Ruhestand - Norman Liebold - E-Book

Ruhestand E-Book

Norman Liebold

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Beschreibung

Fischzerfressen liegt die Leiche in der Goitzsche. Alles deutet auf Selbstmord hin, aber für Kommissar Dörbers sprichwörtlichen Riecher stinkt nicht nur die Leiche ganz gewaltig. Vor menschliche Abgründe und Schicksale gestellt sieht er sich abseits des Rechts und mit seinem Gewissen Aug in Aug. Liebolds erster Kriminalroman… Kriminalroman? Leichen, verdächtige, Kommissare, Verfolgungsjagden, explodierende Wagen und ein geheimes Vehmegericht… was will man mehr? Liebold jongliert grinsend mit Klischees und hat plötzlich Wahrheiten in der Hand - Lachen ist erlaubt, aber Vorsicht: das bleibt schnell im Halse stecken.

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Norman Liebold

Ruhestand

Kriminalroman

Digitale Version derüberarbeiteten 2. Auflage 2008.

Amator Veritas Buch Nr. XXXVI
Titelfoto und Covergestaltung von N.Liebold.
Copyright © 2008
Norman Liebold und Amator Veritas Verlag, Hennef.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und elektronische Medien, sowie der Übersetzung auch einzelner Teile.
ISBN-13 (Print): 978-3-937330-20-4
ISBN-13 (eBook): 978-3-937330-48-8
www.norman-liebold.com
www.amator-veritas.de

Meinem Bruder Andreas Liebold, der trotz widrigster Umstände immer die Kraft, den Mut und den Idealismus in sich findet, den Weg seiner Kunst weiterzugehen.

„It is an old maxim of mine
that when you have excluded the impossible,
whatever remains, however improbable,
must be the truth.“

Sir Arthur Conan Doyle: „The Boscombe Valley Mystery“

I.

„Du hast das nicht ernst gemeint, oder?“ war das erste, was Oberkommissar Ratmann sagte, als Dörber die Tür öffnete. Sein Chef musste sich sofort in den Wagen geworfen haben - es waren keine fünf Minuten vergangen, seit Dörber in der Dienststelle angerufen hatte.

„Ich meine das ernst, Paul. Komm erstmal rein - willst Du einen Kaffee?“

Ratmann schnaufte - manchmal erinnerte er Dörber an ein Walross, und er konnte sich nicht entscheiden, ob wegen des mächtigen Schnauzbartes oder wegen der Körperfülle.

„Du siehst ziemlich müde aus“, stellte Ratmann fest, als sie sich im Wohnzimmer in die Ledersessel fallen ließen. „Du hast nach der - wie nanntest Du es? Verhandlung? - nicht geschlafen, oder?“ Dörber kannte diesen Blick. Ratmann argwöhnte etwas und achtete im Moment auf jedes Detail, jedes Wort, jede Nuance des Tonfalles.

„Ich hatte viel nachzudenken, Paul“, gab Dörber zu. „Sehr viel. Die Entscheidung war nicht leicht.“

Ratmann schluckte den Köder, lehnte sich vor und fingerte ungeduldig eine Schachtel Kabinett aus der Dienstjacke. „Vorruhestand!“ stieß er kopfschüttelnd hervor, steckte sich die Zigarette hinter das Ohr und suchte nach Feuer. „Herbert, das kann nicht Dein Ernst sein - Du ohne Deinen Job, undenkbar. Du bist Schnüffler, warst immer einer und wirst immer einer bleiben!“

„Im Moment bin ich suspendiert“, sagte Dörber und ließ eine berechnete Bitterkeit einfließen. „Du erinnerst Dich?“

Ratmann hörte auf, nach seinem Feuer zu suchen und starrte Dörber an. Dörber schaute lächelnd zurück und war sich bewusst, dass es sich um jene Kategorie Lächeln handelte, das ein sehr großes Spektrum an Deutungen zuließ.

„Du nimmst mir das übel, nicht?“ Etwas hilflos wedelte Ratmann mit den großen, fleischigen Händen und stopfte sich die Zigarette unter den Schnauzer. Er nuschelte leicht, als er weiter sprach. „Hör mal, ich weiß, dass Hennrich diese... Scheiße gebaut hat und nicht Du. Deine Suspendierung ist seit gestern natürlich aufgehoben.“

„Und Hennrichs natürlich auch, wie ich annehme?“ Dörber spielte Maskerade, und diese hier machte ihm sogar ein wenig Freude - im Gegensatz zu der Gratwanderung gestern. Es schien ihm irgendwo unfair, aber für Paul und alle anderen Beteiligten war es einfach das Beste, anzunehmen, dass er wegen der Suspendierung das Handtuch warf, gekränkt, im Stolz verletzt vielleicht.

„Ja“, gab Ratmann gedehnt zu. Die Zigarette bewegte sich in seinem Schnauzer, als hätte sie ein Eigenleben - der Oberkommissar kaute auf dem Filter herum, wie stets, wenn er nervös war. Dörber entschloss sich, ihn zu erlösen, zog seinen tschechischen Zippo-Nachbau aus der Tasche und ließ ihn schnappen. „Danke“, sagte Ratmann, beugte sich vor und paffte zwei, drei Mal, bis die Glut leuchtete. Er ließ sich in den Sessel zurückfallen und stieß den Rauch durch sein rechtes Nasenloch - ein Trick, mit dem er immer gern verblüffte, der jetzt aber nur hilflos wirkte. „Herbert“, sagte er, zog heftig an der Zigarette und stieß den Rauch sofort wieder von sich - eine Kreuzung zwischen Walross und Drache. „Ich dachte, wir hätten uns vor - wie lange ist das her? - vierzig Jahren drauf geeinigt, dass wir unsere privaten Angelegenheiten und den Dienst auseinander halten.“

Dörber musste lachen, ein freundliches Lachen. „Ich bin nicht böse auf Dich, Paul“, sagte er und meinte es so. „Ich bin einfach nur sehr müde...“ Dörber hatte sich seit zwanzig Jahren nicht mehr so munter gefühlt, aber er wollte nicht, dass sich sein Freund weiter in irgendwelche Schuldgefühle hinein steigerte.

Ratmann schaute ihn lange an - er glaubte ihm nicht, das konnte man sehen. Hinter der Stirn arbeitete es, und es würde nicht lange dauern, bis er begann, Schlüsse zu ziehen. Und Ratmann war verdammt gut darin, Schlüsse zu ziehen. „Hat es etwas mit diesem Gruber zu tun?“ fragte er schneller, als Dörber erwartet hatte. Er bekam das Gefühl, auf einem morschen Steg über tiefes, schlammiges Wasser zu gehen. Pauls Gedanken nicht daran zu hindern, in die falsche Richtung zu gehen, war eine Sache, ihn offen anzulügen eine ganz andere.

„Ich habe bei dem Fall gemerkt, dass ich den Job nicht mehr machen kann“, sagte er vorsichtig.

„Aha“, meinte Ratmann und fixierte ihn weiter.

Glücklicherweise kam Lisa herein, ein Tablett mit drei Tassen herrlich duftendem Kaffee auf dem Arm. „Guten Morgen, Paulchen, was starrst Du so ernst?“ sagte sie fröhlich und setzte sich dazu. „Ich dachte, ein Kaffee wäre jetzt genau das richtige.“ Lisas Hand fand Dörbers, und ihre Finger verschränkten sich. Ratmann schaute von Dörber zu dessen Frau und zurück. In seinen Augen blitzte etwas auf - ein untrügliches Zeichen, dass ein Funke übersprang und er begriff - oder zu begreifen glaubte. Ihnen beiden war die schlaflose Nacht bestimmt anzusehen, Lisa hatte dunkle Schatten um die Augen, und er selber konnte das Gewicht der Tränensäcke förmlich fühlen.

„Dein Kaffee ist wie immer phantastisch“, sagte Paul und setzte die Tasse wieder auf dem Tisch ab. Er sah Lisa an. „Ich nehme an, Dir gefällt der Gedanke, dass unser bester Detektiv in den Vorruhestand geht?“

Lisa schaute zu Dörber hin und begann zu grinsen. „Ja, Paul, ich finde das sehr gut.“

„Akzeptierst Du meinen Antrag, Paul, oder nicht?“

Ratmann seufzte, drückte seine Zigarette aus und zog sich die nächste aus der Packung. „Es ist Dein gutes Recht, Herbert. Du wirst dreiundsechzig...“ sagte er. Dann schaute er wieder wie ein Seziermesser. Aber verdammt, Du bist Vollblutbulle - ich dachte, Du würdest Dich noch als Tattergreis mit Händen und Füßen dagegen wehren, pensioniert zu werden!“ Er wurde leiser. „Ich dachte, wir wollten zusammen in Rente gehen. Das Häuschen in Südfrankreich...“

„Dass Herbert nicht mehr Polizist ist, heißt doch nicht, dass jetzt alles den Bach runter geht“, sagte Lisa. „Du benimmst Dich wie eine Frau, der man die Scheidung anträgt.“

„Werner hat heut morgen auch gekündigt“, sagte Ratmann und machte eine fast verzweifelte Miene.

„Ich weiß“, sagte Dörber und bereute es sofort.

„Ach?“ Ratmanns Blick wurde schärfer.

„Ich hab übrigens“, fiel Lisa schnell ein, „Herberts restlichen Urlaub und die Überstunden zusammengerechnet.“

Ratmann hob die Augenbrauen. „Ich freue mich ja wirklich, dass...“ Er blies eine langen Strahl Rauch aus seinem rechten Nasenloch, während er Lisa und Dörber mit einem halb skeptischen, halb liebevollen Blick bedachte. „Ihr beiden, wie soll ich sagen, wieder zwei Frischverliebte seid... aber bist Du Dir sicher, dass es für Herbert die richtige Entscheidung ist? Auf seine Arbeit verzichten - Du weißt, wie wichtig sie ihm ist... zweiter Frühling hin oder her?“

„Das ist nicht auf Lisas Mist gewachsen, Paul“, lächelte Herbert und legte den Arm um seine Frau. „Sieh es mal so: Die Sache mit Kunze ist mir ziemlich in die Eingeweide gefahren. Wie wir ins Verhörzimmer gekommen sind... dieses Bild werde ich nie vergessen.“ Dörber winkte ab. Alles, was er jetzt noch sagen konnte, wäre zu viel.

„Was sollen wir ohne Dich machen, sag mir das? Du hast die beste Nase weit und breit... ohne Dich wäre Hennrich wahrscheinlich durchgekommen.“

„Ich weiß.“ Er wusste nur zu gut. „Aber in drei Jahren wäre ich sowieso nicht mehr dagewesen. Und wenn Ihr in der Dienststelle mit irgendwas nicht weiterkommt, bin ich für Euch da.“

„Gegen Honorar, versteht sich“, sagte Lisa.

Ratmann hob die Augenbrauen. „Wie meinst Du das?“

„Ich erzähl es Dir am Donnerstag“, sagte Dörber ausweichend. „Es ist noch nicht alles geklärt.“

„Aha“, machte Ratmann und blieb den Rauch so gezielt durch sein Nasenloch, dass er seine Gegenüber einnebelte. „Dann lass ich Euch Turteltäubchen jetzt mal lieber allein.“

„Wie ist das jetzt mit Herberts Ruhestand?“

Ratmann erhob sich und schaute Dörber mit Vorwurf im Blick an. Dann seufzte er, seine Schultern sackten ein klein wenig nach vorn. „Ist gebongt, Herbert. Setz einen Wisch auf und reich ihn mir die Tage rein. Ich lass Dich solange suspendiert, bis es soweit ist.“ Er knurrte: „Zufrieden?“

Ratmann nahm die Kaffeetasse vom Tisch und stürzte den Rest herunter.

„Du lernst es nie.“

Ratmann schaute Lisa fragend an. Sein Gesicht verzog sich zu erschrockenem Ekel. Er spuckte. Lisa braute ihren Kaffee seit fast vierzig Jahren türkisch auf. „Wir sehen uns dann Donnerstag beim Skat?“ Etwas missmutig kaute er auf den Körnern des Satzes herum.

„Natürlich, Paul, wie immer.“ Dörber begleitete seinen Vorgesetzten zur Tür. Als er sie öffnete, stand ein Mann im Blaumann vor ihm, eine Kladde unter dem linken Arm, den rechten Zeigefinger einen Zentimeter vor dem Klingelknopf. Er blickte ruckartig auf, fasste sich aber schnell. „Herr Herbert Dörber?“ Dörber nickte. Der Mann maß die Haustür mit abschätzendem Blick. „Könnte knapp werden, aber das kriegen wir schon hin.“ Er winkte dem Fahrer in dem großen, blauen Lieferwagen zu. Die Hydraulik röchelte und quietschte, als die Ladeklappe sich bewegte. Ratmann ging nicht, wie Dörber gehofft hatte, um seinen Dienstpflichten im Präsidium nachzukommen. Er stand immer noch neben ihm und betrachtete sehr interessiert den Transporter. Die zwei Männer stiegen ins Innere und rumorten dort herum. Ratmann machte nicht die geringsten Anstalten, endlich zu verschwinden - im Gegenteil, er zog die Kabinett aus der Dienstjacke und nuschelte zu Dörber: „Hast Du Feuer?“ Er hielt die Packung herüber, und Dörber nahm dankbar eine Zigarette heraus - da war eine dunkle Ahnung, was die beiden Möbelpacker gleich ans Licht befördern würden.

„Vorsicht, Mann!“ hörte er aus dem Innern des Wagens. „Das ist Kunst, verstehst‘e?“ Rumoren, Kratzen, etwas Schweres schleifte über Metallboden. Der Rücken des Möbelpackers tauchte aus dem Wageninneren auf, gekrümmt unter einer sichtlich schweren Last. Mit winzigen Schritten bewegte er sich auf den schwankenden Ladeklappe rückwärts. Und dann erschien genau das, was Dörber erwartet hatte: Eine große Holzskulptur. Aus dunklem Holz gefertigt war sie gut mannshoch und stellte eine Figurengruppe dar. Die beiden Packer hatten ihre Probleme, sie bis zum Haus zu tragen, so schwer war sie.

Ratmann sagte nichts. Er hatte sich in Schweigen und blauen Zigarettendunst gehüllt, während er seinen gewaltigen Schnauzer zwirbelte. Sein Blick lag auf der Skulptur und war sehr misstrauisch.

„Könnten wir mal vorbei?“ keuchte der vordere Packer, als er die Haustür erreicht hatte. Schweiß stand auf seiner Stirn. Dörber und Ratmann traten beiseite, und nach zwei Versuchen hatten die Blaumänner einen Winkel gefunden, wie sie das Kunstwerk durch die Tür brachten. „Wo soll sie hin?“

„Fragen Sie meine Frau“, gab Dörber zurück. Ratmanns blaugraue Augen musterten ihn spöttisch. Jetzt fehlte eigentlich nur noch eines.

Werners Ente fuhr in halsbrecherischem Tempo vor, und nicht nur der Pathologe selbst klappte seine dürren zwei Meter aus der Tür, sondern auch Menscher schälte sich auf der anderen Seite aus dem Gefährt. Der bärtige Riese mit Händen wie Schaufeln musste sich regelrecht herausziehen. Ratmanns Augenbrauen erreichten einen neuen Höchststand auf der Stirn.

„Morgen, Herr Oberkommissar“, grüßte Menscher freundlich mit seinem tiefen Bass. Er schüttelte Dörber die Hand und fragte grinsend nach seinem Kater wegen letzter Nacht. Werner war ein wenig verlegen, was auf seinem Gesicht das typische, von den meisten als sehr arrogant eingeschätzte Grinsen produzierte.

„Sag nichts“, sagte Ratmann zu Dörber. Er ließ seine Zigarette auf den Weg fallen und trat sie aus.

„Ich werd Dir alles erzählen, Paul, versprochen.“ Dörber fühlte sich seinem alten Freund gegenüber wie ein Arschloch. Sie kannten sich seit ihrer Zeit als Lanzer in der NVA1 und hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt.

„Ich versteh‘ das schon, Herbert“, murmelte Paul. Er klang traurig, aber einen Moment später schaute er auf und grinste. „Ich schätze, in drei Jahren, wie? Wenn ich nicht früher in den Ruhestand gehe.“ Er kratzte sich am Kopf, dann nahm er Dörbers Hand und schüttelte sie. Dörber grinste zurück, sein Blick folgte dem Oberkommissar, bis er in seinen grünen BMW gestiegen war. Als der Wagen außer Sicht war, wandte er sich Werner und Menscher zu. „Wollt Ihr‘n Kaffee?“ fragte er, und beide nickten. Die durchzechte Nacht war Ihnen anzusehen.

„Seit heute Morgen bin ich ein freier Mann!“ sagte Werner. „Wir könnten nachher direkt ins Rathaus gehen wegen der Gewerbeanmeldung.“

„Lisa meint, danach sollten wir fein essen gehen.“

„Ich kenn da einen Italiener, am Kanal hinten, an der Spinnerei“, grinste Menscher. „Man kann da direkt mit dem Paddelboot ranfahren und sehr gut essen.“

„Sie müssen Herr Menscher sein“, sagte Lisa. Sie war neben Dörber getreten und reichte dem bärtigen Riesen die Hand. „Ihre Skulptur ist beeindruckend! Nur ein bisschen groß für unser Wohnzimmer...“

Menscher fasste ihre Hand wie einen verletzlichen Schmetterling. „Is‘ auch fürs neue Büro.“

„Und warum stopfen Sie dann mein Wohnzimmer damit voll?“ scherzte sie.

„Sie gehört jetzt Ihnen“, sagte Menscher sehr ernst. „Da hat sie nichts mehr bei mir zu suchen. Ich mach das immer so.“

Dörber folgte ihnen ins Haus. Mitten in der Wohnstube ragte jetzt die wuchtige Skulptur auf. Er hatte sie in verschiedenen Stadien der Entstehung gesehen, erinnerte er sich, hatte zugeschaut, wie der Bildhauer mit gezielten Bewegungen des scharfen, halbmondförmigen Messers die Gesichtskonturen des kleinen, grotesken Mannes aus dem Holz geschält hatte. Der Anblick der gnomenhaften Fratze ließ Dörber zurückdenken. Es schien ihm eine Unmöglichkeit, dass jener verregnete Morgen keine halbe Woche her war. Es schien ihm eine Ewigkeit vergangen zu sein seitdem, und doch war seine Erinnerung so klar und deutlich, daß er sich an jedes noch so kleine Detail erinnern zu können meinte...

„You didn’t know this dead man, McCarthy.
He was a devil incarnate. I tell you that.“
Sir Arthur Conan Doyle: „The Boscombe Valley Mystery“

II.

Es war keine sehr beeindruckende Leiche, die am Ufer des Bitterfelder Meeres lag, und Dörber war froh darum. Beeindruckende Leichen mochten in Fernseh-Serien beliebt sein, in der Wirklichkeit schlugen sie auf den Magen, selbst nach fünfunddreißig Jahren Dienst. Und in letzter Zeit immer stärker - mit dreiundsechzig wurde die Mahnung an die eigene Sterblichkeit langsam unangenehm.

Der Tote war höchstens eins fünfsechzig groß, und lag mit dem Gesicht im Sand. Er trug nichts als eine im Alter gelblich gewordene Unterhose, offenbar aus NVA-Beständen. Der eine Arm lag im Sand, der andere im Wasser - von den Wellen bewegt schien er unbeholfen zu winken. Dörber schaute weg. Das Aufgedunsene der Wasserleiche und die bläuliche Färbung der Haut trat durch die Magerkeit und Blässe des Körpers deutlich hervor, und er hasste das.

Er war übermüdet, die ganze Nacht hatte er in einem muffigen Keller gesessen und das Telefon irgendeines Ausländers angezapft, der ein paar Mal zu oft über George Bush und vom Zaun gebrochene Kriege geredet hatte. Als die Überwachung angeordnet wurde, hatte er darauf bestanden, es lieber selber zu machen. Ehe Streifenpolizisten mit etwas paranoiden Vorstellungen einen persischen Geburtstagsgruß für einen terroristischen Einsatzbefehl hielten und die Wohnung stürmten. Trotzdem stellten im Moment ein paar Kollegen die Wohnung in der Hoffnung auf den Kopf, ein paar Tonnen C4 zu finden oder vielleicht die eine oder andere Atombombe. Wie bei der Stasi, damals. Es war schließlich alles das selbe, egal, wer oben saß.

Er ließ sich ein wenig schwerfällig in den nassen Sand nieder und zündete sich eine Kabinett an.

Vor drei Jahren, im Sommer, war hier die Mulde hochwasserwild durch gebrettert, hatte die Straße samt einigen Millionen Kubikmeter Sand und Kies mit einer Handbewegung weggewischt und sich in den Braunkohle-Tagebau ergossen, um die vorsichtig angesetzte Zwölfjahres-Flutung in einer Nacht zu erledigen. Die Straße war drei Wochen nach der Jahrhundertflut wieder befahrbar, die meisten Häuser renoviert, und nichts erinnerte mehr daran, dass hier alles ein riesiger See gewesen war, in dem Häuser herumschwammen und totes Vieh.

Aber der Flusslauf, den die Mulde sich hier gegraben hatte, um in den Tagebau zu kommen, war noch da. Ein tiefer Graben mit abgestuften Rändern, in die sich schon junge Weiden und alle möglichen Büsche und Kräuter krallten. Es war schön, fand Dörber, trotz bleiernem Himmel, Niesel und kaltem Wind, fast ein wenig wie an der Ostsee. Die Wellen plätscherten, ein Vogel sang sein Abschiedslied, bevor er in den Süden flog. Er dachte an das kleine Haus in Südfrankreich, das er und Paul sich gemeinsam für ihren Ruhestand gekauft hatten.

Fast hätte er den Toten vergessen.

„Wir sind jetzt fertig, Herr Kommissar. Wir wollen ihn umdrehen.“

Dörber schaute hoch. Hennrich, ein junger Kollege, stand vor ihm, und das Gefühl, an einem verregneten Tag an der Ostsee zu sitzen, war weggewischt. Die Leiche lag wieder im Bitterfelder Meer und winkte ihm zu. Langsam drückte er die Zigarette im Sand aus und erhob sich mit knackenden Gelenken. Nicht zu schnell ging er zum Ufer, der Tote lockte ihn nicht besonders. Am Wasser blies der Wind stärker, der Niesel kroch klamm und kalt unter die Uniform. Er klappte den Kragen hoch und stopfte die Hände in die Taschen. Die drei Männer von der Spurensicherung standen vor der Leiche herum, die Schulter hochgezogen und von einem Bein auf das andere tretend. Es war sehr kalt für den ersten Oktober.

„Wir haben nichts weiter gefunden“, sagte Hennrich. „Es hat stark geregnet die letzten Tage, und sämtliche Spuren sind fort.“ Hennrichs Uniform war immer frisch gebügelt, und sein Verbrauch an Pomade musste immens sein - selbst der heftige, nasse Wind vermochte die Haare nicht zu bewegen. Undenkbar, dass er die Hände in die Taschen tat - amüsiert bemerkte Dörber, dass er krampfig die klammen Finger öffnete und schloss.

Dörber schaute sich genauer um. Etwa zweihundert Meter den Strand hinunter stand eine Gruppe Weidensträucher. Ein perfekter Ort, um sich umzuziehen und seine Sachen zu verstecken, wenn man hier baden wollte. „Habt Ihr da schon mal nachgeschaut?“ fragte er und deutete auf die Büsche. Hennrich schaute fragend, mit diesem leicht unterwürfigen Ausdruck in den Augen.

„Kommen Sie mit, Hennrich“, sagte Dörber. „Die Leiche kann solange warten. Wie die aussieht, machen ihr zehn Minuten auch nichts mehr aus.“

Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie am Ufer entlang gingen. Die Wellen hatten eine kleine, unterspülte Kante geschaffen, hier und da lag ein ausgeblichenes Stück Weidenholz. Die Gruppe junger Weidenbüsche stand direkt am Ufer, einige Wurzeln waren freigespült, und die Blätter wurden schon gelb. Dörber bog die Äste auseinander.

„Woher haben Sie das gewusst?“ fragte Hennrich überrascht.

„Die Leute laufen im allgemeinen nicht in Unterhosen herum“, sagte Dörber grob - das anbiedernd Bewundernde in Hennrichs Stimme stieß ihn ab. Auf dem Boden, fein säuberlich zusammengefaltet, lagen Hose, Hemd, Pullover und Anorak, nass vom Regen und teilweise mit den schmalen, gelblichen Weidenblättern bedeckt. Daneben ein altes, aber sichtlich gut gepflegtes Herrenfahrrad aus DDR-Produktion. „Und Mörder machen sich meist nicht die Mühe, ihr Opfer vorher auszukleiden.“

„Es sei denn, er wollte den Mord wie Selbsttötung aussehen lassen.“

Dörber überhörte das und sah sich die Kleidung genauer an. Die Hose, abgetragener Cord, war an den Knien ausgebeult, das Hemd schien, ebenso wie die Strümpfe, aus NVA-Beständen zu stammen, der Anorak war offensichtlich Second-Hand-Ware. In der Innentasche fand Dörber eine Brieftasche.

„Die Klamotten sehen nicht nach Geld aus“, sagte er zu Hennrich. „Ehrhardt Gruber. Wohnhaft in Brehna. Badstraße 12. In der Brieftasche sind fünf Euro und ein paar Münzen.“ Er steckte den Pass zu sich.

„Es ist ein Geheimnis“, murmelte Hennrich, während er das Fahrrad untersuchte. „Ein alter Mann wird beim Baden getötet, obwohl er kein Geld hat. Noch nicht einmal das Fahrrad hätte sich gelohnt.“