Sämtliche Werke - Band 19 - Ernst Jünger - E-Book

Sämtliche Werke - Band 19 E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

Eine utopische »Sonnenstadt«, in der – nach dem »großen Feuerschlag« – die Grundfragen der menschlichen Existenz verhandelt werden: »Heliopolis«. Der vorliegende Band entspricht Band 16 der gebundenen Ausgabe. Es ist der »Rückblick auf eine Stadt«, der uns geboten wird, und dennoch liegt diese Stadt in der Zukunft. Sie trägt Züge des Bekannten, fast anachronistischen – wenn sich etwa ein Landvogt und ein Prokonsul bekriegen, und steht doch außerhalb von bekannter Zeit und vertrautem Ort. Es sind zwei verfeindete Ideologien, die sich hier gegenüberstehen, ausschließen und bekämpfen – um sich jedoch in ihrem Ziel, der Errichtung einer totalitären Staatsform, erstaunlich nahe zu kommen. »Heliopolis« ist damit auch ein Teil der Auseinandersetzung Jüngers mit der Zeit des Nationalsozialismus. Der Band enthält auch die »Stücke zu Heliopolis«, die Prosatexte »Das Haus der Briefe«, »Die Phantomschleuder«, »Die Wüstenwanderung«, »Über den Selbstmord« und »Ortner über den Roman«.

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Seitenzahl: 557

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ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE

Tagebücher I-VIII

Band 1 Der Erste Weltkrieg

Band 2 Strahlungen I

Band 3 Strahlungen II

Band 4 Strahlungen III

Band 5 Strahlungen IV

Band 6 Strahlungen V

Band 7 Strahlungen VI, VII

Band 8 Reisetagebücher

Essays I-IX

Band 9 Betrachtungen zur Zeit

Band 10 Der Arbeiter

Band 11 Das Abenteuerliche Herz

Band 12 Subtile Jagden

Band 13 Annäherungen

Band 14 Fassungen I

Band 15 Fassungen II

Band 16 Fassungen III

Band 17 Ad hoc

Erzählende Schriften I-IV

Band 18 Erzählungen

Band 19 Heliopolis

Band 20 Eumeswil

Band 21 Die Zwille

Supplement

Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß

Ernst Jünger

 

Sämtliche Werke 19

Erzählende Schriften II

Heliopolis

Klett-Cotta

Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band entspricht Band 16 der gebundenen Ausgabe.

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter

Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin

Gesetzt von pagina, Tübingen

Datenkonvertierung: Lumina Datamatics GmbH

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96319-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10919-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

HELIOPOLIS

INHALT

Heliopolis Rückblick auf eine Stadt

Erster Teil

Die Rückkehr von den Hesperiden

Unruhen in der Stadt

Im Palast

Das Symposion

Ortners Erzählung

Der Ausflug nach Vinho del Mar

Auf dem Pagos

In der Kriegsschule

Das Apiarium

Zweiter Teil

Das Attentat

Im Arsenal

Gespräche in der Volière

Das Unternehmen auf Castelmarino

Antonios Begräbnis

Die Lorbeernacht

Der Sturz

In Ortners Garten

Der Blaue Pilot

Der Abschied von Heliopolis

Stücke zu »Heliopolis«

Das Haus der Briefe

Die Phantomschleuder

Die Wüstenwanderung

Über den Selbstmord

Ortner über den Roman

HELIOPOLIS

RÜCKBLICK AUF EINE STADT

ERSTAUSGABE 1949

 

ERSTER TEIL

 

DIE RÜCKKEHR VON DEN HESPERIDEN

Es war dunkel im Raume, den ein sanftes Schlingern wiegte, ein feines Beben erschütterte. In seiner Höhe kreiste ein Lichtspiel von Linien. Silberne Funken zerstreuten sich, blinkend und zitternd, um sich tastend wiederzufinden und zu Wellen zu vereinigen. Sie sandten Ovale und Strahlenkreise aus, die an den Rändern verblaßten, bis sie sich wieder zum Anfang wandten, an Leuchtkraft wachsend und jäh entschwindend als grüne Blitze, die das Dunkel schluckt. Stets kehrten die Wellen wieder und reihten sich in leichter Folge einander an. Sie woben sich zu Mustern, die sich bald verstärkten und bald verwischten, wenn Hebung und Senkung sich vereinigten. Doch unaufhörlich brachte die Bewegung neue Bildungen hervor.

So folgten sich die Figuren wie auf einem Teppich, der in rastlosen Würfen entrollt und wieder geborgen wird. Stets wechselnd, niemals sich wiederholend, glichen sie sich doch wie Schlüssel zu geheimen Kammern oder wie das Motiv aus einer Ouvertüre, das sich durch eine Handlung webt. Sie wiegten die Sinne ein. Ein feines Brausen taktierte sie, das an den Schlag entfernter Brandungen erinnerte und an den Rhythmus von Strudeln, die man an Felsenküsten hört. Fischschuppen glänzten, ein Mövenflügel durchschnitt die Salzluft, Medusen spannten und lockerten die Schirme, die Wedel einer Kokospalme wellten sich im Wind. Perlmuscheln öffneten sich dem Licht. In Meeresgärten fluteten die braunen und grünen Tange, die Purpurschöpfe der Seerosen. Der feine Kristallsand von Dünen stäubte auf.

Nun bot sich ein bestimmtes Bild: ein Schiff glitt langsam über den Plafond. Es war ein Klipper mit grünen Segeln, doch erschien er in der Verkehrung und stand auf den Masten, während die Wogen sich als Gewölk am Kiele kräuselten. Lucius folgte mit den Augen seinem schwebenden Lauf. Er liebte diese Viertelstunde künstlicher Dunkelheit, in der sich die Nacht verlängerte. Als Kind schon hatte er so in seinem Zimmerchen gelegen, während das Fenster dicht verhangen war. Die Eltern und Erzieher hatten das nicht gern gesehen; sie wollten ihn auf den tätigen Geist der Burgen lenken, in denen man mit der Trompete weckt. Doch zeigte sich, daß die Neigung zum abgeschlossenen und träumerischen Wesen ihm nicht schädlich war. Er zählte zu jenen, die sich spät erheben und doch zur guten Stunde fertig sind. Die Arbeit floß ihm ein wenig leichter und müheloser von der Hand – nahe den Zentren, wo der Umlauf geringer ist. Der Hang zur Einsamkeit, zum stillen Lauschen und Betrachten in tiefen Wäldern, an Meeresküsten, auf Gipfeln oder unter südlichen Himmeln war eine Mitgift, die ihn eher kräftigte. Sie gab ihm einen Schimmer von Melancholie. So war es bis in die zweite Hälfte seines Lebens, bis an sein vierzigstes Jahr.

Der grüne Segler entschwand den Blicken, dafür tauchte, gleichfalls in der Verkehrung, ein roter Tanker auf, ein altertümliches Modell der Inselwelt. Man näherte sich dem Hafen, die Schiffe wurden häufiger. Ein schmaler Schlitz des Bullauges ließ ihre Bilder wie in eine Dunkelkammer fallen und verkehrte sie. Lucius ergötzte sich an ihrem Anblick wie in einem Kabinett, in dem man den Weltlauf am Modell betrachtet und rein als Schauspiel nimmt.

Das Wasser des Bades war im Energeion angewärmt. Noch lebte sein Plankton, dessen Leuchten die Wärme steigerte. Die kleinen Wellen blinkten, wo sie gegen die Kacheln schlugen; auch schien der Körper in sanftes Licht gehüllt, phosphorisch patiniert. Die Beugungen an den Gelenken, die Falten und Konturen waren wie mit dem Silberstift umrissen; das Haar der Achselhöhlen schimmerte wie grünes Moos. Zuweilen bewegte Lucius die Glieder, die dann stärker aufleuchteten. Er sah die Nägel der Finger und der Zehen, als ob sie sich im Mutterleibe bildeten, die Adergeflechte, das Wappen des Ringes an der linken Hand.

Endlich verkündete ein Hornruf, daß man das Frühstück rüstete. Lucius erhob sich; ein zarter Schimmer floß in die Wände ein. Nun wurde eine schmale Badekabine sichtbar, mit eingelassenem Becken und einem Waschtisch aus Porzellan. Die Haut war durch das Meersalz scharf gerötet; er spülte seine Spuren unter der Dusche mit süßem Wasser ab. Dann hüllte er sich in den Bademantel und wandte sich dem Waschtisch zu.

Der Phonophor lag unter den ausgepackten Gegenständen des Necessaires. Lucius ergriff ihn und bewegte mit dem Daumen das Rädchen für die festen Verbindungen. Sogleich ertönte aus der muschelförmigen Vertiefung des kleinen Gerätes eine Stimme:

»Hier Costar. Zu Ihrem Befehl.«

Es folgte die Meldung, wie sie auf Seefahrt vorgeschrieben war: Länge und Breite, Geschwindigkeit des Schiffes, Chemismus, Luft- und Wassertemperatur.

»Gut, Costar. Haben Sie die Uniform zurechtgelegt?«

»Ja, Kommandant, ich warte nebenan.«

Lucius ließ eine zweite Ziffer einspringen, und es ertönte eine andere, hellere Stimme:

»Hier Mario. Zu Befehl.«

»Buon giorno, Mario. Ist der Wagen bereit?«

»Der Wagen ist fertig und gut überholt.«

»Erwarten Sie mich um halb elf am Staatskai; das Schiff wird pünktlich anlegen.«

»Zu Befehl, Kommandant. Man sagt, es seien Unruhen in der Stadt. Die Wachtruppen sind alarmiert.«

»Wann sind in der Stadt denn keine Unruhen? Weichen Sie nicht vom Korso ab und lassen Sie sich einen Begleiter mitgeben.«

Lucius bedeckte das Gesicht mit weißem Schaum und schraubte das Licht zu größerer Schärfe an. Dann ließ er das feine Gitter gebogener Klingen um Wangen und Kinn schwirren. Wie immer beim Rasieren tauchten angenehme Erinnerungen auf. Er sah die weißen Ammonshörner im roten Gestein und fühlte die alte Sicherheit der Jaspisburg. Auch dachte er an die Gänge mit seinem Lehrer Nigromontan am Ufer des Flusses und an die Blumen, die mit den Jahreszeiten wechselten. An jeder Biegung leuchtete das rote Schloß in neuer Ferne auf. Man hätte immer bleiben sollen – warum entfernte man sich von solchem Ort?

Ein zweiter Hornruf ertönte – man nahm die Plätze ein. Lucius war im Verzug. Er öffnete die Tür zur Kabine, in der Costar die Kleidungsstücke auf das Bett gebreitet hatte und Lucius behilflich war, sie anzulegen, indem er ihm zunächst die Wäsche reichte, die aus hellgrüner Seide gewoben war. Der Rock war etwas dunkler, matt heidegrün, und an den Rändern mit schmaler Goldverschnürung abgesetzt. Es war die Tracht der Jäger zu Pferde, die Lucius seit kurzem wieder trug, nachdem er sich lange Jahre seinen Studien gewidmet hatte und auf Reisen gewesen war. Bei dieser Truppe dienten seit alten Zeiten die Söhne aus dem Burgenland. Sie galt als durchaus zuverlässig und stellte die Kuriere zur Übermittlung der geheimen Meldungen und Handschreiben. Die Offiziere sah man im Gefolge der Feldherrn und Prokonsuln; bei jedem hohen Stabe tauchten in der Nähe des Purpurs zwei, drei der grünen Jäger auf. Sie waren Mitwisser bedeutender Geheimnisse und oftmals Überbringer entscheidender Botschaften. Auch wirkte ihr kleines Korps in diesen Zeiten des Interregnums wie eine Spange, die die Kommandostellen zusammenhielt.

Costar gehörte zu den Familien, die seit den ersten Zeiten im Schatten der Burgen siedelten. Die zweiten und dritten Söhne dieser Höfe zogen auf See- und Kriegsfahrt, wenn sie nicht in den Städten ihr Glück versuchten oder als Laienbrüder in den Klöstern ihr Brot fanden. Spät oder niemals kehrten sie zurück in die bemoosten Hütten, in denen stets ein Platz für sie bereitet war. Man konnte sich an jedem Ort auf sie verlassen, an dem sie als dienende Brüder auftraten. Auch heute rührte es Lucius, zu sehen, wie Costar ihn mit Spannung betrachtete, bemüht, ihm jedes der Stücke genau im Augenblick zu reichen, in dem er es benötigte. Nachdem er Lucius den Sprecher in die Brusttasche gesteckt und ihm mit einem Tuche den letzten, imaginären Hauch von Knöpfen und Sporen gerieben hatte, trat er zurück und prüfte aufmerksam sein Werk.

Lucius liebte diesen Eifer in kleinen Dingen; er galt ihm als eines der unbewußten Zeichen, in denen die Ordnung sich bestätigt, als höherer Instinkt. Auch Liebe fühlte er in ihr. So ruhte sein Blick wohlwollend auf Costar, der ihm durch eine stumme Verbeugung anzeigte, daß an der Montur nichts auszusetzen war.

Im Frühstückssaal des »Blauen Aviso« herrschte die angeregte Stimmung, die den letzten Tag der Seefahrt auszeichnet. Mit feinem Summen führten die Ventilatoren gekühlte und aromatisierte Luft herbei, und knisternd sprangen die Funken von den Ambianzzerstäubern ab. Das Stimmengewirr des von der Morgensonne und der Spiegelung der Wogen belebten Raumes wurde begleitet vom Klirren des Geschirrs und von den Bestellungen der Stewards, die sie melodisch durch die Aufzüge zur Anrichte hinabriefen.

Lucius suchte nach der Begrüßung seinen Platz am Fenster auf. Die Farbe der Wogen war noch die des hohen Meeres, ein stumpfes Kobaltblau. Zuweilen stiegen, vom Kiel des Schiffes hochgetrieben, glasige Strudel auf. In ihrem Wirbel beseelte sich die Tönung und spielte in Marmor- und Blütenmuster ein. Die weißen Blasen glänzten wie Perlentrauben in dunklen Fassungen.

»Hier kann man Homer begreifen, wenn er vom weindunklen Meere spricht. Selbst kühnere Bilder würden berechtigt scheinen – nicht wahr, Kommandant?«

So fragte ein gnomenhaftes Männchen, das Lucius gegenüberhockte und seinen Blick verfolgt hatte. Es war verwachsen, und das Gesicht war greisenhaft verknittert, obwohl es einen kindlich staunenden Ausdruck trug. Das Männchen war lässig in einen grauen Anzug gekleidet, dessen Aufschlag zwei gekreuzte, aus Lapislazuli geschnittene Hämmer trug. In seiner Rechten hielt es einen Griffel, mit dessen Spitze es die Zeilen in einem Taschenbuch verfolgt hatte. Vor seinem Teller stand der Phonophor der Akademiker.

»Comme d’habitude«, beschied Lucius den Steward, der hinter seinen Stuhl getreten war.

»Comme d’habitude«, wiederholte dieser, und man hörte ihn in den Aufzug singen:

»Le déjeuner pour le Commandant de Geer.«

Dann wandte sich Lucius an das gnomenhafte Männchen und griff die Frage auf:

»Wie kommt es, Herr Bergrat, daß das Meer die schönsten Farben nur aufschließt, wenn ein Fremdes hinzutritt – ich meine: an den Küsten, in den Grotten oder im Kielwasser der Schiffe und Seetiere?«

»Als Lieblingsschüler meines verehrten Meisters Nigromontanus müßten Sie das doch besser wissen als ich. In seiner Farbenlehre findet sich gewiß ein Passus über den Einfluß weißer Inseln auf farbige Fassungen?«

Lucius konnte darüber Auskunft geben; Erinnerungen an alte Gespräche wurden in ihm wach.

»Wenn ich mich recht entsinne, bringt er diesen Einfluß mit einem seiner Lieblingsgedanken, dem Königtum der weißen Farbe, in Zusammenhang. In ihrer Nähe erhöht sich die Bedeutung der Palette, so wie der König dem Adel Rang und Sinn verleiht. Das Weiße gibt die Gründung für alle Farbenspiele, auch in der Malerei. Die Kostbarkeit der Perle liegt darin, daß sie diese Wahrheit anschaulich macht. Der Meister kam einmal darauf zu sprechen, als wir ein Blutfinkenpärchen im verschneiten Wald betrachteten.«

»Gut, Kommandant. Ich sehe, daß Sie nicht geträumt haben. Was den Hinzutritt des Fremden betrifft, so könnte man auch sagen, daß die Materie einer geschlossenen Frucht vergleichbar ist und ihre Schönheit nur sichtbar werden kann, wenn Äußeres sie wie ein Messer anschneidet. Der Anschliff erst zeigt die geheimen Muster, die im Gestein verborgen sind. Sie sollten meine Sammlung von Achaten sehen.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, Herr Bergrat, würde die Schönheit stets die Folge einer Verletzung sein?«

»So könnte man sagen, denn im Absoluten gibt es die Schönheit nicht. Man würde damit in die Metaphysik des Schmerzes eintreten. Doch machen Sie keinen Gebrauch davon; Sie würden Beifall finden, der Sie nicht erquickt. Auch nähern Sie sich dem Alter, in dem man den Vorgang von der anderen Seite auffaßt und ahnt, daß es die Fülle der Materie ist, die sich in diesen Prüfungen enthüllt. Sie gibt auf jedes Pochen Antwort, und um so reicher, je leiser es erklingt. Für jeden Schlüssel hält sie eine Schatzkammer bereit. Zu diesen Schlüsseln zählt, wie Sie aus Nigromontanus’ Lehre von den Oberflächen wissen, auch das Licht.«

»Daran entsinne ich mich gut. Auf seinen Schürfgängen verwandte er gern das Bild des Schnittes – so meinte er, das Universum, wie es sich unseren Augen bietet, stelle nur einen von Myriaden Schnitten dar, die möglich sind. Die Welt sei wie ein Buch, von dessen zahllosen Seiten wir nur die eine sehen, die aufgeschlagen ist.

Auch sagte er oftmals, daß, je zarter der Schnitt, desto größer der Aufschluß sei. Man könne einen Grad der Feinheit erreichen, der ahnen lasse, daß Oberfläche mit Tiefe identisch sei wie die Sekunde mit der Ewigkeit. Als Beispiel nannte er den feinen Schmelz auf alten Gläsern, die Seifenblasen und den Regenbogenschiller, den Öl auf Pfützen spannt. Die Welt sei nirgends bunter als in den feinsten Häuten – das sei ein Zeichen dafür, daß ihr Reichtum im Unausgedehnten wohnt. Ich würde von diesen Dingen mehr begriffen haben, wenn er mich auch der beiden Nachbardisziplinen gewürdigt hätte – der Lehre vom Nichts und der Erotik, an der er damals arbeitete. Doch war ich zu kindlich, und inzwischen heißt es, daß er die eine in Teilen seiner ›Voraussetzung zu jeder möglichen Physik‹ verschlüsselt habe, während die andere überhaupt verschollen sei.«

Ein Schatten überflog Lucius’ Gesicht. Der Bergrat, der inzwischen einige Notizen in sein Büchlein eingetragen hatte, lächelte.

»Sie würden nicht weniger Torheiten begangen haben, Kommandant. Lehrer wie Nigromontanus zeigen die Ziele und nicht den Weg. Im Grunde führt jeder Weg zum Ziel. Was übrigens die Erotik angeht, so sprach ich mit Adepten, die sie gekannt haben – so mit Fortunio, als er mich in den Faluner Werken aufsuchte.«

Er stockte und überlegte, als ob er einen Namen suchte:

»Es mag auch in den Schneeberger Pingen gewesen sein. Doch gleichviel, Nigromontanus wendet seine Unterscheidung von Tiefe und Oberfläche auch auf die Liebe an. Darüber will ich Ihnen Näheres verraten, wenn Sie mich im Gehäus besuchen, um die Achate zu besehen.«

Er hatte sich bei diesen Worten vorsichtig umgeblickt. Doch waren die beiden Nachbarn, die mit am Tische saßen, in ihr Gespräch vertieft. Inzwischen war auch der Steward mit den Früchten erschienen, die das Frühstück einleiteten.

Der Bergrat wandte sich wieder seinen Notizen zu. Indem er mit dem Stift ein Zeichen machte, ergriff er mit der Linken den palmengeschmückten Phonophor.

»Ich hatte eine Unterbrechung, verzeihen Sie. Wie weit sind wir gekommen, Stasia?«

Und eine klare Mädchenstimme antwortete:

»… Aus dem mare serenitatis nach Osten ansteigend … ›ansteigend‹ war das letzte Wort.«

»Gut, Stasia, ich fahre fort.«

Und sich behaglich in den Sessel lehnend, begann er zu diktieren, mit einer Stimme, die verriet, daß er der prompten Aufnahme sicher war:

»… Aus dem mare serenitatis nach Osten ansteigend, gelangt der Wanderer in den Bannkreis des Kaukasus. Als Vorgebirge, weit abgesetzt von seinem Westhang, ragt aus der Ebene die Kratergruppe, die Rutherford auf seiner Karte die turres somniorum nannte und die Fortunio auf seiner dritten Erkundungsfahrt vermaß.

Bei ihrem Anblick wächst der Eindruck der Leere, der Ausgestorbenheit. Kein Islandgletscher, keine Polarnacht gibt diese Vorstellung des Todes, der Lebensferne, wie diese Türme im luftleeren Raum bei gleißendem Licht. Es waltet eine Einsamkeit um sie, die an den Angeln des Geistes hebt und sich bedrohlich steigert, wie bei der Wüstenwanderung der Durst. Die Fälle sind zahlreich, in denen die Panik und dann der Wahnsinn sich nicht nur des einsamen Forschers, sondern auch der Karawanen bemächtigten. Die Ferne ist so groß, daß das Herz von Sehnsucht nach dem letzten Menschen, ja nach dem Feinde und selbst nach Kraken und Ungeheuern, ergriffen wird.

Daneben wächst eine zweite, nicht minder fremde Wahrnehmung heran. Zusammenhänge von anderer Art als jener, die wir als Leben kennen, beginnen aufzuleuchten – der Stil der Baupläne. Sie bannen den Geist durch eine Spannung, durch ein Staunen, das der drohenden Vernichtung die Waage hält. Wie zwischen Szylla und Charybdis schwebt er in fürchterlichem Gleichgewicht. Der absoluten Leere auf der einen Seite entspricht auf der anderen die Nähe von Mächten, denen die menschlichen Organe nicht zugeordnet sind.

Ein ähnliches Staunen würde uns ergreifen, wenn wir den Lebensgeist verkörpert sehen könnten – als mächtigen Träger der Liebe und der Feindschaften. Die Pflanzen, Tiere, Menschen würden dann zu einer größeren Figur verschmelzen, wie Feilstaub im Kräftefeld. Sie würden sich vereinen zum prachtvoll-fürchterlichen Schabrackenmuster unserer Welt. Ein Fremdling, der die Liebe und den Schmerz nicht kennte, würde die Wesen zu wunderlichen Ketten magnetisch angeordnet sehen, im Bannkreis mächtiger Mysterien.

Doch anders ist es hier. Es fehlt das Rankenwerk der Leidenschaften, die wirre und doch vertraute Runenschrift der Lebenswelt. Die Geisteswelt tritt unverhüllt hervor, mit blendenderem Licht, als es den Augen frommt. Sie öffnet einen Zirkel strenger und feierlicher Bilder, Pläne entschleiernd, die sonst im Innersten der Heiligtümer verborgen sind.

Stets sucht das Wachstum ja zu mildern, zu überblühen, was Maß am Leben ist. In dieser Fülle sind wir zu Haus. Hier aber treten die Ordnungen hervor. Das Licht allein ist Herrscher auf dieser leeren Bühne, jedoch ein Licht, das durch kein Medium gebeugt, besänftigt wird. Der Gang der Strahlen ist von unbarmherziger Genauigkeit. Den Farben fehlen die Übergänge, die zarten Spiele, das Dämmern der Wald- und Meeresgründe, die atmosphärischen Vermählungen. Rundum ist Wüste ohne Duft und Klang und ohne Witterung.

Dem Gold der Dünen und Inselrücken heften sich azurene Schatten an. Die Klippen und Riffe leuchten im Kristallglanz auf. Der Himmel ist über dieser Lichtflut als ein Zelt von feinster und faltenloser schwärzester Seide ausgespannt.

Vom Rande des ausgestorbenen Meeresbeckens drohen die turres somniorum mit sieben steilen Gipfeln, die eher Pylonen oder Obelisken als Vulkanen ähnlich sind. Die schlanken, lichtgrünen Kegelstümpfe ragen zu großer Höhe auf. Die Zinnen blenden als jungfräuliche Kronen, deren Anblick Erinnerungen an Firnschnee und Gletschergürtel weckt.

Bei Sonnenaufgang senden diese Gipfel schmale, blutrote Zungen aus, die sich, der Länge des Tages ungeachtet, mit ungeheurer Schnelle bewegen. Bangen ergreift den Wanderer, wenn ihn eine der lautlosen Schwingen trifft. Sie gleichen den Spitzen von Kompaßnadeln oder den Zeigern von Uhren, mit denen ein unerforschliches Bewußtsein sich kontrolliert. Bei solcher Berührung erahnt der Geist, was Maß und Ordnung am Universum ist. Und er erfaßt, daß Linien, Kreise und alle einfachen Figuren Abgründe der Weisheit sind. Zugleich streift ihn der Fittich der Vernichtung; er fühlt, wie unter der Übermacht des Lichtes sein Räderwerk zu brechen droht.

Die turres somniorum erheben sich vor der silbergrauen Kette des Kaukasus. Die Sockel ragen aus goldbraunen Hügeln auf. Mit jedem Schritt, um den sich der Wanderer nähert, wird der Anblick erhabener. Die Gipfel strahlen in phantasmagorischer Pracht. Allmählich wird auch der Kristallwald sichtbar, der ihren Fuß umflicht, ein hohes Röhricht von Mineralen, in dem die Farben längst erloschener Brände erkaltet sind. Die Riesenkristalle sind spieß- und klingenförmig wie graue und amethystene Schwerter, deren Spitzen im Gluthauch kosmischer Schmiedefeuer dahinwelkten.

In ihrem Dom herrscht eine graue, opalene Dämmerung. Vergeblich wird der Sterbliche, der sich ameisenhaft durch diesen Monolithenkranz windet, nachsinnen über seine Ursprünge. Dorthin dringt keine Wissenschaft. Wohl darf man vermuten, daß Elemente gewaltet haben, die den uns bekannten Arten des Feuers unendlich überlegen sind – sei es nun, daß sie aus der Tiefe wirkten oder daß sie aus dem Weltraum auftrafen. Einmal, in fernster Sternenstunde, erglühten diese kosmischen Kleinodien in siebenfachem Glanze als Smaragde am Saum der Schöpfung in Konstellationen, die unerforschlich sind. Erst hier begreift man, wie unendlich wahrer als alle Hirngespinste die großen Kosmogonien und Schöpfungssagen sind.

Die Dichtung dringt weiter als die Erkenntnis vor. Kindliche Geister halten eher dem Blick auf diese Reiche stand. Schatzgräber hohen Ranges bleiben noch unbefangen, wo auch der Wissendste erschrickt. So sah Fortunio den Kristallwald als Kelchkranz, die Gipfel als aufgewölbte Frucht- und Blütenböden an. Und wunderbare Funde belohnten ihn für dieses Bild. Daher soll die Besteigung der smaragdenen Türme und das Eindringen in ihre Schlünde mit seinen Worten geschildert sein:

›Ich nahm am Fuß des südlichsten der grünen Fürsten Standquartier. Schon wenige Erkundungsgänge zeigten, daß der Aufstieg möglich war. Der Absturz der Kristallwand war gebändert und gestuft in einer Weise, die an den Bau der Theokallis erinnerte. Doch wirkten hier Gesetze der Kristallwelt in höchstem Regelmaß. Es war nicht schwierig, die schmalen, doch scharf geschnittenen Stufen emporzuklimmen in Räumen, in denen der Körper der Schwerkraft in so geringem Maße unterliegt, daß der Gedanke ihn zu beschwingen scheint.

Ich stieg, um volles Licht im Inneren des Kraters anzutreffen, bei hohem Sonnenstande an. Um diese Stunde ziehen die Kolosse den Schatten eng an sich heran. Indem er sich nähert, dunkelt er durch alle Tönungen des Blutes, das gerinnt. Auch an den fernen Gebirgen, den großen Kraterringen und den steilen Küsten schmelzen die Schatten ein und legen sich den Höhen als dunkle Säume und schmale Sicheln an. Allmählich gewinnt das Licht allein die Herrschaft, und die grünen Türme gleichen den Buckeln eines Silberschildes, der mit dem Aufstieg an Weite und Glanz gewinnt.

Als ich die Zinne erstiegen hatte, stand die Sonne im Zenit. Das Licht war nun so stark geworden, daß es die Form zerstörte und den Umkreis in eine Scheibe von hellstem Silber verwandelte. Ein längeres Verweilen drohte trotz der Maske die Augen zu versehren; ich wandte mich daher nach kurzem Rundblick der Tiefe des Kraters zu.

Die weiße Krone war aus Smaragdbrand aufgezündet, aus schneeiger Lava, die blasig wie Perlenschaum gewoben war. Hier hatte wohl dereinst die Glut den höchsten, sprühenden Grad erreicht. Die Tritte faßten sicher auf dem unberührten Grund. Nur dort war Vorsicht geboten, wo er im Inneren des Kraters wieder in den Smaragdfels überging. Hier glänzten, zunächst wie Schaum der Brandung, dann immer spärlicher, die Perlen im Kristall.

Der Krater war wie ein grüner Kelch geschnitten, der Gischt versprüht. Spiralenbänder führten auf den Grund hinab, der augenfarbig aus der Tiefe schimmerte. Auf ihren Säumen wagte ich den Abstieg in den grünen Schacht. Bald war ich im Inneren des Kristalls, der nun durchsichtig wurde im starken Licht, das ihn beschien. So sah ich, daß seine Masse nicht gänzlich smaragden war. Sie führte Einschlüsse: bald trübten bunte Schleier ihre Klarheit, bald zogen Bänder von Opalstaub sich durch ihren Grund. Dann waren Kerne in sie eingesprengt – in allen Größen, Formen und Farben, die im Reich der Samenkörner oder der Früchte in Feld und Garten anzutreffen sind. Hier lagen sie der Oberfläche an wie Kronjuwelen oder Inkrustationen, die man auf Reliquienschreinen sieht, dort waren sie in die Tiefe des Muttergrundes eingeschlossen und dämmerten herauf.

Bei ihrem Anblick wurden Erinnerungen aus Kinderzeiten wach. Ich dachte an die Gärten der Großen Marina mit ihren Trauben und bunten Früchten und an die Schleppen der Pfauen, die von den Marmortreppen fluteten. Auf den Terrassen pickten Tauben mit Korallenfüßen und erzenen Hälsen die Weizenkörner auf.

Das Glück durchdrang mich wie den erhörten Freier, der in die Kammer der Geliebten tritt; die Ruhe und die Gewißheit des Besitzes erfüllten mich. Der Abstieg durch die innere Spindel glich der lustvollen Umdrehung eines Kaleidoskopes, dessen Muster sich stets verdichteten. Und immer üppiger begann sein Ziel zu leuchten: der Augengrund. Er blühte wie der Sammet von Schlangenhäuten, wie Perlmuttschimmer, der die Meereswunder in den Korallengärten schmückt. Ein Schleier von feinsten Funken umwob und überspielte ihn im Schatten der grünen Dämmerung. In solchem Glanz enthüllt die Liebesgöttin sich vor der Umarmung, tritt Iris in den Göttersaal.

Ich sah, daß ich zu einem der kosmischen Horte, zu einer Schatzgrotte des Universums vorgedrungen war. Schon manchmal war ich bei meinen Wanderungen am Rand der Hochgebirge in die Gletschermühlen eingestiegen, Werkstätten der Eiszeitschmelzen im Urgestein. In ihren Kesseln hatte die Gletschermilch die Steine umgetrieben und geschliffen im Mahlgang von Jahrtausenden. Nun lagen die Strudeltöpfe trocken, und die vom Rundlauf erlösten Malmer bedeckten als Kugeln ihren Grund.

An solchen Orten beschwören unsere Sinne stets die Gegenwart des Fehlenden, wie gerade in der verlassenen Werkstatt der Meister uns am nächsten ist. Die Vogelschwinge ruft die Idee der Luft, der Schlüssel die des Schlosses in uns wach. Und so war es in jenen Gletschermühlen der Wassergeist, das Wallen und Strudeln längst verrauschter Schmelzen, das mich mit Zaubermacht ergriff. Die großen Kräfte lassen solche Stätten als Zeichen ihrer Unversiegbarkeit zurück.

Hier aber, im Schoß der grünen Türme, erschlossen Edelsteinmühlen sich dem betörten Sinn. Was waren für Mächte im Spiel gewesen, um die Juwelen aus dem smaragdenen Mutterschoß zu lösen und in der Tiefe anzureichern zum Hort, der alle Schätze Indiens überbot? Gleichviel, es mußten Sternzeitalter zur Bildung solcher Minen mitwirken.

Lang ausgestreckt, mit beiden Armen im Schatzgrund wühlend, berauschte ich mich an den Kleinodien. So mögen die Biene, die Hummel, der Schwärmer sich betäuben in Welten, in denen die Blüten Sterne sind. Ich sah, ich fühlte, ich schmeckte die Glätte, die Strahlung des köstlichen Gerölls wie die von Augen fabelhafter Wesen, die Regenbogenglanz belebt. Da blitzten sie alle, die hohen Lichter, nach denen Sklavenheere den blauen Grund durchwühlen, den Staub der Wüsten sieben, den Schwemmsand der Ströme seihen – doch größer und reiner, als sie über und unter Tage das Gezähe ausbricht, die Woge sie in der Schüssel des Wäschers überspült. Und den bekannten gesellten sich die unbekannten zu. Kein Ophir, kein Golkonda brachte sie hervor. Dem grünen Smaragdstaub waren vielfarbige Körner eingebettet, und diesen wieder lagen bunte und zartgeschliffene Feuerkiesel auf. Sie bildeten den Grundstock für die Solitäre, die sprühende Fassung für den Schatz. Die Eier von Drachen, Greifen und Neptuns schaumgekrönten Wesen umrinnt ein Feuer, das tiefer zündet, als es der Tag mit seinem Licht vermag.

Ich wog mit beiden Händen den Mondstein, den milchiger Glanz umspielte wie Ledas Ei. Wer möchte sagen, ob er schöner flammte als der zartgrün und grau gewölkte Jade oder der irisierende Opal? Ich sann den Runen nach: den feinen Flechten, die den himmelblauen Türkis durchädern, den Purpurfunkenschleiern des Heliotrops, dem Bild des Lebensbaumes in den Moosachaten, den Büscheln von Spießen im Bergkristall. Doch trugen über diese Farbenspiele die großen roten, blauen und weißen Lichter, wie sie die zweite Reihe von Aarons Amtsschild zierten, den Sieg davon. Dem schwarzen Blitz, der aus dem Innern des Karfunkels zuckt, wird kein Bewußtsein widerstehn. Im heiligen Saphir schließt sich der Himmel auf. Der Diamant gibt uns das höchste Gleichnis des Lichtes, das bei vollkommener Klarheit die Summe der Farben in sich schließt.

Vor diesen Spiegeln des Universums versinkt der Geist in hohe Träumerei. Die Schönheit erscheint ihm anders als im fleischlichen Gewande, als in der Lebensfülle; sie naht im Strahlenkleid. Sie leuchtet im Glanz der Offenbarung und ihrer ewigen Städte, nachdem wir Wüsten durchwanderten.

In jenen Gletschermühlen hatte sich der Wassergeist als Meister der verlassenen Werkstatt eingestellt. Hier aber, in die Weltenferne des Smaragdturms und seines Grales, trat der Geist des Makrokosmos ein. Die Morgen- und Abendröten glühten im Spiel der Wolkenbänder und Gloriolen, im Auf- und Untergang über den Wogen unbefahrener Meere und ihrer Inselpracht. In blauen und grünen Schatten dämmerten die Grotten, an deren Marmorbecken Arethusa träumt.

Was sind des Menschen Herz, des Menschen Hirn, des Menschen Auge? – ein wenig Erde, ein wenig Staub. Und doch ist dieser Humus zur Arena des Universums auserwählt. So sind die Edelsteine aus niederer Erde und geringem Ton zu großem Glanz erhöht. Auf diesem Gleichnis beruht ihr Wert, der sie zum Schmuck der Hohenpriester und Könige bestimmt und auch zur Zier der schönen Frauen, die köstlich aus dem Schoß der Mutter Erde hervorgegangen sind.‹

So weit Fortunio. Wir aber wollen uns auf dem Rückweg noch zu den braunen Hügeln wenden, aus denen die grünen Türme entsprossen sind. Dort harren unser Dinge, die weniger farbig und doch noch wundersamer sind.«

Bei diesem Satze schloß der Bergrat das rote Büchlein und brachte den Griffel an seinen Ort. Er fügte noch hinzu:

»Wir wollen hier vorläufig schließen, Stasia. Sie haben jetzt die ersten drei Kapitel im Phonogramm; ich lese heut abend im Gehäuse die Reinschrift durch. Ich bleibe über Mittag in der Stadt … Nein, danke, ist nicht nötig. Doch stellen Sie mir eine Flasche Parempuyre an den Kamin. Bis heute Abend, Stasia.«

Er nahm den Sprecher an sich und nickte Lucius zu:

»Ich will jetzt packen – Glück auf, Kommandant. Vergessen Sie die Achate nicht.«

Es war lebhaft geworden im Frühstückssaal. Hier wurden Vorberichte durchgegeben, Nachrichten abgehört, mit heliopolitanischen Büros Verabredungen getroffen, dort schwoll die Unterhaltung zu jener Fröhlichkeit, wie sie den Abschied ankündigt.

Der Steward hatte abgeräumt. Die beiden Nachbarn, die nach dem Abschied des Bergrats am Tisch verblieben waren, hatten ebenfalls ihr Frühstück beendet und waren in ein Gespräch vertieft. Der eine war ein noch junger Professor der Kulturgeschichte, Orelli, den gleichfalls der Phonophor der Akademiker auszeichnete. Er war von großer, kräftiger Gestalt; ein freies Selbstbewußtsein prägte sein regelmäßig, doch kühn geschnittenes Gesicht. Die starken Sonnen jenseits der Hesperiden hatten es gebräunt. Im Klang der Stimme und in der Redeführung kam Optimismus, ja selbst Idealismus in einer Weise zum Ausdruck, die ihren Träger angreifbar erscheinen ließ und doch sympathisch war.

Der andere war in die aluminiumgraue Uniform der Techniker gekleidet und trug, in gleicher Farbe, den Phonophor des Instituts. Er hatte sich beim Anblick des goldenen Allsprechers, den Lucius führte, erhoben und verneigt. Sein Schädel war schmal, von hoher, kahler Wölbung, die ein Kranz roter Haare umwucherte. Die Augenbrauen waren heller, fast schweflig, und die blauen Augen darunter wiesen eine milchig eingestrahlte Trübung auf. Sie waren ein wenig eingedreht, so daß der Blickpunkt etwa zwei Spannen vor der Nasenwurzel lag. Das gab den großen Pupillen ein zugleich festes und beschränktes Licht, auch einen verfolgerischen Zug. Das Lächeln dieses Mannes, der mit Orelli in gleichem Alter stehen mochte und den dieser Thomas nannte, war boshaft und verschärfte sich in der Replik. Es war ihm anzusehen, daß er sich nicht durch Farbe und Stimmung der Worte blenden ließ, sondern ein scharfer Prüfer ihres logischen Inhalts war. Wachsam erspähte er jede Lükke in der Rüstung, jede flüchtige Blöße, und wählte bedächtig und genußvoll seinen Pfeil. Und es war offensichtlich, daß es ihm nicht nur darauf ankam, zu treffen, sondern auch zu schmerzen, indem er traf.

Lucius fragte sich, wie das ungleiche Paar gekoppelt war. Es mochte sich um eine alte Studienfreundschaft handeln, von deren Banne man sich ungern löst. Wir führen die Erinnerung an durchlebte Zeiten ja nicht nur in uns, sondern auch in den Kameraden mit und zollen ihnen eine Dankbarkeit, die oft die Schwäche streift. »Mangé ensemble de la vache sauvage.« Es mochte aber auch ein Verhältnis des Gegensatzes walten, wie man es häufig bei geistig bewegten Menschen trifft. Wir lieben die andere Bildung nicht nur im Geschlecht.

»Du bleibst doch stets der Alte, Konrad«, hörte er den Roten zu Orelli sagen, »mit deiner Vorliebe für Schaugerichte und unnötige Zutaten. Wenn man den Aufputz abstreicht, bleibt von deinem Lacertosa ein Vulkaneiland mit halbzerstörtem Krater, auf dem sich eine abgeschlossene Kultur entwickelte. Die Leutchen treiben über die Meeresweiten halb Handel, halb Seeräuberei. Verehrt wird eine neptunische Stadtgottheit. Was wir von euch erfahren wollen, Konrad, das sind Fakten, und nicht Meinungen.«

»Ihr solltet Photographen anstellen.«

»Da wäre manches Wunder bald aufgeklärt.«

»Richtig, der Film erfaßt ja auch den Regenbogen nicht.«

Orelli schwieg eine Weile und setzte dann hinzu:

»Dein Widerspruch ist mir wichtig, damit ich meine Zeichnung nachprüfe. Von Farben verstehst du nichts. Du bist ein Architekt, der Pfeiler, doch keine Bögen machen kann.«

Dann, wärmer werdend:

»Thomas, ich glaube, daß dir eine Ahnung aufgehen würde von der geformten Lebensmacht, wie wir sie als Kultur bezeichnen, wenn du mich eine Stunde vor Sonnenuntergang auf jene Klippe begleiten würdest, die man das Südhorn nennt.«

Er wandte sich den Zerstäuber zu und lehnte sich zurück. Der andere unterzog sich dem Vortrag halb wohlwollend, halb überlegen wie dem Geplauder eines Knaben, den man gewähren läßt.

»Dort nistet in den Felsenhöhlen eine Art von Albatrossen, von großen Meeresräubern, die auf Fischfang gehen. Seit altersher sind diese Tiere heilig und daher so wenig scheu, daß man sie mit der Hand berühren kann. Du siehst sie mit den plumpen Füßen auf den Bänken der Klippe rasten, während ihr Gefieder am Boden schleift. Die starren Augen glänzen wie Schliffe aus rotem Glas.

Ich habe mich oft gefragt, ob ihnen die Beute bereits aus dieser Höhe sichtbar wird, oder ob sie sich rein periodisch in den Raum hinauswerfen. Sie spannen die ungeheuren Flügel, die schmal geschnitten und scharf zurückgebogen wie Sensenklingen sind. So schweben sie silbern im sanften Aufwind über dem dunkelblauen Grund.

In königlicher Ruhe, als ob sie Kraft einschießen ließen, beschreiben sie einen weiten Bogen, der sie vom Fels entfernt. Dann schießen sie in die Tiefe, als Meister des Abgrunds, auf die Flut hinab.

Und immer fühlte ich die Augen mitgerissen durch ihren Absturz, der sie in winziger Verkleinerung als Silberflocken mit dem Schaum der Wogen verschmelzen ließ. Im Taumel des Einblicks schien es, als ob der Raumsinn dieser kühnen Flieger sich übertrüge und als ob der Umkreis zugleich an Glanz gewönne und sich in den Maßen festigte wie eine Münze, die aus dem Prägstock springt.

Um diese Stunde ist die Welt von Lacertosa am dichtesten, ganz in sich selbst beschlossen wie eine Frucht. Das Meer scheint sich an seinen Rändern wie eine Schüssel aufzuwölben, und seine Farbe hat sich der des Himmels angeglichen, so daß sich der Raum zur blauen, nahtlosen Kugel schließt.

Kein Segel, keine Galeere stört die Einsamkeit. Der Fels ist glühend geworden, und die Insel taucht wie ein roter Mond im ersten Viertel aus der Flut. Dort wo der Innenrand der Sichel ins Meer einschneidet, schärft ihn als weißer Saum ein Marmorband. Wie Hummerscheren schließen die beiden Molen den Handels- und den Galeerenhafen ein. Auf ihrem Trennungsdamm trägt eine rote Muschel das Bild der Meeresgöttin, die die Arme hebt.

Weiß glänzen auch die Häuser und die Straßen von Lacertosa, die sich wie Ränge in die Rundung eines Theaters einfügen. Ihr Stein ist durchaus blendend bis auf die Brandflecken, die man vor den Altären sieht.

Um diese Stunde treten die Frauen aus den Türen und bringen das letzte der täglichen Opfer dar. Sie richten die Augen auf den Palast des Sonnengottes, der in der Mitte der Lagune sich aus der Flut erhebt. Nach ihm sind die Altäre orientiert.

Der Palast ist aus dem Porphyr der Insel aufgeführt. Umgänge, die sich achtmal schneiden, führen zu seiner Krönung auf. Vom höchsten Stockwerk sagt man, daß es das goldene Bett des Gottes trage; sein Zeichen ist der Obelisk, der für die Schiffe weithin sichtbar die Plattform überragt und dessen Spitze nachts ein Feuer überstrahlt.

Zwei überdachte Säulengänge führen zu den beiden Klöstern, die dem Dienst des Gottes gewidmet sind. Am höchsten Festtag stellen sich hinter den Altären die Jünglinge und Jungfrauen dem Gotte dar und werden von ihm ausgewählt. Sie fahren dann mit hellen Segeln zum Palast und kehren nie zurück.

Während die Frauen das Opfer vorbereiten, gleitet der Schatten des Obelisken über die Mole des Galeerenhafens und nähert sich dem Mitteldamm. Er überschneidet die Meeresstraße, auf deren Spiegel zu den Festen die Naumachien gefeiert werden und Prunkgeschwader vorübertreiben, die man verbrennen läßt.

Im Augenblick, in dem der Schatten das Bild der Meeresgöttin deckt, ertönen von den Galerien der Klöster Muschelhörner und kräuselt der Rauch der Opfer auf. Und immer teilte sich auch mir auf meinem einsamen Posten ein Beben mit, als ob die blaue Kugel unter einer feinsten Empfängnis zitterte.«

Orelli, der leicht dozierend gesprochen hatte, wandte sich wieder seinem Partner zu:

»Solange ich als Lehrer an der Akademie verweile, werde ich immer darauf halten, daß alle Einzelbeobachtungen und Studien sich krönen, zusammenschießen müssen in Augenblicken solcher Art. Vom Ganzen kommt jede Wissenschaft und muß dem Ganzen zuführen.«

Der andere hatte lässig zugehört, wie einer wohlbekannten Melodie.

»Konrad, du bist doch immer noch der alte Wirrkopf, als den ich dich bei den Borussen gekannt habe. Damals war es die griechische Kulturgeschichte, und du wirst dich erinnern, wie oft und wie vergeblich ich dir bewiesen habe, um wieviel wichtiger die Ägypter und überhaupt die Völker des frühen Orients für uns gewesen sind und daß der Ausgang von Salamis ein Unglück war, dem wir noch heute nachkranken. Das haben die Römer nur unvollkommen repariert. Von Hellas kommt auch die Überschätzung der freien Forschung, das heißt, des geistigen Beliebens, das stets anarchisch münden muß. Das ist ein Luxus, der uns bei den ungeheuren Räumen, die wir zu kontrollieren haben, immer teurer zu stehen kommt. Wir wollen von euch auch nicht beliebige Resultate; wir wollen Resultate, die brauchbar sind.«

»Und wann sind sie denn brauchbar? Natürlich nur, wenn sie den Anschlägen entsprechen, die ihr im Zentralamt ausbrütet. Ihr möchtet das Wissen als ein Mosaik behandeln, das man ad hoc zusammensetzt. Man braucht Belege für eine Theorie der Vorgeschichte, und man entsendet Ausgräber, die in entfernten Wüsten und Eiszeithöhlen das Gewünschte finden; sie zaubern das Missing link aus Schieferbrüchen und altem Schutt hervor. Der schlechte Stil wird dann von den Natur- auch auf die Geisteswissenschaften ausgedehnt. Wer Unerwünschtes findet, dem droht Inquisition. Was gibt euch eigentlich den Mut zu solchem Ansinnen?«

»Das fragst du«, hörte Lucius den Uniformierten erwidern, »du, der sich immer auf das Ganze berufen will? Wir wollen vielleicht die Federn ein wenig unter Aufsicht halten, wie es Auguren ziemt.«

Er stellte den Zerstäuber ab und wandte sich dem Freunde zu:

»Doch, ernsthaft gesprochen, Konrad, und unter uns: Du bist zu klug, um nicht zu wissen, daß ein akademisches Gemälde wie das des famosen Lacertosa im Grunde nichts anderes bedeutet als eine Hemmung oder selbst einen verkappten Angriff auf unsere Bahn. Aber wir lassen Götter nicht wieder aufkommen.«

Die Stimme wurde scharf und trocken; man hörte aus ihr den alten Zwist des Institutes mit den Akademikern – hier Wille und dort Anschauung:

»Wer stark ist, lebt in der Gegenwart und formt aus ihr die Zukunft und die Vergangenheit. Ihr aber haltet es umgekehrt.«

Er schien zu fühlen, daß er zu scharf geworden war, und ließ den Zerstäuber wieder sprühen, indem er sich bei Lucius entschuldigte. Dann wandte er sich von neuem dem Professor zu:

»Die mythischen Figuren, deren Spuren du mühsam nachziehst, sind Symbole der elementaren Welt. Was dort und damals der naive Sinn erahnte, ist heute Ziel des strengen, geordneten Bewußtseins, der Wissenschaft. Wir haben Organe an das Unbekannte angesetzt und zwingen es in unseren Dienst. Wir haben mit dem Stabe an den toten Fels geschlagen, und unerschöpflich springt ein Strom von Macht und Reichtum aus dem Quarz.«

Ein stolzes Lächeln überflog seine Züge, und wohlgefällig atmend lehnte er sich zurück. Das Leuchten verschönte ihn, es gab ihm einen Schimmer, als ob er starken Wein getrunken hätte, und seine Stimme wurde gönnerhaft:

»Und darum, Konrad, weichen die Götter vor uns zurück: vor unserer Übermacht. Du weißt recht wohl, daß mit den ersten Zerstäubern und Phonophoren, die wir nach Lacertosa bringen, die Opfer unwirksam werden und der Götterspuk erlischt. Das liegt nicht an der Rationalität der Mittel, sondern an ihrer stärkeren Wirklichkeit. Das sind die Wunderlampen, deren Schein die alten Götterhimmel verblassen läßt.«

Er fächelte sich mit den Händen die von Duft und Strahlen getränkte Salzluft zu und sog sie ein. Er sprach jetzt behaglich und vollkommen sicher, wie sein großes Vorbild, der Landvogt, wenn er bei guter Laune war:

»Die Übermacht ist so stark, daß sie durch nichts erschüttert werden kann. Wir können großzügig sein. Reich deinen Bericht ein, Konrad – ich werde bei Messer Grande dahin wirken, daß er die Insel dem Punktamt überweisen und sie unter Naturschutz stellen läßt. Wir übernehmen sie, einschließlich der heiligen Pelikane, auf den Etat und sorgen dafür, daß nichts verändert wird.«

»Nicht Pelikane – Albatrosse«, verbesserte Orelli; er hatte mit Unmut zugehört: »Wir wollen jetzt nach oben gehen, Castelmarino muß bald auftauchen. Du solltest Komponist werden – dann würde die Trompete das erste Instrument.«

»Und du Caféhauserzähler in Alexandria.«

Indem sie höflich grüßten, erhoben sie sich und verließen den Frühstückssaal. Der Graue warf, bevor er die Drehtür zum Promenadendeck durchschritt, noch einen forschenden Blick zurück.

Lucius verband sich mit der Sternwarte. Er nahm Uhrzeit und Position. Noch standen gut zwei Stunden Fahrt bevor. Er zog ein schmales Heftchen aus der Tasche; es diente ihm auf Reisen als Tagebuch. Er brachte es mit einigen Zeilen auf das Laufende:

»Abschluß der Reise nach Asturien. Man spricht von Unruhen in der Stadt. Beim Frühstück der Bergrat. Gespräch über Farbenlehre; von den Schriften des Meisters soll noch manches aufzutreiben sein. Othmar ansetzen. Dann Unterhaltung zwischen Orelli und seinem Freunde, der sicher Messer Grande, vielleicht sogar dem Landvogt nahesteht. Räuspert sich ganz wie er.

Auszuführen: An einem solchen Paar ist zu beobachten, wie eine anarchistische Jugendfreundschaft sich aufspalten kann in konservative und in nihilistische Strömungen. Der Mensch entscheidet sich für das vegetative oder für das mineralische Reich. Er kann verholzen einerseits, versteinern andererseits. Doch kann man am Holz noch Blüten sehen. Der Hang, die Erkenntnis in ihrem Gang zu bestimmen, trägt vererzende Züge; die Wissenschaft wird bürokratisiert, ja Funktion der höheren Polizei. Den Professoren wird das Apportieren beigebracht.

Ferner noch auszuführen: In Typen wie diesem Thomas schlägt sich der Mineralcharakter auch nieder im Maskenhaften der Physiognomie. Ich hoffte damals auf vereinfachte, doch kräftigere Bildungen inmitten des Verfalls. Indessen wird der reine Verlust stets deutlicher. Alles wird blaß, grau, staubig; die Dinge werden uniform. Langweilig werden sogar die großen Residenzen der Leidenschaft: die Macht, die Liebe und der Krieg.«

Er schloß das Büchlein, um es einzustecken, doch schlug er es, nachdem er von neuem Uhrzeit genommen hatte, wieder auf. Er konnte noch den Vortrag für den Prokonsul in Umrissen entwerfen, denn er würde Arbeit vorfinden. Das Schiff lief langsam; man konnte die Hesperidenstrecke in einem Bruchteil der Zeit bewältigen. Jedoch seit die Geschwindigkeiten absolut geworden waren, spielten sie keine Rolle mehr. Es war vielmehr, als ob sie nicht vorhanden wären – man dehnte oder kürzte die Fahrten nach Belieben, wie die Geschäfte es erforderten. Der Lauf des »Blauen Aviso« war auf die Arbeit, die jenseits der Hesperiden anfiel, abgestimmt. Es gab hier keine tote Zeit. Auch schufen die Phonophore ja eine Art Allgegenwart.

Lucius zog den Zerstäuber näher an sich heran und überlegte die Stichworte. Asturische Händel; es war nicht einfach, das Treiben im Bericht zu klären – Dom Pedro spielte Schach, indem er den Tisch umstieß.

Endlich erhob er sich und schritt dem Ausgang zu. Es summte im Saale wie in einem Bienenstock. Nicht nur die Heimkehr regte die Geister an; man spürte bereits den Krieg. Die Fetzen der Gespräche, die er zwischen den Tischen auffing, berührten die Wende, die man kommen sah.

»Im Herbst wird Dom Pedro losschlagen.«

»Gutachten? Für Rebellen gibt es kein Völkerrecht.«

»Und für Tyrannen keine Sicherheit.«

»Von Edelsteinen eher die mittleren Größen, die man am Körper noch verbergen kann.«

»Die großen Solitäre sind gefährlich; Sie sollten Scholwin zu Rate ziehen.«

»Am besten ist konzentrierte Energie.«

»Zu lange im Orient gewesen, um nicht zu wissen, daß nur der sicher geht, der auch die Verdächtigen … in dubio pro.«

»Elektro wird anziehen.«

»… Einwohnerlisten prüfen, die Portiers besolden, die Phonophore einziehen. Besonders die Parsen …«

»Die Börse spielt noch nicht mit.«

»Es sollen Verhandlungen im Gange sein.«

»Wie gut, daß wir den Ausflug noch gewagt haben. Wann wird man die Wälder wiedersehen mit ihren Bäumen, deren tiefster Ast in Höhe des Kölner Doms entspringt?«

»Es gibt auch in der Nähe noch stille Plätzchen – Forschungsaufträge im Korallenmeer. Sie sollten Taubenheimer anrufen.«

»Er wird verlangen, daß ich seinen Katalog der Cephalopoden vervollständige. Eine bittere Nuß.«

Die Suche nach ruhigen Pöstchen war bereits im Gang. Lucius war an der Drehtür stehen geblieben und blickte in den Saal. Dicht neben ihm saßen zwei Passagiere, deren Gesichter durch fremde Sonnen tief gebräunt waren. In ihre Asbestanzüge war der Siebenstern, das Zeichen des Orions, eingestickt. Es wiederholte sich auf den Phonophoren, da der Orion nicht nur die Diadochenstaaten bejagte, sondern auch Lizenzen auf Gründen jenseits der Hesperiden ausübte. Nur diese Jäger und die dem Bergrat unterstellten Tresorbeamten besaßen auch, wie man glaubte, den Regentenpaß.

Die beiden waren landfertig und hatten als Handgepäck die Waffen an den Lehnen der Sessel aufgehängt: leichte Gewehre aus Silberstahl, in deren Arbeit sich die Künste des Optikers, des Büchsenschmieds und des Ziseleurs vereinigten. Sie schossen mit Licht und waren auf die Entfernung eingerichtet, in der der Jäger das Flugwild der Riesenwälder im Brillantglanz von einer Wipfelkrone zur anderen schwirren sieht.

Natürlich mußten diese freien Jäger und Schweifer sich jetzt nach Heeres- oder Staatsdienst umtun, nach möglichst ungestörten Zellen im großen Bienenstock. Das um so mehr, als der Orion beim Zentralamt auf der Liste der defaitistischen Vereine stand, wie auch sein Zeichen als eine späte Umschreibung des siebenarmigen Leuchters galt. Dem widersprach jedoch bereits der Kultus des Weidwerks, dem der Orden huldigte. Lucius ahnte die Mysterien. Er war zuweilen Gast an der Allée des Flamboyants – nicht bei den großen Empfängen, sondern an den internen Abenden. Man traf sich dann im kleinen Jagdsalon, über dessen Eingang die Inschrift drohte: »Béhemot et Léviathan existent.« Ein Bild des Oberförsters im grünen, mit goldenen Ilexblättern bestickten Frack und Trophäen aus den Gebirgen, Wäldern und Meeren jenseits der Hesperiden schmückten ihn. Den Abend eröffnete ein Jagdbericht, an den sich die Vorweisung der Beute schloß. Ihr folgte die Aussprache, die sich nach dem Souper belebte bis zur Fidelitas. Die Küche des Orion war unbestritten, wenn nicht die beste, so doch die reichste von Heliopolis. Nur durfte man hinsichtlich exotischer Zumutungen nicht heikel sein.

Bei diesen Zusammenkünften war es Lucius nicht schwer gefallen, sich ein Bild von dem zu machen, was dort gespielt wurde. Insofern war das Zentralamt auf der rechten Fährte, als Abneigung gegen den Krieg bestand. Das zeigten schon die Wahrsprüche, die wie Ornamente wiederkehrten im Gespräch. So: »Krieg verkleinert« oder: »Den Krieg verliert der Reisende« und ferner: »Orion erlegt« … das sollte heißen: »Er schlachtet nicht«. Auch einen der Meistersprüche hatte Lucius aufgefangen; der lautete: »Nimrod und Babylon«. Man schätzte also nach dem Vorgang des Flavius Josephus den ersten Jagdherrn auch als Bauherrn des ersten kosmischen Plans.

Der Pazifismus des Orion war kosmopolitischer, nicht humanitärer Art. So war er zwar minder verdienstlich, doch praktischer. Da seit der Ära der Großen Feuerschläge die Armeen zum stärksten Hort des Friedens geworden waren, verfolgte der Prokonsul das Treiben dieser Jäger wohlwollend und aufmerksam.

Der Eingang zum Frühstückssaal, an dessen Pfeiler Lucius lehnte, trug die Inschrift: »Ici on ne se respecte pas.«

Der Spruch war mehrdeutig, doch gut gewählt. An Bord des »Blauen Aviso« herrschte die Gleichheit eines Kreises, in dem man nicht aufzufallen liebt. Man kannte sich, doch wahrte man aus guten Gründen ein gegenseitiges Inkognito. Das gab der Gesellschaft einen ungenierten Zug, auch Heiterkeit.

In die Kosten der Fahrten nach den Hesperiden teilten sich der Prokonsul und der Landvogt, doch war der »Blaue Aviso« weder ein Kriegs- noch ein Regierungsschiff. Vorherrschend war vielmehr das Private; es kam zum Ausdruck, daß Personen die Träger der Geschäfte sind. Neben den offiziellen Plätzen gab es Karten für Händler, freie Forscher, Künstler und selbst Vergnügungsreisende.

Die Hesperiden bildeten den großen Umschlagplatz der Güter und Ideen; in ihren Häfen landeten die Raumflotten. Jenseits der Hesperiden lagen die ungewissen Reiche, die wunderbaren Gründe, die keine Technik zwingt. Dort sprangen die Quellen des Reichtums, der Macht, geheimer Wissenschaft. Man drängte sich zu ihnen als zu den Doraden der Neuen Welt. Und wenn die bunte Gesellschaft etwas einte, so war es der Geist des höheren Abenteuers, der in den Elementen Nahrung sucht.

Die neuen Welten hatten das Wissen, den Reichtum, die Macht gemehrt. Doch konnte man vielleicht auch sagen, daß alles bereits im Menschen lebendig gewesen war, um sich dann räumlich zu verwirklichen. Die Hebel des Geistes hatten eines Tages die Länge gewonnen, die Archimedes forderte. Dereinst, als ein bestimmter Grad der Freiheit errungen war, hatte sich die Welt vergrößert durch die Entdekkung Amerikas. Und so auch hier. Der Geist, der Wille des Menschen waren zu stark geworden für die alte Fassung, für das gewohnte Gleichgewicht. Damit begann das Ende der Moderne, von wenigen erkannt. Zunächst zerbrach die Schranke im Innern, sodann die äußere Sicherheit. Legionen fielen unter allen Zeichen, in den Schmieden der neuen Promethiden, in denen der Stahl sich im Blute härtete. Was hatte nicht allein der Menschenflug an Opfern eingefordert, viele Millionen – und solcher Kapitel gab es mehr in der Geschichte dieser Welt. Doch glänzend wie Weihgeschenke, die man in Zeiten des Zorns zum Lichte hebt, gewannen die Mittel an Geistesmacht. Sie glichen dem Pfeil, der durch die fürchterliche Spannung des Bogens zum fernsten Ziel beflügelt wird. Schon hielten viele es für erreicht.

Hier saßen in ungezwungener Haltung die Offiziere des Prokonsuls, die ihre Sitze im Burgenland besucht hatten. Man unterschied die blonden Sachsen und die dunkleren Franken; von beiden Stämmen hatte Lucius Blut. Noch freier waren die Jäger des Orion in ihrer jovialen Heiterkeit. Sie liebten die bequeme Tracht, wie die sehr reichen Leute, die des Luxus müde geworden sind.

Demgegenüber waren die Beamten des Zentralamts angestrengt und zugeschlossen, wie das nach Normen geführte Leben es mit sich bringt. Sie waren zahlreich und leicht zu erkennen – von den hohen Führern bis zu den kleinen Unterhändlern und Ausspähern. Der Unterschied lag weniger in der Qualität als in der Beweglichkeit. Nur selten strahlte ein höheres, reflektierendes Bewußtsein von ihnen aus: dann waren es Mauretanier, die Ämter angenommen hatten; sie machten sich einen Sport daraus. Fast allen war auch der gallige Teint gemeinsam, der nicht nur auf unterirdisch und bis tief in die Nacht betriebene Arbeit hinwies, sondern auch auf den Geist von Gremien, die nicht Gesittung, sondern Gesinnung eint. Doch hier befleißigten sie sich der Muße wie Handwerker an Sonn- und Feiertagen der Fröhlichkeit. Dabei verloren sie, denn ihre Stärke lag darin, in Funktion zu sein.

Was mochte den Mauretaniern die Sicherheit verleihen? Ihr Stil war weder bürokratisch noch militärisch, doch unverkennbar, wenn man Augen dafür besaß. Drüben der Doktor Mertens, Leibarzt des Landvogts und Leiter des Toxikologischen Instituts auf Castelmarino, war ohne Zweifel Mitglied, und nicht nur in den unteren Rängen, deren Leitspruch »Alles ist verboten« heißt. Er mußte sich den hohen Graden angenähert haben, der anderen Seite, auf der die Dinge neues Licht gewinnen: »Alles ist erlaubt«. Das zeigte sein satrapenhaftes Lächeln, mit dem er sich, fast zelebrierend, mit dem Frühstück beschäftigte. Er war erst spät erschienen und hatte sich durch zwei Flaschen Sprudel vom gestrigen Gelage remontiert. Nun war er nach einem Glase Portwein einem Hummer zugewandt. Man hatte solide Mägen bei der Mauretania; die Optimisten sind gute Frühstücker. Er löste mit geschickten Händen die Glieder des roten Panzers aus den Scharnieren und schien bei diesem Tun selbst einer jener Krustazeen ähnlich, die ihre Beute mit Zangen und Scheren fassen und mit Augen betrachten, die ihr an Stielen zugewendet sind. Er hatte wohl schlimmere Schnitte schon geführt. »Je regarde et je garde« war einer der Sprüche der Mauretanier. Die Freizeit der Herren vom Zentralamt glich dem Leerlauf von Maschinen; sie war im Grunde abgeblendete Monotonie. Bei Typen wie diesem Mertens dagegen nahm die Aktion den Schimmer, die Weihe der Muße an. Sie glichen Eidechsen, die sich auf ihren Klippen gemächlich in der Sonne baden und dann die Beute fassen, mit hoher Sicherheit. Sie teilten ohne Bruch die Existenz. Die Augenblicke münzten sich verlustlos aus. Sie mußten eine besondere Lehre von der Zeit haben. Dazu kam ohne Zweifel eine große Kenntnis des Schmerzes und seiner physischen und geistigen Ökonomie. »Die Welt gehört den Furchtlosen.« Das mußte zu einer Renaissance sehr alter Formen führen, jenseits der Unruhe. Gewisse Zweige der Stoa blühten wieder auf. Man lächelte, den anderen unmerklich, wenn man sich traf.

Lucius hatte hin und wieder das Wohlwollen von Mauretaniern erregt. Es schien, daß sich bei der Begegnung mit solchen Geistern der Blick vereinfachte. Man schritt zusammen durch alte Städte voll gotischer, faustischer Winkel, dann durch Quartiere, in denen der Pöbel wimmelte. Jenseits der Wälle und Mauern blieb man an einem Spielfeld stehen. Sogleich begriff man die Regeln der Partie, erkannte die Preise, um die es ging. Man sah das klarer als die Spielenden. Darauf beruhte die Macht der Mauretanier. Sie kannten die Existenz, besaßen einen der Schlüssel zum neuen Leben, zur neuen Welt. Das war der Augenblick, in dem Lucius die Furcht ergriff. Er scheute zurück vor diesem heraldischen Behagen, das kein Mitleid kannte, vor dieser Welt, in der die Schönheit der Frauen ohne Tadel und in der Kunst kein Zwielicht war.

Die Forscher saßen meist an Einzeltischen, verbunden mit den Bibliotheken, Instituten, Museen oder in ihre Aufzeichnungen vertieft. Die Spuren starker, auch nächtlicher, Arbeit zeichneten sie. Die ungemeine Ausweitung des Raumes hatte das Feld vergrößert, das wissenschaftlich zu ordnen und zu durchdringen war. Unübersehbar wäre es geworden, wenn man nicht auf geniale Weise die Methodik vereinfacht hätte, die Handhabung des schon Geleisteten. Die enzyklopädische Ordnung war umfassender und auf das feinste abgeteilt. Das neue Denken, wie es sich bereits im Anfang des 20. Jahrhunderts angedeutet hatte, stand in zugleich rationalem und symbolischem Zusammenhang. Hinzu kam, daß die registrierenden und statistischen Unterlagen durch höchst intelligente Maschinen besorgt wurden. In unterirdischen Biblio- und Kartotheken fand eine immense Bienenarbeit statt. Es gab da sehr abstrakte Werkstätten, wie etwa die des Punktamts, das alle geformten Dinge auf ein Koordinatensystem bezog. Den simplen Gedanken hatte ein Mauretanier gefunden; ein Achsenkreuz mit dem blasphemischen Spruch »Stat crux dum volvitur orbis« schmückte das Wappenschild. Die Arbeit dort vollzog sich jenseits der Sprache, ja jenseits der Sichtbarkeit. Sie näherte sich der Musik, soweit sie metronomisch erfaßbar ist. Ein Forscher spürte in einem Grabe Transkaukasiens den Henkel einer Vase auf, der ihm zu denken gab. Er sandte die Maße dem Punktamt, das sie durch die Maschinen gehen ließ. Ein Auszug des Archivars benannte die Objekte, deren Umriß sich dem des Fundes mehr oder minder näherte. Das mochten andere Vasen sein, vielleicht auch Muster von Stickereien, von Hieroglyphen oder die Schwingung einer Muschel, die an der Küste von Kreta gefunden wird. Dem beigegeben waren die Belege aus den Katalogen der Museen und aus der Literatur. Das war nur eine der Funktionen des Punktamts; es gab noch andere, bedenklichere auch. Es konnte jeden Punkt des Erdballs orten und damit auch bedrohen. Ununterbrochen häuften sich die Materialien und wurden logisch konzentriert. Und mit dem Wachstum der Archive steigerte sich die Macht. Der Plan beruhte, wie alle Anschläge der Mauretanier, auf ganz einfachen Gedanken, bei besserer Kenntnis der Spielregeln. Im Grunde war es ein Triumph der analytischen Geometrie. Sie kannten die räumliche Voraussetzung der Macht, ihren qualitätslosen Ort. Sie wußten, daß ein Schädelindex gefährlich werden kann, und hielten die Unterlagen dazu bereit.

Sie hatten Waffen für jede Theorie und wußten, daß, wo alles erlaubt ist, man auch alles beweisen kann. Allein die Auswahl behielten sie sich vor. Sie protegierten im Punktamt eine Art Heloten, die das Wühlen im Aktenstaub befriedigte, auch weibliche Kräfte von geringer Initiative, doch großer Einfühlung. Mitglieder des Ordens traf man dort selten und nur in unscheinbaren Räumen, die den grauen, wattierten Nestern glichen, aus denen die Spinne ihre Netze überwacht. Lucius entsann sich einer jener Türen, auf der er die Inschrift »Kephaleiosis« gelesen hatte – auf einer Milchglasscheibe, die von innen durchsichtig war. Das war dem Eingeweihten das Sinnbild der Statistik, die nach innen Wissen, nach außen Macht verkörperte. Lucius liebte die Besuche im Punktamt, die er zuweilen im Auftrag des Prokonsuls unternahm. Es herrschte da eine Stimmung wie im Inneren von Kammern, deren Wände mit Hieroglyphen gemustert sind. Wenige Zeichen mochten der Mannigfaltigkeit der Welt zugrundeliegen für jenen, der der kaleidoskopischen Täuschung nicht unterlag. Sie wiederholten sich in der Umdrehung, und wer sie kannte, hatte die Schlüssel in der Hand.

Bei diesem Stand der Dinge war es begreiflich, daß sowohl der Landvogt wie der Prokonsul im Punktamt ein Mittel sahen, durch das sie ihre Rüstung gern verstärkt hätten. Doch war der Zugriff schwierig, gerade wegen der genialen Übersicht, die waltete. Die Wirkung beruhte auf einem kleinen Index, der gut gesichert war und dessen Vernichtung die ungeheuren Schätze des Archivs in tote Last verwandeln würde, in leeren Wust. Das war ein Mauretanierzug: die reine Ausfällung geistiger Macht, die grober Waffen spottet und auf sie nicht angewiesen ist.

Die beiden Schützen vom Orion hatten inzwischen die Unterhaltung fortgesetzt. Wie oft bei solchen Jagdgesprächen ließ sich schwer entscheiden, wo das Latein begann.

»Man möchte eher meinen, daß es sich um Wolken handelt, um blasse Nebel von großer Ausdehnung. Im Angriff verdichten sie sich wie Medusen und nehmen herrliche Farben an. Sie schießen meteorisch auf ihre Beute zu.«

»Da sind die schwersten Waffen weidgerecht.«

»Und auch nur wirksam, wenn der Zündpunkt im Zentrum liegt.«

Auch von den Nachbartischen drangen Fetzen von Gesprächen an Lucius’ Ohr. Die Stimmen wurden lärmender.

»Er sieht die Technik als eine Art des Traumes an – das könnte höchstens jenseits der Hesperiden gültig sein.«

»Kennt auch die Punkte, an denen sie magisch korrespondiert. Die Apparate werden dann ganz einfach und nehmen den Charakter von Talismanen an.«

»So wie die Flügel überflüssig werden, wenn ihr Schwung die absolute Geschwindigkeit erreicht.«

»Etwa im Sturz.«

»Die Formeln wandeln sich dann zu Zaubersprüchen um.« Dann wieder entfernter:

»Die Macht hat sich dort parzelliert. Sie haftet am Boden, so daß im kleinsten Gärtchen der Eigentümer unumschränkte Gewalt besitzt. Das Recht verbindet nur auf Wegen, auf Strömen, auf öffentlichem Grund.«

»Gibt es denn eine relative Haftung – etwa derart, daß man für einen Mord auf eigenem Boden draußen ergriffen werden kann?«

»Nein, denn das Eigentum ist nicht refugium sacrum, sondern sacrum schlechthin.«

»Wenn jemand aber nach außen wirkte – etwa durch Wurf oder Schuß?«

»Dann würde das auch Repressalien von außen nach sich ziehen. Übrigens bleibt das alles theoretisch, da die Gesittung auf hoher Stufe steht. Es ist mehr die Idee der Freiheit …«

Dann wieder, näher:

»Wenn der Regent die Mittel sekretiert, so doch nicht deshalb, weil er sie sich vorbehalten will. Da schätzen Sie ihn zu gering. Wer kosmische Gluten konzentrieren kann, verachtet die uranische Gewalt.«

»Man sagt, daß er die Reflektoren in Gruppen schweben läßt?«

»Vermutlich, weil er sie den Teleskopen entziehen will.«

»Das wäre kein Einwand. Selbst größte Flächen lassen sich vor dem Einblick sichern, wenn man sie quer zu den Meridianen stellt. Auch spielt die Entfernung ja keine Rolle, er nähert sich in den kosmischen Schatten auf Brennweite.«

»Damit entfiele die Möglichkeit der Warnung, der Demonstration. Er liebt die Waffen, die wirken, wenn man sie nur zeigt.«

Jetzt schaltete sich eine hohe und angestrengte Stimme ein. Sie war ihm aus Vorträgen vertraut als die des Germanisten Fernkorn, den er auch zuweilen um Prüfung von Handschriften bat. Die Haltung des Gelehrten war gebeugt und das Gesicht höchst übermüdet, doch angespannt. Man sagte, daß er mit vier Stunden Schlaf zufrieden sei. Das zugleich Feine und Schwächlich-Vertrackte seiner Kombinationen sprach aus jedem Satz. Er galt als genialer Einfühler. Die Frauen wogen in seinem Auditorium vor.

»… Zum Abendessen Porridge, das Weißbrot leicht anrösten. Dann ein Glas Malaga. Angelika soll meine Tropfen auf den Tisch stellen. Ich fahre fort in der Geschichte des frühen Automatismus, klinischer Teil. Legen Sie mir den Abschnitt Brontë zurecht, nebst den Auszügen von Antonio Peri über das Opium. Über Kleist brauche ich noch folgende Angaben …«

»Nein, vom Zentralarchiv, durch Phonophor.«

»Erstens: Im Frühjahr 1945 fanden in der Gegend des Wannsees Selbstmorde in großer Anzahl statt. Wie sind sie gelagert auf dem Kataster, mit Kleistens Grab im Mittelpunkt? Ich denke dabei etwa an eine Krankheit, einen Ausschlag, von dem ein Punkt besonders früh erscheint.