Rom, Träume - Maike Albath - E-Book

Rom, Träume E-Book

Maike Albath

0,0

Beschreibung

Die vielleicht schönsten Seiten der italienischen Nachkriegsgeschichte wurden in Rom zur Zeit der Dolce Vita, der fünfziger und sechziger Jahre geschrieben. Fellini und andere drehten in Cinecittà, auf der Via Veneto drängelten sich Hollywood-Stars. Das Antlitz der Zeit aber wurde geprägt von den Freunden um Elsa Morante, Alberto Moravia, Carlo Emilio Gadda, Ennio Flaiano und Pier Paolo Pasolini. Sie mischten sich mit polarisierender Stimme in das politische und kulturelle Geschehen. Mit ihren Büchern und heiß umstrittenen Filmen schrieben sie ein bis heute unvergängliches Kapitel italienischer Kulturgeschichte. Maike Albath macht in ihrem Buch, in dem viele Zeitzeugen zu Wort kommen, die unvergleichlich kreative Atmosphäre jener römischen Jahre noch einmal fühlbar.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 420

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Maike Albath

ROM,

TRÄUME

Moravia, Pasolini,Gadda und die Zeitder Dolce Vita

BERENBERG

Vorbemerkung

IM SANATORIUM

VIA VENETO

Das Leben der Boheme

DIE NEUEN BÜRGER

Familie Pincherle

LANGEWEILE

Alberto Moravia und »Die Gleichgültigen«

TESTACCIO

Im Bauch von Rom

ABENDS IM CAFÉ

Piazza del Popolo

VIA DELLA PAGLIA

Die Zeit der Fahrraddiebe ist vorbei

CAMPO DE’ FIORI

Die bittere Stadt

LEIDENSCHAFT UND IDEOLOGIE

Pier Paolo Pasolini

DIE HERRLICHEN EIGENTÜMER DER NACHT

Pasolini entdeckt Rom

DIE LIEBE IN ITALIEN

Comizi d’amore

AM WASSERFLUGHAFEN VON OSTIA

Tod eines Freibeuters

NUR DIE EINZELGÄNGER VERSTÄNDIGEN SICH

Andrea Zanzotto und Pier Paolo Pasolini

ROHRSYSTEME UND VERSORGUNGSSCHÄCHTE

Der Ingenieur Carlo Emilio Gadda

»LASSEN SIE MICH IM SCHATTEN!«

Gaddas Enkel

DIE EINSAMKEIT DES SATIRIKERS

Ennio Flaiano

DAS BITTERSÜSSE LEBEN

La dolce vita

FINALE: FRAUEN IN ROM

Franca Valeri

Literatur / Bildnachweise

Vorbemerkung

Auf einem Flohmarkt am Rand der Stadt oberhalb des Piazzale Ennio Flaiano fuhr eines Sonntags im November 2011 ein Lastwagen vor. Nachdem der Händler die Plane zurückgeschlagen hatte, sammelten sich bald neugierige Besucher vor seinem improvisierten Stand. Was gab es hier zu kaufen, zum Sonderpreis von fünf Euro? Helme römischer Soldaten, Kopfbedeckungen in silbriger Farbe, die ein bisschen stumpf geworden war. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich das Material als Gummi. Irgendwie kamen einem diese Kappen bekannt vor. Der ganze Lastwagen war voll, Hunderte von Helmen, übereinander gestapelt. Familienväter griffen zu, ein paar Zehnjährige tobten als Krieger über den staubigen Platz, afrikanische Mütter zogen die Verwendung als Regenhut in Betracht, manch einem mochten schon die Karnevalsfestivitäten im nächsten Jahr durch den Kopf gehen. Jedenfalls dauerte es nur wenige Stunden, und schon war die gesamte Ladung verkauft. Für den Händler war es ein kleiner Coup: Seine Ware stammte aus dem Kostümfundus von Cinecittà, den Filmstudios an der Via Tuscolana, und er hatte einen Großeinkauf gewagt. Auf den leeren Kisten konnte man einen Schriftzug erkennen: »Ben Hur«.

Die Gummikappen der Soldaten aus William Wylers Kolossalfilm Ben Hur, der 1959 in Rom gedreht wurde, legen eine Spur. Sie führt zu einem wichtigen Kapitel der italienischen Kulturgeschichte und reicht bis in die Via Veneto, wo sich seit der Nachkriegszeit Produzenten, Regisseure, Schauspieler, Reporter und Schriftsteller trafen. Die Amerikaner unter ihnen hatten sich in den verglichen mit ihrer Heimat viel billigeren Hotels der Straße einquartiert. Auch in den Studios von Cinecittà musste man nur einen Bruchteil der Kosten bezahlen, die in Kalifornien verlangt wurden. Wegen der zahlreichen amerikanischen Produktionen in den Studios von Cinecittà sprach man damals von »Hollywood am Tiber«. Der Schriftsteller Ennio Flaiano arbeitete Anfang der fünfziger Jahre mit William Wyler zusammen, aber er war vor allem Drehbuchautor italienischer Regisseure. Genau wie alle anderen verabredete auch er sich mit seinen Freunden auf der Via Veneto, und deshalb lag es nahe, ausgerechnet diese Straße zum Schauplatz eines neuen Films zu machen. Gemeinsam mit Tullio Pinelli und Federico Fellini schrieb er 1958 das Drehbuch für La dolce vita. Der Film lieferte eine scharfe Abrechnung mit der gerade entstehenden Mediengesellschaft und provozierte bei seinen ersten Aufführungen 1960 einen ungeheuren Skandal. Es gab wochenlange Debatten; Kirche und Adel riefen nach Zensur, gleichzeitig brachen die Zuschauerzahlen alle Rekorde. Der ironische Titel La dolce vita galt bald international als Chiffre für das ganze Land und steht heute für italienische Lebensart und Stilbewusstsein. Kritik wurde in Affirmation umgemünzt. Sogar Silvio Berlusconi rechtfertigte seine vor Gericht verhandelten Exzesse mit den Worten »Io amo la dolce vita«, er liebe nun einmal la dolce vita.

Rom, Träume zeichnet ein Epochenbild. Im Mittelpunkt stehen fünf römische Schriftsteller, deren Biographien für die Zeit von La dolce vita exemplarisch sind. Alberto Moravia erlangte damals Weltruhm und wurde zu einer öffentlichen Institution. Seine Ehefrau Elsa Morante schrieb Romane, die sich den gängigen Kategorien entzogen, und landete mit ihrer Kriegschronik La Storia einen überraschenden Bestseller. Ihr gemeinsamer Freund Pier Paolo Pasolini bediente verschiedene Genres, löste tiefen Hass aus und wurde ebenso leidenschaftlich verehrt. Er war der große Entdecker der borgate, der Vorstädte. Der Mailänder Ingenieur Carlo Emilio Gadda, Tischgenosse bei gemeinsamen Abendessen, legte mit seiner spitzfindigen Kriminalgeschichte Die grässliche Bescherung in der Via Merulana ein überberstendes Rom-Tableau und eine Parabel auf Italien vor. Und Ennio Flaiano gewann mit einem Roman über den Krieg in Abessinien den ersten Premio Strega und machte sich als Aphoristiker, Dramatiker und Filmautor einen Namen. Immer wieder kam es zu Verbindungen zwischen Kino und Literatur. Der Film bot einen Broterwerb und war ein Experimentierfeld für neue Erzähltechniken. Die Übergänge zwischen den Sphären waren fließend. Jeder hatte einen eigenen Traum von Rom im Kopf.

Maike Albath, Berlin, im Mai 2013

IM SANATORIUM

Die Betten wurden jeden Morgen um acht Uhr auf den Balkon geschoben. Um elf kehrten die Kranken in ihre Zimmer zurück. Sonnenstrahlen auf nackter Haut galten als neues Heilmittel gegen Knochentuberkulose, und bei vielen schlug die Therapie tatsächlich an. Kombiniert mit bleiernen Streckverbänden, Liegekuren und orthopädischen Vorrichtungen, die man am Körper trug, ließ sich die schwere Krankheit sogar heilen. Alberto Pincherle, 1907 in Rom geboren und seit seinem zehnten Lebensjahr immer wieder bettlägerig, fühlte sich nach seiner Ankunft im Sanatorium Codivilla in Cortina d’Ampezzo im Frühjahr 1924 schlagartig besser. Seine Schmerzen verschwanden.

Das Codivilla war im ehemaligen Hotel des Alpes untergebracht. Die großzügigen Veranden, Loggien und hölzernen Balkons erinnerten noch an den Hotelbetrieb. Von den Zerstreuungen des mondänen Wintersportortes in den Dolomiten war in dem fortschrittlichen Sanatorium allerdings nichts zu spüren. Es herrschte ein strikter Tagesablauf: Nach dem Sonnenbaden kam Professor Vacchelli zur Visite. Vacchelli eilte den Korridor hinunter, und man hörte seine Stimme schon aus der Ferne, die beflissenen Antworten der Krankenschwestern waren nicht zu verstehen. Der Professor trat an ein Bett, ließ sich die Karteikarte reichen, sagte ein oder zwei Sätze, verschwand wieder. Anschließend gab es Mittagessen. Bis zum Abendessen um zwanzig Uhr blieben die Patienten sich selbst überlassen. Alberto war allein; seine Familie lebte in Rom. Großbürgertum mit einem Haus in der Via Donizetti, unweit der Villa Borghese. Der Vater stammte ursprünglich aus Venedig, ein jüdischer Architekt, arbeitsam, mit unerschütterlichen Gewohnheiten und einer Passion für harmonische Linienführung, aber nervös und leicht reizbar. Er baute Häuser im französischen Stil, eines konnte man aus dem oberen Stockwerk der Via Donizetti sogar sehen, es stand in der Via Salaria. Seine dunkelhaarige Frau kam aus bescheideneren Verhältnissen und war stolz auf ihren sozialen Aufstieg. Allerdings langweilte sie sich oft, denn verheiratete Damen blieben abends zu Hause. Manchmal begleitete der Architekt sie ins Theater oder die Oper. Signora Pincherle entließ jede Woche Personal. Sie beschäftigte Gouvernanten, Dienstmädchen und eine Köchin. Nur ihren Schneiderinnen blieb sie gleichmäßig gewogen; sie gab Unmengen von Geld für ihre Garderobe und Hüte aus. Vormittags trug sie seidene Morgenmäntel mit Spitze, dann half ihr eines der Mädchen beim Ankleiden: lange Gewänder aus Organza mit Puffärmeln, alles nach der neuesten Pariser Mode. Ab und zu richtete sie Abendessen aus und führte ihre Töchter vor. Außerdem kümmerte sie sich natürlich um ihren jüngsten Sohn Gastone, der zur Schule ging. Für regelmäßige Besuche war Cortina zu weit weg.

»Solo col sole« schrieb Alberto eines Tages auf eine staubige Fensterscheibe, »allein mit der Sonne«. Er lag in der ersten Klasse, wo es Einzelzimmer gab, in der dritten Klasse hätte es ihm vermutlich besser gefallen: Die Patienten spielten Karten, unterhielten sich und gaben Lieder aus ihren Heimatorten zum Besten. Alberto las. Die Nachmittage verbrachte er mit Büchern, die ihn aus der florentinischen Leihbibliothek Gabinetto Vieusseux erreichten: Dostojewski, Tolstoi, Rimbaud, Dickens. Eines Tages entschied der Professor, dass der junge Mann Gesellschaft brauche. Er ließ das Bett über den Korridor rollen, und Alberto schloss Freundschaft mit seinem Zimmernachbarn. Ein junger Herr aus Triest mit habsburgischen Manieren, Sohn eines Schneiders, älter als Alberto und voller Lebensgier. Mit seinem angenehmen Äußeren, der ausgesuchten Garderobe und einem Monokel, das er sich lässig in die Augenhöhle klemmte, was Alberto sofort nachahmte, hatte er einen Schlag bei Frauen. Die Krankenschwestern rissen sich um seine Pflege und versorgten ihn zu den Mahlzeiten immer als Ersten. Seine Familie reiste regelmäßig aus Triest an und belagerte den Kranken, sogar die amerikanische Verlobte des Bruders kam mit einem Chauffeur aus Paris; dauernd gab es Abwechslung. Als es den beiden jungen Männern endlich besser ging, Alberto nach Bressanone ins Hotel übersiedelte und nur noch tagsüber zu Behandlungen ins Krankenhaus musste, bestellte der Triestiner eine Droschke und dirigierte sie zu einem, wie es damals hieß, »Haus der Toleranz« am Stadtrand. Auf Krücken humpelten die Freunde in die Villa, und der Ältere suchte für Alberto eine geeignete Frau aus. Die diensthabende Dame wunderte sich, dass ihr Kunde zuerst einen orthopädischen Apparat von der Hüfte schnallen musste, aber dann verlief alles nach Plan. Es dauerte nur ein paar Tage, da schrieb er morgens im Liegen einen Satz auf ein Blatt Papier. Er lautete: »Entrò Carla«, »Carla kam herein«. Es war der Anfang seines Romans Die Gleichgültigen. Drei Jahre später war der junge Mann berühmt. Er nannte sich jetzt Alberto Moravia.

VIA VENETO

Das Leben der Boheme

Vier Delphine stemmen in Gian Lorenzo Berninis Brunnen auf der Piazza Barberini die Muschelschalen mit dem stolzen Tritonen in die Höhe. Dass Bernini keinen Sockel baute, sondern eine offene Struktur aus vier Tierleibern bevorzugte, war 1642 eine gewagte Innovation. Überhaupt ist dies eine Gegend, in der sich die Stadt für Neuerungen öffnete. Von der Piazza Barberini zieht sich die Via Vittorio Veneto in zwei großen Kurven gemächlich bis zur Porta Pinciana einen Hügel hinauf, in Richtung Villa Borghese. Die platanengesäumte Straße, die zwischen 1886 und 1889 eröffnet wurde, hat etwas von einem ruhig dahinströmenden Fluss, trotz des Verkehrs, der zu Stoßzeiten regelmäßig ins Stocken gerät. Nach ein paar Schritten kommt man am rundlich gewölbten Hotel Majestic vorbei, das sich der Straßenbiegung anpasst. Es wurde 1896 von dem Südtiroler Architekten Gaetano Koch gebaut, der viele Spuren in Rom hinterließ, sich auf der Via Veneto gleich mehrfach verewigte und auch beim Altare della patria, dem beeindruckend hässlichen Ehrenmal der italienischen Einheit, seine Finger im Spiel hatte. Es folgt das Palace mit luftigem Art déco. Im Albergo Ambasciatori aus den zwanziger Jahren, das wie ein mächtiges Tortenstück daliegt, kündigt sich, wie in der etwas früher erbauten Banca Nazionale mit ihrem strikten Liktoren-Stil, die Phase des Faschismus an. An der zweiten Kurve gibt es wieder einen Wechsel: Das Excelsior wirkt mit seiner Kuppel sehr weltstädtisch und stammt aus der Entstehungszeit der Straße. Muskulöse Atlanten zieren die Fassade. Der Zuckerbäckerbau könnte ebenso gut in Montecarlo oder an einem Badeort stehen, meinte Alberto Moravia. Der Palazzo Boncompagni an der Via Boncompagni mit seinen drei Bögen und dem ausladenden Balkon diente als Residenz der Königin Mutter, weshalb man ihn auch Palazzo Margherita nennt. Er gilt als wichtigstes Werk von Gaetano Koch, wurde 1890 fertig und beherbergt heute die amerikanische Botschaft. Kehrt man stadteinwärts zur Piazza Barberini zurück, kann man in der Kapuzinerkirche S. Maria della Concezione seine Sünden beichten. Im Untergeschoss befindet sich eine Krypta. Die Bestandteile von viertausend Kapuzinerskeletten sind in mehreren Nischen zu makabren Rosetten, Kreisen und Schleifen arrangiert: Es gibt Muster aus Totenköpfen, Becken, Schienbeinen und Oberschenkelknochen. Ein Memento mori an einer Straße, die sich so sehr der Gegenwart und dem Vergnügen verschrieben habe, so deutete es Moravia.

Denn es sind die Bürgersteige von La dolce vita: Marcello Mastroianni alias Marcello Rubini parkte hier seinen Sportwagen, immer mit seinem Fotografen im Schlepptau. Ein echter Fotograf hatte Federico Fellini, Tullio Pinelli und Ennio Flaiano zu ihrem Film inspiriert: Tazio Secchiaroli, ein abgefeimter Typ, der jeden Tratsch aufschnappte und sofort mit seiner Kamera loszog. Secchiaroli brüstete sich vor dem Regisseur mit einem Schnappschuss des aus seinem Land verjagten ägyptischen Königs Faruq im Café de Paris. Aus Wut über die Indiskretion warf der König a. D. einen Tisch um. Die Fotografen standen enorm unter Druck. Ihre Auftraggeber waren bunte Illustrierte, die von Sensationen lebten und möglichst spektakuläre Bilder erwarteten. Die Meute entwickelte regelrechte Techniken, um Schauspieler mit Blitzlichtgewittern zu provozieren. Immer wieder kam es zu Handgreiflichkeiten. Einen solchen Fotografen wollte Fellini auch für seinen Film. Gemeinsam mit seinem Drehbuchautor, dem Schriftsteller Ennio Flaiano, suchte er nun noch nach einem Namen. Sie kamen auf »Paparazzo«, nach einem Wirt aus Catanzaro, der Coriolano Paparazzo hieß und von dem Briten George Giesing 1896 in seinem Reisebericht By the Jonian Sea erwähnt wird, allerdings mit der Anmerkung, es handele sich um einen reizenden Menschen. Flaiano schilderte später in Die Einsamkeit des Satirikers, wie sie das Buch aufschlugen und sofort Gefallen fanden an dem Klang des Namens: Paparazzo. Eine Figur existiere eben erst durch ihren Namen, Flaubert habe sogar zwei Jahre nach Madame Bovary gesucht, und dass man unter »Paparazzo« fortan eine eher unehrenhafte Ausprägung der Fotoreporter-Spezies verstand – nun gut, dies sei das Schicksal von Namen, sie führten ein Eigenleben, entschuldigte sich Flaiano schulterzuckend. Für die Dreharbeiten im Frühling und Sommer 1959 ging Fellini allerdings in die Studios von Cinecittà, wo die Via Veneto nachgebaut wurde; Aufnahmen auf der echten Straße wären nur bei vollem Tageslicht möglich gewesen. Aber alles Wichtige geschah nachts: Seit Ende der vierziger Jahre war die Via Veneto mit ihren Cafés, Buchhandlungen und Hotelbars ein Treffpunkt der Schriftsteller, Drehbuchautoren, Schauspieler, Regisseure und Journalisten. Einer von ihnen war Raffaele La Capria.

In seinem Alter gehe er bei Eis und Schnee nicht mehr aus dem Haus, meint der hochbetagte Neapolitaner an einem überraschend kalten Februartag 2012 am Telefon und lädt mich ein, ihn zu besuchen. Zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren versinkt Rom im Schnee. Der Verkehr ist zusammengebrochen, Verabredungen trifft man nur von Stunde zu Stunde, jetzt fahren Räumfahrzeuge über den Largo Argentina und streuen Berge von Salz. Fünf Straßenfeger stochern ratlos in einem großen Schneeberg herum, bis sie ihn in ihre Mülltonnen schaufeln. La Capria, Jahrgang 1922, seit 1950 in Rom beheimatet, Verfasser von Romanen, Erzählungen, Feuilletons und Drehbüchern, verkehrte in den fünfziger Jahren in den einschlägigen Lokalen und gehörte zur römischen Boheme. Die neu gegründete RAI (Radiotelevisione Italiana), wo auch der stilistische Revolutionär Carlo Emilio Gadda unterkam, stellte damals Schriftsteller und Intellektuelle ein; La Capria war für Radiosendungen über Theater zuständig. Unser letztes Treffen liegt einige Jahre zurück, aber La Capria, der in Neapel im Palazzo Donn’Anna aufwuchs, wo er in den Sommermonaten aus dem Fenster direkt ins Meer sprang und täglich kilometerweit schwamm, hat sich die fließenden Bewegungen eines Schwimmers bewahrt. Liebenswürdig nimmt er mich in Empfang und führt mich in einen kleinen Salon. An den Stirnseiten reichen die Bücherregale bis unter die Decke. Die Meridiani, die große Klassikerreihe von Mondadori, die auch La Capria einen Band gewidmet hat, scheint vollständig versammelt. Die Wände sind grün tapeziert. Ich entdecke Gemälde von Ardengo Soffici und Arnaldo Spadini, Erbstücke vom Großvater seiner Ehefrau. Noch bevor La Capria sein Jurastudium abschloss und bei der RAI eingestellt wurde, hatte er im Sommer 1946 Alberto Moravia und dessen Frau Elsa Morante auf Capri kennengelernt. Damals begeisterte er sich für T. S. Eliot und veröffentlichte erste Prosastücke in Zeitschriften. »Elsa Morante mochte junge Leute, ich war damals noch sehr jung, also gefiel ich ihr«, erinnert sich La Capria. »Und wenn ihr jemand gefiel, riss sie sich ein Bein aus, sie feierte mich, stellte mich allen vor, es war mir fast peinlich, denn sie sagte: ›Dies ist der Dichter Raffaele La Capria‹, nur hatte ich noch kein einziges Gedicht geschrieben … ›Dichter‹ war für sie ganz einfach jemand, der eine Seele besitzt, und das waren die Menschen, die ihr die liebsten waren. Auf Capri lebte damals ein berühmter englischer Schriftsteller, Norman Douglas, ein Schwuler mit einer Vorliebe für Heranwachsende, er gehörte zur Kultur-Elite der Insel. Früher galten solche Leute nicht als pädophil, sondern waren ganz einfach Künstler mit bestimmten Neigungen. Wir waren gemeinsam in einer Villa zu Gast: Norman Douglas, Elsa Morante, Moravia und noch ein Engländer. Norman Douglas band sich Weinlaub um den Kopf, so wie ein Satyr, und lief Elsa durch den Garten hinterher. Sie lachte wie von Sinnen. Ich habe diese Szene vor Augen: Norman Douglas mit seinem gekrönten Haupt, Elsa, die halb erschrocken, halb belustigt vor ihm davonlief. Ich habe sie nie wieder so ausgelassen erlebt. Im Laufe der Jahre wurde Elsa dann unduldsamer, manchmal fast böse, weil sie vieles nicht ertrug.«

1951 war Rom noch eine überschaubare Stadt. Während der Kriegsjahre hatte es einen Zustrom aus Süditalien gegeben, die Einwohnerschaft war von 1155722 im Jahr 1936 auf 1651754 gewachsen, aber die meisten Zugezogenen wohnten in den armseligen Vorstädten, den borgate. Im Zentrum war davon nichts zu merken. Raffaele La Capria fand zuerst eine Bleibe in der Via Margutta, wo auch Truman Capote wohnte und an seinem Roman Die Grasharfe schrieb. »Es war die belle epoque von Rom. Die Stadt wurde nicht nur für das Kino zu einem Anziehungspunkt, sondern auch für das Theater, die Literatur, die Kultur überhaupt, und zwar auf internationaler Ebene. Alle Diven aus Hollywood kamen hierher, an den Schauspielhäusern arbeiteten Leute wie Giorgio Strehler und Luchino Visconti, Elsa Morante und Alberto Moravia waren auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, man traf sich im Café, unterhielt sich, tauschte sich aus. Es war extrem lebendig, es gab ein echtes Kulturleben. So etwas existiert heute nicht mehr. Wir verabredeten uns um drei Uhr nachts, alle Lokale waren geöffnet, man diskutierte bis in die Morgenstunden über den neuesten Film oder das neueste Buch.« Der Faschismus schien Lichtjahre her zu sein; die Intellektuellen und Künstler eroberten den öffentlichen Raum zurück. Der Nachholbedarf war enorm. Intellektuelle Moden wie der Strukturalismus seien aus Paris nach Rom übergeschwappt, meint La Capria, Bücher, Filme, Musik, alles habe man damals aufgesogen. Diese Zeit überschneide sich mit seiner eigenen Jugend, auch deshalb empfinde er sie sicher als besonders schön, aber es liege ihm fern, die fünfziger Jahre zu idealisieren. Es sei schon ein ganz besonderer Moment gewesen, eine ganz bestimmte Phase, in der sich viele Kräfte gegenseitig schürten, die Intellektuellen an Einfluss gewannen, das Land im Umbruch war und viel Neues entstand . Oft waren es private Initiativen: So hatten Maria Bellonci, Verfasserin erfolgreicher historischer Romane, und ihr Mann, der Journalist und Literaturkritiker Goffredo Bellonci, schon während der letzten Kriegsjahre Freunde zu Hause empfangen und die Gründung eines Literaturpreises geplant. 1947 wurde daraus der Premio Strega, benannt nach der Firma des Geldgebers, Hersteller des entsetzlich süßen Strega-Likörs. Weil alles aus einem sonntäglichen Salon hervorgegangen war, hießen die rund hundert Juroren »gli amici della domenica«, was bis heute gilt, obwohl die Gruppe auf 400 Personen angewachsen ist und in keinem Wohnzimmer mehr Platz fände. Die Liste der Preisträger ist beeindruckend: Ennio Flaiano, Elsa Morante, Moravia, Giorgio Bassani, Natalia Ginzburg, Dino Buzzati, Tomasi di Lampedusa, Paolo Volponi, Goffredo Parise. Auch La Capria wurde ausgezeichnet. Er bekam 1961 für seinen Neapel-Roman Ferito a morte den Preis.

Für die ausländischen Besucher zählte nicht nur die Schönheit Roms. Mieten, Restaurantbesuche, Lebensmittel, Personal, selbst Hotels kosteten wenig, denn die Löhne waren niedrig. Auch amerikanische Regisseure kamen auf die Idee, hier zu arbeiten. Das European Recovery Program, besser bekannt als Marshallplan, unterstützte das Engagement. »Die Unternehmer des Landes haben sich nie für die Möglichkeiten der Massenvermarktung interessiert«, klagte der Direktor des ERP Paul G. Hoffman 1949. »Die Dimensionen ihrer Initiativen sind eingeschränkt und die Kosten hoch. Der Gedanke, dass man beim Konsumenten mit niedrigem Einkommen durch Werbung Sehnsüchte nach Dingen erweckt, die er nie gehabt hat, und diese dann zu günstigen Preisen anbietet, ist der größte Beitrag, den der Marshallplan in Italien leisten kann.« Filme galten als preiswertes Umerziehungsmittel, sollten vor dem Kommunismus warnen und für den American way of life werben. Außerdem gab es Cinecittà, die 1937 von Mussolini zu Propagandazwecken eröffneten, modern ausgestatteten Studios an der Via Tuscolana im Osten der Stadt mit günstigen Produktionsbedingungen. Sogar Massenszenen waren bezahlbar. Ein entscheidendes Argument für Mervyn LeRoy, der 1951 nach Rom kam. Für seinen Historienschinken Quo Vadis brauchte er neben den 29 Hauptdarstellern vor allem 30000 Statisten, ganz abgesehen von den 250 Pferden, einer Reihe von Löwen, Stieren und Tauben. Sophia Loren ergatterte ihre erste Nebenrolle und trat als Sklavenmädchen auf. Der erste Sandalenfilm war so etwas wie ein Startschuss: Unzählige amerikanische Schauspieler machten Rom zu ihrer Basis in Europa. Hier war der alte Kontinent verkraftbar, nicht so zerstört und traurig wie Deutschland, aber dennoch ausreichend pittoresk, es gab Kunstschätze und eine romantische Kulisse. Fast schienen die zwanziger Jahre von Paris wieder aufzuleben. Ava Gardner reiste mit ihrem Mann Frank Sinatra an und wurde Stammkundin im Modeatelier der Schwestern Fontana. Der Fotograf Tazio Secchiaroli erwischte nicht nur den geschassten ägyptischen König, sondern deckte auch die Liaison von Gardner mit dem römischen Schauspielstar und berüchtigten Frauenhelden Walter Chiari auf. Es gibt ein Foto, wie der schöne Chiari wutentbrannt auf die Via Veneto stürzt und dem flüchtenden Bildreporter hinterherrennt. Soraya kam 1958, nachdem sie aus der Familie des Schah verstoßen worden war, im Excelsior auf der Via Veneto unter, Henry Fonda heiratete eine italienische Gräfin, Orson Welles hatte in Rom eine Wohnung. An jeder Ecke traf man auf Leute wie die platinblonde Jayne Mansfield, Anita Ekberg, James Stewart, Gary Cooper oder Grace Kelly. Gleichzeitig stand Anna Magnani für Visconti vor der Kamera. Eine Liebe in der Zeit von La dolce vita hat Raffaele La Capria eine schmale Erzählung von 2009 genannt, in der sich die Sphären mischen: Geld, Aristokratie, Kultur, Kunst. »Wir trafen uns an der Piazza del Popolo und in der Via Veneto«, erzählt der Schriftsteller. »Man ging ins Café Rosati, das sowohl an der Piazza als auch auf der Via Veneto eine Niederlassung hatte. Zum Abendessen wechselten wir in die Restaurants auf der Via Croce. Eines hieß Cesaretto, ein anderes Il re degli amici. Cesaretto war das Stammlokal der Intellektuellen, bei Il re degli amici traf man die Filmleute und Regisseure, dann gab es noch das Eliseo-Theater, da waren natürlich die Theaterleute. Aber jeder begegnete jedem, nicht so wie heute, dass nur noch Schriftsteller mit Schriftstellern zusammen sind, nein, man lief Architekten über den Weg, Drehbuchautoren, Schauspielern, Regisseuren und setzte sich an denselben Tisch, die Gespräche drehten sich also nicht nur um bestimmte Dinge, sondern es gab eine unglaubliche Vielfalt.« 1953 drehte William Wyler die romantische Komödie Ein Herz und eine Krone mit Gregory Peck und Audrey Hepburn, die mit diesem Film international bekannt wurde. Auch hier half Ennio Flaiano mit. Immer häufiger kam es zu Koproduktionen. 1954 reiste Kirk Douglas für Ulisse von Mario Camerini an und trieb den Regisseur mit seinen Launen fast in den Wahnsinn. Kolossale Ausmaße nahmen die Dreharbeiten von Krieg und Frieden unter der Regie von King Vidor an, die anderthalb Jahre dauerten: In Cinecittà wurde ein drei Kilometer langes Moskau nachgebaut, das unter tausendzweihundert Kubikmetern künstlichem Schnee versank. Es gab zweihundert Drehtage, an denen Audrey Hepburn, Henry Fonda, Mel Ferrer, Vittorio Gassman, Anita Ekberg und 120000 Komparsen in Aktion waren. Am Ende des Jahrzehnts nahm sich William Wyler dann Ben Hur vor. Dieses Mal wurden 50000 Statisten benötigt. Sergio Leone, der später durch sogenannte Spaghettiwestern von sich reden machte, war einer der Kameramänner. Man karrte tonnenweise Mittelmeersand heran; schließlich musste es bei den halsbrecherischen Wagenrennen authentisch stauben. Am Ende ergatterte Wyler für seine sechzehn Millionen Dollar teure Produktion elf Oscars.

Aber Cinecittà, die glamouröse Welt der Via Veneto und die Treffpunkte der Schriftsteller und Intellektuellen waren nur die äußere glänzende Hülse. Anfang der fünfziger Jahre war Italien noch immer ein durch und durch agrarisches Land. Das Wirtschaftswachstum lag unter dem Griechenlands und Jugoslawiens. 1951 verfügten lediglich 7,4 Prozent aller Wohnhäuser über Elektrizität, fließend Wasser und eine Innentoilette . In Rom, wo die Einwohnerzahl bis 1960 noch einmal um 500000 stieg und die Zwei-Millionengrenze überschritt, fehlten 1950 über hunderttausend Wohnungen. 6,6 Prozent der Unterkünfte waren Baracken, Grotten oder Treppenverschläge ohne Fenster. 42,2 Prozent der italienischen Bevölkerung waren laut der Volkszählung von 1951 in der Landwirtschaft beschäftigt, im Süden waren es sogar 56,9 Prozent. Der amerikanische Soziologe Edward Banfield untersuchte 1955 den Fall des kalabresischen Bauern Carlo Prato, Vater von zwei Kindern, der sich als Tagelöhner verdingen musste und in einem Haus mit nur einem Zimmer ohne Licht, Wasser und Toilette lebte. Die Familie besaß eine einzige Jacke. Prato fand an 180 Tagen im Jahr Arbeit, die Bezahlung bestand oft nur aus drei Mahlzeiten, ein paar Lire und einem halben Liter Öl. Banfield prägte den Begriff des »familiären Amoralismus«, mit dem er die Neigung beschrieb, immer dem Clan und nie dem Gemeinwohl den Vorzug zu geben. In den kommenden zwei Jahrzehnten setzte ein tiefgreifender Wandel ein, doch die Familie blieb das wichtigste Netzwerk. Der Marshallplan kam nicht nur den Regisseuren zugute, sondern spülte auch sonst viel amerikanisches Geld nach Italien: Zwischen 1948 und 1951 waren es 1,4 Milliarden Dollar, die vor allem in die Industrie gesteckt wurden. Der christdemokratische Regierungschef De Gasperi schürte bei den amerikanischen Verbündeten geschickt die Angst vor einer kommunistischen Machtübernahme und konnte dadurch die Finanzhilfen in die Höhe treiben. Das europäische Wirtschaftswunder begann, in Italien von staatlicher Seite durch die Förderung der Schlüsselindustrien gestützt. Auf internationaler Ebene steigerte sich der Warenaustausch um das Siebenfache, und Italien stieg zu einer Industrienation auf. Ein römischer Arbeiter verdiente Anfang der fünfziger Jahre um die 32000 Lire im Monat, rund 210 DM. Der Brotpreis lag bei 120 Lire, für eine Tramfahrt zahlte man 20 Lire. Eine Vespa war mit vier Monatsgehältern erschwinglich, der kleinste Fiat kostete 665000 Lire. Als 1958 Domenico Modugno mit Nel blu dipinto di blu, das unter dem Titel Volare zum Welterfolg wurde, beim Schlagerfestival in San Remo gewann, zeichnete sich die neue Freizeitkultur schon ab. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs zwischen 1950 und 1958 um 5,3 Prozent pro Jahr, zwischen 1958 und 1963 sogar um 6,6 Prozent. Bis 1964 verdoppelte sich das Pro-Kopf-Einkommen, die Anzahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft sank auf 25 Prozent. Die Industrie verzeichnete die umgekehrte Bewegung, dort stieg die Anzahl der Beschäftigten von 32 auf 40 Prozent, im Dienstleistungsgewerbe von 28 auf 35 Prozent. Die größten Umwälzungen betrafen die Demographie. Die Statistiken sind nicht verlässlich, aber die Binnenwanderung von Süden nach Norden umfasste zwischen 1955 und 1971 über neun Millionen Menschen. Bis 1964 emigrierten über fünf Millionen ins Ausland. Das italienische Wirtschaftswunder hing einerseits mit den extrem niedrigen Lohnkosten zusammen, wodurch das Land günstig exportieren konnte, aber auch mit dem enormen Nachholbedarf ganzer Regionen. Noch 1960 stellte die Kommune von Mailand fest, dass in dreizehn von hundert Häusern kein Trinkwasser vorhanden war, 24 keine WCs hatten, 42 kein Badezimmer und 51 keine Zentralheizung. 1958 besaßen 13 Prozent aller italienischen Familien einen Kühlschrank, 1965 waren es mehr als die Hälfte und 1975 dann 94 Prozent. Eine zentrale Rolle für die Modernisierung des Landes spielte das Fernsehen, obwohl es sich sehr viel langsamer als in anderen Ländern verbreitete. 1954 gingen die ersten Programme auf Sendung, 25 Jahre später als in den USA und zehn Jahre später als in Frankreich. Kaum jemand konnte sich ein TV-Gerät leisten. Selbst das kleinste kostete 160000 Lire. Zwischen 1954 und 1964 erreichte das Fernsehen sechs Millionen Zuschauer, Mitte der siebziger Jahre waren es über zwölf Millionen. Nach Überzeugung des Sprachwissenschaftlers Tullio De Mauro trug die Verbreitung des Fernsehens mehr zu einer einheitlichen Nationalsprache bei als die allgemeine Schulpflicht. Zum ersten Mal in der Geschichte Italiens sprach man im ganzen Land dieselbe Sprache, zumindest mehr oder weniger. Vor allem Pasolini sollte den Verlust der Dialekte beklagen und die neue Alltagssprache als seelenloses Bürokraten-Italienisch brandmarken.

Anfang der fünfziger Jahre lebten lediglich elf Prozent der Italiener im Wohlstand. Es waren diese Leute, die das Bild von la dolce vita bestimmten, wie es Fellini und Flaiano 1959 in ihrem Film einfangen sollten. Am glamourösen Leben partizipieren durften alle, denn schon lange vor dem Fernsehen gab es die sogenannten rotocalchi, die wegen des Rotationsdruckverfahrens so hießen: Großformatige Zeitschriften mit ausgedehnten Fotostrecken, inspiriert von dem amerikanischen Magazin Life. Die Blätter kosteten um die 30 Lire, lieferten teils hochwertigen Journalismus wie L’Europeo, seit 1945 im Umlauf, oder Il Mondo, vier Jahre später gegründet und von Autoren wie Giorgio Bocca, Camilla Cederna, Oriana Fallacci, Moravia, Flaiano, Giorgio Manganelli und vielen anderen mit Texten beliefert. L’Europeo kam in den sechziger Jahren auf eine Auflage von 230000. Andere drehten sich nur ums Kino und hießen Hollywood, Star oder Novellefilm. Oggi gab es bereits seit 1939, in den Vierzigern hatte hier Elsa Morante ihre Erzählungen veröffentlicht, Elio Vittorini lieferte Kolumnen, und auch sonst erschienen damals zahlreiche Beiträge von Schriftstellern. Nach dem Krieg wandelte sich das Magazin allmählich in ein Boulevardblatt. Fellinis Paparazzo Secchiaroli war einer der Stammfotografen. 1947 gelang Oggi ein Scoop, mit dem sich die Auflage von 100000 auf 250000 steigerte: eine Farbfotostrecke über die Hochzeit der Königin von England. Ingrid Bergman und Roberto Rossellini landeten mit ihren unehelich geborenen Kindern ebenfalls auf dem Titelblatt. In den fünfziger Jahren erreichte Oggi Verkaufszahlen von 500000 und überschritt im Jahrzehnt darauf die Million. »Amerika ist hier«, verkündete das Magazin Hollywood am 17. November 1951 und druckte Bilder der Stars aus den USA ab. »Obwohl Italien ein armes Land ist, kommen viele amerikanische Schauspieler hierher, um in unseren Filmen mitzuarbeiten. Sie finden Glück und Ruhm.« Die Spezies der Fotografen und der Reporter gewann ungeahnten Einfluss.

»In den Fünfzigern begann auch die Zeit von Michelangelo Antonioni und Fellini, denen die Phase von Vittorio De Sica, Roberto Rossellini und den Neorealisten vorausgegangen war, auch Visconti und solche Leute«, meint La Capria, der Anfang der sechziger Jahre als Drehbuchautor für Francesco Rosi großen Erfolg hatte und mit Le mani sulla città über die Bauspekulation in Neapel auf der Biennale von Venedig einen Goldenen Löwen gewann. »Viscontis Ossessione von 1943 gilt ja als erster neorealistischer Film, dann folgten Rossellinis berühmte Kriegszeugnisse Rom, offene Stadt und Paisà. Rosi war Regieassistent bei Visconti, mit dem er 1951 Bellissima drehte, eine ironische Abrechnung mit der neuen Kinoleidenschaft der Italiener und ihrer Leichtgläubigkeit. Anna Magnani spielt eine einfache Römerin, die ihre siebenjährige Tochter um jeden Preis zum Film bringen will, bis sie merkt, dass in Cinecittà Zynismus herrscht und dort nichts als Illusionen produziert werden. Der Neorealismus brachte ja das alltägliche Leben auf die Leinwand, mit all seinen Schwierigkeiten, Hoffnungen und übrigens auch komischen Seiten, wie in Bellissima. Neben Visconti haben dann natürlich Antonioni und Fellini enorm viele Impulse gegeben. Diese Art der Fotografie und der Kameraführung existierte vorher nicht. Fellini mag mitunter zu stilisiert wirken, aber durch seine Neuerungen wurden bestimmte Filme überhaupt erst möglich. Die Hubschrauberszene in Apocalypse Now gäbe es ohne den Anfang von La dolce vita nicht.« Federico Fellinis Drehbuchautor Flaiano sei von unglaublicher Schlagfertigkeit gewesen. Niemand habe mit ihm mithalten können. »Sehr vielschichtig als Mensch, ironisch, geistreich, aber seine Sprüche zeigten auch, dass dieser Gewitztheit eine gewisse innere Bitterkeit zugrunde lag. Ein spitzfindiger Kritiker der italienischen Gesellschaft. In seinem Roman Tempo di uccidere, der 1947 den ersten Premio Strega bekam, hat er den italienischen Kolonialismus als Krankheit beschrieben. Außerdem war er ein großartiger Drehbuchschreiber, jemand, der am laufenden Band Ideen produzierte.« Kaum jemand brachte die Widersprüche Italiens besser auf den Punkt.

Dass der Film La dolce vita eine bitterböse Abrechnung mit den schmarotzenden Journalisten, der im Entstehen begriffenen Mediengesellschaft und dem dekadenten Lebensstil der Oberschicht war und vor allem Magazine wie Oggi im Visier hatte, ist heute in Vergessenheit geraten. Die Szenen haben sich verselbstständigt und sind zu mythischen Kalenderbildern geronnen. Die Hauptfigur Marcello Rubini – von Marcello Mastroianni grandios verkörpert – ist ein charmanter, aber oberflächlicher Klatschreporter, der überall mit seinem sensationslüsternen Fotografen Giovanni Paparazzo im Schlepptau auftaucht. Sein Freund Steiner, ein schriftstellernder Familienvater, in dessen Salon sich Dichter und Gelehrte versammeln, scheint für das wahre Leben zu stehen. In seiner Gesellschaft beginnt Marcello, am Glamour der Filmwelt zu zweifeln, und erinnert sich an seine einstigen Ideale. Als Steiner seine Kinder und sich selbst tötet, ist für Marcello auch dieser Weg abgeschnitten. Steiners Selbstmord wirkt wie eine Kapitulation. Die Geschehnisse drum herum mussten Flaiano und Fellini gar nicht erfinden, sie brauchten sich bloß aus der Wirklichkeit zu bedienen. Anita Ekberg hatte tatsächlich einen trinklustigen amerikanischen Ehemann und war auch im wirklichen Leben einmal im Sommer nach einer durchtanzten Nacht in den Trevi-Brunnen gestiegen, aber um sich die Füße zu kühlen und nicht in einer schulterfreien Abendrobe, sondern in einem unspektakulären Sommerkleid mit hochgekrempelten Ärmeln. Sylvia alias Anita Ekberg im Trevi-Brunnen gilt als Inbegriff italienischer Romantik – im Kontext des Films ist sie eine eher lächerliche Gestalt mit einem kindlichen Gemüt. Alles an ihr ist überzogen: ihr amerikanisches Gebaren, ihre Tänze, ihre Launen und nicht zuletzt ihre Figur mit dem ausladenden Busen. Sylvia wirkt, als sei sie eine Nummer zu groß für Italien, neben ihr sehen erwachsene Männer wie Schuljungen aus, eine Phantasie, der Fellini in vielen Filmen anhing. »Du bist einfach alles … you are everything. You are the first woman of the first day on the earth … You are Eve … You are mother, sister, du bist die Geliebte, das Weib … Du bist ein Engel … der Teufel … die Erde … das Zuhause … Home«, stammelt Marcello ihr beim Tanzen hingerissen ins Ohr, während Sylvia Arrivederci Roma trällert. Ihr kopfloser Verehrer scharwenzelt weiter um sie herum, wird mitten in der Nacht zum Milchholen für ein Kätzchen abkommandiert und immer wieder stehengelassen. Als Marcello sie schließlich im Morgengrauen vor dem Hotel Excelsior auf der Via Veneto abliefert, erwartet ihn schon Sylvias dauerbetrunkener Gatte und schlägt den Reporter zusammen, ohne dass er die begehrte Frau auch nur einmal richtig geküsst hätte. Flaiano und Fellini waren damals mittendrin und kannten alles: die Vergnügungslokale, die Salons der Intellektuellen und die gelangweilte Aristokratie.

»Die römische Dekadenz ist auch Gegenstand von Flaianos Theaterstück Ein Marsmensch in Rom«, erzählt Raffaele La Capria, der mit der Schauspielerin Ilaria Occhini verheiratet ist. Eine Frau von bewundernswerter Schönheit, wie ich mich mit einem Seitenblick auf die Familienfotos vergewissern kann. Sie stand bei der Uraufführung in Mailand mit Vittorio Gassman auf der Bühne. In dem Stück ist viel von den parasitären Römern die Rede, die sich durch nichts von ihrem Lebensstil abbringen lassen, auch nicht durch einen Marsmenschen. Am Anfang herrscht zwar große Aufregung um den ungewöhnlichen Besucher, er wird auf Partys und in Salons herumgezeigt, aber schon nach kurzer Zeit gehen alle wieder zur Tagesordnung über. »Leider war es ein totaler Reinfall und wurde ausgepfiffen. Die Mailänder haben alles für bare Münze genommen. Während sie in den Fabriken und Firmen für das Bruttosozialprodukt schuften, machen sich die Römer ein schlaues Leben. Das kritische Potenzial haben sie gar nicht wahrgenommen. Es gab Pfiffe, Buhrufe, Geschrei, wie seit Pirandello nicht mehr. Mir tat es für meine Frau sehr leid. Flaiano hat mit dem Aphorismus reagiert: ›Der Misserfolg ist mir zu Kopf gestiegen.‹«

La Capria etablierte sich im römischen Kulturleben. »Moravia war damals überall, so wie man heute überall auf Dacia Maraini trifft, egal bei welcher Veranstaltung«, meint er zu der Omnipräsenz des älteren Kollegen. »Aber ich verdanke ihm viel, er hat sich bei seinem Verleger Bompiani für die Veröffentlichung meines Romans eingesetzt, was ich erst lange nach seinem Tod erfuhr. Als wir Mitte der sechziger Jahre mit ihm und Dacia an der Amalfi-Küste Urlaub machten, wurde mir seine Emsigkeit allerdings zu viel. Mitten im August wachte ich morgens um neun von Schreibmaschinengeklapper auf. Ich fragte meine Frau: ›Was ist das?‹ ›Dacia und Alberto‹, antwortete sie mir, ›sie schreiben.‹ Das fand ich wirklich übertrieben, ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht arbeitete«, erinnert sich La Capria. Da waren ihm die weniger dienstbeflissenen Schriftsteller Carlo Emilio Gadda und Goffredo Parise, die ebenfalls ins Café Rosati kamen, oft lieber. »Obwohl Gadda ein überaus korrekter Mann war. Er war ein großer Konservativer und hielt damit nicht hinterm Berg. Während alle so taten, als seien sie Kommunisten, stand er dazu, rechts zu sein. Er war nationalistisch, hielt viel von Dingen wie Vaterland, Fahne, allgemeine Ordnung. Er war ein herausragender Schriftsteller, Die grässliche Bescherung in der Via Merulana war schon erschienen. Goffredo provozierte ihn ständig, er nahm ihn zum Beispiel im Auto mit und fuhr absichtlich zu schnell, was Gadda entsetzlich fand. ›Du willst mich töten, das ist Mord‹, sagte er zu ihm, ›du hältst dich wohl für sehr modern‹, schimpfte er weiter. Goffredo war sehr schlitzohrig und machte mit Gadda seine Späße. Gadda sah aus wie ein tapsiger Elefant. Er hatte immer viele Ängste und Bedenken, die typischen Ängste eines Bürgers. Dass man ihn falsch verstehen könnte, dass man ihn ausraubte. Er war also sehr misstrauisch. Parise wusste genau, welchen Weg Gadda normalerweise von seiner Arbeitsstelle bei der RAI nach Hause ging. Und eines Tages malte er mit Kreide genau auf diesem Weg lauter Pfeile auf den Boden. Straße für Straße, Ecke für Ecke. Gadda war sehr beunruhigt und rief Parise an: ›Jemand verfolgt mich, auf meinem gesamten Nachhauseweg waren Pfeile eingezeichnet, dabei weiß niemand, wo ich für gewöhnlich langgehe.‹ Und Goffredo hat sich lange mit ihm über diesen Verfolger unterhalten. So etwas war typisch für ihn.« Wir amüsieren uns noch eine Weile über den Schabernack, den Parise mit seinem Freund trieb. Dann ist der Winternachmittag vorbei, und wir kehren zurück in das Rom von heute. Einen Abstecher ist die Via Veneto noch wert.

Gleichgültig im Salon. Alberto Moravia 1962 bei den Belloncis

DIE NEUEN BÜRGER

Familie Pincherle

Heute ist die Via Veneto ein Zitat ihrer selbst. In den Schaukästen der Bars hängen Bilder aus La dolce vita, es gibt sogar eine Plakette mit einem Hinweis auf den berühmten Film. Außer ein paar Rombesuchern aus der Provinz, einer asiatischen Reisegruppe mit identischen Schirmmützen und ein paar Amerikanern, die im Café de Paris überteuerte Nudelgerichte zu sich nehmen, verläuft sich an einem kalten Wintertag kaum jemand hierher. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Via Veneto die beliebteste Flaniermeile von ganz Rom: Vor allem Familien aus dem aufsteigenden Bürgertum schritten den breiten Boulevard am Wochenende auf und ab. Er galt als fein, außerdem wohnte man in den nahe gelegenen, kürzlich erbauten Vierteln Salario, Parioli oder im Quartiere delle regioni, gleich hinter der Via Veneto. Nach der italienischen Einigung von 1861 gab es ein langes Hin und Her mit dem Vatikan, der Rom und Latium für sich reklamierte und unter der Schutzmacht Frankreichs stand. Als der Papst alle Vorschläge einer friedlichen Übereinkunft in den Wind schlug und sich nach dem Sieg Preußens über Frankreich 1870 die internationalen Kräfteverhältnisse geändert hatten, schickte die junge Nation im September ihre Truppen in den Kirchenstaat. Es war ein eher theatralischer Akt. Ohne auf Gegenwehr zu stoßen und unter der Anteilnahme einer internationalen Journalistentruppe schlugen die Soldaten am 20. September bei der Porta Pia eine Bresche in die Stadtmauer und eroberten Rom. In einem Plebiszit entschieden sich die Bürger für einen Anschluss an Italien. Im Juli 1871 verlegte man die Hauptstadt endgültig nach Rom, und König Viktor Emanuel II. hielt seinen feierlichen Einzug. Anschließend begann eine rege Bautätigkeit. Allerdings war Rom ja bereits seit Jahrhunderten die Hauptstadt eines unabhängigen Staates: des Kirchenstaates. Diesem päpstlichen Rom wollte man auch architektonisch etwas entgegensetzen. Für die römische Aristokratie, der die meisten Grundstücke gehörten und die durch verwandtschaftliche Beziehungen mit der Kurie verbandelt war, wurde es ein riesiges Geschäft. Statt Stadtplanung herrschte Spekulation. Ganze Gebiete wurden erschlossen, abgerissen, umgebaut. Die neuen, nach Turiner Vorbild angelegten rechtwinkeligen und eher eintönigen Straßenzüge in Prati und an der Piazza Indipendenza, der Corso Vittorio Emanuele II, die Via Cavour, die Via Merulana und die Via Nazionale wirkten »tröstlich« neben den düsteren, verwinkelten Gassen am Campo de’ Fiori, beschrieb es ein Zeitgenosse. Nicht nur das klotzige Ehrenmal, das bis heute weiß unter den dunkleren Kuppeln heraussticht, Sankt Peter optisch Konkurrenz machen sollte und wie die Geste einer Besatzungsmacht wirkt, wurde in Auftrag gegeben. Man brauchte Ministerien, Behörden, Kasernen, Mehrfamilien-Villen und Mietshäuser für das Regierungspersonal. Zwischen 1870 und 1895 stieg die Bevölkerung von 200000 auf 400000, und bis 1910 wuchs sie auf 539000 Einwohner an, was im Vergleich zu Berlin mit 2,07 Millionen Einwohnern oder London mit 4,5 Millionen immer noch wenig war. Die neue römische Mittelschicht bestand zu einem guten Teil aus Zugezogenen, zu denen auch die Eltern Alberto Moravias gehörten. Droschken bestimmten das Straßenbild, ein strenger Geruch von Pferdeäpfeln lag über der Stadt, Automobile existierten nur wenige, und kurz hinter der Villa Borghese oberhalb der Via Veneto wurde es ländlich. Viele der zweistöckigen Häuser, die villini genannt wurden, hatten kleine Gärten. Die Kinder spielten in Begleitung ihrer Gouvernanten nachmittags im Park der Villa Borghese, wo es auch eine Pferderennbahn gab. Das Zentrum war für die aufstrebende Klasse tabu: Man ging einfach nicht hin, weder auf die Piazza Navona noch zum Pantheon und schon gar nicht auf den Campo de’ Fiori. Dort waren die ärmeren Römer zu Hause, Handwerker vor allem, nur ein paar Adlige lebten noch in ihren Palästen in der Altstadt. Rund um die Via dei Giubbonari lag das jüdische Ghetto. San Lorenzo beim Güterbahnhof war ein Arbeiterviertel, genauso wie Testaccio beim Schlachthof.

Mit dem Bus passiert man am Ende der Via Veneto die römische Stadtmauer, die Mura aureliane. Dentro le mura ist bis heute eine gängige Bezeichnung, sogar für Taxifahrer, die sich ab der Mauergrenze an einen bestimmten Tarif halten müssen. Alberto Moravia verbrachte seine Kindheit fuori le mura, zuerst in der Via Sgambati 9 und dann in der Via Donizetti 6, wohin die Familie 1916 übersiedelte. Man bewohnte das Erdgeschoss und den ersten Stock in einem villino. Es gab Stilmöbel, schwere Vorhänge, dicke Teppiche, düstere Bilder aus dem 17. Jahrhundert mit mythologischen Sujets, Tafelaufsätze und Nippes von Lalique und Murano, für die Mutter einen Damensekretär aus Mahagoni, für den Vater eine Bibliothek aus Nussbaumregalen im Arbeitszimmer, wo auch sein Zeichentisch stand. Carlo Pincherle Moravia suchte für das gesamte Haus die Tapeten aus. Das Schlafzimmer der Eltern war im Jugendstil gehalten: die Spiegel, Schränke, das Bett und die Frisierkommode. Die Räume der Kinder waren funktional eingerichtet, mit weißen Holzmöbeln und Bettgestellen aus Messing. Im ersten Stock hatten sie ein Spielzimmer. In Rom sei auch das Mobiliar päpstlich gewesen, stellte Elena Croce fest, die Tochter des Philosophen Benedetto Croce, die 1915 zwar in Neapel geboren wurde, aber später nach Rom umzog und den Charakter der Hauptstadt scharfsinnig einfing. Zum Bürgertum in seiner Ausprägung als städtische Klasse gehörten, einer Aufschlüsselung des Dizionario del fascismo (2003) zufolge, damals lediglich fünf Prozent. Nach der Volkszählung von 1931 existierten bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 42 Millionen 209000 Grund- und Hauseigentümer, die von ihrem Besitz leben konnten, außerdem 590000 Unternehmer und 40000 Manager, während die Mittelschicht aus Ärzten, Apothekern, Anwälten, Notaren, Ingenieuren, Architekten, Professoren, Lehrern und Angestellten etwa 70000 Personen umfasste. Selbst wenn man das ländliche Bürgertum von insgesamt noch einmal 100000 hinzuzählt, ändert das nichts am Gesamtbild. Obwohl sich zwischen 1921 und 1935 die Zahl der Einschreibungen an den Universitäten auf 64944 verdreifachte, gab es 1936 nur 11135 Abschlüsse. In den zwanziger Jahren rekrutierte sich die Elite wie zu Beginn des Jahrhunderts aus sich selbst, die soziale Mobilität war gering, Söhne übernahmen die Berufe ihrer Väter. Natürlich gab es innerhalb des Bürgertums die verschiedensten Erscheinungsformen – von provinziell bis kosmopolitisch. Die faschistische Partei PNF, Partito nazionale fascista, bot neue Aufstiegschancen. Die zumindest zum Teil von liberalen Ideen geprägten großbürgerlichen und adligen Familien verloren unter Mussolini rapide an Einfluss, stattdessen gewannen Industrielle, Investoren und Manager der vom Faschismus favorisierten staatlichen Unternehmen an Gewicht. Diese neue Aristokratie übernahm die Kontrolle über die gesamte Wirtschaftspolitik, gleichzeitig versorgte Mussolini ihm gewogene Geschäftsinhaber mit politischen Ämtern.

Im Alltag der Familie Pincherle folgte man einem strengen Zeremoniell. Es galten die typischen bürgerlichen Formen der Jahrhundertwende: Die Kinder wurden vom Personal beaufsichtigt, die Eltern sah man bei den Mahlzeiten zu Tisch. Der Vater übte seinen Beruf mit Begeisterung aus, erwarb mehrere Häuser und konnte, als sein Baustil weniger gefragt war und er keine Aufträge mehr bekam, den Lebensunterhalt aus den Vermietungen der Immobilien bequem bestreiten. Alberto wuchs mit zwei älteren Schwestern und einem sieben Jahre jüngeren Bruder auf, aber zu den Geschwistern entwickelte sich keine engere Beziehung Seine Mutter sei eine typische Madame Bovary gewesen, meint Alberto Moravia im Gespräch mit Dacia Maraini, seiner langjährigen Weggefährtin. »Meine Mutter war eine große, elegante Dame. Oft nahm sie mich mit zu ihrer Schneiderin, setzte mich auf ein Sofa und befahl mir, auf sie zu warten. Ich verbrachte Stunden damit, ihr zuzuschauen. Sie trug riesige Hüte aus schwarzem Stroh mit Vögeln, Kirschen oder Blumen. In ihrer Garderobe tobte sie sich aus. Was das soziale Leben anging, hatte ihr mein Vater nicht gerade viel zu bieten. Manchmal denke ich, dass die Ehe meiner Eltern ein Fehler war. Sie hätte einen anderen Mann gebraucht, brillanter, mondäner, und nicht so einen cholerischen Bären wie meinen Vater. Mit ihm wurde sie noch mehr zur Bovary. Und mein Vater wurde einsamer.« Als Dacia Maraini ihn nach den Bindungen in seiner Familie fragt, reagiert Alberto Moravia eher harsch, allerdings war seine Position ab dem zehnten Lebensjahr eine besondere. Er bekam Knochentuberkulose an der Hüfte, musste den Schulbesuch abbrechen und lag über Jahre meist im Bett. Seiner Krankheit standen die Eltern hilflos gegenüber. Sie verließen sich auf das Urteil des behandelnden Orthopäden, obwohl es Alberto immer schlechter ging. Erst seine Tante Amelia Pincherle Rosselli aus Florenz, die Schwester des Vaters, Schriftstellerin und eine eindrucksvolle Erscheinung, erkannte 1924 die Lage und veranlasste die Verlegung ins Sanatorium Codivilla.

Seine Tante schildert Moravia farbiger als die Eltern, sie bestärkte den Neffen in seinen Interessen und schätzte seine literarischen Vorlieben. Es ist vermutlich ihr zu verdanken, dass Moravia im Schreiben eine sinnvolle Beschäftigung sah. Amelia Rosselli sei eine kleine Person mit einer sanften Ausstrahlung gewesen, erzählt er Dacia Maraini. »Aber mit einem starken Charakter. Sie heiratete den Komponisten Rosselli. Nach wenigen Jahren ließ er sie mit drei kleinen Kindern sitzen und brannte mit einer Tänzerin durch. Später kehrte er in ihre Nähe zurück und starb bei ihr in Florenz. Sie hat dann noch viele Jahre als Witwe gelebt und ihre Kinder allein großgezogen, Carlo, Nello und Aldo. Geld hatten sie kaum welches. Aber sie war eine energische Frau mit klaren moralischen Überzeugungen. Sozialistin, auf die altmodische Art. Ihre Söhne hat sie in der Tradition des Liberalismus des 19. Jahrhunderts erzogen.« Aldo fiel im Ersten Weltkrieg. Seine Brüder Carlo und Nello, Vordenker der sozialistischen Partei, besuchten ihren Cousin Alberto im Sanatorium. Sie wurden zu zentralen Figuren des italienischen Antifaschismus. Zum Exil in Paris gezwungen, zählten sie zu den Mitbegründern der Widerstandsgruppe Giustizia e libertà. Rechte Schlägertrupps ermordeten die Brüder 1937 in Bagnoles-de-l’Orne, vermutlich auf Anordnung des italienischen Geheimdienstes. Mitte der zwanziger Jahre befand sich Alberto durch seine schwere Krankheit jenseits der politischen Verhältnisse, die sich immer mehr zuspitzten. Den Marsch auf Rom 1922 hatte er als Fünfzehnjähriger beobachtet. Die Schwarzhemden auf der Piazza Barberini seien ihm wie tumbe Landbewohner erschienen, erinnert er sich. Doch für ihn folgte erst einmal die lange Phase im norditalienischen Sanatorium.

LANGEWEILE

Alberto Moravia und »Die Gleichgültigen«

Im Herbst 1925 ging es Alberto Moravia allmählich besser, und er begann, zwischen den Alpenkurorten Bressanone, Cortina und Rom hin und her zu pendeln. Er war längst mit der Arbeit an dem Manuskript seines Romans Die Gleichgültigen beschäftigt, und als seine Mutter ihm vorschlug, das Abitur nachzuholen, wehrte er ungeduldig ab. Ein befreundeter Journalist führte ihn in die Literaturszene ein, in der die Faschisten immer stärker an Einfluss gewannen. Zeitschriften boten ambitionierten jungen Männern durchaus ein Forum, und Moravia konnte erste Texte unterbringen. Einer der Platzhirsche war der spätere Nobelpreisträger Luigi Pirandello, für den eine revolutionäre Ästhetik, die Auflösung traditioneller Erzählformen – immerhin hatte sein Drama Sechs Personen suchen einen Autor 1921 einen handfesten Skandal provoziert – und eine faschistische Gesinnung ein und dasselbe waren. Er ließ sich von Mussolini sogar ein neues Theater finanzieren. Überhaupt stieß der Faschismus unter einflussreichen Intellektuellen auf große Resonanz; Leo Longanesi, Curzio Malaparte, Massimo Bontempelli und Mino Maccari waren militante Anhänger der Bewegung, Longanesi hatte ein Vademekum für den perfekten Faschisten (1926) verfasst und den Slogan »Mussolini hat immer recht« erfunden, der auf unzähligen Fassaden prangte. Malaparte, Bontempelli und Maccari waren ästhetisch von den Florentiner Futuristen um Ardengo Soffici geprägt und schon als Gymnasiasten mit Begeisterung in den Ersten Weltkrieg gezogen. Dass man den Schützengraben als Erfahrungsraum des Heroischen verstand, die Infanteristen als »neue Barbaren« positiv deutete und Gewalt als Mittel einer kollektiven moralischen Erneuerung begriff, waren Denkfiguren, die quer durch die europäische Essayistik geisterten. Das teils nietzscheanische Erbe bekam in Italien durch den Futurismus und den Katholizismus eine ganz eigene Färbung. Für die toskanischen Veteranen schienen Mussolinis Kampftrupps das sozialrevolutionäre Element aufzugreifen, sie schlossen sich sofort seinen squadre an und straften das liberale Bürgertum und die Demokratie mit tiefer Verachtung. »Wir hätten im vergangenen Oktober Rom mit Leichen füllen sollen«, tönte Malaparte in seinem Pamphlet Italia barbara (1925) über den Marsch auf Rom. »So viele Leute zum Aufhängen aus den Reihen der großen patriotischen Familien und der Rhetoren! Das Volk hätte uns die Hände geküsst.« Rom, das war für die Florentiner Intellektuellen der Inbegriff der Dekadenz. Als Mussolini sich 1925 endgültig zum Diktator aufschwang, fürchteten sie sogar eine Verwässerung der faschistischen Ideale durch Kompromisse mit dem römischen Establishment. Genau wie Leo Longanesi, einer der großen Pioniere des italienischen Journalismus, unterhielten Malaparte, Bontempelli und Maccari ein spannungsreiches Verhältnis zum Regime und handelten sich mitunter Schreibverbote und Verbannungen ein. Der ideologisch schillernde Curzio Malaparte, der eigentlich Curzio Suckert hieß und auch unter seinen Feinden als »beste Feder des Faschismus« galt, tat sich mit theoretischen Schriften zur Ästhetik des Staatsstreichs besonders hervor. Mit seinem Pseudonym Malaparte – als Gegensatz zu Bonaparte, zuerst hatte er mit »Borgia« kokettiert – und dem Bau seiner Villa auf den schroffen Felsen von Capri unterstrich er seinen politischen Radikalismus und stilisierte sich als moderner Condottiere. Die etablierten liberalen Schriftsteller, Dichter und Kritiker reagierten auf die offizielle Kulturpolitik zum Teil mit Rückzug: Ein geschliffener Stil galt als adäquates Mittel der Verteidigung. In der florentinischen Zeitschrift Solaria (1926–1936) wandte man sich bewusst vom Getöse des Futurismus ab, vertrat kein ästhetisches Programm und vermied politische Diskussionen. Gleichzeitig bot Solaria seinen Lesern ein breites Panorama ausländischer Autoren und veröffentlichte Texte von Proust, Gide, Valéry, Joyce, T. S. Eliot, Hemingway, Faulkner, Rilke und Kafka, wodurch die Zeitschrift im Windschatten des Faschismus heimlich eine Erneuerung der italienischen Literatur betrieb. Sehr viel lautstärker meldete sich Mitte der zwanziger Jahre Bontempelli zu Wort, der den Impuls des Futurismus erneut aufgriff, für einen magischen Realismus eintrat und über den Umweg der internationalen Avantgarde den zeitgenössischen Roman entstauben wollte – allerdings mit politischen Zielen, denn ihm ging es ausdrücklich um die Vormachtstellung Italiens und eine »mediterrane Hegemonie«.

1926 gründete er gemeinsam mit Curzio Malaparte die Zeitschrift 900 – Cahier d’Italie et d’Europe, die zunächst auf Französisch erschien. Die Redakteure veröffentlichten Joyce, Tolstoi und Soupault, trieben unbekannte Erzählungen von Tschechow auf und brachten erstmals Auszüge aus Virginia Woolfs Mrs Dalloway