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Neben der »Zwille« enthält der einundzwanzigste Band »Aladins Problem«. Zwei Nachworte – »Auf eigenen Spuren« und »Post festum« - beschließen den Band. Der vorliegende Band folgt Band 18 der gebundenen Ausgabe. Entnommen wurde der Text »Herbst auf Sardinien«, der den ersten Teil des Essays »Sardische Heimat« (Band 14 dieser Ausgabe) bildet. »Eine gefährliche Begegnung« sowie die Werk- und Inhaltsverzeichnisse wurden in Band 22 überführt. »Teo dachte an eine Waffe, die weithin trug und keine Spuren hinterließ. Armbrüste, Pfeil und Bogen, Pistolen schieden damit aus. Am besten wäre eine Zwille, wie die Jäger sie benutzten«: Jüngers Roman beschreibt eindringlich die Gefährdungen der Gymnasiasten der wilhelminischen Kaiserzeit. Clamor Ebling ist ebenso empfindlich wie ängstlich – was verständlich ist, da er seine Eltern ebenso wie seinen Vormund verloren hat. Von seinen Mitschülern gehänselt und gequält, beginnt sein Leidensweg. Es ist eine Zeit des persönlichen wie weltgeschichtlichen Umbruchs, die Jünger entwirft, zwischen den Problemen des Heranwachsenden und der »Vorgeschichte einer geschundenen Generation«, die 1914 in den Krieg zog.
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Seitenzahl: 842
ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE
Tagebücher I-VIII
Band 1 Der Erste Weltkrieg
Band 2 Strahlungen I
Band 3 Strahlungen II
Band 4 Strahlungen III
Band 5 Strahlungen IV
Band 6 Strahlungen V
Band 7 Strahlungen VI, VII
Band 8 Reisetagebücher
Essays I-IX
Band 9 Betrachtungen zur Zeit
Band 10 Der Arbeiter
Band 11 Das Abenteuerliche Herz
Band 12 Subtile Jagden
Band 13 Annäherungen
Band 14 Fassungen I
Band 15 Fassungen II
Band 16 Fassungen III
Band 17 Ad hoc
Erzählende Schriften I-IV
Band 18 Erzählungen
Band 19 Heliopolis
Band 20 Eumeswil
Band 21 Die Zwille
Supplement
Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß
Sämtliche Werke 21
Erzählende Schriften IV
Die Zwille
Klett-Cotta
Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band folgt Band 18 der gebundenen Ausgabe. Entnommen wurden der Text »Herbst auf Sardinien«, der den ersten Teil des Essays »Sardische Heimat« (Band 14 dieser Ausgabe) bildet, die Nachworte zu eigenen Werken sowie die Werk- und Inhaltsverzeichnisse (Band 22 dieser Ausgabe). »Eine gefährliche Begegnung« wurde durch die vollständige Fassung ergänzt, die bislang in Band 22 der gebundenen Ausgabe zu finden war.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter
Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin
Gesetzt von pagina, Tübingen
Datenkonvertierung: Lumina Datamatics GmbH
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96321-2
E-Book: ISBN 978-3-608-10921-4
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
INHALT
Die Zwille
Erster Teil: Wie kam er hierher?
Zum Einstand
Im Gymnasium
Der Heckenweg
Die Weberknechte
Die Andacht
Abschied von der Mühle
Der Superus
Der Vikar
Der Friedhof
Die zweite Nachtstunde
Die Eskapade
Die dritte Nachtstunde
Zweiter Teil: Die Pension
Die Einrichtung
Bei Bier und Wurst
Im Alkoven
Die Privatstunden
Unterweisungen
Ein Mißverständnis
Die Daumenschraube
Eine Handvoll Krabben
Beschattungen
Das Problem
Das Kabinett
Westöstliche Intimitäten
Ungers Garten
Die Zwille
Der Angriffsplan
Die Turnstunde
Mathematik
Willy Breuer
Die Nachtarbeit
Criminalia
Paulchen Maibohm
Beschattungen
Mißglückte Pfändung
Ebbe in der Wurstkammer
Über den Zufall und das Wahrscheinliche
Der Einkauf mißglückt
Das wunderbare Vogelnest
Dritter Teil: Zielübungen
In Böttchers Tongrube
Die Schießprobe
Das erste Scharfschießen
Farbige Säume
Moralismen
Der Montagmorgen
Die Zeichenstunde
Die Katastrophe
Die Bernsteinspitze
Mitternachtsblau
Der Dienstag
Finale
Aladins Problem
Eine gefährliche Begegnung
Erste Fassung
Zweite Fassung
ERSTDRUCK 1973in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«
An jedem Morgen faßte ihn das Bangen an, als ob die Riemen des Tornisters ihm die Brust zuschnürten. Er mußte heftiger atmen und bekam doch keine Luft. »Japsen« nannte man das in Oldhorst. Und wenn er auf den Platz trat, packte ihn die Angst.
Immer wieder mußte er sich zwingen, das Haus zu verlassen, nachdem er die Mütze aufgesetzt hatte und die Treppe hinuntergestiegen war. Oft hatte er die Stufen gezählt. Nun drohte der Gang durch die Gärten mit seinen Schrecken, die unvermutet auftraten. Da war kein Ende abzusehen. Es war der Weg durch einen bösen Vorhof, der zum Gericht führte, mit Visionen am Rand. Sie kamen plötzlich; wenn sie ihn nur streiften, konnte er von Glück sagen. Manchmal wurde alles gefährlich: das Rauschen der Blätter, der Ruf eines Vogels, entfernte Signale der Bahnen und Fabriken – und wenn nicht gefährlich, so doch Gefahr drohend.
Er konnte dem nicht ausweichen; er wurde zu schnell in die Bilder verstrickt. Dann stand er unter ihrem Zwang. Oft hatte er sich gefragt, warum sie so unverhofft, so ohne Warnung auf ihn zukamen. Der Tod des Vaters kam ihm in den Sinn. Blutsturz, der Sack war zu schwer gewesen; als man das Kind rief, lag der bleiche Mann im blauen Kittel schon tot auf dem Kornboden. Das Gesicht war bestäubt, war weiß wie Porzellan; ein roter Faden zog sich aus dem Mundwinkel zur Brust.
Das Bild kehrte wieder: der bleiche Mann auf dem Boden, der nach altem Holz und Mehlstaub roch. Er hätte nun weinen und klagen müssen – doch er konnte nicht in den Sinn bringen, daß es der Vater war. Dort lag ein anderer in seinen Kleidern, ein Schatten kaum von dem, den er geliebt hatte. Der Vater war fortgegangen; er war allein.
Das Unheil kam plötzlich; es sprang zu wie ein Tier aus dem Hinterhalt. Ein Mensch, den man eben noch mit Augen gesehen, mit Händen berührt hatte, wurde am hellichten Tage geraubt und in Höhlen geschleppt, zu denen kein Weg führte. Dahinter blieb Dämmerung, die sich zur Mauer verdichtete. Clamor konnte sich, wie sehr er sich auch mühte, kaum noch das Gesicht des Vaters vorstellen.
Das Tier lag immer auf der Lauer – ganz dicht und in jedem Augenblick. Man mußte daher auch immer Furcht haben – in jedem Augenblick. Daß man Furcht hatte, war schon ein Hinweis auf die Gefahr, war ihre Witterung. Sie hatte Clamor seit dem Tode des Vaters nie verlassen; den Tod der Mutter hatte er nicht erlebt. Sie war im Kindbett gestorben; er hatte nur von ihr gehört.
Die Furcht bedrückte ihn ohne Unterlaß. Sie kam bald stärker und dann wieder schwächer, doch war sie immer dabei. Sie schwang in ihm wie eine Saite, die das Spiel begleitet, obwohl keine Hand sie berührt. Sie war schon früh im Rauschen des Laubes und nachts in einem Raunen, das nicht verstummen wollte – auch wenn er die Ohren zuhielt, hörte er ein Summen wie aus einem Schneckenhorn.
Das Unbestimmte hatte ihn schon früh geängstigt – vielleicht, weil die Mutter gefehlt hatte. Es war in der Stube wie ein ziehender Nebel, wenn er mit dem Vater am Tisch saß und mit ihm nachtmahlte. Der Vater kam spät aus der Mühle zurück. Er schnitt schwere Scheiben vom Brot, das der Müller eigens für sich und die Knechte buk. Das Brotmesser war größer als das, mit dem der Vater von der Wurst und vom Schinken Stücke abschnitt und sie dem Sohn und der Magd zuteilte. Alle drei schnitten dann mit noch kleineren Messern die Bissen zurecht. Wie man mit der Gabel umgeht, das hatte Clamor erst hier in der Hauptstadt gelernt. Er mußte noch jetzt spähen, wie die anderen sie handhabten.
Clamor sah gern, wie der Vater am Tisch saß und austeilte. Gut war auch, zu sehen, wie er sich am Bier labte. Ein großer Krug stand auf dem Tisch. Clamor hatte ihn aus der Wirtschaft geholt und behutsam getragen, damit die Krone aus weißem Schaum erhalten blieb. Zwischendurch goß der Vater sich einen Klaren ein, damit das Bier den Magen nicht auskühlte. Behagen breitete sich dann aus.
Immer blieb aber die Angst dabei. Die Wand mit den Bildern war undeutlich. Eines zeigte den Vater als Reservisten, ein anderes die Eltern im Hochzeitsstaat. Auch der dunkle Schrank mit der Anrichte war verschwommen; nur das blanke Geschirr leuchtete.
Clamor war schwach auf der Brust. Er war wetterfühlig, abhängig von den Schwankungen der Luft. »Junge, du hast’n Asten« – das hatte, als sie ihn im Bette stöhnen hörte, schon die Magd gesagt. Daß es auch mit den Augen nicht stimmte, war ihm entgangen, bis er auf die Hohe Schule kam. Mühlbauer, der Zeichenlehrer, hatte es bemerkt, hatte auch dafür gesorgt, daß er die Brille bekam. Mühlbauer war freundlich zu ihm.
Clamor konnte Geschriebenes und Gedrucktes gut lesen, sah auch die Sterne klar. Selbst der Reiter auf der Deichsel des Großen Bären entging ihm nicht. Nur die Tafel oder die Bäume am Wegrand blieben undeutlich. Er hätte das nie als Fehler empfunden, wenn man es nicht so genannt hätte. Wenn sich im Oktober das Laub färbte, war es eher schöner, bunte Wolken und Bänder zu sehen. Und auch die Wiesen im Frühling leuchteten, als ob die Macht der Blumen sich vereint hätte. Die Brille war unnütz; er trug sie nicht gern.
So hatte er auch die Stube gesehen: die Wand mit den Bildern verschwommen, die Hände des Vaters dagegen hell, als ob sie Licht weniger empfingen als ausstrahlten. Der Vater hustete; es währte lange, bis er zur Ruhe kam. Das klang nicht gut; er schien noch bleicher, wenn er erschöpft im Lehnstuhl saß. Clamor fühlte die Angst wachsen; er hätte ihm gern die Hand gestreichelt, ein Wort gesagt. Doch er wagte es nicht.
Trotzdem war der Vater in der Frühe als erster zu Gange, und spät noch sah er mit der Lampe nach dem Rechten, bevor er die Mühle schloß. Der Müller hielt ihn in Ehren; er war ein guter Knecht.
Die Angst war immer gegenwärtig; das hatte Clamor schon zu der Zeit empfunden, in der er, ohne daß er es zu zeigen wagte, sich um den Vater gesorgt hatte. Das Tier lag auf der Lauer, auch wenn es die andern, die Frohen und Freien, nicht wahrnahmen.
Es war nicht der letzte Sack gewesen, der den Vater gefällt hatte. Es waren die tausend und abertausend vordem. Der Vater hatte das Korn in die Mühle, das Mehl auf den Speicher geschleppt. Er hatte die Wagen geleert und im Webgang wieder gefüllt. Er trug die Frucht auf dem Rücken, die der Bauer anfuhr, und dann das Mehl, das der Bäcker zu Brot buk; die Ernte der Feldmark ging durch seine Hand.
Dabei war der Vater immer heiter; Clamor hatte ihn manchmal still, doch nie traurig gesehen – selbst dann nicht, als der Husten ihn gebeugt hatte. Er trug sein Tagwerk leichter und froher als der Sohn, der mit ihm und für ihn litt. Er sah das Tier nicht, das auf ihn lauerte. Das sah auch der Sohn nicht, der es fühlte – in jedem Augenblick.
Als der Vater am Boden lag, schien es Clamor, als ob er es schon immer gewußt hätte. Die Angst bestätigte sich nun. Oft hatte er in den Oldhorster Wäldern gesehen, wie Bäume gefällt wurden. Eh einer umfiel, hatten zwei Männer lange am Stamm gesägt. Zacke für Zacke schnitt Faser um Faser ein. Das Blatt fuhr hin und her; jeder Zug war eine Minute, jede Zacke ein Augenblick. So hatten die Tage und Nächte, so hatten die Stunden am Vater genagt. Die letzte vollendete das Werk.
Clamor hatte den Holzhauern nur aus der Ferne zugesehen. Er hörte nicht die Säge, sondern nur den dröhnenden Sturz, dem ein Ächzen des Stammes vorherging und das Splittern der Zweige nachfolgte. Nur das Blitzen des Sägblattes verriet weithin das tödliche Vorhaben. Der Wald war still, es war unheimlich.
Grelle Geräusche hatten schon das Kind erschreckt. Die Oldhorster Mühle hatte Jahrhunderte auf dem Berg gestanden; der Wind hatte ihre Flügel gedreht. Dann war sie vom Blitz getroffen worden und verbrannt. Müller Braun hatte sie dort als Ruine belassen und weiter unten, näher am Dorf, eine Maschine aufgestellt, die außer den Mahlgängen auch ein Sägewerk trieb. Ein langgedehntes Pfeifen kündete nun das Tagwerk an. Dem folgte ein Getriebe, das den Bau erschütterte. Es klang bedrohlich, als ob es vom Haus Besitz ergriffe und es veränderte. Die Schränke, die Bilder, aber auch die Wände waren nicht die gleichen mehr. Der Hof mit seinen Schuppen und Ställen wurde unbehaglich; das Fachwerk trat hervor. Das Grün der Bäume verlor an Frische, es verblaßte, als ob Staub es berieselte. Es wurde geschäftig; dem Müller schien das zu gefallen – selten sah man das Anwesen ohne Gerüst.
Clamor wagte sich nicht mehr allein in die Mühle; auch wenn der Vater ihn mitnahm und an der Hand führte, blieb sie ihm unheimlich. In ihrem Halbdunkel drehten sich die Räder, stelzten Gestänge, glitten breite Riemen, die weder Anfang noch Ende hatten, dicht am Gesicht vorbei. Aus großen Sieben, die geschwenkt und gerüttelt wurden, stieg Staub in Wolken auf und verquickte sich mit dem widrigen Dunst von Öl und Eisen, der die Luft schwängerte. Clamor begann zu husten, die Augen tränten; er mußte nach Luft ringen. Der Vater führte ihn hinaus.
Der Ort war unsicher. Von ganz tief unten kam ein Stöhnen und Ächzen, als ob Gefangene, die sich befreien wollten, an ihren Gittern rüttelten. Immerhin war dort der Vater, der die Maschinen kannte und ihr Wärter war. Dort war auch der reiche Müller, der über sie gebot, ein Mann mit grüner Joppe und einem weißen Bart, der eckig geschnitten war. Sein Gesicht erinnerte Clamor an das des Elias, das ihm aus der Bilderbibel vertraut war, in der er oftmals blätterte: so sahen Propheten aus.
Der Müller Braun war streng und kurz angebunden; er stand dabei, wenn die Säcke gewogen wurden, und prüfte das Korn in der flachen Hand. Er lachte selten, doch wenn er den Knaben erblickte, sah er ihn freundlich an. Oft hatte er eine kleine Gabe für ihn, vergaß ihn auch nicht zur Weihnacht und an den Geburtstagen. Er hatte dafür gesorgt, daß Clamor beim Superus, der damals noch Pastor in Oldhorst war, Latein lernte.
Solang der Müller und sein Knecht, der Vater, hier auf dem Hofe wirkten und Ordnung hielten, konnten die da unten sich nicht befreien. Doch war der Müller noch im gleichen Jahr wie der Vater gestorben; die Mühle war an einen neuen Herrn gekommen, der in der Stadt wohnte. »Das ist ein Besitzer, kein Eigentümer mehr.« So hatte der Superus von ihm gesagt.
Seither war Clamors Leiden noch gewachsen – sowohl sein Asthma wie seine Angst, dazu ein Gefühl, als ob die Welt schnell größer würde, unüberschaubar, über die Maßen groß. Man stand nicht mehr fest auf dem Grund. Auch rings um die Mühle und ihr stampfendes Werk war es bedrohlich gewesen, doch hatte es noch Orte gegeben, an denen er sich wohl fühlte. Gern weilte er in den Ställen, wo die Kühe und Kälber im Stroh lagen und mit ihren runden Augen vor sich hindämmerten. Hier war es friedlich, und selbst dort, wo die Schweine mit Kleie gemästet wurden, roch es besser als im Maschinenhaus. Clamor war lieber bei den Tieren, die, wie er meinte, ihn nicht sahen und sich nicht um ihn kümmerten. Pferden und Hunden wich er aus. Im Herbst, wenn Müller Braun seine Jagd gab, war ein einziges Gebell und Gewieher auf dem Hof. Die Jäger mit den Gewehren und den blanken Messern standen dazwischen; sie lachten, der Jagdherr goß ihnen aus der Kornflasche ein. Die Oldhorster Jungen freuten sich, daß sie als Treiber mitdurften, aber für Clamor war es kein guter Tag.
Unter den Apfelbäumen auf der Wiese scharrten und pickten nicht nur die Hühner, sondern auch seltene Vögel, die der Müller von weither kommen ließ und von denen Clamor nicht einmal die Namen gehört hatte. Sie trugen lange, schillernde Schweife und zogen bunte Schleppen nach. Andere waren gescheckt und gesprenkelt oder mit Perlen geschmückt. Clamor durfte ihnen Körner mit vollen Händen streuen; es war kein Mangel daran. Dann kamen auch die Tauben von den Dächern und mit ihnen die Sperlinge.
Die Wiese mit ihrem Auslauf lag schon dicht am Berge; ein gewundener Pfad führte von dort zur alten Mühle hinauf. Tragtiere hatten früher die Säcke auf ihm zum Gipfel geschleppt; seit langem wurde er nicht mehr benutzt.
Mühlberge werden kahl gehalten, doch nach dem Brande hatten sich Jungeichen und Kiefern angesamt. Rund um die Ruine hatte sich eine Lichtung erhalten – die Mauer war ringförmig; sie hatte der hölzernen Mühle als Sockel gedient. Der Vater erzählte oft von dem Brande, der gleich dem Ausbruch eines feuerspeienden Berges weithin geschreckt hatte. Es war windstill gewesen; trotzdem hatten die brennenden Flügel sich gedreht.
Im Sommer, bei guter Sonne, wagte Clamor sich hinauf. Dort oben war es noch friedlicher als auf der Wiese und in den Ställen, kein Laut war in der warmen Luft zu hören – es war ganz stille, uralte Zeit.
Hier war er allein. Es war merkwürdig, daß dieses Alleinsein, das ihn dort unten quälte, hier oben stark machte.
Ursache und Wirkung vermochte Clamor schwer zu trennen – auch darin war er den anderen unterlegen, deren Gewandtheit er mit Staunen betrachtete. Er sah mehr das Nebeneinander der Bilder im Raum als ihre Folge in der Zeit. Durch ihre unbewegte Tiefe wurde er gebannt und so zum Fremdling in einer Welt, in der die Räder immer schneller kreisten – ein Hindernis.
Daß die Welt weiter und gefährlicher wurde, erklärte er sich nicht daraus, daß er in die Stadt gekommen war. Im Gegenteil – seit des Vaters Tode hatte ihn ein Sog erfaßt und hinausgerissen; die Stadt mit ihrem Treiben eröffnete die Ausfahrt, deren Ende nicht abzusehen war. Das Staunen darüber, wie er hierhergekommen, begleitete ihn vom ersten Tage an. Oft schien ihm, als ob er, dieser Clamor, ein Schatten wäre, der weniger sich bewegte als bewegt wurde, vielleicht auch ein Beschatteter. Das spielte ineinander und war nicht zu entwirren. Er hatte noch nicht einmal die Abfolge einer Mondfinsternis begreifen können, die der Superus ihm demonstriert hatte. Aber der Mond war gut.
In der Stadt waren die Geräusche noch greller und drohender. Es war, als ob sie nur aus Ein- und Ausgängen bestünde, die auf die Straßen mündeten, wo der Lärm von mehr als hundert Mühlen brandete. Der Lärm war unentwirrbar, doch plötzlich gab es Signale, die ihn herausgriffen, jäh auf ihn zustießen. Schon auf dem ersten Schulweg hatte ein schrilles Klingeln ihn erschreckt. Er war auf den Schienen entlanggegangen, ohne die Straßenbahn zu bemerken, die sich hinter ihm näherte. Im Dorfe gab es keine Schienen; es hieß dort: »Oldhorst liegt aus der Welt«.
Die Bremsen knirschten; schon war das Gitter herausgefahren, das in solchen Fällen das Schlimmste verhindern soll. Der Schaffner sprang heraus: »Du Dämlack, am liebsten würde ich dir ein paar überziehen!« Im Wagen schimpften die Passagiere, die durcheinandergeworfen waren, und draußen starrten die Fußgänger ihn an. Ein Stoß beförderte ihn von den Schienen; die Bahn fuhr an.
»Kerl, du kommst aus dem Muspott!«, schrie der Mann hinter der Klingel im Weiterfahren und schwenkte die Faust dazu. Vor allen, die solche Mützen trugen und immer schimpften, mußte man Angst haben. Vor Hunden und Pferden auch. »Wenn er mir ein Bein abgefahren hätte, wäre ich vielleicht noch am besten davon.«
Auch hier hatte ihn das dumpfe Gefühl gequält, kaum mit der Sache zu tun zu haben; sie ging ihn nur von ganz ferne an, als ob er sie von einem anderen geträumt hätte. Gleich würde er aufwachen. Die Straße hatte ihn verwirrt. Es kamen Droschken, Automobile, Straßenbahnen, Wagen, von denen Männer absprangen und Mülltonnen ausleerten. Dazu einzelne Reiter und Radler, die vorbeiflitzten. Auch die Fußgänger hatten es eilig; sie stießen ihn an und warfen ihm grobe Worte an den Kopf. Sie gingen anders als auf dem Dorf.
Wirr war er aufgestanden nach jener ersten Nacht, in der er neben Teo geschlafen und seinen Zorn erregt hatte. Das war eine Geschichte für sich. Kein Wunder, daß er zu spät gekommen war. Zu-spät-Kommen war bös. Man hastete durch die Korridore, bis man die Klassentür erreichte, die ein Schild »IV B« bezeichnete. Sie war schwer zu finden, man suchte sie noch im Traum. Die Tür war zu. Man lauschte – drinnen tönte die Stimme des Lehrers, die wie ein Bach ohne Gefälle durch die Stunde floß. Eine hellere Stimme antwortete. Es wurde abgefragt.
Clamor fühlte die Versuchung, umzukehren – doch es half nichts; er mußte anklopfen, die Tür öffnen, eintreten. Drinnen hockten ihrer dreißig, die ihn anstarrten. Sie waren über die Unterbrechung erfreut und zudem schadenfroh. Über ihnen, hinter einem Pult, das durch ein Podest erhöht war, saß ein kleiner Grauer mit stahlhartem Blick. Das war Doktor Hilpert, der Mathematiker.
»Aha, ein neuer Bummelant.« Das war Hilperts Begrüßung gewesen, nachdem er ihn ausgefragt und fixiert hatte. Dann schrieb er ihn ein. Seitdem hatte Clamor den Eindruck oder vielmehr die Gewißheit, daß Hilpert ihn auf besondere Weise beobachtete. Abneigung auf den ersten Blick.
Noch manches Mal war Clamor seitdem zu spät gekommen, obwohl er nichts so sehr fürchtete. Er fühlte sich schon beim Frühstück beklommen; es drängte ihn eine halbe Stunde eher aus dem Haus. Dann drohten die Verstrickungen – als ob er beim Auflösen eines Knotens Zeit verlöre und sie nicht wieder einholte. Es konnte auch vorkommen, daß er einfach zu träumen begann. Das war eine andere Zeit, in die er sich verlor, und, plötzlich erwachend, fand er sich wieder vor der Klassentür. Fast immer war es Hilpert, der die erste Stunde hatte und ihn mit seinem Blick wie einen Schmetterling aufspießte.
Wenn er Teo nicht gekränkt hätte, würde der ihn zur Schule geführt haben. So hatte der Pedell ihm die Klasse gezeigt. Er war brummig gewesen: »Gleich zum Einstand zu spät?« Dann hatte sich sein Gesicht erheitert: »Da wirst du wohl Senge beziehen.« Doch Hilpert schlug nicht, obwohl er der Schlimmste war. Höchstens, wenn er sich nicht mehr bergen konnte, zog er an den Schläfenhaaren, als wollte er sein Opfer in die Luft heben.
Die anderen wurden beim ersten Schulgang von den Eltern gebracht. Die führten sie an der Hand. Sie stellten sie dem Ordinarius vor, der sie mit Wohlwollen empfing. Das war in Ordnung, aber er, Clamor, gehörte nicht dazu. Er hatte es gleich am ersten Tag gemerkt.
Wenn man nicht dazu gehörte, dann war das so ähnlich wie vor der Klassentür. Aber man stand immer davor und fühlte es in jedem Augenblick. Auch wenn sich die Tür öffnete, ja gerade dann, wurde sichtbar, daß man zu spät gekommen war. Dann drohte der vernichtende Blick von der Höhe des Pultes, und die Klasse lachte dazu.
Daß man nicht dazu gehörte, wurde in den Pausen noch spürbarer als während des Unterrichts. Die anderen gingen dann zu zweien und dreien oder trieben Spiele, von denen er ausgeschlossen war. Er, Clamor, war allein und sah dem zu wie einer, der über die Mauer eines Gartens blickt. Vielleicht schloß er sich selbst aus, aber er konnte nicht mitmachen.
Sie tauschten Worte und Gesten, die bestimmten, ob einer dazu gehörte, und durch die sie sich wiederum untereinander abgrenzten. Schon das Sprechen selbst floß ihnen leicht vom Munde – nicht nur das »hätte« und »würde«, sondern auch das »gehabt hätte« und das »gehabt haben würde« machte ihnen keine Schwierigkeit. Ihm schien es, als ob in der Sprache Knoten wären; er konnte sie nicht so schnell auflösen, wie es zum Reden nötig war. Dann begann er zu stottern, er verhedderte sich.
Offenbar wußten sie nicht einmal, daß sie schön sprachen. Aber wenn einer ausglitt, lachten sie einhellig. In Oldhorst, wo man, wenigstens im Dorf und in der Mühle, Platt gesprochen hatte, war zwischen »mir« und »mich« und zwischen »dir« und »dich« kein Unterschied. Das war eben »meck« und »deck« in jedem Fall. Aber wenn man hier sagte: »gib mich den Bleistift«, war man unten durch.
Es mußte noch etwas anderes dabei sein, denn von dem Kresebeck, dessen Vater General war, sprach auch kein gutes Deutsch. Er sagte: »laß mich mal ran da« oder »da bin ich nich scharf druff« oder auch »Mensch, du hast jeschissen« – aber der konnte es sich leisten, tat sich noch was darauf zugut. Den anderen schien das zu imponieren, wenngleich nicht übermäßig, denn sie nannten ihn »Käsebäcker« und gingen beim Spielen nicht weniger rüde mit ihm um. Es zeigte sich eben, daß sie dazu gehörten, auch wenn es Unterschiede gab.
Kresebeck sagte: »mein Alter«, wenn er vom General sprach – Max Silverschmied, der Unterprimaner, dagegen »meine alte Dame«, »mein alter Herr«. Daß Clamor den Vater so oder so genannt hätte, mochte er sich nicht einmal vorstellen. Überhaupt nahmen sie die Oberen weniger wichtig, behandelten einige sogar leichthin. Blumauer, der Direktor, war »der Direx«, für andere hatten sie Spitznamen.
Sie schienen nicht diese Angst zu kennen, das ständige Bedrücktsein, das sich nur in den Träumen verlor, doch beim Erwachen gleich wieder zupackte. Natürlich fielen sie ungern auf, versteckten sich, um nicht aufgerufen zu werden, hinter dem Vordermann. Sie hatten Druck, Schiß, Dampf, Bammel, doch nicht diese einsame, würgende Angst. Manche drückten sich, wo sie nur konnten, und trieben das wie einen Sport. Sie rühmten sich, wenn sie dabei Schwein, Schlump oder Dusel gehabt hatten. »Grad als er mich drannehmen wollte, kam Pause – ich hatte mir schon ein Heft in die Hose gesteckt.«
Prügel gab es bis zur Quarta, und zwar bei den Realschülern mehr als bei den Humanisten – den »A-Klassen«. Blumauers Schule war dafür bekannt, und den meisten Eltern war es nicht unlieb, daß man dort eine gute Handschrift schrieb. Es gab Ohrfeigen, Katzenköpfe, Stockhiebe auf den Hintern und in die Handflächen. In der Tertia konnte einem der Lehrer noch einmal die Hand ausrutschen, und es kam vor, daß er sich dann entschuldigte. Dort waren viele schon konfirmiert. Die Sekundaner wurden mit »Sie« angeredet, und die Primaner waren große Herren. Sie durften rauchen, trinken, in die Wirtschaften gehen. Die meisten ließen sich rasieren, auch Bärte sah man schon. Auf dem Schulhof standen sie in Gruppen beisammen und diskutierten, oder sie gingen vor dem Gymnasium auf und ab.
Wenn die anderen sich unterhielten, war ihr Gespräch mit Wendungen durchsetzt, die Clamor noch nie gehört hatte. Sie sprachen leichthin, geschmeidig, nebenbei – als ob sie’s nicht ernst nähmen. Sie sagten nicht: »Der war wütend«, sondern: »Den hab ich auf achtzig gebracht«. Für »Das ist mir gleichgültig« sagten sie »Das ist mir wurst«, »schnuppe« oder »piepe« – auch: »Da dreh ich die Hand nicht um«. Der Kopf war »der Deez«, Adieu war »Tschüs«, war einer verträumt, so war er ein »Tranpott«, und war er zugleich dösig, ein »Nieselpriem«.
Es war eine Sprache für sich, eine Fremdsprache. Die Ausdrücke wechselten, sie hatten, oft nur für Tage, ihre Modezeit. Man mußte auf dem laufenden sein. Dazu Gebräuche: Die Mütze mußte einen Kniff bekommen; man gab, indem man »Servus« sagte, lässig zwei Finger statt der Hand.
Clamor bewunderte das abseits wie eine freie Spielkunst, etwa von Seiltänzern. Die kannten nicht die Gefahr des Sturzes, den er erlitten hätte, schon bei den ersten Versuchen, es ihnen gleichzutun. Er sprach nur langsam; die Worte lösten sich schwer vom Mund. Er mußte sie zwischen Klippen hindurchführen; dabei blieb viel von dem, was er sagen wollte und was er fühlte, im Unausgesprochenen zurück.
Er mußte das Oldhorster Platt vermeiden; erst hier hatte er gelernt, daß es »das Streichholz« hieß, und nicht »der Rietsticken«. Hier wurden »die Schuhe geputzt«, nicht »die Stiefel geschmiert«. Bei solchen Wendungen wurde man angesehen wie einer, der sich trotz schlechten Manieren mit an den Tisch setzte. Wiederum standen ihm die schicken Redensarten, wie sie die anderen als gängige Münze wechselten, nicht an und nicht zu. Das wäre Anmaßung.
Daß er nicht dazu gehörte, wußte Clamor besser als die anderen. Die merkten das nur bei Gelegenheiten; er aber stand immer vor der Tür und fühlte es in jedem Augenblick. Daher zog er die Einsamkeit vor. Aber hier gab es keine Obere Mühle, keine Mühle am Berg.
Hätte er nur die Kraft besessen, sich Rechte anzumaßen und herauszunehmen, so würde es besser stehen. Er sah das an Buz, der neben ihm saß – auch einem Oldhorster. Buz war der Sohn des Gemeindeschulzen, der mit ihm hoch hinaus wollte. Der Alte hatte, wie man dort sagte, was an den Füßen, vierzig Morgen guten Boden, dazu Wald, Wiese und Moor. Jetzt war man dort fündig geworden, hatte Kali gebohrt. Teo hatte sich Buz als Leibschützen eingetan; das gab ihm Ansehen. Doch, wenn Clamor unbegabt war, so konnte sich Buz nicht einmal mit ihm vergleichen; er wußte so gut wie nichts, obwohl er helle war. Er sprach wie ein Holzhakker. Seine Aufsätze pflegte der Ordinarius vorzulesen, um die Klasse zu erheitern; es war ein Wunder, daß er bis zur Quarta gekommen war.
In den Pausen war Buz der Meister; er nahm kein Blatt vor den Mund und redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Das machte Eindruck auf die anderen. Ein Ding war erst richtig, wenn Buz seinen Senf dazu getan hatte – sie riefen ihn her, schlugen ihm auf die Schulter, gaben ihm einen Rippenstoß. Er lachte, bis es ihm zu toll wurde – dann griff er sich einen heraus. Er lief hinter ihm her und holte ihn ein, selbst wenn der sich auf den Lokus flüchtete. Buz kletterte dann wie ein Affe über die Wand, die oben offen war, und holte den Burschen heraus. Er hatte dabei einen besonderen Griff, indem er ihn an den Ärmeln festhielt und mit dem Knie in den Hintern stieß. Die andern lachten und schleppten selbst, um das Schauspiel zu genießen, Delinquenten zur Abstrafung herbei. »Gib ihm ein Büzchen«, riefen sie dann. Das war eine Einrichtung. Sie wurden lustig, wenn sie ihn sahen, und lachten, wenn er den Mund auftat. Dabei wiederholte er stets dieselben Schnäcke, wie »Au verflucht«, »Au Backe«, »O du himmelblaues Veilchen« – Ausdrücke, die er in den Kasernen aufschnappte. Meist paßten sie nicht einmal zu dem, was vorging – trotzdem wurde es witzig dadurch. Vielleicht war überhaupt alles komisch für ihn.
Buz also war auch Oldhorster und den Lehrern ein Dorn im Auge, aber er gehörte dazu. Daß sein Vater das Weizenland hatte, konnte wenig ausmachen, denn – so schloß Clamor – wenn ich wie Buz wäre, so gehörte ich dazu.
Buz war trotz seinem Witz weitaus der Dümmste in der Klasse und würde bestimmt nicht versetzt werden, obwohl Teo ihm Nachhilfe gab. Er war schon einmal »backen geblieben« und mußte dann von der Schule gehen. Das machte ihm nichts aus – er wollte Husar werden. Die anderen würden ihn vermissen und wohl noch lange erzählen von ihm. Wenn Clamor ginge, würde das nicht einmal bemerkt werden.
Als er zu spät gekommen war und Doktor Hilpert ihn eingeschrieben hatte, mußte Clamor sich einen Platz suchen. Es war kein Zufall, daß er neben Buz noch eine Lücke fand, denn jene, die der Ordinarius seine »Schwachmatici« nannte oder die er aus anderen Gründen unter Augen halten wollte, hockten auf der wenig beliebten Vorderbank. Für Clamor war es ein Glücksfall, er saß nun neben einem Landsmann, den er seit langem kannte, einem Oldhorster. Freilich hatte er in der Nacht, als Teo ihn verstoßen hatte, schon Schlimmes von ihm einstecken müssen, und auch hier sollte er der Nachbarschaft nicht froh werden.
Die zweite Stunde wurde vom Ordinarius gegeben, einem beleibten Herrn von fünfzig Jahren, der nicht unfreundlich war, auch nicht ohne Humor. Er hieß Herr Bayer und gab Sprachstunden; diesmal war Französisch dran. Bei seinem Eintritt erhoben sich die Schüler; Herr Bayer nickte und sagte »Asseyez-vous« dazu. Sie antworteten im Chor, indem sie sich setzten: »Nous nous asseyons«.
Herr Bayer schloß nun den Klassenschrank auf, um Hut und Regenschirm zu verwahren, und nahm dann hinter dem Katheder Platz. Er setzte die Brille auf und öffnete das Klassenbuch. Seine Bewegungen waren langsam und behaglich, als ob die Zeit ein gutes Gewicht hätte, das er voll auswöge.
»Aha – der Neue. Ebling – bist schon angemeldet. Nun steh mal auf, daß wir dich alle sehen.«
Er studierte Hilperts Eintragung. »Zu spät gekommen? – hast wohl nicht gleich das rechte Loch gefunden – das wollen wir nicht anrechnen.« Er tauchte die Feder ein und schrieb mit roter Tinte »Entschuldigt« unter die Notiz.
Dann kam er näher, um den Neuling genau zu inspizieren; auch das tat er bedacht und sorgfältig. Er hob ihm mit der Hand das Kinn auf, um das Gesicht zu betrachten, das Clamor gesenkt hatte. Herr Bayer bemerkte dabei, daß der oberste Knopf an der Jacke fehlte, und schüttelte den Kopf; es machte offenbar keinen guten Eindruck auf ihn. Clamor war der Verlust entgangen; das mußte passiert sein, als der Schaffner ihn gepackt hatte. Er hätte es gern Herrn Bayer erklärt, doch war es zu schwierig; ihm kamen die Worte nicht. Am Ende würde der Lehrer die Sache noch strenger nehmen als der Schaffner; am besten verschwieg man sie überhaupt.
Zudem war er kaum anwesend; eine seltsame Beobachtung fesselte ihn. Er hielt den Blick auf Herrn Bayers Stirn gerichtet, denn er mochte ihm nicht in die Augen sehen. Der könnte dort den Verstoß entdecken, auch andere Dinge, deren er schuldig war – oder sein Schuldigsein überhaupt. Mit dem war er behaftet, und daher wich er dem Blick der anderen aus. Er durfte ihnen nicht in die Augen sehen. Meist hielt er, als ob er am Boden etwas suchte, den Kopf gesenkt.
Über Herrn Bayers Stirn erhob sich eine graue Welle so lokker und geschmeidig, als ob er eben vom Friseur käme. Das Haar war jedoch nicht durchaus eisenfarben; es hatte dazu noch einen rostbraunen Ton. Dieser Schimmer rührte jedoch, wie Clamor auffiel, nicht daher, daß ein Rest von braunen Haaren geblieben war. Jedes einzelne Haar war vielmehr in sich geringelt; es lösten sich weiße und rostige Sprenkel ab. Clamor erinnerte das an den Kalender – vielleicht, so dachte er, wächst Herrn Bayers Haar sonntags schöner als wochentags. Ähnliches hatte er bisher nur an Tieren gesehen – so an Herrn Brauns prächtigen Vögeln, auch an einem Dachs, der einmal, als Clamor still auf dem Mühlberg träumte, an ihm vorbeigeschnürt war.
Später konnte er das Ringelspiel auch an einzelnen Haaren nachprüfen, die auf sein Pult fielen. Herr Bayer pflegte sein Haar mit großer Sorgfalt; einige Male zog er einen braun und schwarz gesprenkelten Kamm aus der Brusttasche und ließ ihn durch die Frisur gleiten. Dieser Kamm war mit einem Silberbügel gefaßt; Herr Bayer verwahrte ihn in einem Futteral. Er zog ihn weniger heraus, als daß er ihn enthüllte – es war ein kostbares Stück, ungewöhnlich in dieser dürftigen Einrichtung.
Clamor freute es immer, wenn Herr Bayer sich kämmte – das war jedesmal eine festliche Einlage. Dieses Behagen rührte nicht daher, daß Herr Bayer dann nicht aufpaßte; es war vielmehr die völlige Verwandlung, die erheiterte. Er hätte auch statt des Kammes eine Flöte aus dem Futteral ziehen können, um damit aufzuspielen wie ein Musikant. Aber schon, daß er sich für einen Augenblick so verändern und vertiefen konnte, war eine große Erholung, nicht nur von der Grammatik – es gab Mitgenuß. Dann schien es dem Jungen, als öffneten sich die Fenster, die stets geschlossen waren, und einer von des Müllers bunten Vögeln flöge herein.
Daß eine Einzelheit ihn ablenkte, wie hier Herrn Bayers Haar, während dieser ihn examinierte, begegnete ihm leicht. Der Lenkung zu folgen, fiel ihm schwer; die Macht der Ablenkung war stark. Selbst heute morgen, als man ihn fast überfahren hätte, war er nicht dabei. »Junge, du kommst zu schnell aus dem Konzept« – das hatte ihm schon der Superus gesagt. Im Grunde war es weniger Zerstreutheit als Konzentration. Vor allem wo Farbiges auftauchte, wurde er angezogen wie der Fisch, der im Schilfrohr dämmert, wenn er den bunten Köder erblickt. Ihm wurde erwartungsvoll zumute, als ob ein Instrument gestimmt würde. Ein Zupfen war das zunächst.
Herr Bayer streifte noch Clamors Rockärmel auf und war zufrieden, als er nicht den dunklen Rand erblickte, der auf Katzenwäsche schließen läßt. Nachdem er seinen Neuen gemustert hatte, ging er zum Pult zurück und schlug das Register des Klassenbuches auf. Er begann nun, Clamor auszufragen, und trug die Angaben ein.
»Du heißt also Ebling, mein Junge, und kommst aus Oldhorst. Das ist noch ein schönes Dorf mit Strohdächern. Und dein Vorname?«
Clamor vergaß die Ratschläge, die Teo ihm in der Nacht erteilt hatte, und nannte den Vornamen schlechthin. Das war das Stichwort, auf das Buz gelauert hatte – er drehte sich um und rief sein »Au Backe!« in die Klasse, dessen Wirkung er sicher war. Diesmal heimste er auf des Neuen Kosten noch eine besondere Heiterkeit ein. Wenn er jedoch gehofft hatte, daß auch Herr Bayer das spaßig finden würde, hatte er sich geirrt.
»Ah, Bursche – du willst wieder mal den Bajaz machen? Das werd ich dir austreiben.«
Damit ging Herr Bayer zum Klassenschrank, um ihm einen dünnen Rohrstock zu entnehmen, mit dem er sich gemächlich näherte. Buz sah nun, daß es ernst wurde.
»Herr Bayer – ich wills nicht wieder tun!«
»Das will ich hoffen. Doch vorher wollen wir den guten Vorsatz noch etwas bekräftigen.«
Dann plötzlich strenge: »Mach die Hand auf!«
Buz wußte aus Erfahrung, daß es keinen Sinn hatte, Sperenzien zu machen oder die Hand zurückzuziehen; das verschlimmerte die Sache nur. Er mußte erst die rechte und dann die linke Handfläche hinhalten und bekam in jede einen saftigen Hieb. Clamor hörte die Gerte pfeifen, obwohl Herr Bayer sich nicht anzustrengen schien. Er bewegte den Arm nur aus dem Ellenbogen, doch so, als ob er es oft geübt hätte. Buz schrie zweimal »Au!« und hatte auch damit, wenngleich unfreiwillig, seinen Lacherfolg.
Clamor hatte Herrn Bayers neue Verwandlung mit Schrecken wahrgenommen; ihm war beklommen, als ob er daran die Schuld trüge.
Buz schien mit seinem Mißgeschick vertraut zu sein. Jedenfalls verlor er keine Sekunde, die Folgen zu besänftigen. Er blies in die Hände, auf denen sich rote Striemen abzeichneten. Dann kühlte er sie auf dem Holz des Pultes und wechselte die Stelle, wenn sie sich erwärmt hatte. Dabei zog er Grimassen und streckte Clamor in einem unbewachten Augenblick die Zunge heraus.
Herr Bayer stand am Fenster und kämmte sich das Haar. Dann wandte er sich um und sagte:
»Clamor ist ein guter, alter Name. Darüber lachen nur Dummköpfe.«
Somit war Clamors Aufnahme in die Quarta des Realgymnasiums bestätigt worden, ohne daß er Teos Anweisung befolgt hatte. Er kam in der Mitte des Jahres, nach den Sommerferien. Eine Reihe von weiteren Fragen hatte der Ordinarius nach Buzens Unfug sich aufgespart. Professor Quarisch, Clamors Pensionsvater, hatte ihn bei der Anmeldung informiert: »Ein Stipendiat, ein Junge vom Lande aus einfachsten Verhältnissen.«
Ein gefundenes Fressen also für diese Rowdies – man mußte behutsam sein.
Herr Bayer sah die Bauernjungen gern in seiner Klasse; sie waren zwar schwerer von Capé, doch in jeder Hinsicht zuverlässiger als die aus der Stadt. Sonntags wie in den Ferien durchwanderte er mit Stock und Rucksack den Harz und die Heide; er kannte sich in den Dörfern aus.
Das waren die beiden ersten Stunden in der neuen Schule gewesen, die von den Schülern »der Kasten« genannt wurde. Drei weitere Stunden schlossen sich an, die durch Pausen getrennt waren. So drohte an jedem Morgen schon auf dem Schulweg eine Wüste von Zeit, die nicht zu bewältigen war. Als einzige Oase winkten, von der Montagsandacht abgesehen, die beiden Zeichenstunden bei Herrn Mühlbauer.
Die Pausen waren noch schlimmer als der Unterricht, denn das Nicht-dazu-Gehören wurde, wenn die anderen spielten oder sich unterhielten, drückender, als wenn sie hinter ihren Heften auf der Bank saßen. Von denen hatte jeder einen Freund, und manche waren so beliebt, daß alle um ihre Gunst warben. Clamor wagte nicht einmal das. Er fragte sich, wie man es anfangen solle, um einen Freund zu gewinnen – da genügte kein Wünschen und Wollen, es mußte ein Wunder geschehen. Doch wenn ein Freund fehlte, war es immer noch besser, einen Herrn zu haben, selbst einen strengen, als ganz allein zu sein. Wenn der befahl: »Tu dies, laß jenes!«, auch wenn er bös wurde, so war doch einer, von dem man gesehen wurde, der sich kümmerte. Die anderen gingen, als ob sie keine Augen hätten, an ihm vorbei. Manchmal, wenn er in seiner Ecke auf das Ende der Pause harrte, beneidete er sogar jenen, den sie gerade prügelten.
Wenn sie auf dem Schulhof spielten, fiel ihm nicht einmal die unterste Rolle zu. Beliebt war das Turnierspiel; einer war dabei das Pferd und einer der Reiter, der auf dessen Schultern stieg. Verloren hatte, wer sich herunterziehen ließ. Buz machte immer das Pferd und Kresebeck den Reiter dabei. Clamor war ihnen weder als Pferd noch als Reiter genehm. Er hatte nicht einmal unten, geschweige denn oben seinen Platz.
Nach jenem ersten Schultag, an dem sie ihn fast überfahren hätten, wich Clamor über den Heckenweg bei Ungers Garten aus. Dort war es auch nicht geheuer, und in mancher Hinsicht sogar bedrohlicher, doch nicht so turbulent. Es fuhr kein Wagen, kamen kaum Menschen vorbei. Das erinnerte an die Feldwege um Oldhorst, die in die Heide führten, manchmal sogar an die alte Mühle auf dem Berg.
Die anderen, die bei Professor Quarisch in Pension waren, frühstückten länger und brachen später auf. Sie hatten Fahrräder. Nachdem sie noch Vokabeln oder Verse gebüffelt hatten, stiegen sie in den Keller und trugen ihre blanken Räder herauf. Sie sprangen von hinten auf, nachdem sie einige Sätze getan hatten, als ob sie stotterten. Andere schwangen leichthin das rechte Bein über den Sattel wie beim Bockspringen. Ihre Schulbücher, die sie mit einem Riemen umschnürt hatten, klemmten sie hinter den Sattel oder hängten sie an die Lenkstange. Sie konnten mit einer Hand fahren, manche wie im Zirkus sogar freihändig. Sie saßen zugleich auf und jagten, als ob es zu einer Lustpartie ginge, klingelnd davon.
Jeder hatte sein Fahrrad, Teo sogar eins mit Freilauf und nach unten gebogener Lenkstange wie die Rennfahrer. Er fuhr mit gebeugtem Rücken und gesenktem Kopf. Für seine Bücher hatte er keinen Riemen, sondern eine Mappe, die er nicht selber trug. Buz mußte das für ihn besorgen; er hatte sie am Morgen vor der Tür der Oberprima abzuliefern und nahm sie nach Schulschluß in Empfang. Es kam vor, daß er deswegen eine Stunde zugeben mußte, doch da er ohnehin Teo wie ein Schatten folgte, fiel das nicht ins Gewicht. Gern hätte Clamor ihm den Auftrag abgenommen, doch ließ Buz, von Anfang an auf ihn eifersüchtig, es nicht zu. Auch war er Teo, wenigstens in dieser Hinsicht, lieber – er sagte: »Buz ist dumm und präzis. Das sind zwei Eigenschaften, die sich ergänzen – du aber, Clamor, bist dumm und unpünktlich. Wenn ich dich sehe, wird mir schwach.«
Teo liebte es nicht, außer Waffen etwas zu tragen; er wollte die Hände frei haben. »Hier habe ich Buz, in Kairo hatte ich Omar, und später werde ich andere haben, wo ich mich auch umtreibe. Leute wie ich sind immer bedient.« Hier jedenfalls drängten sie sich zu ihm, auch wenn er sie schlecht behandelte. Allerdings war er bedeutend älter als die anderen. Clamor sah es als Glück an, daß sie sich vom Dorf her kannten und nun beim Professor zusammen waren; sonst hätte Teo ihn nicht bemerkt.
Die Mappe war aus genarbtem Leder; Teo hatte sie von weither mitgebracht. Clamors Tornister war auch aus Leder; er war mit Seehundsfell besetzt. Es war ein Geschenk von Müller Braun gewesen, als Clamor in Oldhorst zur Schule kam. Eine in Holz gefaßte Schiefertafel, ein Schwamm und ein Griffel hatten dazu gehört. Ein schönes Geschenk – hier aber standen Tornister nicht in Ansehen. Auch fing man schon in den Vorklassen nicht mit der Tafel, sondern gleich mit der Kladde und dem Federhalter an.
Den Rückweg von der Schule schlossen sie mit einer Verfolgungsjagd ab. Auch nachmittags, wenn auf dem Platz nicht exerziert wurde, holten sie die Räder hervor und fuhren im Kreis. Sie kannten die Rennfahrer, die in bunten Trikots auf der überhöhten Bahn hinter den schweren Maschinen der Schrittmacher hersausten, bei Namen und stritten sich über Potenz und Aussichten ihrer Lieblinge.
Clamor sah gern, wie sie auf den blitzenden Rädern kreisten und über den Asphalt dahinflogen. Schon in Oldhorst hatte er die Söhne von Bauern und Herren auf ihren »Flitzepes« bewundert – die Heidewege waren schmal wie weiße Striche, doch steinhart und zum Fahren gut.
Ein solches Rad zu besitzen, war lange sein brennender Wunsch gewesen, doch hatte er sich gehütet, ihn zu äußern oder auch nur anzudeuten, denn das würde dem Vater, der ihn nicht erfüllen konnte, Kummer gemacht haben. Dieses Kreisen der Gedanken um unerreichbare Ziele, wie hier um das eines Freundes – auch das gehörte zum Kummer, der ihn beschattete.
Jetzt, wo das Laub sich färbte, stiegen oft Nebel aus der Beeke auf. Das war, als ob ein Mantel sich um ihn breitete; er fühlte sich sicherer. Zwar konnte er zwischen den Hekken nicht so weit sehen, doch wurde er auch nicht so leicht bemerkt. Wenn er Schritte hörte, konnte er sich zur Seite drücken und ausweichen. So tastete er sich im Geheg entlang.
Die Beeke querte den Weg ziemlich an seinem Ende – dort, wo die Häuser wieder anfingen. Sie führte ein braunes, schleichendes Wasser, floß durch anmoorigen Grund. Clamor pflegte auf der hölzernen Brücke zu verweilen, um, über das Geländer gelehnt, auf den trüben Spiegel zu starren. Bei seinem ersten Gange, also am zweiten Schultag, hatte er eine Gruppe von Männern bemerkt, die sich unten am Ufer mit einem hohen Gerüst, einer Art von Galgen, beschäftigten. In Abständen ertönte ein widriges, ächzendes Geräusch, und ein schweres Gewicht stieg am Gestell empor. War es bis zur Spitze hinaufgewunden, so löste es sich mit einem Knall, den ein Dampfstrahl begleitete, und stürzte pfeifend herab. Das wiederholte sich wie ein riesiges Ein- und Ausatmen.
Die Ramme, die dazu diente, behelmte Pfähle in den Grund zu treiben, flößte Clamor ungemeinen Schrecken ein. Ihm war, als ob er einer Hinrichtung beiwohnte. Obwohl sie schon am nächsten Tag verschwunden war, blieb dieser Schrecken in ihm, wenn er den Weg beging. Das Gewicht drohte; es konnte an einer beliebigen Stelle, die er nicht kannte, zerschmetternd herabfahren. Er konnte es durch eine unbedachte Bewegung, vielleicht sogar durch einen Gedanken, auslösen. Es bedrückte ihn ständig; oft hatte es ihn beinah gestreift.
Drei Strecken des Weges waren zu durchmessen, auf denen die Gefahr sich steigerte: sie grenzten an den Grenadierplatz, die Spinnerei, die Strafanstalt.
Wenn er, vom Tornister beengt, die Treppe hinunterstieg, hoffte er, daß auf dem Platz nicht exerziert würde. Das war ein Glücksfall; meist hörte er schon die Trommeln und Hörner der übenden Spielleute. Dann war der Platz von Gruppen erfüllt, die regungslos verharrten oder über seine Fläche bewegt wurden. Die Kameraden sahen das gern. Besonders Buz vermochte sich von dem Schauspiel kaum zu trennen; er kannte jeden Offizier bei Namen, auch viele der Unteroffiziere und Feldwebel. Die Abzeichen waren ihm bis auf den letzten Knopf vertraut.
Dem Haus am nächsten hatte der fürchterliche Sergeant Zünsler sein Revier. Das war ein kleiner Drahtmann, ein Springteufel mit rotem Vollbart; am Kragen trug er breite Tressen und jederseits einen goldenen Knopf. Seine Kommandos schallten bis an die andere Seite des Platzes, wo die neuen Häuser standen; es war kaum faßbar, daß eine solche Stimme aus dem winzigen Körper kam. Er wollte auch, daß seine Leute röhrten, als ob sie im Seesturm an Deck stünden. Am besten war es noch, wenn er instruierte, dann stand er weit vor der Abteilung und donnerte etwa: »Grenadier Knospe – haben Sie mich verstanden?« während er die Arme auf dem Rücken hielt. Der riß dann den linken Fuß an und brüllte mit Bärenstimme: »Woll, Herr Schant!« Zünsler aber legte die Hand ans Ohr, als ob er nichts gehört hätte.
Ein besonderer Schreck durchzuckte Clamor, wenn Zünsler »angreifende Kavallerie« verkündete. Dazu ließ er blitzschnell die Gruppen zur Linie einschwenken und das vordere Glied hinknien. »Legt an!« und »Feuer!« kommandierte er dann. Dazwischen war eine kleine Pause: »Leute – wir lassen sie ganz dicht rankommen.« Man hörte von der Salve zwar nur den trockenen Aufschlag der Bolzen, aber es war grausig genug. Zünsler strich sich, als ob er ein Blutbad angerichtet hätte, behaglich den roten Bart.
Noch schlimmer war es, wenn er »Sturmangriff in geschlossener Ordnung« üben ließ. Dann kam die Abteilung von weitem in dichtem Haufen angerannt. Das Bajonett war aufgepflanzt, die Klingen funkelten. Wenn der Feind erreicht war, schrie Zünsler »Hurra«, und sein Schrei pflanzte sich fort, als ob er eine Rakete entzündet oder eine Lawine ausgelöst hätte, die niederfuhr. Das war unwiderstehlich, war zermalmend, war Zünslers Meisterstück. Der Hauptmann kam immer zu ihm, wenn Sturmangriff geübt wurde. Selbst Major von Olten blieb stehen, wenn er vom Schloß zu seiner Wohnung zurückkehrte. Auch Teo hatte an Zünsler seinen Spaß. Er nannte ihn »Klein Zaches«, war überhaupt reich an unergründlichen Spitznamen. Er stand mit Buz am Fenster und sah von oben zu. Buz war auf Seiten der Reiter – : »Wenn die Dodenköppe erst attackieren, dann kann der bölken, so laut er will.« Denn – auch das war eines seiner Kernworte: »Die Kavallerie hat Haar am Sack!«
Sie stürmten mit starrem Gesicht und aufgesperrtem Munde hinter den Klingen an. Clamor wußte, daß sie den Platz nicht überschreiten durften; sie machten vor dem Bordstein halt. Dennoch durchglitt ihn jedesmal ein Schauder, als sollte er gespießt werden. Der Hammer fuhr nieder; er hatte ihn gestreift.
War Clamor nun in die Hecken eingebogen, kam bald zur Linken ein schmaler Abweg, den ein Schild in Form eines ausgestreckten Armes bezeichnete: »Zur Spinnerei«. Der Pfad war eng und gewunden, die Fabrik, zu der er führte, nicht zu sehen. Die Spinner kamen und gingen auf der großen Straße; hier spielten sich nur Nebendinge ab. Sie waren meist rätselhaft und fast immer gefährlicher Natur.
Zuweilen mußte er den Heckenweg auch in der Abenddämmerung begehen, sei es, daß die Professorin ihn noch schnell zum Einholen schickte oder daß er vom Nachsitzen kam. Im Winter, wenn es Frost gab, legten die Lehrlinge auf der Böschung von Ungers Garten sich eine Schurrbahn an. Sie erklommen einer nach dem andern den Steilhang und fuhren dann mit ausgestreckten Armen den schmalen Streifen aus spiegelglattem Eis hinab. Das war ein lärmendes Pläsir.
Die jungen Spinner trugen derbe Joppen ohne Schlips und Kragen, halbhohe Stiefel und Mützen aus dunklem Tuch. Sie fluchten und waren im Halbdunkel von einer Heiterkeit, die Clamor ängstigte. Ganz unverhohlen ließen sie ihre Winde fahren und taten sich noch was darauf zugut: Mann – der wog zwei Pfund, fünf Kilo oder einen Zentner gar. An Vorrat fehlte es ihnen nicht, denn Kohl, Erbsen oder Bohnen waren ihre tägliche Kost. Wahrscheinlich leisteten sie sich auch schon einen Köhm.
Clamor war froh, wenn es ihm glückte, sich vorbeizudrükken, denn wenn sie ihn bemerkten, banden sie mit ihm an. Sie klümpten ihn, steckten ihm Schnee in den Kragen oder stellten Fragen, die man am besten nicht beantwortete, denn dahinter verbarg sich eine kaum verhohlene Angriffslust. Auf alle Fälle zog man den kürzeren dabei.
Es kam vor, daß sie schon fort waren; dann stand die Schurrbahn leer. Clamor wagte es, einige Male hinabzugleiten; wenn es ihm ohne Sturz gelang, gab es ein prächtiges Gefühl. So mußte es auf dem Fahrrad sein. Jede Bewegung, die ins Leichte führte, auch wenn er sie nicht beherrschte, zog ihn an.
Warum, so dachte Clamor, mögen auch diese Lehrlinge mich nicht leiden – sind sie denn besser als ich? Aber was hieß »besser« für einen, der weder Ort noch Stand hatte? Schließlich war er auch nicht besser als sie, wollte besser nicht sein. Sie waren stärker als er und zogen aus ihrem Miteinander Kraft. Sie rempelten ihn an. Es ging ihm mit ihnen nicht anders als mit den feinen Jungen – er gehörte nicht dazu. Sie sahen das auf den ersten Blick, kaum daß er sich näherte. Mit Buz war das anders; der war im Augenblick mit ihnen auf Du und Du. Auch wenn er nicht zu ihnen gehörte, gehörte er doch dazu. Das war ein Unterschied. Er aber, Clamor, blieb allein.
Eines Morgens, in aller Frühe, hörte er Gelächter und Geschrei. Drei Spinnerinnen standen am Abweg mit blassen Gesichtern und verwirrtem Haar. Männer waren dabei. Die eine hielt sich an den anderen fest. Sie lachte und rief, als ob sie aus dem Tollhaus käme: »O Trude – was bin ich duhn!« Die andere schwankte; sie stand auf ihrem Rocksaum mit zerrissener Bluse – die Brust hing heraus. Die dritte hielt den Wegweiser umklammert; sie übergab sich und besudelte ihr Kleid. Einer der Männer war aus dem Garten gekommen und hielt die Forke in der Hand.
»Die Weiber sind ja total dicke und schämen sich nicht mal! Man sollte sie abführen!«
Dazu ein anderer: »Die sind schon gründlich vorgenommen und dann an die Luft gesetzt. Das ist doch deutlich zu sehen. Tragen die Röcke verkehrt.«
Und ein Dritter: »Man sollte sie durchpeitschen. Aber vorher gründlich abbrausen.«
Das war der Schlachtergeselle von Ferchland; er trug auf der Schulter eine hölzerne Molle, über die ein weißes Tuch gebreitet war. Er hielt sie mit der Linken und schwenkte genüßlich die rechte Hand. Dann sah er Clamor und sagte:
»Was hast du hier zu gaffen? Mach, daß du in die Schule kommst!«
Clamor war froh, daß er entweichen durfte; Unheil bereitete sich vor.
Schlimmer noch war jener andere Morgen, an dem eine Gruppe von Männern den Zugang sperrte; sie blickten Clamor an, als ob er ihr Feind wäre. Auch der Schutzmann, der in einiger Entfernung an der Böschung von Ungers Garten postiert war, betrachtete ihn grimmig, als er vorüberkam. Wiederum etwas weiter waren andere Männer stehen geblieben; Clamor hörte Sätze, die ihn gewichtig trafen, obwohl er sie nicht verstand.
»Bei den Spinnern wird nicht gearbeitet.«
»In der Kaserne sollen scharfe Patronen verteilt worden sein.«
»Meinetwegen brauchten die gar nicht erst wieder anfangen.«
Das hatte der Mann mit der Forke gesagt. Diesmal hielt er den Spaten in der Hand.
Wie fast an jedem Morgen kam auch Major von Olten vorbei, ein freundlicher Herr. Anfangs hatte Clamor, wie er es von Oldhorst her gewohnt war, jeden gegrüßt, dem er begegnete. Der Major hatte ihn angehalten und für seine Höflichkeit gelobt. Er hatte ihn ausgefragt. Nun nickte er ihm jedesmal zu, wenn Clamor die Mütze zog, legte auch die Hand an den Helm. Den Helm trug er, weil er schon im Schloß und bei der Hauptwache gewesen war. Er kehrte dann über den Grenadierplatz zur Kaserne zurück. Auch seine Wohnung lag am Platz.
Der Schutzmann nahm Haltung an, als der Major sich näherte. Der stellte ihm halblaut einige Fragen und schritt dann auf die Gruppe zu, die den Abweg sperrte und nun still wurde.
Er wandte sich an einen der jungen Männer, und Clamor hörte, wie er sagte: »Berthold – Sie hätte ich hier am wenigsten vermutet – waren doch einer der Besten in der Kompanie. Sie wissen, wie gern ich mit Ihnen kapituliert hätte.«
Der Angesprochene straffte seine Haltung: »Herr Major, das ist keine Dienstsache. Hier gehts ums tägliche Brot.«
Die anderen nickten dazu.
»Aber Sie wissen doch, wie schwer wir gegen die von Lodz und von Manchester aufkommen.«
»Das wollen wir ja gerade ändern, Herr Major.«
Der Major zuckte die Achseln: »Ich spinne auch keine Seide und gönne Ihnen gewiß Ihr Auskommen. Aber macht keine Dummheiten.«
Er grüßte, und als er schon halb im Fortgehen war, kam es noch aus der Gruppe:
»Aber wenn der Kaiser ruft ––– dann sind wir da!«
Am Abweg war die Bedrohung nicht so offen wie auf dem Platze, doch war es unheimlich. Auch wenn es hier still war, fühlte Clamor die Bedrückung; das Unheil haftete am Ort.
Widriges drohte ferner im Umkreis des Gefängnisses. Auch dieser Bau lag jenseits der Gärten; er diente eher als Besserungsanstalt für Landstreicher, Tagediebe, Trunkenbolde und kleine Sünder aller Art. Die Häftlinge wurden unter leichter Bewachung zur Arbeit in die Stadt oder in die Gärten geführt. Zuweilen machte auch ein Transport für das Zuchthaus in Celle hier Station.
Einmal sah Clamor einen Mann eiligen Laufes auf sich zukommen. Ein anderer war hinter ihm her und holte ihn ein, gerade als sie den Jungen erreicht hatten. Er packte den Flüchtling am Ärmel und schüttelte ihn derb.
»Ah, du Gauner, du Lump ––– du willst mich um mein Brot bringen? Warte, dir werd ichs eintränken.«
Clamor fiel auf, daß die Männer sich sehr ähnlich sahen – beide waren beleibt; sie hatten krebsrote Gesichter und schnauften, als solle sie der Schlag treffen. Auch trugen sie ähnliche Mützen, nur hatte die des Wärters einen Schirm. Ihn unterschied auch ein grüner Uniformrock von dem andern, der in einen Kittel gekleidet war. Der rang nach Luft und konnte kein Wort hervorbringen. Er starrte wie ein Kaninchen, das der Hund am Ohr erwischt hat, den Grünen angstvoll an.
Inzwischen war ein Herr herangekommen, der einen grauen, vorn ausgeschnittenen Tuchrock und eine braune Melone trug. Auch der hatte einen stattlichen Bauch. Das gab wiederum eine gewisse Ähnlichkeit, als Clamor die drei beieinander stehen sah.
Der Herr nahm seinen Zwicker ab, von dem ein schwarzes Band herabhing, klappte ihn zusammen und steckte ihn in die Westentasche, indem er sagte:
»Der wollte Ihnen wohl durch die Lappen gehen, Herr Wachtmeister? So einfach ist das bei den Preußen nicht. Ein sauberer Vogel – das liest man ihm schon vom Gesichte ab!«
Clamor wunderte es, daß sich in der Stadt, fast wie in Oldhorst, alle zu kennen schienen, denn der Wärter redete den Herrn gleich mit »Herr Sekretär« an, als er antwortete:
»Sie glauben nicht, was unsereiner mit denen für Ärger hat. Tag und Nacht muß man auf dem Sprunge sein. Dabei soll man sie noch mit Handschuhen anfassen.«
Der Herr schien keine Eile zu haben; er stand behaglich dabei, fast wie Herr Bayer, wenn er sich die Haare kämmte, und zog ein Etui aus der Brusttasche.
»Na, stecken sich mal eine ins Gesicht, zwei zu fuffzehn – dann sieht die Sache schon anders aus.«
Der Wärter verstaute die Zigarre in seine Mütze, die er dann wieder aufsetzte:
»Danke, Herr Zecketä – aber nich im Dienst.«
Offenbar wollte der Herr die Situation noch etwas auskosten. Er betrachtete den Häftling, indem er den Kopf ein wenig schief hielt:
»Der wollte heut nacht vielleicht mal bei Muttern sein –– kann man schließlich verstehen.«
»Ach was, der wollte sich nur besaufen, die Brüder denken ja an nichts anderes. Die gehn selbst an die Möbelpolitur. Kaum draußen, sind sie schon wieder drin.«
Der Herr hielt immer noch das Etui in der Hand. Dann sagte er vertraulich:
»Schon, schon – Herr Wachtmeister. Aber soll er nicht auch eine abhaben? Eine zu siebeneinhalb?«
»Ick will aber nischt jesehn haben!«
Der dicke Mann machte ungläubige Augen, und vielleicht weniger wegen der Zigarre – fast wie ein Kind, das einen Luftballon sieht. Dann gingen sie auseinander, der Herr zum Amt, Clamor zur Schule, und nach der anderen Seite führte der Wärter seine Beute am Handgelenk davon.
Nicht zu vergessen war auch jener Morgen, an dem die Zuchthäusler vorbeikamen. Sie hatten in der Strafanstalt übernachtet und wurden zum Bahnhof geführt. Clamor hörte von fern eine Stimme, die ihn erschreckte, bevor der Zug in den Heckenweg bog.
Die Männer gingen zu zweien eng aneinander; sie waren in gestreifte Kittel gekleidet und hielten den Kopf gesenkt. Polizisten schlossen sie ein. Einer, der blankgezogen hatte, machte den Anfang; zwei andere gingen am Schluß. Die wilde Stimme kam von einem riesenhaften Wächter, der den Transport umkreiste wie ein Schäferhund. Er war größer und stärker als alle anderen und hatte Schultern wie ein Schrank. Der Helm, den ein mit Messing beschuppter Riemen festhielt, hing schief über dem bärtigen Gesicht. Es glühte, und die Augen des Riesen rollten, als ob sie ein im Universum verstecktes Opfer suchten oder einen Ersatz dafür.
Clamor erstarrte und drückte sich mit dem Rücken in die Hecke vor Ungers Gartenzaun. Er sah von weitem: der Mann war gefährlich wie ein wütender Stier. Nun hatte der ihn erblickt und sprang auf ihn zu. Er schrie:
»Platz da – zurücktreten«, obwohl Clamor allein war und weitab von den Sträflingen stand.
Die Stimme war furchtbar, und mit ihr kam ein Anhauch von Schweiß, Schnaps und Tollwut wie aus einem Hundszwinger. Ihr folgte ein mächtiger Stoß vor die Brust. Clamor fiel in die Hecke zurück und lag in den Dornen, während der Zug vorüberzog. Erst später sah er, daß er die Mütze verloren hatte und sein Hemd zerrissen war.
Obwohl diese Begegnung von allen die schlimmste gewesen war, ging sie ihm weniger nach als die mit dem hilflosen Trunkenbold. Hier war er selber getroffen worden, und es war ihm, als ob er so wenigstens einen Teil der Schuld gebüßt hätte.
Am Ende des Heckenweges verweilte Clamor immer noch ein wenig auf der Brücke, um auf das trübflüssige Wasser zu sehen. Der Blick beruhigte ihn; er war ausgleichend. Längst war der Dampfhammer verschwunden, der ihn am zweiten Schultag erschreckt hatte. Und wieder einmal hatte er die Brücke erreicht, auch wenn dicht neben ihm ein Stoß niedergefahren war. Selbst der Fausthieb hatte ihn nur gestreift.
Die Beeke schien still zu stehen, als ob sie aus geschmolzenem Glas wäre. Schilfstengel faßten sie ein, von denen vergilbte Wimpel herabhingen. Dort ruhten auch Blätter – wie auf den Spiegel gemalt. Die meisten waren spitz wie Lanzenklingen, dazwischen schwammen breit herzförmige. Die gehörten zu einem Kraut, das Clamor von den Oldhorster Moorweihern her kannte; der Vater hatte es »Deikrause« genannt. Mit ihren weißen Blüten wurden im Sommer die Grabkränze besteckt. Im Herbst erstarrten die Blätter zu Siegeln aus blutrotem Lack.