände war Noah erleichtert, dass Sophie nicht die typische Großstädterin war, die bei einem solchen Ansturm wahrscheinlich panisch reagiert hätte.

„Brauchst du Hilfe?“, erkundigte sich Sophie.

Noah schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Es wäre besser, wenn du den Zwinger verlässt. Du bringst das Rudel durcheinander.“

Sie spitzte die Lippen, doch statt einer Erwiderung verließ sie den Zwinger.

Noah ließ erleichtert die Halsbänder von Summer und Cookie los, und die beiden stürmten sofort in den Schnee. Der offene Außenzwinger bot den Hunden trotz der Kälte genug Freiraum, und ihr dichtes Fell hielt sie warm. Bei Bedarf konnten sie sich jederzeit in den wärmeren Innenbereich zurückziehen.

„Heute brauche ich die erfahrensten unter euch“, murmelte Noah, während er den fünf auserwählten Hunden die Geschirre anlegte. Einer nach dem anderen führte er sie zum Schlitten und befestigte sie an der Zugleine. Er wies sie an, sich hinzulegen, und die Hunde gehorchten ihm aufs Wort. Falco und Stella positionierte er direkt vor dem Schlitten, sie bildeten die Basis des Teams. Lucky und Momo in der Mitte sorgten für Richtung und Tempo. An der Spitze befestigte er Chico, den ältesten Rüden, der über die beste Koordination verfügte.

Die Hunde bellten aufgeregt und wedelten erwartungsvoll mit den Schwänzen, bereit für das Abenteuer. Noah bewunderte stets die Energie und Agilität seiner Huskys, die perfekt an die harschen Bedingungen der kalten Jahreszeit angepasst waren.

„Setz dich auf den Schlitten und halte dich fest. Nicht dass du in den Kurven herunterfällst“, sagte er, während er selbst auf die Trittfläche des Schlittens stieg.

Sophie kam seiner Aufforderung nach und nahm Platz, ohne einen Kommentar abzugeben. Für einen Moment vermisste Noah ihre schlagfertigen Antworten, doch dann konzentrierte er sich wieder auf die bevorstehende Fahrt. Er hob den Anker an und umklammerte den Lenker fest mit seinen behandschuhten Händen, ein Gefühl von Kontrolle und Vertrautheit durchströmte ihn.

Kapitel 2

Sophie

Zarte Schneeflocken tanzten zwischen den Baumkronen herab, und obwohl es deutlich kälter geworden war, verzauberte sie die Pracht des Winterwaldes. Beim Einsteigen in den Schlitten hatte sie die Mini-Kamera an ihrem Jackenkragen befestigt und eingeschaltet. Als Noah das Kommando gegeben hatte und die Hunde zu laufen begannen, hatte Sophie sich an den hölzernen Lehnen des Schlittens festgehalten.

Die fast gespenstische Stille des Waldes hielt sie in ihrem Bann. Abgesehen vom Hecheln und den Pfoten der Hunde auf dem Schnee, dem sanften Gleiten des Schlittens und Noahs gelegentlichen Anweisungen gab es keine weiteren Geräusche. Es war, als hätten sie eine andere Welt betreten, meilenweit entfernt von dem Lärm und der Hektik, die Sophie kannte.

Als das Tempo nachließ und sie anhielten, stieg Noah hinter ihr vom Schlitten und trat an ihre Seite.

„Hier kannst du deine Fotos machen. Du hast eine halbe Stunde Zeit“, informierte er sie. Anschließend widmete er sich den Hunden, um ihre Pfoten zu überprüfen.

Sophie schluckte die aufkommende Schimpftirade, die ihr auf der Zunge lag, hinunter. Sie fragte sich, wie sie nur an so einen mürrischen Kerl wie Noah geraten war. Immerhin bezahlte sie für diese Tour und erwartete zumindest ein Minimum an Höflichkeit. Doch aus Sorge, er könnte sie womöglich im Wald zurücklassen, beschloss sie, ihre Meinung für sich zu behalten.

Mit zusammengepressten Lippen stieg sie vom Schlitten und ließ ihren Blick über die Lichtung schweifen. Sie befanden sich in einem nahezu vollständig von Bäumen umschlossenen Areal, lediglich ein Hang durchbrach die grüne Umrandung. Bei genauerer Betrachtung entdeckte Sophie Eiszapfen am Steilhang, die in ihrer Länge mit ihrem Arm mithalten konnten. Sie machte Fotos von der Landschaft, machte auch Selfies und ein kurzes Video von sich. Sophie nahm vorsichtig ihr Stativ aus dem Rucksack und positionierte es im Schnee, zwei Meter entfernt von sich. Sie achtete darauf, dass ihre hochwertige Skijacke und Hose makellos saßen. Die rosafarbene Skibrille schob sie lässig auf ihren Kopf und warf sich den hundert Dollar teuren Rucksack einer bekannten Outdoor-Marke über die Schultern.

Nachdem sie den Selbstauslöser ihrer Kamera aktiviert hatte, nahm sie selbstbewusst vor dem eisigen Hang Aufstellung. In diesem Moment vergaß sie vollkommen, dass sie allein in einem fremden Land, umgeben von der Wildnis des Waldes, stand. Ihre Kindheitserinnerungen, in denen sie stundenlang mit ihrem blauen Sonnenhut und der Sternensonnenbrille vor dem Spiegel posiert hatte, kamen ihr in den Sinn. Damals hatte sie sich noch über ihre breite Zahnlücke geärgert, eine Sorge, die ihre Mutter mit viel Geduld ertragen hatte, besonders als Sophie im Alter von sieben Jahren nichts sehnlicher wünschte, als dass die Zahnfee ihr ihre Zähne zurückbringen möge. Heute konnte sie darüber lachen.

Die ersten Fotos waren im Kasten, als plötzlich das Stativ umkippte und die Kamera im Schnee landete. Sophie stapfte durch den tiefen Schnee, um es wieder aufzurichten. Doch kaum hatte sie sich erneut in Position gebracht, kippte die Kamera ein weiteres Mal um. Ein genervtes Stöhnen entwich ihr.

Schließlich griff Noah nach dem Stativ und richtete es auf. „Ich halte die Kamera, damit wir nicht ewig hierbleiben“, bot er an, während er durch das Objektiv zu ihr blickte.

Sophie überlegte einen Moment, wo der Haken an seiner Hilfsbereitschaft war. Aber wahrscheinlich wollte er die Tour nur so schnell wie möglich beenden.

Sie stellte die Werbeartikel zur Schau und versuchte zu verdrängen, dass Noah sie fotografierte. Die Qualität der Aufnahmen war ihr wichtig, und sie hoffte, dass die Bilder trotz der ungewohnten Umstände scharf sein würden.