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Günther Wessel

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Beschreibung

50 Jahre nach dem Putsch in Chile: eine Neuerzählung

Am 11. September 2023 jährt sich zum 50. Mal der Militärputsch unter Augusto Pinochet gegen Chiles frei und demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Mit Allendes Freitod endete der Versuch eines demokratischen Sozialismus, der weltweit Beachtung fand. Günther Wessel erzählt mit Rückgriff auf viele Interviews die Biografie Allendes und die Geschichte des schmalen Landes: vom Kampf um Unabhängigkeit bis zum politisch-kulturellen Aufbruch der 1960er Jahre, von der Zeit der Unidad Popular, vom Putsch bis zum mühsamen Kampf um die Rückkehr zur Demokratie und deren Entwicklung bis heute. Seit Dezember 2021 regiert erneut ein Linksbündnis das Land – und Verteidigungsministerin der Regierung von Gabriel Boric ist Maya Fernandez Allende, eine Enkelin Salvador Allendes. Steht Chile vor einem neuen Aufbruch?

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Über das Buch

50 Jahre nach dem Putsch in Chile: eine Neuerzählung

Am 11. September 2023 jährt sich zum 50. Mal der Militärputsch unter Augusto Pinochet gegen Chiles frei und demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Mit Allendes Freitod endete der Versuch eines demokratischen Sozialismus, der weltweit Beachtung fand. Günther Wessel erzählt mit Rückgriff auf viele Interviews die Biografie Allendes und die Geschichte des schmalen Landes: vom Kampf um Unabhängigkeit bis zum politisch-kulturellen Aufbruch der 1960er Jahre, von der Zeit der Unidad Popular, vom Putsch bis zum mühsamen Kampf um die Rückkehr zur Demokratie und deren Entwicklung bis heute. Seit Dezember 2021 regiert erneut ein Linksbündnis das Land – und Verteidigungsministerin der Regierung von Gabriel Boric ist Maya Fernández Allende, eine Enkelin Salvador Allendes. Steht Chile vor einem neuen Aufbruch?

Über Günther Wessel

Günther Wessel, geboren 1959, studierte Germanistik und Philosophie und ist seit 1992 freiberuflicher  Autor und Journalist. Er arbeitete in zahlreichen Ländern Lateinamerikas. Von 1997 bis Ende 2001 war er freier Korrespondent in Washington DC, von 2002 bis 2007 lebte er in Brüssel, seither in Berlin. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher und Radiofeatures.

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Günther Wessel

Salvador Allende

Eine chilenische Geschichte

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Motto

11. September 1973

Eine Familie macht Geschichte – Salvador Allendes Herkunft

Die Vorgeschichte – Chile von der europäischen Eroberung bis zur Unabhängigkeit

Der erste »rote Allende«

Salpeter und Kupfer – der Reichtum des Landes

Politisches Engagement – Salvador Allende von 1920 bis 1940

Salvador – Politiker und Familienvater

Drei vergebliche Versuche

Revolution in Freiheit?

Revolutionäre Träume und Taten

Venceremos – wir werden siegen!

Der Präsident des Volkes – »eine Scheißregierung, aber meine«

Zwei abendliche Treffen

Ein Suizid und viele Opfer

Die Allendes im Exil

Die Schriftstellerin Isabel Allende

Widerstand gegen die Diktatur

Der Weg zurück in die Demokratie

Normalität und soziale Proteste

Ein neuer Aufbruch?

Was bleibt – die Traumata der Vergangenheit und der Mut zur Zukunft

Anhang

Chronik

Die 40 ersten Maßnahmen der Unidad Popular (1970)

Quellen

Bücher und Artikel

Filme, Hörfunksendungen, Podcasts

Internet-Seiten

Bücher von Isabel Allende (Auswahl, im Buch vorkommend)

Gespräche und Interviews

Bildnachweis

Dank

Personenregister

Impressum

Nur mit brennender Geduld werden wir die strahlende Stadt erobern, die allen Menschen Licht, Gerechtigkeit und Würde schenkt.

Pablo Neruda in seiner Nobelpreisrede am 13. Dezember 1971

In einem Haus, wo ein Bild der Virgen del Carmen an der Wand hing, fragten wir die Frau des Hauses, ob sie eine Anhängerin Allendes gewesen sei, und sie antwortete uns: »Ich war es nicht: ich bin es.« Dann nahm sie das Bildnis der Jungfrau ab, und dahinter hing ein Porträt Allendes.

Gabriel García Márquez in Das Abenteuer des Miguel Littín. Illegal in Chile

Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.

William Faulkner in Requiem für eine Nonne

11. September 1973

Am Morgen des 11. September 1973: Salvador Allende mit Helm auf dem Kopf und Gewehr unter dem Arm, umgeben von Leibwächtern vor der Moneda, dem Präsidentenpalast, in Santiago de Chile.

Der chilenische Präsident Salvador Allende wird um 6.20 Uhr durch das Telefon geweckt. Die Nachricht: In Valparaíso hat sich die Flotte erhoben und fordert seinen Rücktritt. Allende versucht sofort, General Augusto Pinochet und die anderen Oberbefehlshaber der Streitkräfte anzurufen, doch erreicht er weder unter den Dienst- noch den Privatnummern irgendjemanden.

Allende benachrichtigt die Kabinettsmitglieder und einige politische Freunde und bricht um 7.15 Uhr von zu Hause auf. Sein Ziel: der Präsidentenpalast. Die Straßen sind leer, gespenstisch leer. Nur einige gepanzerte Fahrzeuge der Carabineros sind zu sehen. Sie umstellen die Moneda, den Regierungssitz. Gegen 7.30 Uhr trifft Allende dort ein. Er versucht, Verteidigungsminister Orlando Letelier anzurufen. Der meldet sich ebenfalls nicht – er ist zu der Zeit bereits von den Putschisten festgenommen worden. Allende hält gegen 7.55 Uhr eine erste kurze improvisierte Rundfunkansprache. Er weiß, das ist der Militärputsch, der schon länger drohte. Über den Rundfunk erklärt er, dass er als Präsident nicht zurücktreten werde: »Ich befinde mich im Regierungspalast und bleibe dort, um die Regierung zu verteidigen, die ich gemäß dem Volkswillen vertrete.«

In der Moneda sind zu dem Zeitpunkt etwa 50 Menschen versammelt: Salvador Allende, seine Töchter Isabel und Tati, Letztere im achten Monat schwanger, dazu einige Minister aus seinem Kabinett, sein Arzt Arturo Jirón, sein Sekretär Osvaldo Puccio, dessen Sohn, Allendes Geliebte Miria Contreras, genannt Payita, dazu Mitglieder seiner Leibwache GAP und 17 Polizisten aus der offiziellen Schutztruppe des Staatspräsidenten.

Um 8.15 Uhr erhält Allende einen Anruf: Der Generalmajor Ernesto Baeza Michelsen verlangt, dass er als Präsident zurücktritt. Ein Flugzeug stehe bereit, um ihn aus dem Land zu bringen, wohin auch immer er wolle. Ein vergiftetes Angebot, wie Funksprüche zwischen den Putschisten verdeutlichen: »Bedingungslose Kapitulation. Keine Verhandlungen. Bedingungslose Kapitulation.« – »Verstanden. Wir bieten ihm weiterhin an, ihn aus dem Land zu bringen.« – »Das Angebot bleibt bestehen, und der Flieger stürzt ab, wenn er in der Luft ist.«

Empört lehnt Allende ab, die Moneda zu verlassen. Er ist der rechtmäßige Präsident Chiles. Die Putschisten antworten über den Rundfunk: Sie fordern erneut Allendes Rücktritt, andernfalls würden sie die Moneda von der Luftwaffe bombardieren lassen. Doch zunächst bleibt es ruhig – lediglich immer mehr Panzer und Mannschaftswagen fahren vor dem Regierungsgebäude vor. Allende gibt sich äußerlich ruhig und kühl, obwohl er bereits mehr als nur ahnt, dass dieser Putschversuch erfolgreich sein wird. Innerlich ist er schon lange auf einen Staatsstreich vorbereitet. Alles passiert wie in seiner Vorstellung, er muss jetzt nur noch so handeln, wie er es sich vorgenommen hat.

Um 8.30 Uhr wenden sich die Putschisten über den Radiosender Agricultura mit einer vorbereiteten Erklärung direkt an die Bevölkerung.

Unter Berücksichtigung

–der außerordentlich ernsten wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Krise, die das Land untergräbt,

–der Unfähigkeit der Regierung, Maßnahmen zu ergreifen, um der weiteren Ausbreitung des Chaos Einhalt zu gebieten,

–der ständigen Ausbreitung paramilitärischer Gruppen, die von der Allende unterstützenden Unidad Popular organisiert und ausgebildet werden, eines Umstandes, der das chilenische Volk unausweichlich in einen Bürgerkrieg ziehen wird,

erklären die Streitkräfte und das Korps der Carabineros:

Der Präsident der Republik hat seine hohen Vollmachten unverzüglich den chilenischen Streitkräften und dem Korps der Carabineros zu übergeben.

Die chilenischen Streitkräfte und das Korps der Carabineros sind sich einig in ihrer Entschlossenheit, die verantwortliche historische Mission zu übernehmen und den Kampf für die Befreiung des Vaterlandes vom marxistischen Joch sowie für die Wiederherstellung der Ordnung und einer verfassungsmäßigen Regierung zu führen.

Die Arbeiter Chiles brauchen nicht daran zu zweifeln, dass der wirtschaftliche und soziale Wohlstand, den sie bis zum heutigen Tage erreicht haben, keine großen Veränderungen erfahren wird.

Die Presse, die Rundfunksender und die Fernsehkanäle der Unidad Popular haben von diesem Zeitpunkt an die Verbreitung von Informationen einzustellen, anderenfalls werden sie zu Lande und aus der Luft angegriffen.

Die Bevölkerung Santiagos hat in den Häusern zu bleiben, damit der Tod unschuldiger Menschen vermieden wird.

Unterzeichnet ist die Erklärung von den Oberbefehlshabern der Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie vom Oberbefehlshaber der Carabineros: Augusto Pinochet, José Toribio Merino, Gustavo Leigh und César Mendoza. Die drei Erstgenannten waren als Militär- beziehungsweise Marineattachés lange Zeit in Washington und London gewesen.

Gegen 9 Uhr beginnen erste Schusswechsel. Von den umliegenden Regierungsgebäuden nehmen die Putschisten die Moneda unter Beschuss. Nur wenige Minuten später hält Allende über das Telefon seine letzte Rede. Der kommunistische Sender Magallanes ist der einzige, der noch in Betrieb ist, alle anderen Radioanstalten sind bereits vom Militär besetzt und verstummt oder spielen Unterhaltungsmusik. Allende spricht klar und deutlich und sehr gefasst – seine Worte sind gut zu hören, auch wenn die Sendequalität eher miserabel ist. Es knarzt und knirscht in der Leitung. Allende spricht, ohne einmal zu stocken, obwohl die Rede improvisiert ist. Vielleicht hat er sich in den letzten Jahren diese Situation schon öfter vorgestellt und weiß daher genau, was er sagen will:

Mitbürger!

Das ist sicherlich das letzte Mal, dass ich mich an Sie wenden kann.

[…]

Ich danke Ihnen für die stets bekundete Treue, für das Vertrauen, das Sie in einen Mann gesetzt haben, der nur die Verkörperung der Sehnsucht nach Gerechtigkeit war, der sein Wort gab, Verfassung und Gesetze zu achten, und der dies auch tat.

[…]

Ich glaube an Chile und an seine Zukunft. Andere nach mir werden auch diese bitteren und dunklen Augenblicke überwinden, in denen der Verrat versucht sich durchzusetzen. Sie haben die Macht; sie können uns zertreten, aber der soziale Fortschritt ist nicht aufhaltbar, weder durch Gewalt noch durch Macht. Die Geschichte gehört uns, und sie wird vom Volk gemacht. Haltet fest an dem Wissen, dass eher früher als später sich die großen Alleen öffnen, durch die freie Menschen schreiten werden, um eine bessere Gesellschaft zu errichten.

Es lebe Chile! Es lebe das Volk! Es leben die Arbeiter! Dies sind meine letzten Worte. Ich habe die Gewissheit, dass mein Opfer nicht umsonst sein wird. Ich habe die Gewissheit, dass es zumindest eine moralische Lehre sein wird, an der die Hinterhältigkeit, die Feigheit und der Verrat zu tragen haben werden.

»Ich stand beim Präsidenten, als er sie [die Rede] hielt«, erinnert sich Carlos Jorquera, der Pressesprecher Allendes, an diesen Moment. »Es war eine Rede, die in die Geschichte eingegangen ist. Er hielt sie ohne Skript, sie floss ihm aus dem Herzen.«

Allende trägt während seiner Rede, so schreibt sein Sekretär Osvaldo Puccio später, auf dem Kopf einen Stahlhelm und in der Hand ein Maschinengewehr – ein Gewehr, das Fidel Castro ihm geschenkt hatte. So zeigen ihn auch die letzten Fotos: umringt von bewaffneten Leibwächtern, wobei der schief sitzende Helm etwas zu klein wirkt. Wie immer trägt er ein Sakko, diesmal einen Pullover mit Rautenmuster darunter. Es ist trotz der strahlenden Sonne kühl an diesem Frühlingsmorgen in Santiago.

Um 9.40 Uhr versammelt Allende alle, die mit ihm im Palast geblieben sind. Er fordert die Frauen auf, die Moneda zu verlassen – seine Töchter und seine Geliebte weigern sich. Dann ruft er zu Hause in der Avenida Tomás Moro an. Seine Frau Tencha soll sich sofort in die mexikanische Botschaft begeben. Der Anruf kommt gerade rechtzeitig – kurz nachdem Tencha die Residenz verlassen hat, wird diese von Bombern angegriffen. Salvador Allende ist, so berichten Zeugen später, während der ganzen Zeit in der Moneda nahezu obsessiv um die Sicherheit seiner Frau bemüht. Carlos Jorquera, einer von Allendes engsten Freunden, der bis zum Ende im Präsidentenpalast dabei war, berichtet: »Allende sagte mir, dass er Tencha mehr und mehr liebe und respektiere und dass seine Gefühle für seine Töchter und Enkelkinder noch stärker seien.«

Ab 10 Uhr wird die Moneda von Panzern beschossen, dazu von Granatwerfern und Maschinengewehren. Fenster bersten, Balkone brechen. Ein weiterer Anruf der Putschisten: Falls Allende nicht bis 11 Uhr aufgäbe, würden sie den Regierungssitz aus der Luft bombardieren. Dazu erneut das Angebot, ihn außer Landes zu fliegen. Allende verweigert sich diesem Ansinnen, erbittet aber eine zehnminütige Feuerpause. Er befiehlt seinen Töchtern, die Moneda zu verlassen: Durch einen Seitenausgang huschen die Frauen begleitet von einigen Mitarbeitern ins Freie und schaffen es, sich unbemerkt an den Posten vorbei in Sicherheit zu bringen. Dann fragt er die Polizisten, die von Staats wegen zu seiner Sicherheit bereitgestellt sind, ob sie nicht auch gehen wollten. Juan Seone, einer von ihnen, erzählt: »Er dankte uns für unsere Arbeit, die wir für ihn geleistet hätten. Er entlasse uns nun offiziell aus seinen Diensten, wir könnten nun gehen, es sei unsere persönliche Entscheidung. Alle 17 Polizisten blieben; wir hatten aber alle ziemliche Angst. Die Verteidigung der Moneda war keine heldenhafte Schlacht, wie sie oft beschrieben wird. Ich glaube nicht an Heldentum – man richtet mit einer Pistole und einer Handvoll Maschinenpistolen nicht viel gegen Panzer und Flugzeuge aus. Es war aber irgendwie ein Akt der Ehre und Würde, zu bleiben.« Seone wird wie alle diese Polizisten nach dem Putsch verhaftet, aber wenig später wieder freigelassen. Er verlässt 1974 das Land und kehrt erst 1982 nach Chile zurück. Arturo Jirón, Freund und Arzt Allendes, erinnert sich: »Die Mehrheit von uns wusste nicht einmal, wie man eine Waffe hält. Wir hatten höllische Angst, aber wir blieben aus Prinzip.«

Um 12 Uhr beginnt das Bombardement der Moneda. »Die erste Bombe traf das Glasdach des Innenhofes des Präsidentensitzes, das mit unglaublichem Lärm jäh nach unten stürzte. Der zweite und der dritte Sprengkörper fielen, wie es schien, in das Generalsekretariat der Regierung und in die Büroräume des Präsidenten der Republik. Der nächste Einschlag passierte etwa 25 Meter von uns entfernt und zerstörte den Roten Salon und den Salon Toesca. Gleich nach den Sprengbomben müssen wohl Brandbomben abgeworfen worden sein, denn es entstand sofort ein großes Feuer im Zentrum der Moneda.« So weit Osvaldo Puccio in seinen Memoiren.

Flammen schlagen aus den zerschossenen Fensteröffnungen, später auch aus dem zerstörten Dachstuhl. Von den Dächern der umliegenden Häuser nehmen Soldaten mit Maschinengewehren den Präsidentenpalast unter Feuer. Der amerikanische Journalist Steve Yolen, der für die Nachrichtenagentur UPI in Santiago war, beschrieb die Ereignisse so: »Die längsten sechs Stunden meines Lebens habe ich eben hinter mich gebracht. Manchmal dachte ich, es würden meine letzten sein. Diesen Bericht schreibe ich auf meinem Bauch, unter einem Tisch liegend. Manchmal war der Kugelhagel so dicht, dass das Büro von einer dichten Staubwolke erfüllt war und wir nicht von einer Seite zur anderen sehen konnten. Doch das war noch gar nichts im Vergleich zu dem Bombardement des Präsidentenpalastes, der noch ein paar Hundert Meter von unserem Büro entfernt liegt. Düsenjäger der Luftwaffe rasten unmittelbar über die Dächer hinweg und warfen mindestens 24 schwere Sprengbomben ab. Jedes Mal, wenn einer von uns versuchte, einen Blick nach draußen zu werfen, wurde er von Soldaten unter Feuer genommen. Der Boden des Büros ist übersät mit Glassplittern, Mauerbrocken und Hunderten von Geschossen.«

Gegen 13.30 Uhr beginnt der letzte Angriff der Militärs auf die brennende Moneda. Die Infanterie stürmt das Gebäude. Tränengaspatronen explodieren, es wird geschossen, Angreifer und Verteidiger sterben. Allende zieht sich mit einer kleinen Gruppe in die »Unabhängigkeitshalle« zurück. Weitere Schüsse, weitere Tote, einige Verteidiger werden abgeführt. Eine erneute Aufforderung, sich zu ergeben. Allende verlangt von den letzten Freunden, die bei ihm sind, ihn jetzt zu verlassen. »Der Präsident«, so Miria Contreras, »versammelte uns im Flur. Er sagte, wir sollten ruhig hinuntergehen und alle Waffen, Helme und Gasmasken hierlassen.« Fast alle verlassen den Präsidentenpalast. Draußen werden sie von Soldaten mit Maschinengewehren empfangen. Sie werden abgeführt, auf einen Lastwagen verfrachtet und die meisten ins Nationalstadion gebracht.

Allende bleibt mit einigen Mitgliedern seiner Leibwache zurück. Er bittet sie schließlich, die Moneda zu verlassen, er werde als Letzter folgen. Dann geht er zurück Richtung Unabhängigkeitshalle – Juan Seone hört ihn noch im Gehen murmeln: »Allende ergibt sich nicht. Sch…« Dann fällt einer oder mehrere Schüsse – die Erinnerungen der letzten Zeugen sind uneinheitlich.

Um 14.20 Uhr stürzen die Soldaten wild um sich schießend in die Unabhängigkeitshalle. Allende sitzt dort in einem Lehnstuhl. Er ist tot.

Eine Familie macht Geschichte – Salvador Allendes Herkunft

Salvador Allende mit ungefähr 15 Jahren, stilvoll gekleidet schon als Jugendlicher. Politische Gegner warfen ihm später wegen seiner Kleidung bourgeoise Neigungen vor.

Ich liebe, Valparaíso, alles, was du umschließt,

alles, was du ausstrahlst, Braut des Ozeans,

weiter noch, als dein tauber Nimbus reicht.

Ich liebe dein ungestümes Licht, mit dem du

in der Meernacht dem Seemann zu Hilfe eilst,

und dann bist du – der Orangenblüte Schönste –

die Lichte, Nackte, Feuer und Nebel

Königin aller Küsten der Welt,

wahrhaft Mittelpunkt der Wogen und der Schiffe,

du warst immer in mir wie der Mond oder wie

im Hochwald des Windes Flug.

Ich liebe deine strafbaren Gässchen,

deinen Dolchmond über den Hügeln,

und auf deinen Plätzen, mit Blau

den Frühling kleidend, das Schiffsvolk.

Wortgewaltig preist der chilenische Dichter und Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda Valparaíso, die größte Hafenstadt Chiles. Ihr Name bedeutet »paradiesisch schönes Tal«; er ist aber irreführend. Von einem Tal ist heute nichts zu sehen, und die Schönheit Valparaísos erschließt sich den meisten Betrachtern erst beim zweiten Hinsehen. Die Stadt erstreckt sich entlang einer weiten Bucht, hinter der sich die Ausläufer der Küstenkordillere erheben. Ein schmaler Küstenstreifen mit Chiles wichtigstem Hafen, einigen parallel dazu verlaufenden Straßen, bebaut mit immer noch prunkvollen Bauten, welche die Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts ausstrahlen, aber auch mit heute verfallenen Häusern sowie dem zu groß und zu protzig geratenen Gebäude des chilenischen Parlamentes. Diktator Augusto Pinochet verlegte es von Santiago nach Valparaíso. Dann zieht sich die Stadt die Hügel hinauf. Auf schmalen Terrassen, die vom Meer aufsteigen, kleben Häuser wie Schwalbennester, irrwitzig steile Treppen führen zu ihnen hinauf und wundervolle Aufzüge, die meisten am Ende des 19. Jahrhunderts erbaut, als Valparaíso in voller Blüte stand.

Damals legte hier jeder Überseedampfer an, der von Europa oder Afrika kommend Kap Hoorn umrundet hatte. Mitte des 19. Jahrhunderts verkehrten von hier Güterschiffe in die wichtigsten Häfen der Welt, nach New York oder nach Rotterdam, San Francisco, Yokohama oder Hamburg. Selbst der Güterverkehr zwischen der Ost- und der Westküste der Vereinigten Staaten lief über Valparaíso, denn es war damals billiger und sicherer, Waren von New York nach San Francisco oder von Boston und Baltimore nach Seattle rund um den südamerikanischen Kontinent zu schippern, statt sie auf dem Landweg quer durch die USA zu transportieren. So unterhielten hier Handelshäuser aus aller Welt Kontore, und deshalb verlässt auch Thomas Manns literarischer Held Christian Buddenbrook 1846 das Elternhaus, um Geschäfte in London und Valparaíso zu treiben. Er berichtet hinterher begeistert von der Hafenstadt. Die Reederei Hamburg-Süd stellte 1873 sogar einen Schnelldampfer namens Valparaíso in Dienst. In der chilenischen Hafenstadt gab es Seefahrerspelunken und internationale Clubs, in denen die von Heimweh geplagten Engländer, Deutschen oder Franzosen zusammenkamen – meistens nach Nationen getrennt.

In dieser Hafenstadt wurde am 26. Juni 1908 Salvador Allende Gossens, eigentlich Salvador Isabelino del Sagrado Corazón de Jesús Allende Gossens, wie sein Taufname in voller Länge lautete, geboren. Er war das jüngste Kind des Rechtsanwaltes Salvador Allende Castro und dessen Ehefrau Laura Gossens Uribe und hatte drei Geschwister: Alfredo, später Rechtsanwalt wie sein Vater, Inés, die Eduardo Grove Vallejo ehelichte, der unter anderem Bürgermeister von Valparaíso wurde, und Laura, die Gastón Pascal Lyon heiratete, sich ab Mitte der sechziger Jahre politisch engagierte und für die Unidad Popular Parlamentsabgeordnete wurde. Die beiden ältesten Kinder der Familie, die ebenfalls Salvador und Laura hießen, waren 1898 gestorben; Salvador nicht einmal ein Jahr alt, Laura knapp dreijährig.

Salvador Allende Gossens: Spanisch-lateinamerikanischer Sitte folgend erhielt der Neugeborene zwei Familiennamen. Den ersten, Allende, vom Vater, den zweiten, Gossens, vom Vater der Mutter. Der junge Salvador wurde jedoch selten bei seinem Namen gerufen – zu Hause nannte man ihn nur Chicho. »Keiner weiß warum«, sagt seine Enkelin Marcia Tambutti Allende, die einen Film über Allende, mi abuelo Allende (Mein Großvater Allende) gedreht hat. »Vielleicht abgeleitet von einer kindlichen Aussprache der Verkleinerungsform seines Namens Salvador, also Salvadorcito. Es war jedenfalls der Spitzname, der der Familie vorbehalten war, Freunde nannten ihn beim Namen oder oft auch einfach ›Doktor‹.«

Frühe Fotos zeigen einen kleinen Jungen mit wilden Locken, die sich nur mühsam mit einem Scheitel bändigen lassen, und meistens für die besondere Gelegenheit gut gekleidet.

Die Familie blieb nicht lange in Valparaíso. Sie zog zunächst nach Tacna, eine Kleinstadt, die heute in Peru liegt, damals aber zu Chile gehörte, später nach Iquique, das seinen Reichtum den Salpeterfeldern des Nordens verdankte. Schließlich ließ sich Salvador Allende Castro in Valdivia, im Süden Chiles, als Anwalt nieder. Doch als ihm 1922 die Leitung des staatlichen Notariats im Hafen von Valparaíso, eine einträgliche Stelle, angeboten wurde, kehrte die Familie in die Hafenstadt zurück. Zwar hatte Valparaíso schon nicht mehr die Bedeutung, die es noch zehn Jahre zuvor besaß, dennoch wurde damals und wird heute noch ein großer Teil des chilenischen Außenhandels über den Hafen abgewickelt. Von vielen internationalen Schifffahrtslinien war die Stadt nach der Eröffnung des Panamakanals 1914 abgeschnitten worden. Der Kanal verkürzte den Seeweg von Europa zur nordamerikanischen Westküste – Waren für und von dortigen Häfen konnten nun durch den Durchstich in Mittelamerika und mussten nicht mehr rund um Kap Hoorn transportiert werden.

Chicho, Salvador Allende Gossens, kehrte nun wieder in die Familie zurück. Er hatte sie vier Jahre zuvor verlassen müssen. In Tacna hatte er zwar die Grundschule besucht, war dann aber von den Eltern nach Santiago geschickt worden, weil die weiterführenden Schulen in der Grenz- und Garnisonsstadt keinen besonders guten Ruf hatten. In Santiago lebte er bei seinem Onkel Don Ramón Allende Castro, dem damaligen Bürgermeister der Hauptstadt. Zum Schulbesuch in Santiago hatten den Eltern übrigens die Nachbarn in Tacna geraten. Es waren der Oberst Carlos Ibáñez del Campo und seine Frau. Jener Oberst, der sich 1927 zum Diktator aufschwang, von Allende bekämpft wurde und später, von 1952 bis 1958, gewählter Präsident Chiles war.

Ein Onkel, der Bürgermeister der Hauptstadt war, ein Nachbar, der später Präsident wurde – schon das zeigt, dass Salvador Allende nicht fern von der Macht geboren wurde und auch nicht fern von ihr aufwuchs. Seine Familie war schon seit einigen Generationen einflussreich in Chile – auch wenn sein Vater niemals ein öffentliches Amt bekleidete.

Die Familie gehörte nicht zu den Nachfahren der ersten spanischen Eroberer, die getrieben von der Sucht nach Gold und Silber Mitte des 16. Jahrhunderts nach Chile gekommen waren und eine große Enttäuschung erlebt hatten. Sie zählten auch nicht zu den ersten Siedlern, die begeistert das Land in große Latifundien unter sich aufteilten. Die Allendes tauchten erst im 19. Jahrhundert in der Geschichte Chiles auf.

Die Vorgeschichte – Chile von der europäischen Eroberung bis zur Unabhängigkeit

Chile auf einer Karte aus dem späten 16. Jahrhundert. Im Zentrum liegt Santiago (S. Iago), die Südgrenze verläuft bei der Insel Chiloé, im Norden nördlich der Stadt Coquimbo. Eingezeichnet sind auch die damals wichtigsten Häfen: Valparaíso im Zentrum der Karte und Castro im Süden. Im Osten die Anden.

In der Frühzeit der spanischen Eroberungen war Diego de Almagro, ein Mitstreiter der Brüder Hernando und Francisco Pizarro, 1533 durch Peru und das heutige Bolivien nach Süden gezogen und schließlich bis Mittelchile gelangt. Doch statt auf erhoffte Schätze stießen die Spanier zunächst auf Wüsten, schneebedeckte Gipfel und karge Hochebenen, dann in Mittelchile auf fruchtbare Landstriche. Gold und Silber hatte er gesucht, Berge und Wüsten gefunden. Ein unzugängliches Land, ein Land mit einer verrückten Geografie, wie der chilenische Gelehrte Benjamín Subercaseaux 1940 bezogen auf die Proportionen und die landschaftliche Vielfalt des Landes meinte: mehr als 4300 Kilometer in der Nord-Süd-Ausdehnung bei nur etwa 200 Kilometern in der Ost-West-Ausdehnung, dazu eine Fülle unterschiedlicher Naturphänomene, weshalb der Volksmund die Entstehung des Landes so beschreibt: Als Gott seine in sieben Tagen erschaffene Welt betrachtete, stellte er fest, dass noch einiges übrig geblieben war: Vulkane, Urwälder, Wüsten, Fjorde, Flüsse und Eis. Er gab den Engeln den Auftrag, all das hinter einem langen Gebirge aufzuschütten. Das Gebirge waren die Anden – und so entstand Chile, das vielgestaltigste Land der Erde.

Dazu kommt, dass Chile vielleicht mehr als jeder andere Festlandstaat der Erde von seinen Nachbarn getrennt ist: Im Westen erstreckt sich der Pazifik, und im Osten trennt die bis zu fast 7000 Meter hohe Kette der Andengipfel Chile von Argentinien und Bolivien. Im Norden verläuft die Grenze zu Peru mitten durch eine unwirtliche Wüste. »Am Ende der Welt« – das bedeutet der Name Chile in der Sprache der indigenen Aymara.

Diego de Almagro zog sich enttäuscht zurück; Pedro de Valdivia hingegen, der 1540 seine Nachfolge antrat, war von Chile begeistert: »Das Leben in diesem Land ist mit nichts zu vergleichen. Nur vier Monate herrscht Winter ... und der Sommer ist so mild, mit solch angenehmem Wind, dass man den ganzen Tag in der Sonne sein kann, ohne Schaden zu nehmen. Es gibt Gras in Hülle und Fülle, jede Art Vieh und Pflanzen kann hier gedeihen; sehr schönes Holz zum Bau von Häusern ist reichlich vorhanden, ebenso viel Brennmaterial zum Heizen und Betreiben der reichen Minen. Das Land scheint wahrlich von Gott gesegnet zu sein.« Er gründete die ersten Städte in Chile: am 12. Februar 1541 Santiago de Chile, 1544 La Serena und im selben Jahr Valparaíso – Ausgangspunkte, um von dort aus das Land zu erobern. Doch das war nicht so einfach wie einst in Peru. Gegen die in Chile lebenden Mapuche musste jede neue Siedlung gesichert werden.

Vor allem im Süden kam es immer wieder zu Kämpfen, obwohl die Spanier auch hier Festungen wie 1550 die Stadt Concepción gegründet hatten. 1553 besiegten die Mapuche unter ihrem Kriegsführer (toqui) Lautaro, der, weil er Stallmeister bei Pedro de Valdivia gewesen war und die spanischen Kriegstaktiken gut kannte, die Spanier. Sie nahmen Pedro de Valdivia gefangen und töteten ihn. Dann rückten sie weiter nach Norden vor und zerstörten 1555 die Stadt Concepción. Nachdem es den Spaniern aber gelungen war, bis 1558 Lautaro und andere Kriegsführer wie Colo Colo und Caupolicán zu töten, konnten sie ihre Eroberungen immer besser sichern.

Der Widerstand der indigenen Bevölkerung ist im chilenischen Nationalepos verewigt worden: La Araucana heißt das Werk des spanischen Offiziers Alonso de Ercilla y Zúñiga (1533–1594), das voller Hochachtung den Heldenmut der Araukaner (Mapuche) besingt – sie werden hier nicht als Wilde oder Barbaren oder gar als Kannibalen beschrieben. Und die Tapferkeit des Heerführers Colo Colo führte dazu, dass sich Chiles berühmtester Fußballverein nach ihm benannte.

Endgültig wurde der Widerstand der Mapuche im Süden Chiles erst im 19. Jahrhundert gebrochen. Ab etwa 1840 versuchte der chilenische Staat mithilfe von Franziskaner- und Kapuzinermönchen die Mapuche zu missionieren, weil man hoffte, sie so in den Staat zu integrieren und zu »zivilisieren« – also auch auf ihrem Gebiet die staatliche Ordnung durchzusetzen. Denn die Mapuche wehrten sich, Land an die neuen Siedler abzutreten, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts kamen und den fruchtbaren Süden landwirtschaftlich nutzen wollten.

Aus dem edlen Wilden, der im 16. Jahrhundert noch in La Araucana gefeiert worden war, wurde nun der barbarische Wilde, den man »befrieden« müsse. Ab 1860 rückte das chilenische Militär immer weiter nach Süden vor, und ab etwa 1870 begann ein regelrechter Vernichtungskrieg gegen die Indigenen. Um 1883 waren diese endgültig geschlagen, sie hatten ihre Unabhängigkeit und ihr Land verloren.

Im 16. Jahrhundert lebten die spanischen Eroberer überwiegend in den wenigen Städten, die festungsähnlich gesichert waren. Das an sie verteilte Land wurde in einer Mischung aus Lehnsystem und Sklaverei, die Spanier nannten es encomienda, von Indigenen bestellt. Der spanische König anempfahl (spanisch encomendar) einem seiner Konquistadoren ein Stück Land mit den dort lebenden Menschen. Der Eroberer sollte als Schutzherr (encomendero) für die Verteidigung, die Sicherheit sowie die politische und religiöse Unterweisung seiner Anvertrauten sorgen. Dafür musste er natürlich belohnt werden. Er durfte nun im Gegenzug im Namen des Königs von den ihm anvertrauten Indigenen Zahlungen verlangen: Sklavenarbeit, Nahrungsmittel, Gold. Der encomendero hatte das lebenslange Nutzungsrecht an dem Land, ein Recht, das später auch vererbbar wurde. Der uruguayische Intellektuelle Eduardo Galeano schrieb in seinem Buch Die offenen Adern Lateinamerikas: »Von 1536 an wurden die Indianer im ›Encomienda‹-Verhältnis (d. h. als ›Anvertraute‹) zusammen mit ihrer Nachkommenschaft für die Dauer von zwei Lebensaltern, nämlich dem des ›encomendero‹ und dem seines unmittelbaren Erben, zugeteilt; von 1629 an wurde das System auf drei und von 1704 an auf vier Lebensalter ausgedehnt. Im 18. Jahrhundert sicherten die Indianer bereits, soweit sie am Leben blieben, ein bequemes Leben für vier Generationen.« Erst 1791 wurde die encomienda offiziell abgeschafft.

So entstanden schon kurz nach der spanischen Eroberung große Latifundien. Der Großgrundbesitz hemmte die wirtschaftliche Entwicklung in den Kolonien: De facto wurde das Land nicht entwickelt. Dank Sklavenarbeit und großer Landflächen ließen sich leicht Gewinne erwirtschaften. Der Gutsherr lebte allerdings nicht auf dem Gut, sondern in der Stadt und führte dort ein Leben, das sich an dem der europäischen Oberschicht orientierte. »Die Landbesitzer residierten wie kleine Könige auf ihren Gütern«, schrieb der Wirtschaftswissenschaftler Edward Boorstein, »sie gaben den Untergebenen die Erlaubnis zur Hochzeit und waren oft ihre Taufpaten. Sie teilten das Erbe der verstorbenen Untergebenen unter den Hinterbliebenen auf; sie entschieden bei Disputen und urteilten bei Verbrechen, und viele Güter besaßen Zellen oder Verliese, um Aufrührer dort einzukerkern.«

Ein Augenzeuge namens Willi Ule notierte noch 1924: »Der Betrieb der Feldwirtschaft ist hier in Chile anders eingerichtet als bei uns. Das Bestellen und Ernten führt nicht der Besitzer selbst aus, das Ackerland wird vielmehr an Landleute vergeben. Diese erhalten zugleich das Saatgut und müssen dafür das Feld bestellen und abernten. Den Ertrag der Ernte müssen sie dem Besitzer abgeben, der ihn verkauft und die Gewinne mit den Landleuten teilt. Um Ordnung halten zu können, stehen dem Besitzer polizeiliche Rechte zu. Er kann über die Landleute, wenn sie ihre Pflichten vernachlässigen, Strafen verhängen.«

Dennoch: Chile war damals eine der ärmeren Kolonien der Spanier. Man fand weder Gold noch Silber. Stattdessen exportierte die Oberschicht landwirtschaftliche Produkte in die anderen, reicheren Kolonien, wie Getreide, Obst und Wein nach Peru und Bolivien. So wuchs die spanische Bevölkerung nur langsam – um 1800 hatte Chile zwar 500.000 Einwohner, darunter allerdings nur 15.000 in den Städten wohnende Spanier. Santiago war mit 40.000 Einwohnern bereits die größte Stadt des Landes.

Der brasilianische Sozialwissenschaftler Darcy Ribeiro beschrieb die Chilenen als ein »neues Volk, das aus der Vermischung von Spaniern und Indios hervorgegangen ist. Das ethnische Grundmuster stammt von den Araukanerinnen, die von den Spaniern gefangen und geschwängert wurden.« Schließlich seien nicht so viele Einwanderer nach Chile gezogen, dass sie die große indianische Mehrheit »hätten absorbieren oder diese als untergeordnete Kaste sozial überlagern können«. Und der deutsche Historiker Stefan Rinke spricht davon, dass »überdurchschnittlich viele Ämter im Stadtrat, der Audiencia, und im Militär« von Angehörigen der kreolischen Oberschicht besetzt waren.

Diese neue chilenische Oberschicht litt unter dem Status, nur eine entfernte Kolonie des spanischen Weltreiches zu sein. Sie strebte nach Unabhängigkeit, auch um besser Handel treiben zu können. Beispielsweise mit englischen Handelshäusern, die, unterstützt von der britischen Krone, ihren Einfluss in Amerika ausbauen wollten. Zudem kannte man überall in Südamerika ein Beispiel, das Mut machte: 1776 hatten sich die nordamerikanischen Kolonien für unabhängig erklärt und diese Unabhängigkeit gegen die britische Krone durchgesetzt. Nachdem 1805 die Engländer Spanien in der Schlacht von Trafalgar besiegt hatten und 1808 Napoleon Spanien besetzt hatte, bildeten sich überall in den lateinamerikanischen Kolonien regionale juntas, die im Namen der spanischen Krone weiter regierten. Am 18. September 1810 – der 18. September ist in Chile Nationalfeiertag – gründete sich in Santiago erstmals eine eigene chilenische Regierung, die sich zwar zunächst zur spanischen Krone bekannte, aber 1811 einen Nationalkongress ausrief und 1812 eine eigene Verfassung verabschiedete. Spanien gewann zwar die ersten Schlachten im lateinamerikanischen Unabhängigkeitskrieg, musste sich jedoch gegenüber den vereinten chilenischen und argentinischen Truppen 1817 und 1818 geschlagen geben.

Der erste »rote Allende«

Ramón Allende Padín, der »rote Allende«, Arzt, Freimaurer und Politiker. Salvador Allende lernte seinen Großvater nicht mehr kennen, denn dieser starb bereits 24 Jahre vor Salvadors Geburt.

Führer der chilenischen Truppen war Bernardo O’Higgins (1778–1842), ein Beispiel für die chilenische Vermischung: Er war das uneheliche Kind von Isabel Riquelme, einer Kreolin, sein Vater war der irischstämmige spanische Gouverneur von Chile und spätere Vizekönig von Peru Ambrosio O’Higgins (um 1720–1801). Das Vizekönigreich Peru umfasste damals das heutige Peru, Chile, Bolivien, den Nordwesten Argentiniens und Teile des westlichen Brasiliens und war die reichste spanische Kolonie in Südamerika.

Bernardo O’Higgins wurde 1818 erster chilenischer Präsident, musste aber bereits 1823 sein Amt niederlegen und ins Exil nach Peru fliehen. Der Grund: seine Reformfreudigkeit. Er schaffte die Adelstitel und das Majorat (Erbfolgeregelung) ab, förderte den kleinen Landbesitz, verbesserte das Gesundheitssystem und mit der Einrichtung von Volksschulen die Bildung, bestand auf religiöser Toleranz und legte sich mit der mächtigen katholischen Kirche an, weil er die Ordensgüter konfiszieren ließ.

Zahlreiche seiner liberalen Mitstreiter aus dem Unabhängigkeitskrieg folgten ihm – darunter drei Brüder namens Allende, die ersten drei der Familie, die in den Geschichtsbüchern auftauchen: Gregorio Allende Garcés, der Urgroßvater Salvador Allendes, sowie dessen Brüder Ramón und José María. Gregorio diente in der Leibwache von General O’Higgins und die beiden anderen, Ramón und José María, bei den sogenannten Todeshusaren, die von Manuel Rodríguez, einem der berühmtesten Bürgerkriegshelden, angeführt wurden.

Nachdem O’Higgins 1842 in Lima verstorben war, kehrte Ramón García Allende nach Santiago zurück. Er heiratete Salomé Padín, die Tochter von Vicente Padín, der damals ein berühmter Arzt in Santiago war und als Dekan der medizinischen Fakultät der Universidad de Chile ein bekanntes Krankenhaus gegründet hatte. 1845 wurde ihr Sohn Ramón Allende Padín geboren, der sogenannte rote Allende, der Großvater des zukünftigen Präsidenten.

Der »rote Allende« wurde Ramón wohl aus zwei Gründen genannt. Zum einen wegen seiner radikal liberalen politischen Anschauungen, zum anderen wegen seiner auffälligen Haarfarbe. »Rot, ja nennen wir es beim Namen, auch wenn es als Schimpfwort benutzt wird. Rot, sage ich, werde ich alles für das Weiterkommen und für die Verbesserung der Lage der Bevölkerung tun.« Leider existieren nur Schwarz-Weiß-Fotografien von ihm, sie zeigen zumeist einen ernst dreinschauenden Mann, entweder mit einem mächtigen dunklen Vollbart oder aber mit einem gepflegten Schnauzbart und dazu wuchtigen Koteletten. Ramón Allende mischte sich schon früh in die chilenische Politik ein. Er studierte Medizin und veröffentlichte 1865 als 20-Jähriger ein sozialmedizinisches Werk, das erstmals in Chile den Zusammenhang von Hygiene, Armut und Sterblichkeit durch Typhuserreger behandelte. Die Eröffnung der ersten Geburtsklinik in Santiago geht ebenfalls auf seine Anregung zurück.

Ramón Allende war eine ungewöhnliche Gestalt in der gehobenen Mittelschicht Chiles. Diese war normalerweise sehr zurückhaltend und beschränkte sich darauf, Politik zu beobachten. Glaubt man den erhaltenen, leider oft nur knappen Beschreibungen seiner Person, hatte er etwas für seine Herkunft untypisch Kämpferisches und Getriebenes. Als Mediziner war er sehr engagiert. Er gab eine gesundheitspolitische Zeitschrift heraus und behandelte seine Patienten, egal ob sie ihn bezahlen konnten oder nicht. Fehlte ihnen das Geld für die Medikamente, dann beglich er die Rechnungen aus eigener Tasche. Materielle Werte interessierten ihn nicht. Ramón war Mitglied der Radikalen Partei, vertrat sie acht Jahre als Abgeordneter im Parlament, kämpfte für Bürgerrechte und für die Trennung von Staat und Kirche. Er strebte die Säkularisierung der Friedhöfe und der Personenstandsakten an.

»Mein Großvater gründete die erste laizistische Schule in Chile«, sagte Salvador Allende später in einem Gespräch mit Régis Debray und dass der Kampf gegen den Konservatismus im 19. Jahrhundert oft ein Kampf gegen die Vermischung von Staat und Kirche gewesen sei. Die Kirche exkommunizierte Ramón Allende dafür, was er, als Großmeister einer Freimaurerloge, wohl eher als Ritterschlag empfand.

Die Freimaurer spielten in Südamerika vor allem während der Herausbildung der neuen Staaten eine wichtige Rolle. Sie brachten die Ideen der Aufklärung, der französischen und nordamerikanischen Revolution nach Südamerika, diskutierten diese zunächst in ihren Geheimgesellschaften und verbreiteten sie dann in liberalen Blättern. Den Unmut der Kirche erregten die Freimaurer seit ihrer Gründung, da sie sich immer für antiklerikale Ziele aussprachen. Auch Salvador Allende war später, genau wie sein Großvater Ramón und sein Vater Salvador, Meister der Freimaurer.

Salpeter und Kupfer – der Reichtum des Landes

Humberstone war eine der Salpeterminen in der Wüste Nordchiles. Auf den Salpeterabbau gründete sich der Reichtum Chiles im 19. Jahrhundert – heute sind die Minenorte Geisterstädte, Foto von 2007.

Ramón Allende legte 1879 sein Parlamentsmandat nieder. Der Grund: Er zog als Freiwilliger in den Krieg, in die Guerra del Pacífico (den Pazifischen Krieg), der im deutschen Sprachraum als »Salpeterkrieg« bekannt wurde. Zwischen dem 19. und dem 27. südlichen Breitengrad, also in der Atacamawüste, zwischen den chilenischen Hafenstädten Arica (an der Grenze zu Peru) und Caldera, erstrecken sich die wichtigsten Salpeterlagerstätten der Welt. Salpeter ist ein Salz, das seine Entstehung dem Meer verdankt, überwiegend in trockenen Wüsten vorkommt und zweifach genutzt werden kann – ein Rohstoff also, für den sich ein Krieg wohl lohnte. Bereits im 16. Jahrhundert war bekannt, dass Salpeter sich wundervoll zur Schießpulverherstellung eignete, und Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckte der deutsche Forschungsreisende Thaddäus Peregrinus Haenke die riesigen Salpeterlagerstätten in der Wüste. Salpeter war ein begehrter Rohstoff, noch gefragter wurde er allerdings, als der deutsche Physiker Justus von Liebig herausfand, dass sich aus dem Natriumsalz der Salpetersäure auch Kunstdünger gewinnen ließ.

Das ließ die Menschen in die Wüsten des heutigen Nordchile ziehen. Schon in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte man im Norden Silber und Kupfer gefunden, jetzt kam der Salpeter hinzu und lockte die Menschen in eine der trockensten und lebensfeindlichsten Regionen der Erde: Geröll und bunte Felsen, Sand und harte Erde, dazwischen weiß glitzernde Salzseen und in der Ferne die schneebedeckten Gipfel der Anden. »Die Wüste ist ein unruhiges, welliges, hügeliges Gelände, bedeckt von einem gelblichen bis braunroten Guss, den die Sonne leuchten und erglühen lässt, die tote Landschaft mit einer eigenartigen Farbenpracht belebend. In der Salpeterwüste ist es tagsüber heißer, nachts kälter als an der Küste«, schrieb der deutsche Geograf Otto Bürger 1926. Er lehrte von 1900 bis 1908 in Santiago de Chile und leitete das Chilenische Nationalmuseum für Naturgeschichte.

Trotzdem entstanden hier Siedlungen – oficinas, wie die Salpeterstädte genannt wurden. Ihre Namen wie Esperanza oder Santa Margarita kündeten von großer Hoffnung und erflehten himmlischen Beistand. Bereits 1830 verließen die ersten Schiffe den Hafen von Iquique, beladen mit Salpeter für die Alte Welt. Die europäischen Landwirte waren die Hauptabnehmer. Sie schrien nach Kunstdünger, um ihre Erträge steigern und die stetig wachsende Bevölkerung versorgen zu können. 1840 wurden etwa 75.000 Tonnen produziert, 1870 waren es schon mehr als 500.000 Tonnen.

Damals gehörte die Atacamawüste noch nicht zu Chile. Das dank des Salpeters aufblühende Iquique war eine peruanische Hafenstadt, und Antofagasta, ein anderer wichtiger Hafen, gehörte zu Bolivien. Chile, Peru und Bolivien hatten sich auf eine gemeinsame Strategie zur Ausbeutung des »weißen Goldes« geeinigt. Als die Bolivianer allerdings erfuhren, wie viel Geld wirklich mit dem Salpeter zu verdienen war, kündigten sie den Vertrag einseitig auf und gleichzeitig an, die chilenisch-britische Compañía de Salitres y Ferrocarril de Antofagasta (Salpeter- und Eisenbahngesellschaft Antofagasta), die gute Beziehungen zur chilenischen Politik besaß, hoch zu besteuern.

Und als Peru den peruanischen Salpeter nationalisieren wollte, was unter anderem chilenische Unternehmen geschädigt hätte, suchte Chile die Konfrontation und schlug zu: Truppen besetzten im Februar 1879 Antofagasta und lösten so den »Salpeterkrieg« aus. Zwar verlor der heute als Seeheld gefeierte Hauptmann Arturo Prat Chacón die Seeschlacht bei Iquique am 21. Mai 1879, konnte aber dennoch die Seeherrschaft erringen und so die damals nur über das Meer zugänglichen küstennahen Zonen der Atacamawüste kontrollieren. 1883 waren Peru und Bolivien endgültig geschlagen. Chile besaß ab sofort das Salpetermonopol und war um zwei Provinzen reicher: um Antofagasta und Tarapacá. Bolivien ist seither ein Binnenstaat, allerdings wurde den Bolivianern damals die Nutzung der Häfen von Arica und Antofagasta zugesagt. Chile erbaute eine Bahnlinie zwischen La Paz und Arica, die Bolivien kostenfrei nutzen konnte.

Der Sieg steigerte den Nationalstolz der Chilenen. Chile wurde zur politisch und wirtschaftlich führenden Macht am Pazifik. »Mit Vernunft oder mit Gewalt« – der Wappenspruch der Republik hatte auf einmal einen neuen Sinn bekommen.

Ramón Allende allerdings gehörte zu den Verlierern des Krieges. Mittellos und gesundheitlich angeschlagen kehrte er zurück – die Freimaurerloge gewährte ihm ein Darlehen, damit er seine Familie ernähren konnte. Er starb 1884, mit nicht einmal 40 Jahren, und wurde mit großen Ehren bestattet. Zwei spätere Präsidenten trugen seinen Sarg, José Manuel Balmaceda und Ramón Barros Luca, die Grabrede hielt Enrique Mac Iver, der damalige Vorsitzende der Radikalen Partei.

Gewinner des Salpeterkrieges waren in erster Linie allerdings nicht die Chilenen, sondern Engländer, aber auch Deutsche, Nordamerikaner und Spanier, denn, wie Otto Bürger