Sag niemals stirb - Tess Gerritsen - E-Book
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Tess Gerritsen

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Beschreibung

Zwanzig Jahre sind vergangen, seit ihr Vater mit seinem Flugzeug abgestürzt ist: Wilone "Willy" Maitland reist nach Vietnam, um seinem Schicksal auf den Grund zu gehen. Dort trifft sie auf Guy Barnard, einen ortskundigen Paläontologen, der ihr seine Hilfe anbietet. Er erzählt ihr von einem berüchtigten US-Piloten, den man nur unter Friar Tuck kannte - und der für den Feind geflogen ist. War ihr Vater etwa ein Verräter? Schnell erfährt Willy, dass dunkle Mächte auch vor Mord nicht zurückschrecken, damit diese Frage unbeantwortet bleibt … »Tess Gerritsen ist eine der besten in ihrem Metier.« USA Today

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Seitenzahl: 377

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HarperCollins®

Copyright © 2018 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH

Copyright © 1992 by Terry Gerritsen Originaltitel: »Never Say Die« erschienen bei: Mira Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. / S. á r. l.

Covergestaltung: büropecher, Köln Coverabbildung: kao / shutterstock Redaktion: Marco Mewes

ISBN E-Book 9783959677530

www.harpercollins.de

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

PROLOG

1970

Laos – an der Grenze zu Nordvietnam

Dreißig Meilen vor Muong Sam sahen sie die ersten Leuchtspurgeschosse den Himmel durchpflügen.

Die DeHavilland Twin Otter mit William »Wild Bill« am Steuer bockte wie ein junges Fohlen, als sie am Heck des Flugzeugrumpfs getroffen wurde. Sofort entschied sich der Pilot für einen Steigflug, um eine sicherere Höhe zu erreichen. Als die nebelverhüllten Berge unter ihm wegtauchten, zischten noch mehr Patronen an ihnen vorbei und durchlöcherten das Cockpit.

»Verdammt, Kozy, du bringst Pech«, brummte Maitland zu seinem Co-Piloten. »Jedes Mal, wenn wir gemeinsam aufsteigen, schmecke ich Blei auf der Zunge.«

Ungerührt kaute Kozlowski auf seinem Klumpen Kaugummi weiter. »Keine Sorge«, antwortete er gedehnt und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Löcher in der Windschutzscheibe. »Die haben dich um mindestens fünf Zentimeter verfehlt.«

»Ich würde eher sagen, zwei Zentimeter.«

»Was macht das für einen Unterschied?«

»Zwei Zentimeter können einen gewaltigen Unterschied machen.«

Lachend schaute Kozy aus dem Fenster. »Sagt meine Frau auch immer.«

Die Tür zum Cockpit wurde aufgerissen. Valdez, der für die Fracht an Bord zuständige Mann, steckte den Kopf herein. Um die breiten Schultern hatte er einen Fallschirm geschnallt. »Was zum Teufel ist hier …« Er erstarrte, als ein weiteres Geschoss vorbeisauste.

»Hier draußen gibt’s verdammt große Moskitos.« Vor Kozlowskis Mund formte sich eine große rosafarbene Blase.

»Was war das?«, wollte Valdez wissen. »AK-47?«

»Sieht mehr nach einem 57-Millimeter-Geschoss aus«, antwortete Maitland.

»Sie haben nichts von 57-Millimetern gesagt. Was haben sie uns überhaupt erzählt?«

Kozlowski zuckte mit den Schultern. »Das Aufregendste, das du für deine Steuerdollar kriegen kannst.«

»Wie hält sich denn unsere ›Ladung‹?«, wollte Maitland wissen. »Ist die Hose noch trocken?«

Valdez beugte sich vor und sagte in vertraulichem Tonfall: »Mann, das ist vielleicht ein merkwürdiger Passagier.«

»Erzähl mir was Neues«, unkte Kozlowski.

»Nee, das ist wirklich ein komischer Vogel. Von allen Seiten fliegen uns die Geschosse entgegen, und er zuckt nicht mal mit der Wimper. Sitzt einfach da, als würde er auf einem Teich herumpaddeln. Ihr solltet mal die Medaille an seinem Hals sehen. Die wiegt mindestens ein Kilo.«

»Übertreib nicht«, sagte Kozlowski.

»Wenn ich’s euch sage! Da hängt ein Kilo Gold um seinen kleinen fetten Hals. Wer ist das eigentlich?«

»Irgendein hohes Tier aus Laos«, antwortete Maitland.

»Mehr haben sie euch nicht gesagt?«

»Ich bin nur der Lieferjunge. Mehr muss ich nicht wissen.« In achttausend Fuß Höhe brachte Maitland die DeHavilland in eine stabile Lage. Er warf einen Blick durch die geöffnete Cockpittür und sah den einsamen Passagier seelenruhig zwischen den Kisten voll Nachschub sitzen. In der dämmerigen Kabine glänzte das Gesicht des Laoten wie poliertes Mahagoni. Er hielt die Augen geschlossen und bewegte stumm seine Lippen. Betet er? fragte Maitland sich. Dieser Mann gehörte in der Tat zu einer seiner interessanteren Frachten.

Und Maitland hatte in seinen zehn Jahren bei Air America schon eine Menge seltsamer Passagiere befördert: deutsche Schäferhunde und Generäle, Gibbons und Freundinnen. Wohin auch immer sie wollten, er hatte sie pünktlich und sicher ans Ziel gebracht. Gäbe es in der Hölle eine Landebahn, pflegte er zu sagen, würde er sie auch dorthin fliegen – solange sie ein gültiges Ticket vorweisen konnten. Alles, zu jeder Zeit, an jeden Ort, lautete der Wahlspruch von Air America.

»Da ist der Fluss. Die Song Ma.« Kozlowski spähte hinunter auf den üppigen Dschungel, über dem dichte Nebelschwaden waberten. »Jede Menge Deckung. Wenn die noch mehr .57er im Anschlag haben, können wir uns auf eine harte Landung gefasst machen.«

»Darauf können wir uns auf jeden Fall gefasst machen«, erwiderte Maitland, während er die samtigen grünen Hügelketten zu beiden Seiten betrachtete. Das Tal war schmal; er würde ein rasches und steiles Landemanöver durchführen müssen. Die Landebahn war verdammt kurz; kaum mehr als ein Bleistiftstrich im Dschungel. Außerdem mussten sie mit bislang unentdeckten Geschützstellungen rechnen. Aber der Befehl lautete, den VIP-Laoten, wer immer er auch sein mochte, mitten in nordvietnamesischem Territorium abzusetzen. Davon, ihn wieder abzuholen, war nicht die Rede gewesen. Für Maitland klang die Mission wie eine Reise ins Nirwana.

»Wir landen in einer Minute«, rief er über seine Schulter hinweg zu Valdez. »Sag unserem Passagier Bescheid. Sobald wir unten sind, muss er verschwinden.«

»Er sagt, er nimmt die Kiste mit.«

»Welche Kiste? Ich weiß nichts von einer Kiste.«

»Sie haben sie in letzter Minute eingeladen. Kurz nachdem wir die Vorräte für Nam Tha eingepackt haben. Ein ziemlich dickes Ding. Wahrscheinlich brauche ich Hilfe.«

Ergeben schnallte Kozlowski sich ab. »Na gut«, seufzte er. »Aber denk dran: Fürs Kistenschleppen werde ich nicht bezahlt.«

Maitland lachte. »Für was wirst du überhaupt bezahlt?«

»Für ’ne ganze Menge.« Kozlowski schob sich an Valdez vorbei durch die Cockpittür. »Essen. Schlafen. Dreckige Witze …«

Seine letzten Worte wurden von einem ohrenbetäubenden Knall verschluckt, der Maitlands Trommelfelle platzen ließ. Die Explosion schleuderte Kozlowski – beziehungsweise das, was von ihm übrig geblieben war – rückwärts ins Cockpit. Blut spritzte auf die Instrumentenanzeigen und machte den Höhenmesser unleserlich. Doch Maitland brauchte keinen Höhenmesser, um zu spüren, dass sie rasant an Höhe verloren.

»Kozy!«, schrie Valdez und starrte auf die Überreste des Kopiloten. »Kozy!«

Seine Worte gingen im Heulen des Windes unter. Die DeHavilland zitterte wie ein verwundeter Vogel, der um sein Leben kämpfte. Maitland mühte sich mit der Steuerung ab. Er wusste sofort, dass die Hydraulik außer Kontrolle war. Jetzt konnte er nur noch auf eine möglichst glimpfliche Bauchlandung in den Baumkronen des Dschungels hoffen.

Er drehte den Kopf zur Seite, um den Schaden zu begutachten. Zwischen umherfliegenden Gegenständen lag der blutüberströmte Körper ihres laotischen Passagiers, der gegen die Frachtkisten gepresst wurde. Durch seltsam verbogenen Stahl sah Maitland auch das Sonnenlicht und Fetzen von blauem Himmel und Wolken dort, wo die Tür des Frachtraums hätte sein sollen. Was zum Teufel war passiert? War irgendetwas im Laderaum der Maschine explodiert?

»Spring ab!«, schrie er Valdez zu.

Der Frachthelfer antwortete nicht. Noch immer starrte er entsetzt auf Kozlowski.

Unsanft versetzte Maitland ihm einen Stoß. »Raus hier, verdammt noch mal!«

Endlich reagierte Valdez. Er stolperte aus dem Cockpit mitten hinein in ein Chaos aus zerstörten Frachtkisten und verbogenem Metall. An der zerfetzten Öffnung, wo eigentlich die Frachttür hätte sein sollen, blieb er stehen. »Maitland?«, schrie er über das Brüllen des Windes hinweg.

Ihre Blicke trafen sich, und innerhalb von Sekundenbruchteilen wussten sie Bescheid. Sie wussten es beide. Es war das letzte Mal, dass sie einander lebend sehen würden.

»Ich komm gleich nach!«, schrie Maitland. »Spring!«

Valdez trat ein paar Schritte zurück. Dann nahm er Anlauf und verschwand durch das Loch in der Flugzeugwand.

Maitland sah ihm nicht nach, um sich zu vergewissern, dass Valdez’ Fallschirm sich geöffnet hatte. Er musste sich um andere Dinge kümmern.

Mit stotterndem Motor stürzte die Maschine der Erde entgegen.

Als er nach seinem Gurtschloss tastete, erkannte er schlagartig, dass er sein Glück ausgereizt hatte. Ihm blieb weder die Zeit noch genug Höhe, um sich in seinen Fallschirm zu zwängen. Da er ohnehin nie an den Nutzen einer solchen Vorrichtung geglaubt hatte, hatte er auch nie einen umgeschnallt. Es wäre für ihn das Eingeständnis gewesen, kein Vertrauen in seine Fähigkeiten als Pilot zu haben. Und Maitland wusste es – jeder wusste es –, dass er der Beste war.

Seelenruhig befestigte er wieder seinen Gurt und ergriff den Steuerknüppel. Durch das zerbrochene Cockpitfenster schaute er hinunter auf den Dschungel, üppig, grün und so schön, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Der Urwald war bereit, ihn zu empfangen. Irgendwie hatte Maitland immer schon gewusst, dass es auf diese Weise enden würde: Der Wind, der durch sein zerstörtes Flugzeug pfiff, die Erde, die auf ihn zuraste, seine Hände, die den Steuerknüppel umklammerten … Dieses Mal würde er nicht davonkommen.

Die Erkenntnis seiner eigenen Sterblichkeit jagte ihm einen Schreck ein. Gleichzeitig staunte er über den Gedanken. Ich werde sterben.

Und ein Gefühl der Verwunderung ergriff auch Besitz von ihm, als die DeHavilland in die Baumkronen krachte.

Vientiane, Laos

Um 19 Uhr ging die Meldung ein, dass Flug Nummer 5078 von Air America verschollen war.

Im Kommandozentrum der US-Armee reagierten Colonel Joseph Kistner und seine Kollegen vom amerikanischen Geheimdienst, der Central and Defense Intelligence, mit schockiertem Schweigen auf die Nachricht. Hatte ihre Operation, die sie so sorgfältig geplant hatten und die für die Amerikaner so wichtig war, in einer Katastrophe geendet?

Colonel Kistner verlangte umgehend eine Bestätigung.

Der Führungsstab von Air America lieferte ihnen die Einzelheiten. Flug Nummer 5078, der um 15 Uhr in Man Tha eintreffen sollte, war nicht am Ziel angekommen. Bei einer Suche entlang der vermuteten Flugroute, die bei Einbruch der Dunkelheit abgebrochen werden musste, waren keine Spuren des Wracks gefunden worden. Nahe der Grenze war jedoch schwerer Flakbeschuss gemeldet worden, und bei Muong Sam hatte man Geschützstellungen mit .57-Millimeter-Gewehren gesichtet. Ein von Berggipfeln zerklüftetes Gelände sowie unsichere Wetterbedingungen verschlimmerten die Situation ebenso wie die geringe Anzahl von Landebahnen auf nicht-feindlichem Territorium.

Man musste also davon ausgehen, dass Flug Nummer 5078 abgeschossen worden war.

Mit grimmigen Mienen hatten sich die Männer um den Tisch versammelt. Ihre größte Hoffnung war soeben an Bord eines dem Untergang geweihten Flugzeugs gestorben. In Erwartung einer Entscheidung blickten alle zu Kistner.

»Die Suche wird bei Tagesanbruch fortgesetzt«, entschied er.

»Das hieße, den Toten die Lebenden hinterherzuschicken«, wandte der CIA-Officer ein. »Kommen Sie, Gentlemen. Wir wissen doch alle, dass die Besatzung nicht überlebt hat.«

Was für ein kaltblütiges Arschloch, dachte Kistner. Aber der Mann hatte recht – wie immer. Der Colonel sammelte seine Unterlagen ein und erhob sich. »Wir suchen nicht nach den Männern«, erklärte er. »Sondern nach dem Wrack. Ich will, dass die Absturzstelle gefunden wird.«

»Und dann?«

Kistner ließ die Schlösser seiner Aktentasche zuschnappen. »Werden wir das Wrack einschmelzen.«

Der CIA-Officer nickte zustimmend. Niemand widersprach. Die Operation war katastrophal gescheitert. Es gab nichts mehr zu tun.

Abgesehen vom Zerstören der Beweise.

1. KAPITEL

20 Jahre später

Bangkok, Thailand

Auf General Joe Kistners Stirn zeigte sich kein einziger Schweißtropfen, was Willy Jane Maitland in Erstaunen versetzte. Denn sie selbst schwitzte, obwohl sie nur hauchdünne Baumwollunterwäsche, eine ärmellose Bluse und einen Leinenrock trug, der ziemlich zerknittert war. Dabei sah Kistner aus wie ein Mann, der bei solchen Temperaturen eigentlich schweißüberströmt sein sollte. Sein Gesicht war stark gerötet, er hatte Hängebacken, eine von roten Adern durchzogene Nase und einen Hals, der so dick war, dass er den steifen Kragen seiner Uniform zu sprengen drohte. Jeder Zoll der draufgängerische, unverkennbare alte Haudegen, dachte sie. Bis auf die Augen. Sie sind unsicher. Ausweichend.

Diese Augen, ein kaltes Blassblau, schauten jetzt über die Veranda. In der Ferne schienen die üppig bewachsenen Thai-Berge in der Nachmittagshitze zu dampfen. »Das ist doch vergebene Mühe, Miss Maitland«, sagte er. »Es ist immerhin schon zwanzig Jahre her. Sie glauben doch auch nicht, dass Ihr Vater noch am Leben ist.«

»Meine Mutter hat das niemals akzeptiert. Sie braucht einen Toten, den sie bestatten kann, General.«

Kistner seufzte. »Natürlich. Die Ehefrauen. Es sind immer die Ehefrauen. Bei so vielen Witwen vergisst man leicht …«

»Sie hat es nicht vergessen.«

»Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen kann. Was ich Ihnen sagen sollte.« Er drehte sich zu ihr um und heftete den Blick seiner blassblauen Augen auf ihr Gesicht. »Und mal ehrlich, Miss Maitland: Wozu sollte das gut sein? Bis auf die Tatsache, dass Ihre Neugier befriedigt wird.«

Seine Bemerkung ärgerte sie. Es ließ ihren Auftrag unwichtig erscheinen, und es gab nur wenig, das Willy so sehr in Rage versetzte wie das Gefühl vermittelt zu bekommen, unbedeutend zu sein. Vor allem von einem aufgeblasenen, kurzgeschorenen Kriegstreiber. Dienstgrade beeindruckten sie nicht im Geringsten – erst recht nicht, nachdem sie in den vergangenen Monaten mit so vielen steifbeinigen Militärs geredet hatte. Sie hatten alle ihr Mitgefühl bekundet und ihr mitgeteilt, dass sie ihr nicht helfen könnten und all ihre Fragen zurückgewiesen. Aber Willy war keine Frau, die sich so leicht abwimmeln ließ. Sie würde so lange an dieser Mauer aus Schweigen kratzen, bis sie Antworten bekam – selbst auf das Risiko hin, unsanft hinausgeworfen zu werden.

Und in letzter Zeit hatte man sie aus vielen Büros hinausgeworfen. Das war jedenfalls ihr Eindruck.

»Das ist ein Fall für die Vermisstenabteilung«, sagte Kistner jetzt. »An die sollten Sie sich wenden …«

»Sie haben mir schon gesagt, dass sie mir nicht helfen können.«

»Ich kann es auch nicht.«

»Wir wissen beide, dass Sie es können.«

Ein Schweigen entstand, ehe er leise fragte: »Wirklich?«

Sie beugte sich ein wenig vor, fest entschlossen, ihren Vorteil zu nutzen. »Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, General. Ich habe Briefe geschrieben, mit Dutzenden von Leuten gesprochen – praktisch mit jedem, der etwas mit diesem letzten Auftrag zu tun hatte. Und wann immer ich Laos oder Flug Nummer 5078 von Air America erwähnt habe, fiel Ihr Name.«

Er lächelte flüchtig. »Wie schön, dass man sich an mich erinnert.«

»Man hat mir erzählt, dass Sie Militärattaché in Vientiane waren und dass Ihre Dienststelle den letzten Flug meines Vaters in Auftrag gegeben hat. Und dass Sie persönlich den Befehl dazu gegeben haben.«

»Woher haben Sie denn dieses Gerücht?«

»Von meinen Kontaktleuten bei Air America. Dads ehemalige Kameraden. Ich würde sie durchaus als verlässliche Informationsquelle bezeichnen.«

Kistner schwieg eine Weile. Dabei studierte er sie so gründlich, wie er vermutlich auch einen Schlachtplan studieren würde. »Möglicherweise habe ich einen solchen Befehl gegeben«, entgegnete er.

»Soll das heißen, Sie erinnern sich nicht?«

»Das soll heißen, dass ich nicht darüber reden darf. Es handelt sich um geheime Informationen. Die Ereignisse von Laos sind ein äußerst heikles Thema.«

»Wir reden hier nicht über militärische Geheimnisse. Der Krieg ist seit fünfzehn Jahren vorbei.«

Ihre Aggressivität ließ Kistner überrascht schweigen. Sie verblüffte ihn umso mehr, als er sie von einer so zierlichen Person kaum erwartet hätte. Offenbar konnte Willy Maitland, die gerade einmal einen Meter fünfundfünfzig maß, genauso ruppig werden wie ein Marine von einem Meter neunzig, und sie scheute offenbar keinen Streit. Von dem Augenblick an, als sie seine Veranda betreten hatte, die Schultern entschlossen gestrafft, das Kinn angriffslustig vorgereckt, hatte er gewusst, dass mit dieser Frau nicht zu spaßen war. Sie erinnerte ihn an einen Ausspruch Eisenhowers: »Was zählt, ist nicht die Größe des Hundes im Kampf – es ist die Größe des Kampfes im Hund.« Drei Kriege – in Japan, Korea und Vietnam – hatten Kistner gelehrt, niemals einen Gegner zu unterschätzen.

Er beschloss, Wild Bill Maitlands Tochter auf keinen Fall zu unterschätzen.

Sein Blick schweifte von der großzügigen Veranda hinüber zu den leuchtend grünen Bergen. Ein Ara kreischte einen lauten Protest in seinem schmiedeeisernen Käfig.

Endlich sprach Kistner weiter. »Flug Nummer 5078 startete von Vientiane mit drei Besatzungsmitgliedern – Ihrem Vater, einem Frachthelfer und dem Kopiloten. Irgendwo auf der Route überflogen sie nordvietnamesisches Hoheitsgebiet. Wir vermuten, dass sie dort unter feindlichen Beschuss gerieten. Nur Luis Valdez, der Mann, der für die Fracht verantwortlich war, gelang der Ausstieg. Er wurde sofort von den Nordvietnamesen festgenommen. Ihren Vater hat man nicht gefunden.«

»Das heißt nicht, dass er tot ist. Valdez hat überlebt …«

»Ich würde diese Art von Davonkommen nicht gerade als ›Überleben‹ bezeichnen.«

Beide schwiegen eine Weile in Erinnerung an den Mann, der fünf Jahre als Kriegsgefangener hatte überstehen müssen und als gebrochener Mann in die Zivilisation zurückgekehrt war. Luis Valdez war an einem Samstag zurückgekommen und hatte sich am darauffolgenden Sonntag erschossen.

»Sie haben etwas ausgelassen, General«, bohrte Willy weiter. »Ich habe gehört, dass es noch einen Passagier gegeben hat …«

»Ach ja.« Kistner reagierte sofort. »Den hatte ich vergessen.«

»Wer war er?«

Kistner zuckte mit den Schultern. »Ein Laote. Sein Name spielt keine Rolle.«

»Arbeitete er für den Geheimdienst?«

»Diese Information ist vertraulich, Miss Maitland.« Er wandte den Blick ab, womit er ihr zu verstehen gab, dass er nicht vorhatte, auch nur ein weiteres Wort über den Laoten zu verlieren. »Nach dem Absturz des Flugzeugs haben wir eine Suche eingeleitet«, fuhr er fort. »Aber das Bodenfeuer war äußerst heftig. Und uns war klar: Sollte jemand überlebt haben, würde er sich in Feindeshand befinden.«

»Also haben Sie die Leute dort sich selbst überlassen.«

»Wir halten nichts davon, Menschenleben aufs Spiel zu setzen, Miss Maitland. Doch genau das hätten wir mit einer Rettungsaktion getan. Wir hätten die Lebenden den Toten geopfert.«

Sie verstand seine Beweggründe. Er war ein militärischer Taktiker, der keine Zeit mit Sentimentalitäten verschwendete. Selbst jetzt saß er kerzengerade in seinem Stuhl, während er gelassen die grünen Hügel rund um seine Villa betrachtete, als sei er noch immer und bis in alle Ewigkeit auf der Suche nach einem Gegner.

»Wir haben die Absturzstelle nie gefunden«, fuhr er fort. »Dieser Dschungel kann alles verschlucken. Über den Tälern hängen Nebel und Rauch. Die Bäume stehen so dicht, dass noch nie Tageslicht den Boden erreicht hat. Aber Sie werden es ja selbst bald sehen. Wann fahren Sie nach Saigon?«

»Morgen früh.«

»Und die Vietnamesen haben sich bereiterklärt, mit Ihnen über die Angelegenheit zu reden?«

»Ich habe ihnen den Grund für meinen Besuch nicht mitgeteilt. Sonst hätte ich möglicherweise kein Visum bekommen.«

»Ein kluger Schachzug. Die Vietnamesen mögen Konflikte nicht besonders gern. Was haben Sie ihnen denn erzählt?«

Sie schmunzelte. »Dass ich eine ganz normale Touristin bin, die auf eigene Faust unterwegs ist und sechs Städte in zwei Wochen besichtigen will.«

»So muss man das in Asien machen. Nur nicht mit der Tür ins Haus fallen. Immer um den heißen Brei reden.« Er schaute auf seine Uhr, um ihr zu verstehen zu geben, dass das Gespräch beendet war.

Sie erhoben sich gleichzeitig. Während er ihr die Hand schüttelte, musterte er sie mit einem abschätzenden Blick. Sein Griff war fest und entschlossen – genau wie man es von einem altgedienten Soldaten erwarten konnte.

»Viel Glück, Miss Maitland«, sagte er und nickte zum Abschied. »Ich hoffe, Sie finden, wonach Sie suchen.«

Er wandte sich um und schaute erneut zu den Bergen hinüber. In diesem Moment bemerkte sie zum ersten Mal die Schweißtropfen auf seiner Stirn. Sie glänzten wie kleine Diamanten.

General Kistner schaute der Frau hinterher, die von einem Diener zurück ins Haus geführt wurde. Kistner fühlte sich unbehaglich. An Wild Bill Maitland erinnerte er sich nur zu gut. Seine Tochter war ihm sehr ähnlich. Es würde Ärger geben.

Er ging zum Teetisch und griff nach einer silbernen Glocke. Ihr Läuten hallte über die Veranda, und Sekunden später tauchte Kistners Sekretär auf.

»Ist Mr. Barnard schon eingetroffen?«, fragte Kistner.

»Er wartet bereits seit einer halben Stunde«, antwortete der Mann.

»Und Miss Maitlands Fahrer?«

»Ich habe ihn fortgeschickt, wie Sie angeordnet haben.«

»Gut.« Kistner nickte. »Sehr gut.«

»Soll ich Mr. Barnard hereinbitten?«

»Nein. Sagen Sie ihm, dass ich meine Termine gestrichen haben. Und die für morgen geplanten ebenfalls.«

Der Sekretär runzelte die Stirn. »Er wird ziemlich verärgert sein.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Kister, drehte sich um und ging zu seinem Büro. »Aber das ist sein Problem.«

Ein thailändischer Diener in gestärkter weißer Jacke begleitete Willy durch einen kathedralenhaften Saal in den Empfangsraum. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Schließlich blieb er stehen und sah sie mit einem höflichen Blick an. »Soll ich Ihnen einen Wagen bestellen?«, fragte er.

»Nein, vielen Dank. Mein Fahrer bringt mich zurück.«

Der Diener sah verwirrt aus. »Aber Ihr Fahrer ist bereits vor einiger Zeit weggefahren.«

»Unmöglich.« Verärgert schaute sie aus dem Fenster. »Er sollte doch auf mich warten …«

»Vielleicht hat er im Schatten der Bäume geparkt. Ich schaue mal nach.«

Durch die deckenhohen Terrassenfenster sah Willy dem Diener hinterher, der mit eleganten Schritten die Stufen zur Straße hinunterlief. Das Anwesen war weitläufig und reich bepflanzt. In diesem Pflanzendickicht ließ sich ein Wagen gut verstecken. Hinter der Zufahrt schnitt ein Gärtner eine Jasminhecke. Ein mit Kies säuberlich bedeckter Weg führte quer über den Rasen zu einem von Bäumen beschatteten Blumengarten mit steinernen Bänken. In der Ferne schwebte ein märchenhaft blauer Schleier über Bangkok.

Ein Räuspern erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie drehte sich um und bemerkte erst jetzt den Mann, der in der entgegengesetzten Ecke des Empfangsraumes stand. Er nickte ihr kurz zu, womit er ihr klarmachte, dass er ihre Gegenwart zur Kenntnis nahm. Sie sah ein schiefes Grinsen und eine braune Locke, die ihm in die gebräunte Stirn gefallen war. Dann widmete er sich wieder dem antiken Wandteppich.

Seltsam. Er sah nicht aus wie ein Mann, der sich für mottenzerfressene Stickereien interessierte. Auf dem Rücken seines Khaki-Hemdes zeichnete sich ein Schweißfleck ab, und die Ärmel hatte er lässig bis über die Ellbogen hochgekrempelt. Seine Hosen sahen aus, als hätte er wochenlang in ihnen geschlafen. Eine Aktentasche mit der Aufschrift U.S.-Armeelabor stand zu seinen Füßen, aber er wirkte auf Willy nicht wie ein Soldat. Seine ganze Erscheinung wirkte alles andere als diszipliniert. Sie konnte sich ihn eher in einer Bar vorstellen, lässig über die Theke gebeugt, anstatt in General Kistners marmorgefliestem Empfangsraum herumzuhängen.

»Miss Maitland?«

Der Diener war zurückgekehrt und schüttelte bedauernd den Kopf. »Das muss ein Missverständnis sein. Der Gärtner sagte mir, dass Ihr Fahrer in die Stadt zurückgekehrt ist.«

»O nein.« Ratlos blickte sie aus dem Fenster. »Wie komme ich denn jetzt zurück nach Bangkok?«

»Vielleicht kann der Fahrer von General Kistner Sie zurückbringen? Er ist gerade wegen einer Besorgung unterwegs, aber er müsste bald zurückkommen. Wenn Sie möchten, könnten Sie inzwischen den Garten besichtigen?«

»Ja. Ja, das wäre schön.«

Mit einem stolzen Lächeln öffnete der Diener die Tür. »Der Garten ist geradezu berühmt. General Kistners Sammlung von Lianen genießt einen ausgezeichneten Ruf. Sie finden sie am Ende des Weges in der Nähe des Karpfenteichs.«

Sie trat hinaus in die schwül-warme Luft des späten Nachmittags und schlenderte über den Kiesweg. Abgesehen vom regelmäßigen Schnipp-schnapp der Gartenschere war es absolut ruhig. Auf halbem Weg zu einer Baumgruppe hielt sie plötzlich inne und schaute zurück zum Haus.

Zunächst sah sie nur das Sonnenlicht, das von der Marmorfassade reflektiert wurde. Dann entdeckte sie die Silhouette eines Mannes, der an einem der Terrassenfenster im Erdgeschoss stand. Der Diener vielleicht?

Sie drehte sich und ging langsam weiter. Aber bei jedem Schritt war sie sich der Tatsache bewusst, dass sie von jemandem beobachtet wurde.

Guy Barnard stand am Terrassenfenster und betrachtete die Frau, die über den Rasen zum Garten lief. Ihm gefiel, wie das Sonnenlicht auf ihren kurz geschnittenen honigblonden Haaren zu tanzen schien. Er mochte auch die Art ihrer anmutig schwingenden Hüften, wenn sie sich bewegte. Geradezu generalsstabsmäßig nahm er sie von Kopf bis Fuß in Augenschein: die ärmellose Bluse, der etwas knitterige Rock, der leider viel zu lang war und das Wesentliche verdeckte. Eine schmale Taille. Niedliche Hüften. Schöne Waden. Nette Knöchel. Hübsche …

Widerwillig schob er seine Gedanken beiseite. Das war kein guter Zeitpunkt für Ablenkungen. Dennoch konnte er sich einen letzten anerkennenden Blick auf die kleiner werdende Gestalt nicht verkneifen. Zugegeben, sie war ein bisschen dünn. Aber sie hatte fantastische Beine. Echt tolle Beine …

Schritte hallten über den Marmorboden. Guy drehte sich um. Kistners Sekretär, ein glattrasierter Thai mit ernstem Gesicht, näherte sich ihm.

»Mr. Barnard?«, fragte der Sekretär. »Entschuldigen Sie bitte die Verzögerung. Aber eine dringende Angelegenheit ist dazwischengekommen.«

»Empfängt er mich jetzt?«

Der Sekretär druckste herum. »Ich fürchte …«

»Ich warte bereits seit drei Uhr.«

»Ja, ich verstehe. Aber es gibt ein Problem. Es sieht so aus, als könne General Kistner die Verabredung mit Ihnen nicht einhalten.«

»Darf ich Sie daran erinnern, dass nicht ich es war, der um dieses Treffen gebeten hat? Sondern General Kistner.«

»Ja, aber …«

»Ich habe meinen wirklich engen Terminplan extra seinetwegen umgestellt«, Guy übertrieb bewusst ein wenig, »und bin den ganzen Weg hierhergekommen, um …«

»Ich verstehe, aber …«

»Dann verraten Sie mir wenigstens, warum er dieses Treffen veranstalten wollte.«

»Das müssen Sie ihn selbst fragen.«

Bis jetzt hatte Guy seine Verärgerung im Zaum halten können. Jetzt richtete er sich zu voller Größe auf. Obwohl er kein besonders hochgewachsener Mann war, überragte er den Sekretär dennoch um einen Kopf. »Ist das die Art, mit der der General normalerweise seine Geschäfte tätigt?«

Der Sekretär zuckte nur mit den Schultern. »Es tut mir leid, Mr. Barnard. Diese Planänderung kommt in der Tat völlig überraschend …« Er löste seinen Blick von Guy und konzentrierte sich auf etwas jenseits der Terrassenfenster.

Guy folgte seinem Blick und sah, was das Interesse des Mannes erregt hatte: die Frau mit dem honigblonden Haar.

Der Sekretär trat von einem Fuß auf den anderen – ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass er andere Aufgaben zu erledigen hatte. »Ich versichere Ihnen, Mr. Barnard, dass wir ein neues Treffen vereinbaren, wenn Sie in einigen Tagen anrufen«, versprach er ihm.

Guy griff nach seiner Aktentasche und ging zur Tür. »In ein paar Tagen bin ich in Saigon«, konterte er.

Ein ganzer Nachmittag verschwendet, überlegte er missmutig, während er die Eingangstreppe hinunterlief. Als er die leere Einfahrt erreichte, stieß er einen Fluch aus. Sein Wagen parkte fast hundert Meter entfernt im Schatten eines Flammenbaums. Der Fahrer war nirgendwo zu sehen. So, wie er Puapong kannte, flirtete er vermutlich mit der Tochter des Gärtners.

Frustriert schlenderte Guy zu seinem Wagen. Die Sonne brannte wie ein Grill, und der Kiesweg reflektierte die Hitze in sengenden Wellen. Nach der Hälfte der Strecke schaute er zufällig in den Garten und entdeckte die honigblonde Frau, die auf einer Steinbank saß. Sie wirkte deprimiert. Kein Wunder; die Fahrt zurück in die Stadt war lang, und wer weiß, wann ihr Fahrer auftauchen würde.

Was soll’s, dachte er und ging zu ihr. Er konnte ein wenig Gesellschaft gebrauchen.

Sie schien tief in Gedanken versunken zu sein, denn sie sah erst auf, als er neben ihr stand.

»Hallo«, begrüßte er sie.

Sie blinzelte ihn an. »Guten Tag.« Ihre Antwort war gleichmütig – weder freundlich noch abweisend.

»Habe ich richtig verstanden? Sie benötigen eine Fahrgelegenheit zurück in die Stadt?«

»Ich habe eine, vielen Dank.«

»Möglicherweise müssen Sie noch lange darauf warten. Und ich fahre jetzt zurück.« Als sie nichts erwiderte, fügte er hinzu: »Es macht wirklich keine Umstände.«

Abschätzend schaute sie ihn an. Sie hatte rauchgraue Augen, mit denen sie ihn offen und direkt musterte. Oder besser: durch ihn hindurchsah. Sie war kein scheues Reh. Mit einem Blick zum Haus erwiderte sie: »Kistners Fahrer sollte mich bringen …«

»Ich bin hier. Er ist es nicht.«

Erneut musterte sie ihn mit diesem prüfenden Blick und kam wohl zu dem Schluss, dass er vertrauenswürdig sei, denn sie erhob sich. »Vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen.«

Gemeinsam gingen sie über den Kiesweg zu seinem Wagen. Beim Näherkommen bemerkte Guy, dass die hintere Tür weit geöffnet war und ein Paar schmutziger brauner Füße hinausragte. Sein Fahrer lag wie eine Leiche auf dem Rücksitz.

Abrupt blieb die Frau stehen und betrachtete die reglose Gestalt. »Himmel. Er ist doch nicht etwa …«

Ein glückliches Schnarchen ertönte aus dem Wagen.

»Nein, ist er nicht«, antwortete Guy. »He! Puapong!« Er schlug mit der flachen Hand auf das Wagendach.

Das Schnarchen des Mannes hätte jeden Donnerschlag übertönt.

»Hallo, Dornröschen!« Erneut hämmerte Guy auf das Blech. »Wirst du jetzt wach, oder muss ich dich zuerst küssen?«

»Wie? Was?«, antwortete eine schläfrige Stimme. Puapong rührte sich und öffnete ein blutunterlaufenes Auge. »He, Boss. Sie sind schon zurück?«

»Hast du schön geschlafen?«, fragte Guy ironisch.

»Ja, nicht schlecht.«

»Ich möchte nicht nerven, aber würdest du bitte …?« Mit einer freundlichen Geste forderte er Puapong auf, den Rücksitz freizumachen. »Ich habe der Dame angeboten, sie mitzunehmen.«

Puapong kroch heraus, taumelte verschlafen zum Fahrersitz und sank hinter dem Steuer zusammen. Ein paar Mal schüttelte er den Kopf, ehe er sich bückte, um auf dem Boden nach dem Autoschlüssel zu suchen.

Der Gesichtsausdruck der Frau wurde immer skeptischer. »Sind Sie sicher, dass er fahren kann?«, murmelte sie.

»Dieser Mann hat die Reflexe einer Katze«, versicherte Guy ihr. »Jedenfalls wenn er nüchtern ist.«

»Ist er denn nüchtern?«

»Puapong! Bist du nüchtern?«

Pikiert fragte der Fahrer zurück: »Sehe ich etwa nicht nüchtern aus?«

»Da haben Sie Ihre Antwort«, grinste Guy.

»Jetzt fühle ich mich wirklich besser«, konterte die Frau seufzend. Mit einem sehnsüchtigen Blick schaute sie zum Haus zurück. Der thailändische Diener stand auf den Treppenstufen und winkte ihnen zum Abschied zu.

Mit einer Handbewegung forderte Guy die Frau auf, einzusteigen. »Die Fahrt in die Stadt dauert ziemlich lang.«

Sie schwieg, während sie die gewundene Bergstraße hinunterfuhren. Obwohl sie beide auf dem Rücksitz Platz genommen hatten und nur wenige Zentimeter voneinander entfernt saßen, schien sie eine Million Meilen weit entfernt zu sein. Hartnäckig hielt sie ihren Blick auf die Landschaft gerichtet.

»Sie waren ziemlich lange beim General«, bemerkte Guy.

Sie nickte. »Ich hatte viele Fragen.«

»Sind Sie Reporterin?«

»Wie bitte?« Sie schaute ihn an. »O nein. Es ging nur um … um eine alte Familienangelegenheit.«

Er wartete auf eine Erklärung, aber sie drehte den Kopf wieder zum Fenster.

»Muss eine ziemlich wichtige Familienangelegenheit gewesen sein«, stellte er fest.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Er hat all seine Termine abgesagt, gleich nachdem Sie ihn verlassen haben. Auch meinen.«

»Sie haben ihn gar nicht getroffen?«

»Ich bin nicht an dem Sekretär vorbeigekommen. Dabei war es Kistner, der um dieses Treffen gebeten hatte.«

Verwirrt runzelte sie die Stirn. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich bin sicher, dass es nichts mit mir zu tun hatte.«

Und ich bin mir sicher, dass du sehr wohl etwas damit zu tun hast, dachte er plötzlich gereizt. Himmel, warum machte ihn diese Frau so nervös? Sie saß ganz ruhig neben ihm, aber er hatte das untrügliche Gefühl, dass ihr tausend Gedanken durch den hübschen Kopf gingen. Er war zu dem Schluss gekommen, dass sie wirklich hübsch war – auf eine sehr unkomplizierte Art. Sie war so klug, kein Make-up zu verwenden; es hätte ihr properes Aussehen unnatürlich erscheinen lassen. Er war noch nie am Typ »properes Mädchen von nebenan« interessiert gewesen. Vielleicht an jenen, die etwas weiter die Straße runter wohnten oder in einem ganz anderen Teil der Stadt. Aber diese hier war anders. Sie hatte also rauchgraue Augen, ein eckiges Kinn und eine kleine Stupsnase mit einigen Sommersprossen. Außerdem hatte sie einen Mund, den in bestimmten Situationen zu küssen er sich durchaus vorstellen konnte.

Automatisch fragte er: »Wie lange bleiben Sie in Bangkok?«

»Ich bin schon seit zwei Tagen hier. Morgen reise ich wieder ab.«

Mist, dachte er.

»Nach Saigon.«

Überrascht schaute er sie an. »Saigon?«

»Oder Ho-Chi-Minh-Stadt. Wie auch immer sie es heute nennen.«

»Das ist ja ein Zufall«, murmelte er.

»Was?«

»In zwei Tagen fahre ich auch nach Saigon.«

»Wirklich?« Ihr Blick fiel auf die Aktentasche mit dem Aufdruck der US-Armee. »Regierungsangelegenheiten?«

Er nickte. »Und Sie?«

Sie sah nach vorn. »Familienangelegenheiten.«

»Stimmt.« Er fragte sich, um was für Familienangelegenheiten es wohl gehen mochte. »Sind Sie schon mal in Saigon gewesen?«

»Einmal. Als ich zehn Jahre alt war.«

»Vater bei der Armee?«

»Sozusagen.« Ihren Blick hielt sie auf einen Punkt in der Ferne geheftet. »Ich erinnere mich nicht sehr gut an die Stadt. Viel Staub, viel Hitze und viele Autos. Ein einziger Verkehrsstau. Und wunderschöne Frauen …«

»Es hat sich seitdem einiges verändert. Die meisten Wagen sind verschwunden.«

»Und die schönen Frauen?«

Er lachte. »Oh, die sind noch da. Genau wie die Hitze und der Staub. Aber sonst ist alles anders geworden.« Er schwieg einen Moment. Dann, als ob es ihm gerade eingefallen wäre, fügte er hinzu: »Falls Sie länger bleiben, könnte ich Ihnen einiges zeigen.«

Sie zögerte. Offensichtlich fand sie seine Einladung verlockend. Na los, komm, sag schon ja, dachte er. Er bemerkte, wie Puapong ihm im Rückspiegel grinsend zublinzelte.

Hoffentlich hatte die Frau es nicht mitbekommen.

Aber Willy hatte durchaus Puapongs Zwinkern und Grinsen bemerkt und sofort verstanden, was das zu bedeuten hatte. Nicht schon wieder, dachte sie matt. Als Nächstes fragt er mich, ob ich mit ihm essen gehen möchte, und ich werde sagen, dass ich nicht kann, und dann wird er mich fragen: Wie wäre es dann mit einem Drink? Und dann werde ich nachgeben und Ja sagen, weil er so verdammt gut aussieht.

»Zufälligerweise habe ich heute Abend nichts vor«, fuhr er fort. »Hätten Sie Lust, mit mir essen zu gehen?«

»Ich kann nicht«, antwortete sie und fragte sich, wer dieses abgedroschene Drehbuch geschrieben hatte und ob man irgendwann einmal aus diesem Klischee würde ausbrechen können.

»Wie wäre es dann mit einem Drink?« Er warf ihr ein Lächeln zu, und sie hatte das Gefühl, an einer sehr hohen Klippe zu hängen. Das Verrückte war, dass er noch nicht einmal so wahnsinnig gut aussah. Seine Nase war schief, als ob er sich nicht die Mühe gemacht hätte, sie richten zu lassen, nachdem er es irgendwie fertiggebracht hatte, sie sich brechen zu lassen. Sein Haar brauchte dringend einen Friseur – oder wenigstens einen Kamm. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig, obwohl man ihm die Jahre kaum ansah – abgesehen vielleicht von seinen Augen, neben denen die Lachfältchen tiefe Spuren hinterlassen hatten. Ihr waren wirklich schon besser aussehende Männer begegnet. Männer, die mehr zu bieten hatten als einen verschwitzten One-Night-Stand in einem fremden Hotel.

Warum also baggert dieser Typ mich an?

»Nur ein Drink?«, hakte er nach.

»Vielen Dank«, antwortete sie. »Aber nein.«

Zu ihrer Erleichterung drängte er sie nicht weiter. Stattdessen nickte er nur, rutschte auf seinem Platz zurück und schaute aus dem Fenster. Seine Finger trommelten geistesabwesend auf der Aktentasche. Es machte sie fast verrückt. Sie versuchte, ihn zu ignorieren – genauso, wie er sie zu ignorieren versuchte. Aber es war aussichtslos. Dafür war er viel zu präsent.

Als sie beim Oriental Hotel vorfuhren, wollte sie sofort aus dem Wagen springen. Und das tat sie dann auch.

»Vielen Dank fürs Mitnehmen«, sagte sie und warf die Tür zu.

»Hey, warten Sie!«, rief der Mann durch das geöffnete Fenster. »Ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen.«

»Willy.«

»Haben Sie auch einen Nachnamen?«

Sie hatte bereits die halbe Treppe genommen, als sie sich umdrehte. »Maitland!«, rief sie halb über ihre Schulter hinweg.

»Bis bald, Willy Maitland!«, rief der Mann.

Wohl kaum, dachte sie. Aber als sie die Eingangstür erreicht hatte, konnte sie nicht anders: Sie schaute dem Wagen nach, der gerade um eine Ecke verschwand. In dem Moment fiel ihr ein, dass sie überhaupt nicht wusste, wie der Mann hieß.

Guy saß auf seinem Bett im Liberty Hotel und fragte sich, was ihn dazu gebracht hatte, diese Absteige zu wählen. Nostalgische Gefühle vielleicht? Und die lächerlich geringen Spesen, die der Staat ihm gewährte. Bei seinen Reisen nach Bangkok, die er nach dem Vietnamkrieg unternommen hatte, war er immer hier abgestiegen und hatte es auch nicht für nötig erachtet, ein anderes Hotel zu wählen. Bis jetzt. Natürlich war dieser Ort vollgestopft mit Erinnerungen. Er würde niemals die ausgelassenen, heißen Nächte von 1973 vergessen. Er war ein einundzwanzigjähriger Gefreiter auf Heimaturlaub gewesen; sie eine dreißigjährige Krankenschwester von der Army. Darlene. Ja, so hatte sie geheißen. Als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, war aus ihr eine kettenrauchende, übergewichtige Mutter von drei Kindern geworden. Was für eine Schande! Die Frau hatte dasselbe Schicksal ereilt wie das Hotel: Mit beiden war es rapide bergab gegangen.

Vielleicht ist es bei mir genauso, überlegte er müde, als er aus dem schmutzigen Fenster auf die Straßen von Bangkok hinunterschaute. Früher hatte er diese Stadt geliebt, war gern über die Märkte flaniert, wo die Farben so leuchteten, dass die Augen geblendet wurden. Stundenlang war er durch die Seitengassen von Pat Pong gelaufen, wo es Musik und Mädchen ohne Ende gab. Damals hatte ihn nichts gestört – weder der Lärm noch die Hitze oder die Gerüche.

Nicht einmal die Kugeln. Er glaubte, unsterblich zu sein, immun gegen jede Verletzung. Es war immer der andere Typ, der die Patrone abbekam, der andere Mann, der in einer Kiste nach Hause verschifft wurde. Denn wenn man zu viel über die eigene Sterblichkeit nachdachte, wenn man zu viel Schiss hatte, war man ein miserabler Soldat.

Zum Schluss war er ein miserabler Soldat geworden.

Noch immer staunte er darüber, dass er überlebt hatte. Das würde er niemals so ganz verstehen: die schlichte Tatsache, dass er lebendig nach Hause gekommen war.

Vor allem, wenn er an all die anderen Männer dachte, die in diesem Transportflugzeug nach Da Nang an Bord gewesen waren. Das war ihr Ticket nach Hause gewesen – dieser magische Vogel, der sie aus all diesem Wahnsinn hatte herausbringen sollen.

Die Narben vom Absturz waren ihm geblieben. Ebenso wie die Angst vorm Fliegen.

Er verdrängte den Gedanken an den bevorstehenden Flug nach Saigon. Leider gehörte das Fliegen zu seiner Arbeit, und das war nur eines von vielen Flugzeugen, in die er noch würde steigen müssen.

Er öffnete seine Aktentasche, nahm einige Unterlagen heraus und verteilte sie auf dem Bett, um sie zu studieren. Die Akte, die er zuerst öffnete, war eine von ein paar Dutzenden, die er aus Honolulu mitgebracht hatte. Jede enthielt einen Namen, einen Rang, die Erkennungsnummer, ein Foto und eine detaillierte Geschichte – so detailliert wie möglich – über die Umstände des Verschwindens. In diesem Fall ging es um einen Marinepiloten, Lieutenant Commander Eugene Stoddard, der zuletzt gesehen worden war, als er sich mit dem Schleudersitz aus seinem havarierten Bomber katapultiert hatte – vierzig Meilen westlich von Hanoi. Der Akte war eine Röntgenaufnahme des Gebisses beigelegt sowie ein alter Röntgenbericht über einen Arm, den er sich als Teenager gebrochen hatte. Was nicht in der Akte stand, waren die unwichtigen Dinge: die Frau, die er zurückgelassen hatte, die Kinder, die Fragen.

Es blieben immer Fragen, wenn ein Soldat verschollen ging.

Guy überflog die Seiten, merkte sich die eine oder andere Einzelheit und griff nach einer anderen Akte. Das waren die aussichtsreichsten Fälle – die Geschichten jener Männer, die am ehesten zu den sterblichen Überresten passten. Die vietnamesische Regierung übergab drei Knochensammlungen, und Guys Job bestand darin zu bestätigen, dass es sich bei den Skeletten nicht um Vietnamesen handelte, und jedem einen Namen, Rang und Erkennungsnummer zu geben. Es war keine angenehme Arbeit, aber einer musste sie ja erledigen.

Er legte die zweite Akte beiseite und griff nach der dritten.

Diese enthielt kein Foto; es war ein zusätzliches Dokument, das er nur zögernd in allerletzter Minute in seine Aktentasche gesteckt hatte. Auf dem Deckblatt stand »Vertraulich«. Ein Jahr zuvor war sie mit dem Vermerk »Freigegeben« abgestempelt worden. Er öffnete die Akte und runzelte die Stirn, als er die erste Seite las.

Codename: Friar Tuck.

Status: offen (bis Oktober ’85)

Die Akte enthält:

1. Zusammenfassung der Zeugenaussagen

2. Mögliche Identitäten

3. Suchstatus

Friar Tuck. Er war legendär. Jeder Soldat, der in Vietnam gekämpft hatte, kannte diesen Namen. Während des Krieges hatte Guy angenommen, die Geschichten über einen draufgängerischen amerikanischen Piloten, der die Feinde das Fürchten lehrte, wären reine Fantasie.

Vor einigen Wochen hatte er das Gegenteil erfahren.

Er hatte an seinem Schreibtisch im Kommandozentrum der US-Army gesessen, als zwei Männer, Vertreter einer Organisation namens »Ariel Group«, in seinem Büro aufgetaucht waren. »Wir möchten Ihnen einen Vorschlag machen«, hatten sie zur Begrüßung gesagt. »Wir haben erfahren, dass Sie demnächst nach Vietnam fliegen, und wir möchten Sie bitten, einen Kriegsverbrecher zu suchen.« Der Mann, den sie suchten, war Friar Tuck.

»Das soll wohl ein Witz sein«, hatte Guy gelacht. »Ich bin kein Militärpolizist. Und diesen Mann gibt es überhaupt nicht. Er ist eine Märchenfigur.«

Als Antwort überreichten sie ihm einen Scheck über zwanzigtausend Dollar – »Für Ihre Auslagen«, wie sie erklärten. Und er würde noch mehr bekommen, wenn er den Verräter der Justiz überstellen würde.

»Und wenn ich den Job nicht machen will?«, hatte er gefragt.

»Sie werden das Angebot kaum ablehnen können«, lautete die Antwort. Und sie erzählten Guy alles, was sie über ihn wussten – über seine Vergangenheit, die Dinge, die er während des Krieges gemacht hatte. Es war ein schreckliches Geheimnis, das ihn zerstören konnte; ein Geheimnis, das er für sich behalten hatte, verborgen hinter einer Mauer aus Angst und Selbstekel. Sie schilderten ihm haarklein, womit er zu rechnen habe, falls es ans Licht kommen würde. Das grelle Licht der Öffentlichkeit. Der Prozess. Die Gefängniszelle.

Er stand mit dem Rücken zur Wand. Also nahm er den Scheck und wartete auf den nächsten Kontakt.

Einen Tag bevor er nach Honolulu flog, trafen die Unterlagen mit einem Spezialtransport aus Washington ein. Ohne hineinzuschauen, hatte er sie in seine Aktentasche gesteckt.

Jetzt las er sie zum ersten Mal. An der Stelle, an der über mögliche Identitäten spekuliert wurde, blieb er hängen. Mehrere Namen kannte er aus den Unterlagen mit den Vermisstenfällen, und er empfand diese Liste als unfair. Diese Männer waren im Krieg verschollen und vermutlich tot. Sie als mögliche Verräter zu denunzieren, beleidigte ihr Andenken.

Er nahm sich jeden Namen dieser verstummten Piloten vor, die des Verrats bezichtigt wurden. Etwa nach der Hälfte der Liste stieß er auf den Eintrag »William T. Maitland, Pilot, Air America« und hielt inne. Daneben stand ein Stern, darunter die Fußnote: »Siehe Akte #M-70-4163 Verteidigungsnachrichtendienst (Geheim)«.

William T. Maitland, überlegte er und versuchte sich zu erinnern, wo er den Namen schon einmal gehört hatte. Maitland, Maitland.

Dann fiel ihm die Frau ein, die in Kistners Villa gewesen war, die zierliche Blondine mit den großartigen Beinen. Sie sei wegen einer Familienangelegenheit hier, hatte sie gesagt. Deshalb hatte sie General Joe Kistner aufgesucht, einen Mann, dessen Verbindungen zum Verteidigungsnachrichtendienst weithin bekannt waren.

Bis bald, Willy Maitland.

Es wäre ein zu großer Zufall. Und dennoch …

Er blätterte zur ersten Seite zurück und studierte die Akte über Friar Tuck noch einmal vom Anfang bis zum Ende. Den Abschnitt Suchstatus las er zwei Mal. Dann erhob er sich vom Bett und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. Dabei dachte er über seine Optionen nach. Keine davon gefiel ihm.

Er hielt nichts davon, Menschen für seine Zwecke zu benutzen. Aber es stand sehr viel auf dem Spiel, und das meiste davon betraf ihn persönlich. Wie viele haben ihre kleinen Geheimnisse aus dem Krieg mit nach Hause gebracht? fragte er sich. Geheimnisse, über die wir nicht reden können. Geheimnisse, die uns zerstören könnten.

Er schloss die Akte. Die Informationen in diesen Unterlagen waren nicht ausführlich genug. Er brauchte die Unterstützung der Frau.

Bin ich denn kaltblütig genug, um sie zu benutzen?

Kann ich es mir leisten, es nicht zu tun? flüsterte die Stimme der Notwendigkeit.

Die Entscheidung fiel ihm ungeheuer schwer. Aber er hatte keine Wahl.

Um fünf Uhr nachmittags war im Bong Bong Club noch nicht viel los. Auf der Bühne wanden sich drei Frauen mit ölglänzenden Körpern wie Schlangen umeinander. Musik dröhnte aus antiquierten Stereolautsprechern, ein unbarmherzig eintöniger Beat, der selbst die Dunkelheit zum Schaudern brachte.

Siang saß an seinem Lieblingstisch in der Ecke und beobachtete aufmerksam das Geschehen um ihn herum. Die Männer hingen an ihren Drinks, die Kellnerinnen umschmeichelten sie in der Hoffnung auf üppige Trinkgelder. Siang konzentrierte sich auf die Bühne und auf das Mädchen in der Mitte. Die junge Frau war etwas Besonderes. Üppige Hüften, fleischige Beine, rosafarbene, raubtierartige Zunge. Er wusste nicht, wie er ihre Augen beschreiben sollte, aber sie hatte diesen gewissen Blick. Die Nummer 7 war an ihren G-String geheftet. Er nahm sich vor, später Erkundigungen über Nummer sieben einzuholen.

»Guten Tag, Mr. Siang.«

Siang schaute auf und sah den Mann im Halbschatten stehen. Seine massige Statur beeindruckte ihn immer aufs Neue. Selbst jetzt, zwanzig Jahre nach ihrem ersten Treffen, konnte Siang sich des Eindrucks nicht erwehren, neben diesem Riesen wie ein Kind zu wirken.

Der Mann bestellte ein Bier und setzte sich zu ihm an den Tisch. Ein paar Minuten lang beobachtete er ebenfalls das Geschehen auf der Bühne. »Ein neuer Akt?«, fragte er.

»Die in der Mitte ist neu.«

»Ach ja. Sehr hübsch. Ihr Typ, nicht wahr?«

»Das muss ich noch herausfinden.« Siang trank einen Schluck Whisky, ohne den Blick von der Bühne zu nehmen. »Sie sagten, Sie hätten einen Job für mich.«

»Eine kleine Angelegenheit.«

»Ich hoffe, das bedeutet nicht, eine kleine Entschädigung.«

Der Mann lachte leise. »Nein, nein. Bin ich jemals nicht großzügig gewesen?«

»Wie ist der Name?«

»Eine Frau.« Der Mann schob eine Fotografie über den Tisch. »Sie heißt Willy Maitland. Zweiunddreißig Jahre. Knapp einen Meter sechzig. Dunkelblonde, kurz geschnittene Haare, graue Augen. Sie wohnt im Oriental Hotel.«

»Amerikanerin?«

»Ja.«

Siang schwieg eine Weile. »Ein ungewöhnlicher Auftrag.«

»Es ist ein wenig … dringend.«

Aha. Der Preis steigt, dachte Siang. »Warum?«, wollte er wissen.

»Sie fliegt morgen früh nach Saigon. Ihnen bleibt also nur eine Nacht.«

Siang nickte und konzentrierte sich wieder auf die Bühne. Er war erfreut, als er sah, dass das Mädchen in der Mitte, Nummer sieben, direkt in seine Richtung schaute. »Das sollte reichen«, erklärte er.

Willy Maitland stand am Flussufer und schaute auf das wirbelnde Wasser.

Von der Speiseterrasse aus entdeckte Guy sie – eine winzige Gestalt, die sich an die Brüstung lehnte und deren kurzes Haar vom Wind zerzaust wurde. Ihre hochgezogenen Schultern und ihr zielgerichteter Blick verrieten ihm, dass sie allein sein wollte. Im Vorübergehen holte er sich an der Bar ein Bier – Oranjebloom, eine gute, holländische Marke, die er seit Jahren nicht getrunken hatte. Er blieb eine Weile stehen, beobachtete sie, genoss die Kälte der Flasche, die er gegen seine Wange drückte.

Sie hatte sich noch immer nicht bewegt. Unentwegt schaute sie auf den Fluss, als sei sie hypnotisiert von etwas, das in seiner schlammigen Tiefe schlummerte. Langsam überquerte Guy die Terrasse in ihre Richtung, vorbei an leeren Tischen und Stühlen, und stellte sich neben sie an die Brüstung. Er war fasziniert von ihrem Haar, in dem der Sonnenuntergang rote und goldene Farben zum Funkeln brachte.

»Schöne Aussicht«, bemerkte er.

Sie schaute ihn an, mit einem Blick, der nicht gleichgültiger hätte sein können. Dann drehte sie den Kopf wieder weg.