Sämtliche Werke - Band 15 - Ernst Jünger - E-Book

Sämtliche Werke - Band 15 E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

In den drei Jahrzehnten zwischen 1951 und 1981 entstanden die hier vorliegenden essayistischen Betrachtungen Jüngers, darunter auch die nicht zuletzt für sein eigenes Schaffen poetologisch interessanten Maximen und Reflexionen über »Autor und Autorschaft«. Der vorliegende Band entspricht Band 13 der gebundenen Ausgabe. Voll gegensätzlicher Spannung ist Jüngers Essay über »Typus, Name, Gestalt« – eine Spannung, die für sein gesamtes Werk so charakteristisch ist und weshalb es sich eindimensionalen Deutungsversuchen oftmals entzieht: So ist etwa der »Typus« einerseits konkretes Ordnungselement, andererseits abstrakte Anschauungsform. Damit begegnet Jünger auch der Gefahr einer simplizistischen Reduktion. Dies zeigt sich auch in »Zahlen und Götter«. Zu ihnen vermerkt Jünger in seinen Tagebüchern »Siebzig verweht«: »Wenn wir die Zahlen als ein Netz betrachten, das der Geist über den Kosmos wirft, werden wir immer Dinge finden, die durch die Maschen schlüpfen, und andere, die so verborgen sind, daß sie nicht erfaßt werden.« Und schließlich entwirft er in aphoristischen Maximen und Reflexionen über »Autor und Autorschaft« eine Art Poetologie. Bis zu seinem Tode sollte Jünger sie immer wieder erweitern und überarbeiten – ein Ausdruck des Kerngedankens seiner Poetik der »Fassungen«, in welcher der Dichtung die Möglichkeit bietet, sich dem eigentlich Unaussprechlichen anzunähern. Der Band versammelt ferner die Essays »Am Kieselstrand«, »Drei Kiesel«, »Fassungen«, »Das Spanische Mondhorn«, »Grenzgänge«, »Sinn und Bedeutung«, »Träume«, »Spiegelbild« sowie »Über Sprache und Stil«.

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Seitenzahl: 617

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ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE

Tagebücher I-VIII

Band 1 Der Erste Weltkrieg

Band 2 Strahlungen I

Band 3 Strahlungen II

Band 4 Strahlungen III

Band 5 Strahlungen IV

Band 6 Strahlungen V

Band 7 Strahlungen VI, VII

Band 8 Reisetagebücher

Essays I-IX

Band 9 Betrachtungen zur Zeit

Band 10 Der Arbeiter

Band 11 Das Abenteuerliche Herz

Band 12 Subtile Jagden

Band 13 Annäherungen

Band 14 Fassungen I

Band 15 Fassungen II

Band 16 Fassungen III

Band 17 Ad hoc

Erzählende Schriften I-IV

Band 18 Erzählungen

Band 19 Heliopolis

Band 20 Eumeswil

Band 21 Die Zwille

Supplement

Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß

Ernst Jünger

 

Sämtliche Werke 15

Essays VII

Fassungen II

Klett-Cotta

Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band entspricht Band 13 der gebundenen Ausgabe.

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter

Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin

Gesetzt von pagina, Tübingen

Datenkonvertierung: Lumina Datamatics GmbH

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96315-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10915-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

FASSUNGEN II

INHALT

Am Kieselstrand

Drei Kiesel

Fassungen Zur Offenbarung Johannis

Das Spanische Mondhorn

Typus, Name, Gestalt

Vom Typus

Von der Gestalt

Prometheus – von der Physik belehrt?

Grenzgänge

Mythos und Wissenschaft

Grenzgänge

Entsprechungen

Korrespondenz und Gesetz

Charaktere

Notizen

Sinn und Bedeutung Ein Figurenspiel

Zahlen und Götter

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Träume

Träume

In Ormens Revier

Skurrile Ausflüge

In Totenhäusern

Aus den Pariser Nachtstücken

Spiegelbild

Über Sprache und Stil

Autor und Autorschaft

AM KIESELSTRAND

ERSTAUSGABE 1951

 

Es gibt Werkzeuge, Organe, Gegenstände, die niemals die Bestimmung finden, die ihrer Anlage entspricht.

Ein Rettungsring auf einem großen Schiff kann jahrelang die Fahrt begleiten, indem er an der Reling befestigt bleibt. Er wird dann ausgemustert, ohne daß jemals ein Ertrinkender sich mit ihm gürtete. So reisen Tausende von Rettungsringen auf allen Meeren und treten niemals in ihre Bestimmung ein. Deshalb wird man die Rettungsringe nicht abschaffen. Der eine, der beim Schiffbruch wirklich rettet, gibt allen anderen den Sinn.

Hier muß man fragen: Gibt dieser eine den anderen in der Tat den Sinn? Oder ist Sinn nicht etwa in alle eingefaltet und wird durch jenen, der in den Ernstfall eintritt, nur entwickelt, bestätigt, ausgelöst? Wir streifen eine alte Streitfrage.

Das Beispiel steht für viele andere. Der Embryo trägt Lungen, obwohl er ihrer nicht bedarf. Sie sind auf sein zukünftiges Leben angelegt und überflüssig für den, der tot geboren wird. Der schwimmt als kleiner Leichnam in der Flut.

Der erste Atemzug, der erste Schrei des Schmerzes entfaltet das Organ, das nun erfüllt wird: seine Bestimmung, ja überhaupt sein Dasein wird erkannt. In jedem Alter, in jedem Stand gibt es Organe, die nie enthüllt werden und die kein Anatom entdeckt. Darauf beruht die Unvollkommenheit, doch auch die Ahnung, daß Vollkommenheit besteht.

Zahllose Blüten werden nie bestäubt, zahllose Samenkörner fallen auf tauben Grund. Die ganze Welt des Unbefriedigten, des Unbefreiten, des Unerlösten gehört hierher, und mit ihr die der Erfüllungen.

Auch wo nur einer in die Brautkammer eintritt, feiern viele am Feste mit. Die auf die Zeit und auf die Einzelnen verteilte Feier ist nur ein Sinnbild zeitloser Einheit, zeitloser Wirklichkeit. Hinter dem Vorhang ruhen die Bilder, auf die jede Hochzeit sich bezieht. Dort findet die höhere Vermählung statt. Der Sinn der Lust und auch der Leiden wird in der Substanz erkannt. Das ahnen die Geschöpfe, und diese Ahnung schwingt im Summen der Schwärme, im Jubel der Feste mit.

Weiterhin ist es möglich, daß uns als Betrachtern gewisse Gegenstände und Organe rätselhaft bleiben, indem ihre Bestimmung, der Sinn, auf den hin sie geformt sind, sich unserer Erfahrung und Vorstellung entziehen. In diesem Falle wird uns der Gegenstand dennoch nicht gänzlich sinnlos vorkommen. Wir nehmen an ihm eine Handschrift, eine Formensprache wahr, die wir nicht deuten können, obgleich wir merken, daß sie nach Regeln gebildet ist und einen sinnvollen Text umschließen muß. Da unser Verständnis nicht zureicht, das im Offensichtlichen Verborgene zu erfassen, bleibt eine Lücke, und in dieser Lücke siedeln sich Gefühle an. Furcht, Ärger, Staunen, Spott, Neugier, Bewunderung, Verehrung treten an Stelle des Begreifens ein.

Es wäre denkbar, daß ein Gewehr in Regionen verschlagen würde, in denen man das Schießpulver und seine Wirkungen nicht kennt. Es könnte, umgekehrt, auch ein Bewohner jener Regionen bei uns auftauchen und durch eine Waffensammlung geführt werden. Er würde dort Pistolen, Flinten, Kanonen in ihren mannigfaltigen Modellen und Entwicklungsformen sehen, ohne jedoch die Absicht zu erraten, die hinter diesem Werkzeug sich verbirgt. Immerhin würde ihm eine gewisse Gemeinsamkeit des Stiles auffallen. Er würde diesen Instrumenten vielleicht sogar einen Namen geben, eine Bezeichnung, anklingend an Dinge der ihm bekannten Welt. Der Name würde notwendig weniger treffend sein, weil er sich nicht auf den Gebrauch beziehen könnte wie unsere Ausdrücke. Die ersten Weißen, die eine Ananas erblickten, sprachen sie als »Tannenzapfen« an. Die Reste der Belemniten, ausgestorbener Meerestiere, wurden Jahrhunderte hindurch als »Donnerkeile« in den Sammlungen gezeigt. Die ersten Europäer wurden in Mexiko als »weiße Götter«, in China als »weiße Teufel« angesehen.

Dabei ist noch ein anderer, wichtiger Umstand zu berücksichtigen – der nämlich, daß die Bestimmung eines Gegenstandes, die Absicht, in welcher er erdacht ist, sich auch auf andere Weise als durch das bloße Verständnis dem Betrachter mitteilen kann. Zur Kenntnis des Zweckes gehört Erfahrung und Einsicht in die Teile der Konstruktion. Der Sinn dagegen vermittelt sich eher durch den Anblick des Ganzen, auf eine Weise, die außerhalb der zeitlichen Entwicklung und ihrer Mechanik liegt. Ein Künstler könnte in unserer Maschinenwelt einen Sinn entdecken, der unabhängig von ihren Zwecken und Funktionen wahrgenommen wird. Ein solches Schaubild könnte nicht nur ebenso wahr und ebenso richtig sein wie jede andere Erklärung, sondern es könnte auch unserer Welt und unserem Leben etwas Fehlendes, Ergänzendes, Erlösendes hinzufügen.

Auf ähnliche Weise würde angesichts der Feuerwaffen wahrscheinlich der Geist erraten, daß er Instrumenten, die Furcht einflößen sollen, gegenübersteht. In einem Arsenal begegnet man ja nicht nur anderen Formen, sondern es herrscht auch eine andere Stimmung als in einer Gemäldesammlung oder in einem Lustgarten. Es ist daher leicht möglich, daß sich eines empfänglichen Beobachters der Eindruck bemächtigt, an einem Ort zu weilen, dessen Einzelheiten auf zielende, überlegte Gewaltanwendung hinweisen. Darüber hinaus kann sich ihm eine die Einzelheiten beherrschende Stimmung mitteilen. Sollte er etwa aus alten Mythenländern kommen, so könnte er wähnen, in einem Heiligtum zu weilen, dessen Wände mit Weihgeschenken für Nimrod oder Ares behangen sind.

Es wäre auch möglich, daß sich unseres Fremdlings ein Unbehagen beim Anblick dieser Formen bemächtigen würde – die Ahnung eines Unheils, das mit ihrer Existenz verbunden ist. In diesem Sinne läßt Ariost in seinem Gesange das noch unerfundene Gewehr erscheinen als Vorzeichen des Unterganges der Ritterzeit. Ein solches Unbehagen würde magische Züge tragen, aber gerade deshalb feiner die Quelle der Gefahr bezeichnen, die ja nur für den groben Blick im Instrumentarium liegt.

Wenn nun sein Schicksal unseren Fremdling in einen kriegerischen Vorgang verwickelte, dann würde ihm die wachsende Bedrohung auch dadurch deutlich werden, daß die Zahl der Feuerwaffen in seinem Umkreis zunähme. Er würde sie vielleicht als Ursache der Unruhe ansehen – als magische Stäbe, die Angst ausstrahlen, wie in den alten Zeiten das Szepter königliche Macht.

Nehmen wir an, der Fremdling fiele, wenn nun die Waffen ins Spiel träten. Er hörte noch den Schuß und sähe das Feuer, das aus dem Rohre bricht. Das wäre der Anblick, der nicht nur zahllose Primitive, sondern auch kultivierte Völker wie die Mexikaner mit Staunen erfüllte, als sie dem weißen Mann begegneten. Und dieses Staunen brach ohne Zweifel ihren Widerstand gründlicher als Waffengewalt. Mit Recht, denn es erfaßte die Region der Macht, die hinter den Waffen sich verbirgt und die sie vorschiebt als Organe, die den Willen ausführen. Die stärksten Waffen werden nur gezeigt.

Der Fremdling und der Soldat, der ihn erlegte, haben auf zwei verschiedenen Linien den Punkt erreicht, an dem sie sich begegneten. Doch waren es eben Linien, Einschnitte in das Ganze dieser Welt.

Ein Buch ist dazu geschaffen, daß es gelesen wird. Dennoch sind Bücher denkbar, die niemals ihren Leser finden, wie das in Ideogrammen gedruckte Werk eines chinesischen Weisen in einer abendländischen Bücherei. Ein solches Werk verharrt in einem unerlösten Zustand, der zugleich geheimnisvolle, hieroglyphische Züge trägt.

Ein europäisches Buch könnte durch einen Zufall in ein Urwalddorf geraten, in dem niemand lesen und schreiben kann. Dort würde es vielleicht Ärgernis erregen und verbrannt werden. Es könnte auch Furcht erwecken; dann würde es als Fetisch verehrt und aufbewahrt.

Diese Verehrung richtet sich nicht auf den Inhalt, da es sich auch um ein Kochbuch oder um einen Roman von Zola handeln kann. Sie wird nicht durch die Lesart, sondern, wie im Falle des Gewehres, durch den magischen Charakter des Gegenstandes bestimmt – hier durch die Buchstaben, hinter denen in der Tat ein großes Geheimnis sich verbirgt, das unabhängig ist von ihrem praktischen Gebrauch. Die Ehrfurcht vor den Texten schwindet vielmehr im gleichen Maß, in dem die Leser zunehmen.

Es wäre auch möglich, daß es eine Bibel war, die auf diese Weise zum Anlaß der Verehrung wurde – auf eine Weise übrigens, die auch bei uns Entsprechungen besitzt. Das Buch gälte dann als heiliger Gegenstand, vielleicht auch als Orakel, unabhängig von seinen Inhalten. Wenn nun durch einen anderen Zufall ein Missionar in jenes Dorf käme, würde das Buch zum Werkzeug der Unterweisung werden, während zugleich die primitive Ehrfurcht sich erhielte, ja wohl noch Untergründe abgäbe, auf denen sich der heilige Text erhöhte, der nunmehr lesbar geworden ist.

Wir hätten hier auch einen der Fälle, in denen ein heiliges Buch auf wundersame Weise gefunden wird, wie sie in der Geschichte der Sekten nicht selten sind. Was hinsichtlich des Kochbuches ein Kuriosum geblieben wäre, das tritt hier in den Rang des Wunders ein. Wunderbar und damit wunderfähig ist alles, was über bloße Zwecke, die bloße Funktion hinaus ins Unberechenbare, zur tieferen Bestimmung führt. Damit verändern sich die Wertungen. Es wird belanglos, ob es sich bei dieser Bibel um einen Abzug von Millionen oder um eine Inkunabel gehandelt hat. Sie trat wie jener Rettungsring in die Bestimmung ein. Ein billiger Farbdruck kann wunderfähig werden und damit größere Wirkungen auslösen als ein Meisterwerk.

Dasselbe gilt von den Menschen; die Gleichheit lebt in ihrem wunderbaren Kern. Die Tropfen steigen aus dem stets gleichen Brunnen auf und glänzen in der Zeit. Dann kehren sie zum Überfluß zurück. Jeder ist wunderbar.

Ein Arzt in einem unserer Krankenhäuser – weiß er, daß es nur eine Heilung, nämlich die Wunderheilung, gibt und daß er dort, wo er heilt, mit oder trotz seiner Wissenschaft an einem Wunder Anteil hat?

Wenn man den alten Vergleich des Staates mit einem Schiffe wiederholen will, dann sind die scharfen Köpfe auf dem Verdeck und im Maschinensaal zu Haus. Sie kennen aber die Ladung nicht. Wo sie zur Herrschaft kommen, verlegt die Last sich auf die Aufbauten. In dieser Lage gibt es zwei Möglichkeiten: entweder das Schiff wird kentern, oder der Schwerpunkt wird unter Wasser zurückverlegt. Die zweite Möglichkeit ist vorzuziehen, und sei es auf Kosten der Aufbauten. Sie kann nicht durch Intelligenz allein verwirklicht werden, und daher kommt es, daß wir heute Entwicklungen erleben, die im Widerspruch zu den Voraussagen der besten Köpfe stehen. Deswegen ist auch die klassische Philosophie zur Lagebeurteilung ebensowenig fähig wie die klassische Physik zur Bewältigung des mechanischen Teiles unserer Aufgaben.

In Städten der Zukunft wird vielleicht die cartesianische Zitadelle erhalten bleiben als Ort, an dem sich der Geist ergehen und Maße studieren kann. Heute erschrecken die Gedankenhüllen, denen man auf beiden Hemisphären Verehrung zollen sieht. Sie gleichen den abgelegten Prunkuniformen, die man an Gold- und Sklavenküsten wiedertrifft.

»Sie kennen die Ladung nicht« – das will nicht sagen, daß nicht genaue Vorstellungen bestehen. Alles Berechenbare wird schärfer vermessen als jemals, und doch gleicht dieser Zugriff jenem, mit welchem ein Physiker alter Schule ein Stück Materie erfaßt. Er wägt den Kiesel, ohne zu ahnen, daß dieser, in seiner Urkraft angewendet, Städte zerstören, Seuchen heilen kann. Das würde für ihn zu den Wundern zählen, in deren Verachtung er erzogen ist. Tieferes Wissen würde einem Schlüssel gleichen, Kammern eröffnend, vor deren Fülle er erschrickt. Vielleicht verschlösse er die Türe wie vor einem zu starken Traum.

Goliath wird immer gefällt durch einen Kieselstein. Dagegen bleibt der Stein der Weisen ein Kiesel in des Toren Hand. Wenn der Prophet mit seinem Stabe an den Stein schlägt, springt Wasser des Lebens aus ihm hervor, und das in Wüsten, wo Karawanen verdursteten.

In einer Welt, in der das Wasser fehlte, würden die Formen von Fischen und anderen Meerestieren Staunen hervorrufen. Man würde sie jedoch erklären können, da der menschliche Geist um Theorien nie verlegen ist. Eine Erscheinung hat immer zahllose Analogien – es hängt vom Stil ab, welche herangezogen wird.

Ein Geologe, auf der Sohle eines versiegten Meeres Versteinerungen sammelnd, würde wahrscheinlich alle zum Schwimmen und Tauchen geschaffenen Organe auf das Fliegen und Schweben hin umdeuten. Die Flossen würden ihn als kurze Flügel ansprechen und die Medusen als eine Art von Fallschirmen. Es würde ihm dabei nicht entgehen, daß starke Abweichungen vom Stil der Luftwelt obwalten. Er würde sie durch epochale Theorien aufhellen – etwa indem er die Organe als primitive Stufen der Flugwerkzeuge ausdeutete. Er könnte aber auch auf Veränderungen der Umwelt schließen, indem er annähme, daß sich das spezifische Gewicht der Luft inzwischen verminderte. Das wären die Unterschiede der Auffassungen von Darwin und Lamarck. Die zweite Theorie würde der Wirklichkeit recht nahe kommen; dabei ist zu bedenken, daß es Fliegende Fische gibt. Das wäre das »fehlende Glied«.

Nur an das Wasser würde man in jener Welt nicht denken; es läge außerhalb der Erfahrung, jenseits einer gläsernen Wand. Der Geist gleicht einer Fliege, die in einer Flasche gefangen ist und sich im Besitz eines unbegrenzten Horizontes wähnt.

Versetzen wir uns in die Lage eines farbenblinden Fremdlings, der in eine unserer Städte verbannt würde. Er nähme die Farbenwelt nur wahr als eine Mannigfaltigkeit von grauen Tönungen. Sie könnten einem hohen Bedürfnis nach Harmonie genügen, wie eine Zeichnung genügen kann. Falls dieser Fremdling die Entzückensrufe der Menge vernähme, wenn der Pfauenhahn sein Rad entfaltet oder ein Feuerwerk, ein Regenbogen sie bezaubert, so würde er nicht ohne Anteil bleiben; er würde das Schauspiel als Grisaille in erlesenen Schattierungen genießen und dürfte sagen: »Das ist schön«. Und dennoch fehlte ihm das Element.

Als Eingeweihte werden wir versucht sein, uns über diesen Fremdling aus den Nebelreichen zu belustigen. Doch sind wir in der gleichen Lage, selbst im Genusse der höchsten Farbenpracht. Die Farbe ist flüchtiger Abglanz, ist nur das Fühlhorn einer unsichtbaren Welt. Und wie der Farbenblinde im Grau die Farbe, so ahnen wir in den Farben: der Sinnenwelt verborgene Quellen der Harmonie. Dort wird der Regenbogen im Wunderbaren gleich, im Gleichen wunderbar.

Das Leben sollte durch Grade, durch Vorhänge der Täuschung führen wie durch Pforten, die immer bedeutungsvollere Zeichen schmücken, zu immer tieferem Erstaunen und größerer Heiterkeit. Umarmung ist Gottesdienst.

Der Farbenblinde könnte den Spieß umkehren und behaupten, daß die Farbe Täuschung und er der eigentlich Sehende sei. Tatsächlich handelt es sich um Zahlenunterschiede, um meßbare Schwingungen. Will man das Phänomen auf logische Werte bringen, dann stören die Farben nur. Die Farbenlehre ist eines der großen Felder, auf denen Ziffern und Bilder um den Rang streiten.

In einer Welt, in der die Farbenblinden den Ton angäben, würde das Grau vorherrschen. Sie würde eine Welt des Geistes sein, mit viel Bewegung und noch mehr Schmerz. Die Blumengärten, die Gemäldegalerien, die Kirchenfenster würden in Verfall kommen. Die Augenmenschen würden zunächst geduldet und dann verfolgt werden. Das wäre der Abschluß des Unterganges der Bildwelt, der früh begonnen hat. Thukydides ist bereits Zeichner, verglichen mit Herodot.

Dagegen würden neue Reiche entdeckt werden. In der Musik würden die rhythmischen Einheiten auf Kosten der melodischen hervortreten, in den bildenden Künsten die Linien und überhaupt die geistigeren Elemente, im Leben und in der Landschaft die Kurven, in der Bewegung sich entfaltend oder ruhend als Schlüssel mathematischer, physikalischer und kosmischer Geheimnisse. Kurven und Formeln würden zum Mysterium der Wissenden wie frühen Priesterschaften die Hieroglyphenschrift. Der Tanz, die Licht- und Schattenspiele, Ballistik auf den verschiedensten Gebieten, Bewegung in jeder Richtung und in jedem Sinne würden obwalten und in den Spitzen sich in Macht und Genüsse umwandeln.

Noch würde manches rätselhaft erscheinen, wie etwa der Umstand, daß der Stier, wenn man ihm ein bestimmtes Tuch zeigt, in Raserei gerät. An solche Säume könnte sich eine neue Mystik ansetzen.

In sich geschlossen, sind solche Welten ebenso möglich, wie das Leben der Fliege in der Flasche möglich ist. Es gibt auch Höhlen, die nur von augenlosen Tieren bewohnt werden. Im Sinne höheren Lichtes mag das in der Weltraumhöhle ähnlich sein. Der Irrtum, der Mangel liegt dann im Ganzen und führt Verkehrsunfälle größten Ausmaßes herbei. Man hat die kosmischen Signale nicht erkannt. Den Katastrophen folgt die Suche nach den Schuldigen. Die Farbenblinden klagen sich gegenseitig an. Wie sollten sie die Fehlerquelle finden, die jenseits ihrer Optik liegt? Doch werden ihre Stimmen sich gegen den vereinen, der im Besitz der ungeschwächten Sehkraft ist.

Man könnte eine Katze in Räumen aufziehen, in denen es keine Mäuse gibt und wo man sie mit Milch und Brei ernährt. Sie wird dann nicht wissen, wozu ihr Zähne und Krallen verliehen sind. Dennoch wird sich in ihren Spielen, in ihren Träumen die Sehnsucht nach dem Opfer spiegeln, das ihr fehlt.

Vor allem wird man nicht verhindern können, daß sie sich Symbole schafft. Und diese Symbole – ein Schatten, ein Stückchen Garn, ein Wollknäuel – werden oft einer Maus recht ähnlich sehen.

Wir können uns wiederum einen Beobachter vorstellen, etwa einen Knaben, der seinerseits nie eine Maus gesehen hat. Trotzdem wird ihm das Spiel der Katze nicht gänzlich sinnlos scheinen, da es in seinem bewegten und zierlichen Gebaren Züge trägt, die sich selbst genügen – das beste Zeichen dafür ist, daß sie Heiterkeit hervorrufen. Indessen würde der Knabe, wenn ihm Kenntnis der Maus gegeben wäre, wissen, daß es sich hier nicht lediglich um Spiele ohne tieferen Inhalt handelt, sondern daß sie auf eine Wirklichkeit, auf einen Ernstfall, auf eine Erlösung bezogen sind.

Der Knabe könnte auch einen weniger aufgeschlossenen Charakter haben; es könnten Anlagen zum amusischen, rechthaberischen, pedantischen Wesen in ihm verborgen sein. In diesem Falle würden ihn die Spiele der Katze nicht einmal ästhetisch ansprechen. Sie würden ihm sinnlos vorkommen. Er würde sich also abwenden oder das Tier sogar züchtigen.

Wir wollen uns einen dritten Beobachter vorstellen, der Katze und Maus aus sicherer Erfahrung kennt. Da ihm bekannt ist, was die Katze, ohne es zu wissen, mit ihrem Spielzeug meint, wird er ihr Spiel begreifen, und auch den Irrtum sowohl des heiteren wie des pedantischen Knaben wird er durchschauen. Er sieht auch, daß der heitere Knabe dichter am Kern ist als der logische.

Wenn dieser Mann intelligent ist, wird seine Wahrnehmung von einer gewissen Befriedigung begleitet sein. Er hat tatsächlich, indem er die Maus als fehlendes Glied in die Gleichung setzte, eine Lücke geschlossen und damit alle Mißverständnisse deutlich gemacht. Besitzt er pädagogische Neigungen, so kann er der Katze die Maus geben oder auch vorenthalten, er kann die Knaben zoologisch belehren und so fort. Auf alle Fälle ergibt sich ein abgeschlossenes, positives und in sich begründetes Bild der Vorgänge.

Nichts hindert uns, noch einen vierten Beobachter anzunehmen, einen Weisen, dem weitere Probleme sich aufdrängen. Er könnte fragen, ob denn die Kette notwendig mit dem klugen Manne abschließt oder ob nicht auch der beobachtet wird, wie er die Knaben und wie die Knaben die Katze beobachten. Das Spielzeug der Katze hat jenseits des Spieles einen zwar unbekannten, doch realen Gegenstand. Wie, wenn auch die Beweglichkeit und Kraft des Geistes, der dieses Spiel durchschaut und es mit Überlegenheit genießt – wenn auch sie erst vollen Sinn besäßen in Hinsicht auf einen unbekannten Gegenstand?

In diesem Falle, wird sich der Weise sagen, enthalten die sichtbaren Vorgänge über das Erfahrbare hinaus noch etwas anderes und damit Stoff der höheren Belehrung und pädagogische Potenz. Vielleicht liegt gerade darin der Grund oder selbst die Absicht, aus der sie vorgeführt werden – in der man sie erlebt. Dann müßte man die Lehrer, die uns in dieser Richtung die Augen schärfen, als Väter ehren, ihnen als Spendern dankbar sein.

Die Ansicht des Weisen unterscheidet sich also von der des Wissenden. Sie unterscheidet sich so sehr, daß der Wissende nicht einmal begreifen wird, wovon der Weise spricht. Der Weise dagegen versteht den Wissenden. Das ist ein Zeichen dafür, daß er auf der Stufenleiter der Betrachter den höheren Rang einnimmt.

Es dürfte ein Philanthrop sein, der der Katze den Anblick der Maus entzogen hat. Man könnte einen Stand der Dinge annehmen, in dem es viele Katzen gibt, die niemals eine Maus gesehen, doch einige darunter, die davon gehört haben. Darüber hinaus könnte eine besonders günstig aspektierte Katze vielleicht sogar Erfahrungen mit Mäusen gehabt haben. Es versteht sich, daß solche Erfahrungen unmittelbare Macht verleihen würden; sie würden der Sehnsucht ein Ziel geben. Selbst die Annahme, selbst der Verdacht, daß solche Erfahrungen bestünden, würde Machtstellungen im Katzenreich anbahnen. An der Spitze des Katzenreiches stände die eine, die gesehen hat. Sie würde durch jene, die gehört haben, die Masse führen, die weder gehört noch gesehen hat.

In einer Gesellschaft, die nur aus Männern bestände und in der man niemals Kunde erhalten hätte, daß es Frauen gibt, würde auch jede Vorstellung fehlen von der Ergänzung, auf die das männliche Wesen mit seinen geistigen und physischen Organen angelegt ist. Es würde gleichwohl ein starker Eros lebendig sein, zwar ohne Aussicht auf Erfüllung, aber als Kraft, als Sehnsucht vielleicht noch stärker als in unserer Welt.

Notwendig würde diese Sehnsucht sich auf Männer richten – man würde das männliche Wesen sublimieren und vielleicht glauben, daß es Halbgötter gäbe, in deren Umkreis sich ein höchstes und unbekanntes Glück eröffnete. Dagegen würde keine Phantasie, kein Wunschbild und keine Wissenschaft zur Einsicht in den Plan gelangen, nach dem das Weib gebildet ist. Hier könnte nur das Wunder wirken – gleich der Erscheinung der Eva, wie Adam sie, aus dem Schlaf erwachend, sah.

Wen hätte nicht einmal das Gefühl erfaßt, daß auch sein Leben auf eine unbekannte Erfüllung wartet – auf eine Ergänzung, die es abrundet? Die Welt erscheint uns unvollkommen, oft grausam, fast immer ungerecht. Doch könnten unsere Ideale, unser Urteilen und Richten nicht jenen Spielen gleichen, mit denen die Katze sich begnügt? Wir kennen die andere Seite nicht, doch dringen Ahnungen des ungeheuren Reichtums wie Schatten in unsere Sinnenwelt. Die Zeit hat etwas Sinnloses, Gestelltes; es könnte einen Zusatz geben, der sie aus diesem Bann erlöst. Die Zeit ist Bühne, doch hinter den Kulissen verwandeln wir uns in uns selbst.

Umgekehrt dürfen wir schließen, daß, wo Sehnsucht besteht, sie auf eine vielleicht ferne und unsichtbare, vielleicht auch in der Zeit versagte, Erfüllung gerichtet ist. Hierher gehört das Feld des Glaubens, der Religionen – es gleicht den Vorgärten von Schlössern, die kein menschlicher Fuß betreten, kein menschliches Auge gesehen hat. Doch wäre es unsinnig, anzunehmen, daß dieser Sehnsucht, der stärksten, die wir kennen, die Erlösung fehlt. Nur geht es uns hier wie der Katze, die nie von Mäusen, oder wie den Männern, die nie von Frauen hörten: wir schaffen uns die Fetische und Ideale nach unseren Maßstäben. Wir zeichnen das Bild der Überwelten nach menschlichen, das heißt: nach zeitlichen Bauplänen. Darauf beruht der Zusatz des Absurden, der unseren Religionen anhaftet und der oft überwiegt. Es sind Beschreibungen von Blinden, die die Welt des Lichtes ahnen, da dessen Wärme sie berührt. Doch da sie das Ganz-Andere nicht erraten können, vermuten sie sublime Formen der Dunkelheit.

 

DREI KIESEL

ERSTAUSGABE 1952

 

Die mythische Genauigkeit ist eine andere als die geschichtliche. Sie ist ihr entgegengesetzt, insofern sie nicht auf Eindeutigkeit, sondern auf Mehrdeutigkeit der Daten beruht. Die historische Person wird durch eine Herkunft, eine Geschichte, ein Ende bestimmt. Die mythische Figur dagegen kann mehrere Väter, mehrere Lebensläufe haben, kann zugleich Gott und Mensch, zugleich gestorben und lebend sein, und jeder Widerspruch, soweit er echt ist, wird sie in ihrer Genauigkeit erhöhen. Sie wird geschwächt, gefesselt durch historische Festlegung. Ihr Ausweis liegt darin, daß sie aus dem Zeitlosen wiederkehrt.

Wo eine historische Person in den Mythos eintritt, wie Alexander als Sohn des Jupiter Ammon, verschwimmt ihr bewußter Umriß zugunsten unsichtbarer Macht. Herrschaft, vor allem erbliche Herrschaft, kann nur auf mythischen Wurzeln blühen und Frucht tragen. Darauf beruht der Anspruch des Gottesgnadentums, der für den Fürsten, aber auch für jeden Vater, jeden Meister, für jeden, den ein Amt ziert, unentbehrlich ist, soweit er sich nicht rein auf Leistung und Kündigung beruft. Das gleiche gilt für die Sakramente: zur legalen Eindeutigkeit muß ein Unbestimmtes, die zeitlose Weihe des Mysteriums, hinzutreten, wie sie der Staat von sich aus nicht gewähren kann. Will er darauf verzichten, so muß er entweder die Kündigung erleichtern oder an die Stelle der Weihe den Zwang setzen. Das ist der Unterschied der beiden Systeme, zwischen denen wir die Wahl haben, wenn wir dem Verzicht zustimmen. Beide sind kurzlebig und können nur im Schrecken endigen.

Die mythenbildende Kraft des Menschen ist mythische Kraft. Sie hat mit seiner historischen Größe oder seinem Charakter nichts zu schaffen, sondern ist etwas, das mit ihm und in ihm wiederkehrt. Zeitloses leuchtet in ihm auf.

Noch im Geschichtlichen dagegen bewegt sich die anekdotenbildende Kraft, die starke Menschen und Einrichtungen auszeichnet. In ihr tritt nicht das Unbestimmte, sondern das Geprägte, tritt der Charakter deutlicher hervor. Die Anekdote braucht nicht wahr zu sein; ihr Wert liegt weniger in der Begebenheit als darin, daß sie sich über das Episodische erhebt. Sie formt das Mögliche in gleichnishafter Weise aus und schärft noch die Konturen, die der Mythos verschwimmen läßt. Das ist der Unterschied des Lichtes bei Plutarch und bei Herodot. Das Anekdotische kann in die Fabel absinken; man findet immer Ränder, an denen das Ungereimte das Mögliche zu überwuchern scheint. Dagegen gibt es bis in unsere Tage Menschen, um die sich die Anekdoten ranken wie Efeu um einen alten Turm. In ihnen, etwa in zugleich starken und witzigen Greisen, kann sich ein ganzes Volk genießen; es dichtet an ihrem Leben mit.

Eine der großen Bühnen für die mythischen Figuren ist der Traum. Daher gehören zu seinen Elementen das Unbestimmte, das Vieldeutige, die Wiederkehr. Das Zeitlose an ihm wird daran deutlich, daß seine Bildwelt uralten und zugleich zukünftigen Schichten angehören kann. Der Traum ist daher ein Mittel nicht nur der Schicksalsdeutung, sondern auch der Schicksalsformung, sei es durch die Berührung des eigenen Wesenskernes, sei es durch mantische Schau. Vom hier gewonnenen Wissen wird man freilich nie Wesensänderung erhoffen dürfen, sondern im besten Falle Selbstverwirklichung. Doch zählt auch Heilung zu den Formen dieser Verwirklichung.

Das Mythische ruht unter dem Persönlichen und ist noch stärker als Schicksalsmacht. Hinter dem Schicksal taucht ein Anderes und Unbestimmtes auf, dem gegenüber die Person Gefäß wird, das sich köstlich füllen, doch auch zerspringen kann. Das gleiche Unfaßliche steht hinter dem Dichter, ihm ungeheure Macht verleihend, und gibt dem Werk die Dauer, der die Zeit nicht Abbruch leisten wird.

Mythische Zeit ist Zeit im Sinn der Genesis. Ein Tag ist wie tausend Jahre, und tausend Jahre sind wie ein Tag. Das Streben der Textkritik ist die Verwandlung von mythischer, von heiliger Geschichte in bloße Historie. Das entspricht der subalternen Traumdeutung und überhaupt dem Hang der Zeit nach eindeutiger Wissenschaft. Aber nicht umsonst sind vier Evangelien genauer und überzeugender als eins.

Unmittelbare und künstlerische Imagination. Anläßlich des Versuches, ein Schlangenhaupt nachzuzeichnen, das ich im Traume sah.

Die Imagination, wie sie im Traum oder auch während der müßigen Betrachtung sich entfaltet, hat eine Fruchtbarkeit, die keine bewußte Anstrengung erreicht. So formen sich Wolken, alte Mauern, das Moos auf Dächern zu Gebilden, die den Schauenden selbst überraschen durch ihre Dichte, ihre Trächtigkeit.

Das ist die Schau der unmittelbaren, naiven Imagination. Sie wirkt in jedem Menschen, sei es im Fieber, sei es im Rausche, sei es in Augenblicken der Schwäche, des Zwielichts, der Dämmerung.

Demgegenüber kommt auch das Höchste, was der Künstler ersinnen mag, aus zweiter Hand, ist mittelbare Imagination. Mit anderen Worten: wir dürfen im Nächstbesten tiefere Genialität vermuten, als sie das Kunstwerk mitteilen kann. Das läßt sich auch so ausdrücken: der Mensch lebt als Geschöpf aus erster, als Schöpfer aus zweiter Hand.

Wir können die mittelbare Imagination Erfindung nennen, Erfindungskraft. Der Geist erfindet nichts, was nicht im Universum ist; sein Werk bleibt Stückwerk, bleibt Anordnung.

Das Wunderbare am Kunstwerk ist, daß die mittelbare Imagination der unmittelbaren so dicht aufliegt, daß diese durchleuchtet. Bei der Betrachtung solcher Werke umweht uns ein Hauch des Kindlichen und Märchenhaften, der wilden Fruchtbarkeit, des großen Auftrages. Der Künstler ist dann noch etwas mehr als Künstler; er spricht nicht nur aus mittelbarer: aus ihm und durch ihn spricht unmittelbare Imagination.

Ähnliche Kräfte wohnen dem Körper inne; die Heilkraft ist seine Genialität. Was dort unmittelbar am Werk ist, das überbietet spielend die höchste Anstrengung der Kunst. Heilkunst bleibt immer mittelbare Imagination. Sie wird der Genialität am nächsten kommen, wenn sie der Dichtung ähnelt, die wir erwähnten: indem sie den Organen so dicht aufliegt, daß deren unmittelbare Imagination durchleuchtet.

Die mittelbare Imagination kann Richtschnur geben nur für meßbare Ziele und Entfernungen. Wer das begriffen hat, wird auch die Urteile verachten, die der Geist mit ihrer Hilfe über Bestimmung und Schicksal des Menschen fällt. Armselige Propheten, die wissen wollen, was nach dem Tode sein wird, und dümmer sind als der Scarabaeus, der seine Kugel rollt.

Ist es ein Zufall, daß die Hyäne in den Lichtkreis der Lagerfeuer tritt? Früher sah man den Typus nur vereinzelt, in den vergitterten Gehegen der Irrenhäuser und Gefängnisse. Jetzt sind die Schranken gefallen, und das heulende Winseln, das einst nur die Jäger am Rand der Wildnis hörten, umkreist uns mit frohlockender Gier. Geier und Hyänen – sie kommen, wenn Adler und Löwen gegangen sind.

Was hilft es, daß man hin und wieder eine der Bestien in der Dunkelheit erlegt, auf Gängen, bei denen kein Ruhm zu ernten ist? Daß sie so nahe kommen, so furchtbar werden, Gedanken und Träume von Millionen durch ihre Gegenwart zersetzen – das liegt nicht in ihrer Macht. Sie kommen, weil sie beschworen werden: Der Aashauch der Beute zieht sie an.

Noch sieht man die Gleichheit der großen Schlächter nicht. Man sieht nur ihre Masken, das heißt: die Ideen, deren sie sich bedienen und die ihnen Vorwände zum Morde sind. Vaterland, Menschheit, Freiheit – das alles hat schon Stimmung zum Massenmord gemacht.

Man muß nicht nur Ideen, man muß auch Typen sehen. Dann wird man erkennen, daß diese Massenschlächter selbst physiognomisch sich ähnlich sind. Überall ist das beunruhigte, angeekelte und ewig witternde Gesicht. Bald hat man den Eindruck, daß schlechte Gerüche sie peinigen, dann wieder verzerrt ein dämonisches Frohlocken ihre Züge, ein düsterer Glanz. Wer das sieht, der ahnt auch, was im Inneren der Schaubuden vor sich geht, gleichviel wie sie angestrichen sind.

Wer seine Maße der Politik entnimmt, wird nie das Schauspiel erfassen, das hier geboten wird. All diese Geister haben ein Ziel, das sie verbündet; sie arbeiten sich in die Hand. Sie fühlen sich verpflichtet, nachzuweisen, daß der Mensch nichts ist und daß ihm nichts innewohnt, was ihn von der Materie unterscheiden kann. Den Nachweis suchen sie mit großer List, dann wieder mit offen mörderischer Wut zu führen; Millionen müssen dafür ihr Blut lassen.

Hier geht es nicht mehr um Macht-, es geht um Heilsfragen, um vorbestimmte Ränge, die der Macht verschlossen sind. Daher die Angst der Gewalthaber. Sie können Millionen zwingen, doch nicht den Einen, der in sich den Tod bezwungen hat. Er stellt die Würde des Menschen wieder her. Dann ändert sich der Sinn der Blutaltäre; die Schändung diente nur dazu, den Glanz der Wahrheit zu erhöhen.

Das ist der Albdruck der Tyrannen: daß ihr Opfer aufsteigt in eine Freiheit, die ihnen unzugänglich ist, und daß es, indem sie es zu vernichten wähnen, entschwindet in Räume, in denen die Folter ihre Macht verliert. Und der Angsttraum der Henker ist dieser: daß ihr Opfer sich wieder belebt. Daß das nicht sein soll: darauf richtet sich die Anstrengung der Wissenschaft.

Das große Thema der Geschichte heißt Auferstehung, denn der Mensch ist nicht nur ein politisches Wesen – er ist auch ein Wesen, das eine Hoffnung, ein Schimmer von Ewigkeit belebt. Auch Pflanzen und Tiere sind vom Ewigen durchwaltet; dicht unter dem Schleier ihrer Blüten, ihrer Spiele beginnt das Unvergängliche. Doch steigt es nicht in ihre Freiheit auf. Im Menschen sind die drei großen Zweige der Weisheit, der Kunst, der Religion entfaltet, die alle ein und demselben zustreben. In ihnen kommt zum Ausdruck, daß er nicht rein aus Instinkt und nach Notwendigkeit verfährt. Ein Strahl des Unvergänglichen ist in ihn eingefallen; das unterscheidet auch seine Liebe von allen anderen.

Es ist im Grunde eine kleine Bühne, auf der die Menschengeschichte spielt – nicht größer als der Marktplatz einer alten Stadt. Hier herrschen Furcht und Zittern, es wird der Triumph des Todes aufgeführt. Man sieht, wie er mit seinen Großtrabanten die Welt bezwingt. Das ist das Thema des Schauspiels, zu dem die Fackeln leuchten; Zähne und Krallen, ein Arsenal von fürchterlichen Waffen beherrscht die Welt.

Woher kommt dann die Lichtflut, die das alles in Spuk verwandelt, während ein großes Erwachen, mächtige Heiterkeit die Welt erfüllt? Daß nach der Nacht ein Morgen, daß nach dem Winter ein Frühling obsiegt: das sind nur Hinweise im großen Anschauungsunterricht. Wo Schrecken regiert, herrscht mindere Wirklichkeit. Und immer wieder fällt Licht in die Labyrinthe und sprengt Gitter und Riegel auf.

Natur- und Weltgeschichte sind zwei Mysterienspiele, doch hat es nichts zu sagen, ob man die Namen der Sterne und Reiche kennt, die in ihnen auftreten. Sie sinken mit der Vorstellung dahin. Auch Sonnen sind nur die Zeiger einer unsichtbaren Uhr. Kein Fernrohr entschleiert deren Gang.

 

FASSUNGEN

ZUR OFFENBARUNG JOHANNIS

ERSTDRUCK 1961 IN FRANZÖSISCHER SPRACHEUNTER DEM TITEL »SERTISSAGES«Übersetzt von Henri Plard in: »L’Apocalypse« · Paris 1961(Katalog der Ausstellung des gleichnamigen Sammelbandes)Beigegeben ein verkleinertes Faksimile der Reinschrift in deutscher SpracheERSTDRUCK IN DEUTSCHER SPRACHE 1963

 

Zeus war, Zeus ist, Zeus wird sein, o gewaltiger Zeus Du!

So sangen die Priesterinnen von Dodona beim Umgang um den heiligen Hain. Aber Zeus war nicht immer gewesen; er war ein Sohn des Kronos, Enkel des Uranos und der Erdmutter. Und Zeus sollte nicht immer sein, denn bald nisteten die Vögel in seinem Haupt zu Olympia. Lactantius gar, der christliche Cicero, bezeichnet ihn als eine Erfindung der Dichter und deutet den Goldregen nicht als den Überfluß des Gottes, sondern als eine Summe von Münzen, die das Sträuben der Jungfrau überwand. So leugnen die Priester die Götter ––– der anderen, selbst deren Allvater. Es ist möglich, daß alle recht haben. Wahrscheinlicher ist, daß alle im Unrecht sind. Sie vergleichen die Fassungen.

Der gewaltige Zeus ist des Blitzes beraubt. Aber noch immer verkünden Blitz und Donner große Mächte, und heilig bleibt der Hain.

Der Hain ist eine Insel der alten Seligkeit, geistiger Heimat, die den Tod nicht kennt. Sie war und bleibt des Menschen Zuflucht, ist seine ewige Burg; die Götter sind ihre Vorwände. Wenn der Mensch durch den Wald geht, wenn er zur See fährt, wird alte, vorgöttliche Heimat und ihre Freiheit in ihm wach. Dort wächst der Baum des Lebens, und zu ihm schreitet der Mensch nicht nur durch Fels und Mauern, durch Licht und Feuer, durch Tod und Leben, sondern auch durch die Götter hindurch. Doch muß er, bevor er sie verläßt und sich dann fragt, warum sie ihn verlassen, Zoll zahlen. Der Baum des Lebens wird mit dem Schwerte bewacht.

Die Götter herrschen im Interregnum, in dem es Reines und Unreines, Heiliges und Unheiliges, Art und Gattung, Gesetz und Strafe gibt. Im absoluten Licht gibt es kein Leuchten und jenseits der Mauer keine Herrschaft mehr. Die Gipfel scheinen in die finsteren Täler, weil eine unsichtbare Sonne sie bestrahlt. Aber auch wo die sichtbare Sonne göttlich verehrt wird, ist die unsichtbare gemeint. Ihr Abglanz schon ist unerträglich, und selbst von den Sehern, die einen Schimmer von ihm geschaut haben, muß das Volk die Augen abwenden.

Die Heiligtümer leuchten wie Vulkane; sie zeugen von altem Erdfeuer. Mehr noch als von tätigen ist die Erde von erloschenen Kratern bedeckt. Bei ihrem Anblick erhebt sich die Frage, wie eine neue Phase des zentralen Feuers sich ankündet. Es könnte sein, daß die noch tätigen Vulkane die Aktion steigern und daß auch Augen zu glühen beginnen, die längst erloschen sind. Denn es gibt nicht nur Götterdämmerungen, es gibt auch Götterhochzeiten.

Es könnte weiter sein, daß Feuer sichtbar werden an Stellen, an denen man es nicht vermutete. Die Kruste wird brüchiger. Es könnte aber auch die Erde als Ganzes sich erwärmen, zunächst unmerkbar, dann mit sichtbaren Zeichen in der belebten und der unbelebten Welt. Ein sanftes Glühen, ein Leuchten der Nebelhüllen kündet einen neuen kosmischen Frühling an. Die Weltesche grünt.

Das alles ist möglich mit- und nebeneinander oder auch nacheinander: Pompeji und Herculanum, Sodom und Babel, rote Flecken, die auf dem Planeten sich ausbreiten, und, zunächst unbemerkt, dann unbestreitbar, der Eintritt neuer Mächte und neuer Bildungen.

Die Erde will ein neues Kleid anlegen, wie sie deren schon viele getragen hat. Nun gilt es, die Zeichen recht zu deuten: Der Mensch braucht neue Seismographen, ja neue Sinne, und neue Sternwarten. Sein Auge bleibt das Instrument der Instrumente, wie seine Hand das Werkzeug der Werkzeuge.

Tiefer als jedes Fernrohr, weiter als der Lichtstrahl reicht das Auge des Sehers in die Welt. Es reicht dorthin, wo Anfang und Ende sich verknüpfen und wo der Zeiger fällt. Der Seher sieht mit geschlossenen, sieht mit blinden Augen die unsichtbare Sonne und ihren Glanz. Das Gesicht trifft ihn wie ein Blitz, oder es wird ihm durch den zerrissenen Vorhang offenbar.

In den Gesichten enthüllt das Universum sich dem Seher in seiner geistigen Natur. »Fui in spiritu in domenica die …« War nun der Geist im Seher, oder war der Seher im Geist? Das sind Unterschiede, die unsere Grammatik ersinnt. Der Geist hat keinen Ort und keine Zeit; er tritt ein, wo er will. Darauf beruht die Hoffnung der Völker, der Trost der Gläubigen.

Der Seher ist im Geist, und der Geist ist im Seher; es gibt keine Trennung zwischen Seher und Geist. Es gibt im Gesicht keine Trennung zwischen ihm und der Erde, zwischen Vater und Mutter, zwischen Erde und Sternenwelt. Er sieht ihren Ablauf, erfährt ihr Gesetz.

Im Geist sein, heißt für den Seher: in seinem Amt sein; es ist für ihn dasselbe wie Im-Gefecht-Sein für den Soldaten, Auf-dem-Thron-Sein für den König, In-der-Erkenntnis-Sein für den Wissenden. Aber es führt ihn weit über den Willen, weit über Herrschaft und Wissenschaft hinaus.

Der Seher ist nicht in der Erkenntnis, er ist im Geist. Es gibt keine Trennung zwischen ihm und der Welt. Er mißt der Erkenntnis den Stoff zu, den er selbst nicht zu erkennen, nicht zu deuten vermag.

Wie das Wort »Tor« sowohl einen Eingang wie einen Ausgang bezeichnet, meint das Wort »Offenbarung« sowohl das Gesicht wie seine Verkündigung. Die Offenbarung geht der Verkündigung voraus. »Fui in spiritu …«

Der Seher entsinnt sich der Gesichte, die er am siebten Tage, am Tag der Ruhe, empfangen hat. Es war still um den Seher am einsamen Strand. Das Wort kann nur ein Echo, nur einen Abglanz der Bilder bewältigen. Das ist die erste Minderung. Doch fließt – wie Mosis Antlitz nach der Offenbarung dem Volke unerträglich schien – auch Unaussprechliches in die Verkündigung ein. Darüber meditieren die Weisen der Jahrhunderte.

Die Offenbarung wird als Stimme vernommen, und sie wird im Bilde geschaut. Sie wird zunächst durch die Sinne gesondert und dann durch die Mitteilung. Der Seher dringt durch den Vorhang, der das Gesonderte vom Ungesonderten trennt. Aber auch im Geist sieht er mit menschlichen Augen und hört mit menschlichen Ohren; er vernimmt Worte, die in der Sprache seines Volkes gesprochen sind. Wie hoch auch die Erde ihn aufwölbt, sein Gott muß zu ihm herabsteigen. Der Mensch faßt ihn als Menschen im Gleichnis und ringt mit ihm im finsteren Tal am Wasser, in der irdischen Nacht. Er ringt mit ihm bis zum Morgengrauen, und wenn er auch obsiegt, muß er doch von ihm gehen, ehe er sein Antlitz gesehen hat.

Nah ist

Und schwer zu fassen der Gott.

Den Gott zu fassen, ist das große Thema des Menschen, aber Gott kann nur im Gleichnis erfaßt werden. Er entwindet sich dem Zugriff in tausend Gestalten, in den flüchtigsten wie in den mächtigsten. Er bleibt unsere Aufgabe.

Ein Gleichnis ist das Universum mit seinen Nebelwelten; Gleichnisse sind Vater und Mutter, Sohn und Vater, Erhalter und Zerstörer, Licht und Schatten, Tod und Leben, Systeme und Gesetze, Form und Zahlen samt der gewaltigen Eins. Ein Gleichnis ist Schiwa als Feuersäule, die die Götter in Äonen nicht durchfliegen, und Brahma, in die Welt als Töpfer im Töpferton gebannt. Sie alle ergänzen sich in Paaren und Figurationen, die aus dem Absoluten aufsteigen.

Voll Güt ist; keiner aber fasset

Allein Gott

Flüchtig ist alles, was durch Worte gefaßt werden kann. Die Worte sind Fassungen. Flüchtig sind alle Dinge und Begriffe, die der Mensch mit der Hand und mit dem Geiste, die er als Physiker und als Metaphysiker erfaßt. Flüchtig sind Systeme und Kunstwerke, flüchtig die Bilder der belebten und der unbelebten Welt: schöne und schreckliche Gemälde, auf zitternde Vorhänge gemalt. Aber auch das Feuer, das sie verzehrt, ist ein Gleichnis unter Gleichnissen. Wo Götter sich zeigen und wo sie sprechen, zeigen und verhüllen sie sich unter Gleichnissen. Ein Zipfel des Gewandes bleibt in unserer Hand.

Das Samenkorn, das winzige Mohnkorn, ist nicht minder ein Gleichnis als die tausendjährige Eiche, die der Blitz zerschmettert, der Sturm zu Boden wirft. Wurzel und Krone sind Spiegelbilder, wie Traum und Leben, Licht und Schatten, Himmel und Erde Spiegelbilder sind. Sie kehren, sich aus dem Unfaßbaren entfaltend, in das Unfaßbare zurück.

Der Mensch, ein flüchtiger Wanderer auf der Erde, weiß nicht, woher er kommt, wohin er geht. Sein Weg ist der des Schiffers auf ungewissem Meere; nur eine schwache Planke trennt ihn von der Tiefe des Abgrundes.

Wie verschieden die Wege auch sind, die über das große Wasser führen, und nach welchen Sternen er sich richte, seine Fahrt ist ein und dieselbe, ob sie nur eine Spanne oder neunzig Jahre währt. Aus dem Hafen in das Meer sind tausend Wege möglich, aber jeder führt in den Hafen zurück. Und der Hafen wird immer gewonnen, auch wenn das Schiff auf offenem Meere zerschellt. Daß dort die Heimat ihn empfange, sagt dem Menschen eine Ahnung, die stärker als alles Wissen ist.

Die Ahnung ist das Thema der heiligen Texte, die ein und dieselbe Heimat umschreiben; sie wird von den Kulten genährt. Sie wird von den Sehern bestätigt und von Sendboten, deren Weg über das Wasser führt.

Der Seher vertritt den Menschen an den äußersten Rändern, am Strand des unendlichen Meeres, im Glanze des ewigen Feuers und vor den tödlichen Abgründen. Er vertritt ihn, wo Anfang und Ende, wo A und O sich schließen, in den Wehen der Endzeit, im Schrecken der Weltbrände.

Indem er den Menschen vertritt, indem ihm sein Schicksal dämmert, erfaßt er den Lauf und die Bahn des Einzelnen. Was der Seher sieht, wird jedem zuteil werden. Was myriadenfach in bleichen Eintagsfliegenschwärmen aus den Wassern wie Nebel aufsteigt und wieder absinkt, hat ein und dasselbe Geheimnis, ein und denselben Sinn. Ihn kann auch der Seher nicht erfassen, doch sieht er auf dem dunklen Spiegel des Menschen Antlitz, sein Ideogramm. Es zu erkennen, müßte er das Todestor durchschreiten; dort sieht er von Angesicht zu Angesicht.

»Wir sehen jetzt durch einen Spiegel …«

Jenseits des Tores wird das Spiegelbild identisch mit dem Sinne, der hinter den Schwärmen und ihren Sonderungen liegt:

»Jetzt erkenne ichs stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.«

Wenn der Seher im Geist ist, ist er zugleich in den letzten Potenzen des Stoffes; er geht ein in die Tiefe der Welt. Hier vertritt die Erde das Universum und wird seine Mitte, so wie der Seher den Menschen vertritt.

Niemand tritt ein, der nicht durch die Erde geweiht wurde, sei er durch Wasser, durch Feuer oder durch Asche an seiner Stirn berührt. Die Erde öffnet ihre Pforten; sie beginnt sich zu spannen und zu zerreißen wie am Strande von Patmos, sie beginnt zu rauchen und zu glühen wie in der zinnernen Lampe des schlesischen Schusters, sie beginnt zu leuchten und zu brennen wie auf dem Gipfel des Sinai und im Busche Horeb, den die Flamme verklärt. Erst wenn die Siegel der Erde gebrochen sind, eröffnen sich eine neue Höhe und eine neue Tiefe, von der die Höhe der Sterne und die Tiefen der Meere nur Gleichnisse sind.

Aber auch Visionen sind Gleichnisse.

Was aus dem Wasser, was aus dem Feuer, was aus dem Erdgrund aufsteigt, ist unverständlich; es bedarf der Deutungen. Der Seher ist auch der Künder, doch er ist nicht der Deuter des Gesichts. Wenn die Pythia spricht, spricht die Erde als Schlange; apollinisches Licht muß zur Deutung hinzutreten.

Aber auch die Deutung hat viele Bedeutungen. Das Gesicht steigt aus dem Ungesonderten in das Gesonderte auf, aus dem Geist in die Zeit, aus dem Sein in das Wesen, aus dem Sinn in die Sinne, aus dem unaussprechlichen Wort in die Sprache, aus dem Dunkel ins Licht. Es sagt dem einen dieses und dem anderen jenes; es wird durch Deutung in den Jahrhunderten facettiert.

Dennoch meint das Gesicht ein und dasselbe, gleichviel ob es sich im Dunkel der Vorzeit oder in fernen Orakeln verliert. Es mündet in Anfang und Ende, und Anfang und Ende sind jetzt und hier. Anfang und Ende sind immer; sie schlingen den Gordischen Knoten, in den die Zeit sich verknüpft. Im Augenblick ruht ihr Geheimnis; und jeder wird Babylon nehmen, wenn er den Knoten zertrennt.

Die großen Gesichte zu deuten, ist das Geschäft des Weisen im Dunkel der irdischen Nacht. Aber wenn das Öl in der Lampe verbrannt ist und wenn das Morgenrot dämmert, dann erfaßt er den Sinn der Texte, dann beglückt ihn ihr »Das bist Du«.

Dann wird es Zeit, sich zu betten, wird Zeit, zur Ruhe zu gehn.

Wenn Anfang und Ende bestimmt sind, dann ist auch die Bahn bestimmt. Wie Anfang und Ende sich gleichen, so ist auch des Menschen Bahn ein und dieselbe, gleichviel ob er sie als Bettler oder als König betritt. Der Mensch wird nackt geboren, und hat er die Bahn vollendet, legt er Krone und Bettelstab ab. Er kommt aus dem Garten in Eden und tritt ein in die Himmlische Stadt. Er hat seine Heimat verloren und wird sie wiedergewinnen; das ist der Schmerz und die Hoffnung der irdischen Pilgerschaft.

Was verloren ist, erscheint als der Garten in Eden, und was gewonnen wird, erscheint als Himmlische Stadt. Aber Garten und Stadt sind ein und dasselbe, wenn Himmel und Erde sich finden, wenn der Vater die Mutter umfängt.

Das Tor des Gartens und das Tor der Stadt sind ein und dasselbe, wie Anfang und Ende ein und dasselbe sind. Das Tor des Gartens dunkelt im Schatten, und das Perlentor leuchtet im Licht. Der Mensch wird mit Schmerzen geboren, und er kehrt mit Freuden zurück. Er wird mit Jubel empfangen und wird mit Tränen begraben und wird doch zum Tode geboren und vom Tod in das Leben geführt. In der Stadt grünt der Baum des Lebens, den er im Garten verließ. Dort gibt es nicht Gut und nicht Böse, nicht Kain und nicht Abel, keinen Tempel, kein Heiligtum.

Die Gärten und Städte des Menschen sind Gleichnis des Gartens in Eden, sind Gleichnis der Himmlischen Stadt. Dort sind die gerechten Maße für die vergängliche Welt.

Der Mensch hat auch die Zahlen erfunden als einen der mächtigen Griffe, mit denen er den Kosmos bezwingt. Er hat sie zum Netze geflochten, das Weise an Weise und Völker an Völker vererbten und dem nichts und niemand entrinnt. Er hat den endlosen Strom der Zeichen und Dinge einmal durch Worte und Sprachen und dann durch Zahlen gebannt. Aber im Anfang hat er ohne Zahlen und ohne Götter gelebt.

Wie die Zahlen als hohle Stufen durch die Gebirge führen und für den schreitenden Fuß erdacht sind, so dienen die großen Häuser, die Tempel und Kirchen, als Zelte auf dem flüchtigen Gang durch die Zeit. Unermüdlich versucht der Geist, die Eins und das Eine zu fassen, und unermüdlich verwirft er die Fassungen. Das ist sein Dienst in den Tagen und Nächten; er dient mit dem Glauben und dient mit dem Zweifel, er dient, indem er die Bilder errichtet, und er dient, indem er sie stürzt. Er gleicht der Welle, die flutet und schwindet, und die Fassungen bleiben als bleichende Herzmuscheln zurück.

Der Mensch muß Heiliges ehren und hegen als Gleichnis der Heimat, von der auch die irdischen Länder und Vaterländer, ja Vater und Mutter Gleichnisse sind. Das Heilige wird verehrt als Abglanz und Vorhof der Heimat, und also gibt es in ihr kein Heiligtum. Im Paradiese stand kein Tempel, und Johannes sah keinen Tempel in der Himmlischen Stadt. Er fand auch die Heiden dort selig; sie brachten ihre Ehre und ihre Herrlichkeit ein. Das gleiche bedeuten die Äthiopier des Malers im »Garten der himmlischen Freuden«: die Blätter des Baumes haben auch den Schwarzen gedient. Das Tor ist geöffnet für Gute und Böse, und wen dürstet, der hat das Wasser des Lebens umsonst. Und es gibt keinen, den nicht vor dem Perlentor dürstet; des Menschen Wort »Mich dürstet« steht vor dem Worte »Es ist vollbracht«.

Des Menschen Weg beginnt am Baum der Erkenntnis; er führt durch Tod und Schrecken des finsteren Tales, durch Gut und Böse der friedlosen Nacht. Er endet am Baum des Lebens; hier schließt sich die Schlange zum Ringe und gibt den Apfel zurück.

Den Namen des Höchsten kennt keine Schrift, keine Sprache; er ist nur sich selbst gleich und die Quelle der Gleichnisse. Er fehlt in den Texten; ihn faßt kein Bild, kein Gebet, kein Gedanke, er bleibt das Geheimnis der Welt. Das Allerheiligste ist leer. Wer das Höchste benennt, muß es vom Tiefsten trennen, aber Höhe und Tiefe sind Gleichnisse.

Wer das Eine benennt, muß es vom Nicht-Einen trennen, aber beide sind Gleichnisse. Die Eins und die Null sind Lingam und Yoni der Welt.

Anfang und Ende, Ursprung und Schöpfung, Mutter und Vater sind auf dem Weg nur getrennt zu begreifen und flüchtig zu einen; jede Liebe, auch die zum Tiefsten und Höchsten, ist Erbteil des verlorenen Gartens und Vorglanz der Ewigen Stadt. Zu ihr führt der Weg durch Wasser und Feuer, durch Fels und durch Erde, durch Glauben und Zweifel, durch Wissen und Nichtwissen. Zu ihr führen die Wege der Menschen und Völker, die Züge der Karawanen und die Rast in den Zelten; die irdischen Städte sind Vorstädte der himmlischen Stadt.

Das Auge sieht Bilder, und jedes Bild ist ein Ausschnitt; mit dem Bilde wird auch der Rahmen gesetzt. Die Bilder sind Fassungen. Das Auge sieht Götter und Götterfamilien als Offenbarung namenloser Macht.

Auch das Auge des Menschen ist nur ein Gleichnis; es ist der Spiegel des göttlichen Auges der Welt. Das Auge ergreift Bilder und wird von den Bildern ergriffen; und es ist ein endloser Streit um die Wahrheit des Draußen und Drinnen, wie Ebbe und Fluten an den Rändern des Meeres und wie das Knistern der Flamme, die den Busch nicht versehrt.

Der Streit wird nicht enden, bevor nicht der Spiegel zerbricht. Er setzt die Schranke zwischen sich spiegelndem Bild und gespiegelten Bildern und ist das letzte aller Opfer, die hier gebracht werden. Er ist nur ein Hauch und bleibt doch die Mauer, vor der die Gebete verglühen und die Klage auch in der Nacht nicht verstummt. Erst wenn die Mauer stürzt beim Schall der Posaune, werden Bild und Spiegelbild sich wie Liebender und Geliebte zum Urbild vereinigen.

Kein Gebet wird gehört, doch jedes Gebet wird erhört werden.

Die Welt ist von Augen erfüllt; sie blühen und welken als Knospen am uralten Stamm. Dort, wo die Woge am großen Barriereriff brandet, ist seine Mauer mit Legionen von Augen besetzt. Die Sonne ist Lichtauge mit strahlendem Wimpernkranz. Die Blumen sind Spiegel, die ihr Geheimnis nachahmen. Denn auch die Sonne und die Mauern von Sonnen sind Spiegel der kosmischen Macht. Wenn Helios anschirrt und Eos ihn kündet, erwachen in den Gärten und Wiesen, in den Wüsten Arabiens und in den tropischen Wäldern die zahllosen Augen, und sie schließen sich abends, wenn das Gestirn verglüht. So heben die betenden Völker am Morgen die Arme und falten die Hände zur Nacht.

Die Seher sind Augen der Völker; sie knospen am uralten Stamm. Sie sehen mit götterschauendem Auge und werden von Augen erblickt. Ezechiel, der Johannes der Alten, sieht am Wasser Chebar die Achsen des ewigen Rades als vierfache Krone mit kreisenden Augen, und Johannes sieht am Strande von Patmos Fell und Gefieder der apokalyptischen Tiere rundum mit Augen besät.

Das Auge ist Prägstock und Matrix der Welt; sein Grund ist Plazenta der Bilder und dem Urgrunde nah. Die Iris trägt Farben des Himmels, der Augengrund Erdfarben. Wie klein das Auge auch ist, es kann den Himmel umfassen, wie des Himmels Licht das Auge erfaßt. Das Auge ist sonnenhaft. Wo Augen über Augen erblühen, wird die Mauer zum Gitter; ein ewiger Frühling kündet sich in diesem Zeichen an.

Solange der Weg währt, liegt der Zweifel am Rande, der oft befriedigt, doch nie gesättigt wird. Er nährt sich wie die unersättliche Flamme vom vergänglichen Stoffe der Welt. Wenn er die Götter entlarvt und als Erfindung erkannt, wenn er ihre Bilder gestürzt und ihre Häuser entweiht hat, ist sein Hunger gestillt, doch nur für kurze Zeit. Er beginnt, sich selbst zu verzehren, indem er am Zweifel zweifelt und sich fragt, woher denn die Bilder gekommen sind. Das führt ihn zur Wurzel des Grundes, zur Fundgrube der Bilder zurück. Er muß neu benennen, was dort namenlos waltet, was von jeher gewaltet hat und fernerhin walten wird. Er webt die Gewänder von neuem, die er künstlich zertrennt hat, sei es zu schweren Brokaten, sei es zu seidenen Schleiern, aber der Faden, der flüssig und farblos ausschießt, ist ein und derselbe, ist Grundstoff der Welt.

Im Marmorblock sind alle Bilder versammelt, die je die Haine und Höhlen, die Tempel und Dome zierten, und dazu Myriaden, die nie ein Bildner ersann. Wenn der Maler Pflanzen und Tiere erfindet, so spiegelt er mächtige Bilder, die vor ihm erfunden worden sind. Keine Phantasie kann über den Rahmen von Höhe und Tiefe, kein Wuchern über die Elemente hinausführen.

In der Heckenrose am Raine sind alle Rosengärten des Morgen- und des Abendlandes verborgen, zudem die schwarze Rose, die nie erreicht wird, die rote Rose der Dichter, die weiße Rose der Jungfrau, die chymische Rose der Alchimisten, die Goldene Rose der Könige. Ein Samenkorn, das der Wind verwehte, genügt als Pfund für alle Gärtner der Völker und Zeiten; sie wuchern mit ihm zum Ruhme der unvergänglichen Welt.

Wer in den Festsaal eingeht, nachdem der Spiegel verhängt ward, der findet dort keinen, der ihn nicht als Bruder begrüßt. Er findet dort Schwarze und Weiße, er findet Kain und Abel, Johannes und Judas, das Lamm und den Wolf an festlicher Tafel vereint. Das Mahl ist bereitet für Besiegte und Sieger, für das Opfer und den, der das Opfer vollzog. Das Losungswort ist gefallen, das große Wort: »Das bist Du.«

An den Wänden glänzen die Fahnen und Zeichen der Völker, die heiligen Kronen und Schilde, die Waffen der Heere, die Schrecken verbreiteten. Was Dante erfuhr, muß jeder erfahren: es liegt diesseits des Spiegels in der gesonderten Welt. Wie die Erde jeden empfängt, der zum Staube zurückkehrt, gleichviel wofür und wie er gekämpft hat, so wird auch jeder erhört werden, der den Zoll gezahlt hat; sein flüchtiges Ich wird verwandelt, und er erkennt es im scheidenden Licht als sein unvergleichliches Selbst.

Die Seher sind Augen der Völker; sie sind das Auge des Menschen schlechthin. Was sie an den Rändern des Meeres erblicken als die Pracht und den Sturz von Babel, als den Kampf der Engel und Tiere, als Anfang und Ende der Dinge, ist ein Gleichnis der menschlichen Bahn.

Wie das Auge den Himmel umfaßt, so umfaßt das Herz die Geschichte der Völker und Reiche, und Babylon ist dort immer gewesen und wird bis zum Untergang sein. Was in Gesichten als Rankenwerk aufblüht, hat dort seine Wurzel, was als Springbrunnen aufsteigt, hat dort seine Quelle und fällt in die Quelle zurück.

Wer die Verkündigung hört und sich müht, ihr Rätsel zu lösen, der sucht in Anfang und Ende, was nur in der Mitte zu finden, er sucht in den kreisenden Sternen, was sich im Herzen verbirgt. Die Sphinx muß jeder bestehen, bevor ihn die Mutter empfängt. Er tritt ein in den granitenen Spiegel mit dem Losungswort: »Das bist Du.«

Wenn der Seher im Geist ist, weilt er nicht in der Ferne und nicht in den Zeiten; er sieht in Anfang und Ende ein Gleichnis des »Jetzt und Hier«. Er sieht als Auge des Menschen des Menschen Schicksal, das jedem bestimmt ist und dem keiner entrinnt. Mit jedem Sterblichen wird die Welt von neuem geboren, und mit jedem geht sie dahin. Die Schrecken des Unterganges wird jeder erfahren, der Weltbrand bleibt keinem erspart. Der Spiegel der Zeit ist nur ein Hauch auf den Dingen und doch wie ein Meer von Feuer, das zeitlose Ufer trennt. Unendliche Zeit wird durchschritten, unendliche Schuld wird geläutert während der kurzen Spanne, in der der Mund »Mich dürstet« spricht. Noch ist der Scheidende nahe und doch schon unendlich fern, dem wir die brennende Stirn kühlen. Bald liegen die Höllen hinter ihm.

Das Rätsel verbirgt sich nicht in Äonen und nicht in den Sternen; jede Nacht kann die Hochzeitsnacht sein.

»Noch heute« und »Über ein kurzes« und »Ich bin bei euch« sind Worte des Menschen und stärker als jedes zeitliche Wissen, als jedes prophetische Wort.

Was die Seher erfahren und was die Propheten künden, das wird im Menschen erfüllt.

 

DAS SPANISCHE MONDHORN

ERSTAUSGABE 1962

REVIDIERTE FASSUNG 1963

 

1

Nach regenarmen Wintern ist der Rio Campus schon im Mai fast ausgetrocknet; nur eine Kette von schilfgesäumten Tümpeln bleibt zurück. Von Zeit zu Zeit ertönt hier das Geläut der Herden; die Hirten ziehen mit Schafen und Hunden durch den Bachgrund zur Macchia hinauf. Sonst ist es still in dem steinernen Bett, bis auf die Stimmen der Vögel in den Dickichten. Die grüne Natter wiegt sich auf Polstern von rötlichem Ampfer und flieht vor dem Wanderer zum Wasser davon. Doch wenn er sich leise nähert und den Schatten vermeidet, bleibt sie im Lager und sonnt sich vor seinem Blick. Das ist ein guter Beginn.

Im steinernen Bett ist es friedlich zu wandern und friedlich zu rasten: der Mensch und die Erde, Mutter und Sohn. Wenn es ganz still wird, beginnen die Dinge zu sprechen; die Steine, Tiere und Pflanzen werden zu Brüdern und teilen Verborgenes mit. Ein hauchfeiner Silberton durchwellt die Luft. Sie beginnt zu flimmern: ein Hochzeitsflug glasflügliger Ameisen fällt ein. Er läßt sich auf den Säumen von blühendem Lavendel nieder, den die Sarden l’abio nennen, und bestätigt so ihre Regel:

Quando l’abio è in fiore,

La formica fa l’amore.

2

Wo der in die Berge führende Pfad das Bachbett schneidet, steht das Schilf hoch wie ein grüner Wald. Dort haben die Herden ein dichtes Muster von Spuren in den Lehm getreten, und in der Mulde haftet noch ihre Witterung. An diesem Ausstieg ist der Boden immer von Scarabäen bedeckt. Sie surren an mit ihren stahlblauen Schwingen und landen zierlich gegen den Wind. Sogleich, als ob sie keine Sekunde zu verlieren hätten, beginnen sie ihr Liebesspiel. Dann schneiden sie mit dem Kopfstück, das wie eine Säge gezackt ist, sich Kugeln aus dem Kot. Wenn die braunen Bälle die rechte Form und Größe gewonnen haben, werden sie von den gebogenen Hinterschienen umspannt, die genau ihr Maß halten. Dann werden sie mit großer Mühe rückwärts zum Ufer emporgeschoben und dort vergraben – die Tiere müssen wissen, daß unten die Überschwemmung droht.