Sämtliche Werke - Band 3 - Ernst Jünger - E-Book

Sämtliche Werke - Band 3 E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

Der dritte Band der Gesamtausgabe schließt unmittelbar an den vorhergehenden an, umfasst er doch den zweiten Teil des »Pariser Tagebuchs«, die »Kirchhorster Blätter« sowie »Die Hütte im Weinberg«. Damit liegen die Tagebücher Jüngers aus den Jahren 1943 bis 1948 vor. Umfasst das »zweite Pariser Tagebuch« den Zeitraum vom Februar 1943 bis zum August 1944, so siedelt Jünger mit dem Vorrücken der alliierten Truppen von Paris wieder nach Kirchhorst bei Hannover über. Die dort verfassten »Blätter« enden mit dem Eintreffen der amerikanischer Soldaten. »Die Hütte im Weinberg« war zunächst 1958 unter dem Titel »Jahre der Okkupation« veröffentlicht worden und beschreiben Jüngers Erleben der Besatzungszeit. Wie auch Jüngers Erstling »In Stahlgewittern« waren auch die »Strahlungen« gleichermaßen erfolgreich wie umstritten, wenn er etwa die Bombardierung von Paris als ästhetisches Schauspiel beschreibt.

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ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE

Tagebücher I-VIII

Band 1 Der Erste Weltkrieg

Band 2 Strahlungen I

Band 3 Strahlungen II

Band 4 Strahlungen III

Band 5 Strahlungen IV

Band 6 Strahlungen V

Band 7 Strahlungen VI, VII

Band 8 Reisetagebücher

Essays I-IX

Band 9 Betrachtungen zur Zeit

Band 10 Der Arbeiter

Band 11 Das Abenteuerliche Herz

Band 12 Subtile Jagden

Band 13 Annäherungen

Band 14 Fassungen I

Band 15 Fassungen II

Band 16 Fassungen III

Band 17 Ad hoc

Erzählende Schriften I-IV

Band 18 Erzählungen

Band 19 Heliopolis

Band 20 Eumeswil

Band 21 Die Zwille

Supplement

Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß

Ernst Jünger

 

Sämtliche Werke 3

Tagebücher III

Strahlungen II

Klett-Cotta

Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band entspricht der gebundenen Ausgabe.

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nchfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter

Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin

Gesetzt von pagina, Tübingen

Datenkonvertierung: Lumina Datamatics GmbH

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96303-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10903-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

STRAHLUNGEN II

INHALT

Das zweite Pariser Tagebuch

Kirchhorster Blätter

Die Hütte im WeinbergJahre der Okkupation

»DAS ZWEITE PARISER TAGEBUCH« UND

»KIRCHHORSTER BLÄTTER«

ERSTAUSGABEN 1949

REVIDIERTE FASSUNGEN 1955 UND 1963

»DIE HÜTTE IM WEINBERG«/ »JAHRE DER OKKUPATION«

ERSTAUSGABE 1958

REVIDIERTE FASSUNG 1963

 

DAS ZWEITE PARISER TAGEBUCH

 

Paris, 19. Februar 1943

Am gestrigen Nachmittag Abfahrt nach Paris. Perpetua brachte mich an die Bahn und winkte lange, als ich aus der Halle fuhr.

Im Zuge Gespräch mit zwei Hauptleuten, die der Meinung waren, daß Kniébolo in diesem Jahre mit neuen Mitteln, wahrscheinlich mit Gas, angreifen wird. Sie schienen das nicht gerade zu billigen, beschränkten sich aber auf jene moralische Passivität, die zu den Kennzeichen des modernen Menschen gehört. Technische Argumente wirken da noch am besten, wie etwa jenes, daß ein solches Unterfangen bei Luftunterlegenheit mit Selbstmord gleichbedeutend sei.

Wenn Kniébolo Derartiges plant, wird, wie bei allen seinen Konzeptionen, die innenpolitische Rücksicht bestimmend sein. Die Propaganda geht allem anderen vor. In diesem Falle würde ihm daran liegen, zwischen den Völkern eine Kluft zu schaffen, die auch der beste Wille nicht überbrücken kann. Damit entspricht er seinem Genius, der auf der Trennung, der Parteiung, dem Haß beruht. Man hat die Tribunen kennen gelernt.

Hierzu ein Streiflicht: Wenn solchen Geistern Untaten von der Gegenseite berichtet werden, wird nicht Empörung, sondern ein Glanz dämonischer Freude die physiognomische Wirkung sein. Daher gehört die Diffamierung des Feindes zum Höflingskult im Reich der Finsternis.

Paris erscheint mir, nachdem ich Städte wie Rostow gesehen habe, in neuem, unerhörtem Glanz, obwohl die Verarmung weiter fortgeschritten ist. Allein die Bücher, mit denen ich Wiedersehen feierte, indem ich eine schöne Monographie über Turner erstand. Ich fand darin die Schilderung seines seltsamen Lebenslaufes, der mir unbekannt gewesen war. Nicht oft spricht sich der Ruf des Schicksals so zwingend aus. In seinen letzten Jahren malte er nicht mehr, sondern trank. So wird es immer Künstler geben, die ihre Aufgabe überleben; das ist besonders dort der Fall, wo die Begabung früh erscheint. Sie gleichen dann pensionierten Beamten, die ihren Neigungen nachgehen, wie Rimbaud dem Geldverdienen und Turner dem Trunk.

Paris, 21. Februar 1943

Mittags mit Heller und dem Maler Kuhn zur »Tour d’Argent«. Gespräch darüber, daß Bücher und Bilder auch wirken, wenn niemand sie sah. »Doch im Innern ists getan.« Dieser Gedanke wird den Zeitgenossen im gleichen Maße unvollziehbar, in dem sie Kommunikation und Zirkulation erhöhen, das heißt, geistige Verbindung durch technische ablösen. Kam es indessen darauf an, daß die Gebete eines Mönches von jenen, denen sie zugute kommen sollten, auch gehört wurden? Wieland wußte das noch; er sagte zu Karamsin, daß er auf einer einsamen Insel seine Werke mit gleichem Eifer geschrieben hätte, in der Gewißheit, daß sie von den Musen gehört würden.

Dann noch im »Meurice«, wo Kuhn, der als Gefreiter beim Kommandanten Dienst tut, uns Bilder zeigte, von denen mir besonders eine bunte Taube gefiel, deren rosige und dunkle Farben mit denen einer Stadt im Hintergrund verflossen: »Dämmerung in der Stadt«. Darüber unterhielten wir uns auf dem Heimweg, auch über die Dämmerung als Stimmung und über den Einfluß, den sie übt. Sie macht aus Individuen Figuren – nimmt den Personen das Detail und läßt sie in einer generellen Bedeutung, etwa als Mann, als Frau, als Mensch, hervortreten. So gleicht sie dem Künstler, in dem ja auch viel Dämmerung, viel Dunkles leben muß, damit er Figuren sieht.

Eben, am Abend, blättere ich noch in einer Nummer der »Verve« von 1939 und finde darin Auszüge aus einem mir unbekannten Autor, Pierre Reverdy. Davon notiere ich folgende:

»Ich bin mit einem Panzer gewappnet, der ganz aus Fehlern geschmiedet ist.«

»Etre ému c’est respirer avec son cœur.«

»Sein Pfeil ist vergiftet; er hat ihn in die eigene Wunde getaucht.«

An Mauern der Pariser Häuser kann man jetzt häufig die mit Kreide geschriebene Jahreszahl »1918« sehen. Auch »Stalingrad«.

Wer weiß, ob sie dort nicht mitbesiegt werden?

Paris, 23. Februar 1943

Vormittags sah ich eine Mappe mit Bildern, die die Propagandaabteilung bei der Sprengung des Marseiller Hafenviertels aufgenommen hat. Hier wurde wieder ein Ort verwüstet, der sich der Norm entzog und mir ans Herz gewachsen war.

Während der Mittagspause lege ich jetzt immer ein Augenfrühstück ein. So blätterte ich heute in meinem Turner, in dessen Seestücken mit ihren grünen, blauen und grauen Tönen eine große Kälte liegt. Sie geben den Schein der Tiefe, die durch Spiegelung entsteht.

Dann auf dem kleinen Friedhof am Trocadéro, wo ich wieder die Grabkapelle der Marie Bashkirtseff sah, in der man die Tote in unziemlicher Präsenz verspürt. Es blühten bereits mancherlei Kräuter, so Goldlack und buntes Moos.

In der Buchhandlung am Platz Victor Hugo fand ich noch eine Reihe von Werken von Léon Bloy, den ich gründlicher studieren will. Jede der großen Katastrophen wirkt auch auf den Bestand an Büchern und stößt Legionen von ihnen in die Vergessenheit. Erst nach dem Beben sieht man, auf welchen Grund ein Autor sich in Zeiten der Sicherheit verließ.

Am Abend machte ich einen kurzen Gang. Der Nebel war stärker, als ich ihn je gesehen – so stark, daß mir die Strahlen, die aus den Lücken der Verdunkelung fielen, solid wie Balken schienen, an denen ich mich zu stoßen fürchtete. Auch traf ich viele, die sich nach dem Étoile erkundigten, ohne daß ich sie weisen konnte; dabei standen wir mitten darauf.

Paris, 24. Februar 1943

Das ist der eigentliche Maßstab unseres Wertes: das Wachstum der anderen durch unsere Liebeskraft. An ihm erfahren wir unsere Schwere und auch das fürchterliche »Gewogen, gewogen und zu leicht befunden«, das uns im Versagen deutlich wird.

Es gibt ein Sterben, das schlimmer ist als der Tod und das darin besteht, daß ein geliebter Mensch das Bild, mit dem wir in ihm lebten, in sich abtötet. Wir löschen in ihm aus. Das kann durch dunkle Strahlung kommen, die wir senden; die Blüten schließen sich leise vor uns zu.

Paris, 25. Februar 1943

Schlaflose Nacht. Dazwischen Augenblicke des Dämmerns mit Träumen – zunächst ein Albdruck, bei dem Gras gemäht wurde, dann Szenen wie aus dem Marionettenspiel. Auch Melodien, die sich zu drohenden Blitzen steigerten.

Nach den Gesetzen einer geheimen moralischen Ästhetik erscheint es würdiger, wenn man beim Stürzen auf das Gesicht statt auf den Rücken fällt.

Paris, 28. Februar 1943

Vortrag über mein Kommando. Inzwischen fiel Stalingrad. Damit verschärft sich die Zwangslage. Ist nach Clausewitz der Krieg die Fortsetzung der Politik mit veränderten Mitteln, so besagt das implicite, daß, je absoluter der Krieg geführt wird, desto weniger Politik in ihn eintreten kann. In der Schlacht gibt es keine Verhandlung; es fehlt die freie Hand, und es fehlt der Atem dazu. In diesem Sinn ist der Krieg im Osten absolut in einem Umfang, den Clausewitz sich selbst nach den Erfahrungen von 1812 nicht ausmalen konnte – er ist Staaten-, Völker-, Bürger- und Religionskrieg mit zoologischer Zuspitzung. Im Westen gibts noch für eine Weile freie Hand. Das ist einer der Vorteile des Zweifrontenkrieges, der zum Schicksal, zur klassischen Bedrohung der Mitte gehört. 1763 ist auch offensichtlich der Hoffnungsstern für die Verantwortlichen. Sie lassen die Ziffer nachts von Kolonnen an die Mauern schreiben und »1918« und »Stalingrad« durchstreichen. Der Kern des Wunders lag aber darin, daß der Alte Fritz Weltsympathie genoß. Kniébolo dagegen gilt als Weltfeind, und es könnte von seinen drei großen Gegenspielern sterben, wer wollte, der Krieg würde fortgeführt. Der Wunschtraum zielt auch weniger darauf, daß einer von ihnen die Hand reicht, als daß er zusammenbricht. Auf diese Weise frieren wir zunehmend ein und können uns durch eigene Kraft nicht auftauen.

Auf dem Tisch standen kubanische Importen in Glasröhren. Sie werden in Lissabon gegen französischen Kognak getauscht, den die hohen Stäbe auf der anderen Seite ungern entbehren – immerhin noch eine Art von Kommunikation.

Mein Dienst wird durch die Aufsicht über die Postüberwachungsstellen im besetzten Gebiet vermehrt – ein skurriles und nach den verschiedensten Richtungen hin heikles Geschäft.

Paris, 1. März 1943

Am Abend über das Wort »Schwärmen« nachgedacht. So könnte eines der Grundkapitel in einem Buch über die Naturgeschichte des Menschen überschrieben sein. Zum Schwärmen gehören drei Dinge: erhöhte Lebensschwingung, Versammlung, Periodizität.

Die Lebensschwingung oder die Vibration, wie man sie etwa bei den Zuckmücken beobachten kann, ist überindividuelle Kraft; sie hebt die Wesen in die Gattung empor. Deren Geschäften dient die Versammlung – der Hochzeit, der Ernte, der Wanderung, dem Spiel.

Der Rhythmus des Schwärmens war in frühen Zeiten wohl ganz naturhaft, durch Mond und Sonne und durch ihren Einfluß auf die Erde und den Pflanzenwuchs bestimmt. Wir spüren wunderbar unter großen Blütenbäumen, die ganz durchsummt sind, was Schwärmen ist. Auch Tageszeiten können eine Rolle spielen, wie die Dämmerung, und ferner elektrische Verhältnisse, wie die Gewitterluft. Diese naturhaft-kosmischen Marken liegen den historischen Zeiten und ihrem Wandel unter – sie bleiben als Daten der Feste, deren Bedeutung sich mit dem Wechsel der Kulte und Kulturen zu ändern scheint. Es ändert sich aber nur der konsekrierende Teil, der natürliche bleibt bestehen. Daher der heidnische Anteil an jedem christlichen Fest.

Übrigens ist der Name »Schwarmgeister« gut gewählt, um eine Verirrung zu bezeichnen, deren Wesen in der Verwechslung des konsekrierenden und des natürlichen Teiles der Feste besteht.

Paris, 3. März 1943

Mittags am Seineufer, mit Charmille. Wir gingen unten am Quai entlang, vom Platz de l’Alma bis zum Viadukt von Passy; dort setzten wir uns auf ein hölzernes Geländer und sahen das Wasser vorbeitreiben. In einer Mauerfuge blühte bereits ein Lattich mit sieben goldgelben Kronen, in deren einer eine große metallgrüne Fliege saß. Auch sah ich wieder die kleine Wendelschnecke vielfach im Haustein der Uferbrüstung abgedrückt.

Paris, 4. März 1943

Frühstück mit Heller bei Florence Gould, die jetzt in der Avenue Malakoff eine Wohnung bezogen hat. Wir trafen dort außer ihr und Jouhandeau noch Marie Louise Bousquet und den Maler Bérard.

Gespräch vor einer Vitrine voll ägyptischer Funde aus Rosette. Unsere Wirtin zeigte uns uralte Salbenbüchsen und Tränenkrüge aus antiken Gräbern, von denen sie spielerisch die dunkelveilchenblauen und perlmuttfarbenen Häutchen, den Niederschlag von Jahrtausenden, abkratzte, so daß der Irisstaub im Lichte wirbelte. Auch teilte sie davon aus – ich konnte dem Geschenk eines schönen hellgrauen Skarabäus mit umfangreicher Inschrift auf der Fußplatte nicht ausweichen. Dann zeigte sie Bücher und Manuskripte, die bei Gruel gebunden waren – in einem Werk mit alten Bildern fehlten drei Blätter, die sie herausgerissen und einem Besucher, der Gefallen daran gefunden, geschenkt hatte.

Bei Tisch erfuhr ich Einzelheiten über Reverdy, den ich erwähnte – da sowohl Bérard wie Madame Bousquet mit ihm befreundet sind. Ein Geist empfiehlt, enthüllt sich durch ein einziges Epigramm.

Gespräch mit Jouhandeau, dessen »Chroniques Maritales« mir Hercule vor Jahren sandte, über die Art, in der er arbeitet. Er erhebt sich nach einem Schlaf von kaum sechs Stunden um vier Uhr morgens und sitzt dann an seinen Manuskripten bis um acht. Danach begibt er sich in das Gymnasium, an dem er als Lehrer wirkt. Die stillen Morgenstunden, die er mit einer Wärmflasche auf den Knien verbringt, sind die genußreichsten für ihn. Dann über den Bau der Sätze, ihre Interpunktion und insbesondere das Semikolon, auf das er nicht verzichten möchte, sondern das er als notwendigen Ersatz des Punktes betrachtet in Fällen, in denen die Phrase logisch weiterläuft. Über Léon Bloy; er kannte durch Rictus Einzelheiten aus dessen Leben, die mir neu waren. Bloy ist noch kein Klassiker, aber er wird es einmal. Es dauert auch bei den Werken immer eine Weile, bis das Zeitliche verwittert ist. Auch sie haben ihr Fegfeuer. Dann wachsen sie über die Kritik hinaus.

Paris, 5. März 1943

Während der Mittagspause im Trocadéro, um dort den Krokus zu betrachten, der blau, weiß und golden in Gruppen auf den Rasenhängen steht. Wie Edelsteine leuchten diese Farben, die aus den schlanken Bechern strahlen – man sieht, es sind die ersten, die reinsten Lichter im Blütenjahr.

Heute beendet: Léon Bloy, »Quatre Ans de Captivité à Cochons-sur-Marne«, enthaltend die Tagebücher von 1900 bis 1904. Diesmal fiel mir besonders die völlige Unberührbarkeit des Autors durch die Illusionen der Technik auf. Inmitten der durch die Stimmung der großen Weltausstellung von 1900 beschwingten Menschenschwärme lebt er als antimoderner Eremit. In den Automobilen sieht er Vernichtungsinstrumente ersten Ranges heraufziehen. Überhaupt bringt er die Technik mit der Annäherung von Katastrophen in Beziehung – so hält er Mittel zur schnellen Fortbewegung, wie die Motoren und Lokomotiven, für Erfindungen eines Geistes, der auf Flucht gerichtet ist. In Eile einen anderen Kontinent zu gewinnen, könnte bald wichtig sein. Am 15. März 1904 benutzt er zum ersten Male die Untergrundbahn, deren Katakomben er eine gewisse unterirdische, freilich auch dämonische Schönheit zubilligt. Das Werk erweckt ihm den Eindruck, daß das Ende der paradiesischen Quellen und Wälder, der Morgen- und Abenddämmerungen gekommen ist, den Eindruck des Todes der menschlichen Seele überhaupt.

Bezeichnend für diesen Geist, der das Gericht erwartet, die Inschrift einer Sonnenuhr: »Es ist schon später, als du glaubst.«

Paris, 6. März 1943

Nachmittags bei Poupet in der Rue Garancière. In seiner mit Büchern und Gemälden vollgestopften Mansarde traf ich den Romancier Mégret, mit dem ich schon im Frieden korrespondierte, und die Doctoresse. Möchten solche Inseln noch lange bestehen.

Immer noch plagt mich die leichte Migräne, mit der das Jahr begann. Dennoch erfüllte mich sein Anfang zugleich mit starker Zuversicht auf eine Wendung zum Besseren. Daß letzten Endes alles gut wird, vergessen wir in Zeiten der Schwäche, der Melancholie.

Unter uns Männern. Zwischen zwei Frauen kann unsere Lage der des Richters beim salomonischen Urteil ähneln – doch sind wir das Kind zugleich. Wir müssen uns der zusprechen, die uns nicht teilen will.

Paris, 9. März 1943

Nachmittags zu einer Vorführung des alten surrealistischen Filmes »Le Sang d’un Poète«, zu dem Cocteau mir eine Karte geschickt hatte. Gewisse Szenen erinnerten mich an meinen Plan »Das Haus«, freilich nur durch die äußere Anordnung. So Einblicke durch die Schlüssellöcher einer Reihe von Hotelzimmern. In einem sieht man die Erschießung Maximilians von Mexiko, die sich in zwei Versionen wiederholt, in einem anderen den Unterricht im Fliegen, den ein kleines Mädchen mit Hilfe der Peitsche erhält. Das Universum als ein Bienenstock geheimer Zellen, in dem das beziehungslose Nebeneinander von Ausschnitten eines in manische Starre gebannten Lebens spielt. Die Welt als rational gebautes Irrenhaus.

Zu diesem Genre gehört es, daß die Surrealisten Lautréamont und Emily Brontë entdeckt haben, auch ihre seltsame Vorliebe für Kleist, von dem sie anscheinend nur das »Käthchen von Heilbronn« kennen, nicht aber sein »Marionettentheater«, in dem er das gefährliche Rezept gegeben hat. Andere, wie Klinger, Lichtenberg, Büchner und selbst Hoffmann, fielen ihnen nicht auf. Wenn man dahinterschaut, muß man sich fragen, warum nicht der Marquis de Sade Großmeister dieses Ordens ist.

Paris, 10. März 1943

Abends bei Baumgart in der Rue Pierre-Charron zu unserer üblichen Schachpartie. Bei diesem Spiel lernt man zwar nicht die absolute, doch eine spezielle Überlegenheit des Geistes kennen, eine Art von logischem Zwang und die dumpfe Reaktion dessen, der ihn erfährt. Das gibt uns eine Vorstellung von den Leiden der Dummköpfe.

Auf dem Rückweg lief ich meiner Gewohnheit nach schnell durch die Dunkelheit und stürzte dabei empfindlich über eines der Gatter, die zur Verhinderung von Attentaten vor den Dienstgebäuden stehen. Solange uns derartiges zustößt, sind wir noch nicht ganz vernünftig; solche Verletzung kommt aus dem Inneren heraus. Die Dinge, die uns so versehren, eilen wie aus den Gründen unseres Spiegelbildes auf uns zu.

»Geheimfriedhöfe«, ein Wort aus der modernen Etymologie. Die Leichen werden versteckt, damit sie der Konkurrent nicht ausgräbt und photographiert. Solche Lemurenhändel deuten das ungeheuerliche Wachstum der Bosheit an.

Paris, 11. März 1943

Zu Mittag bei Florence Gould. Dort Marie Louise Bousquet, die über ihren Besuch bei Valentiner berichtete:

»Mit einem Regiment von solchen jungen Leuten hätten die Deutschen Frankreich erobert ohne einen Kanonenschuß.«

Dann Florence über ihre Tätigkeit als Schwester in einem Operationssaal zu Limoges:

»Ich fand es bedeutend erträglicher, zu sehen, daß ein Bein abgeschnitten wurde, als eine Hand.«

Auch über die Ehe:

»Ich kann gut in der Ehe leben; das steht fest, weil ich zwei Mal glücklich verheiratet war. Nur mit Jouhandeau würde ich eine Ausnahme machen, weil er die schrecklichen Frauen liebt.«

Jouhandeau: »Ich bin aber nicht für Szenen, die man mir mit dem Tropfenzähler macht.«

Paris, 12. März 1943

Lektüre: »Contes Magiques«, von P’Ou Soung-Lin. Darin ein schönes Bild: ein Literat, der sich zum Holzhacken in entfernten Wäldern gezwungen sieht, rackert sich ab, bis er an Händen und Füßen »Blasen wie die Kokons der Seidenwürmer« bekommt.

In einer dieser Geschichten findet sich ein Mittel, durch das man erkennen kann, ob man es mit einer Dämonin zu schaffen hat. Man stelle das Wesen, an dessen menschlicher Eigenschaft man zweifelt, in die Sonne und sehe, ob ein Teil von seinem Schatten fehlt.

Wie wichtig das ist, erfährt man dann sogleich an einem höchst bösartigen Streich, den eine dieser Zauberinnen einem jungen Chinesen spielt. Sie weiß ihn in einem Garten zu berücken, so daß er sie umarmt, doch gleich darauf mit einem furchtbaren Schmerzensschrei zu Boden fällt. Es stellt sich heraus, daß er ein großes Holzscheit umfangen hat, mit einem hineingebohrten Loch, in dem ein giftiger Skorpion mit seinem Stachel lauerte.

Unter den Witzen, die im »Raphael« bei Tisch kursieren, sind recht gelungene, wie etwa:

»Die Butterquote wird steigen, wenn die Führerbilder entrahmt werden.«

Vielleicht gibt es Chronisten, die über die Witze, die diese ganzen Jahre begleiteten, Tagebuch geführt haben. Das wäre lohnend, denn ihre Aufeinanderfolge ist aufschlußreich.

Es gibt auch eine stilistische Unhöflichkeit, die etwa in Wendungen wie »nichts weniger als« oder »ne pas ignorer« zutage tritt. Sie gleichen Knoten, die man in den Faden der Prosa flicht und deren Lösung man dem Leser überläßt. Die kleinen Kokkelskörner der Ironie.

Paris, 14. März 1943

Nachmittags bei Marcel Jouhandeau, der ein Häuschen in der Rue du Commandant Marchand bewohnt, die mir seit langem unter den Pariser Winkeln besonders gefällt. Wir saßen mit seiner Frau und Marie Laurencin in seinem Gärtchen, das, obwohl kaum breiter als ein Handtuch, doch eine Menge Blumen trug. Die Frau erinnert an die Masken, die man in alten Weinbergdörfern trifft. Sie bannen uns weniger durch ihr Mienenspiel als durch die Starrheit, die von ihren hölzernen und grell bemalten Gesichtern strahlt.

Wir machten einen Rundgang durch die Wohnung, die, abgesehen von der kleinen Küche, in jedem ihrer drei Stockwerke einen Raum umfaßt – unten einen kleinen Salon, in der Mitte das Schlafzimmer und oben, fast wie das Observatorium einer Sternwarte, eine zum Wohnen eingerichtete Bibliothek.

Die Wände des Schlafzimmers sind schwarz gestrichen und mit goldenen Ornamenten verziert, dazu chinesische Möbel aus rotem Lack. Der Anblick dieser stillen Kammer war beklemmend, doch weilt Jouhandeau in ihr gerne und arbeitet auch hier in aller Frühe, wenn die Frau noch schläft. Sehr schön erzählte er, wie dann die Vögel nach und nach erwachen und sich in ihren Melodien ablösen.

Es kam dann noch Heller, und wir setzten uns in die Bibliothek. Jouhandeau zeigte uns seine Manuskripte, von denen er mir eines schenkte, seine Herbarien, seine Sammlungen von Lichtbildern. In einer Mappe von Bildern seiner Hausfrau fanden sich auch Nacktaufnahmen, aus ihrer Tänzerinnenzeit. Doch überraschte mich das wenig, da ich aus seinen Büchern wußte, daß sie vor allem im Sommer sich gern in diesem Zustand in ihrer Wohnung bewegt und so auch Lieferanten, Handwerker oder den Gasmann abfertigt.

Gespräche. Über den Großvater von Frau Jouhandeau, einen Briefträger, der um vier Uhr morgens seinen Weinberg bestellte, bevor er die Post austrug. »Die Arbeit an diesem Weinberg war sein Gebet.« Er hielt den Wein für die Universalmedizin und gab davon auch den Kindern, wenn sie krank waren.

Dann über Schlangen, von denen ein Freund des Hauses einmal ein Dutzend mitbrachte. Die Tiere zerstreuten sich in der Wohnung; man traf sie noch monatelang unter den Teppichen. Eines von ihnen hatte die Gewohnheit, sich abends am Fuße einer Stehlampe emporzuschlingen; es ringelte sich um die Taille des Lampenschirms, die am wärmsten war.

Wieder bestätigte sich hier mein Eindruck von den Pariser Straßen, Häusern und Wohnungen: sie sind Archive einer von altem Leben durchwebten Substanz, bis zum Rande gefüllt mit Belegstücken, mit Erinnerungen aller Art.

Abends Krankenbesuch bei Florence; sie hat sich im Hause von Céline den Fuß verletzt. Sie erzählte, daß dieser Autor trotz seinen großen Einnahmen stets an Geldmangel leidet, weil er alles den Straßenmädchen zuwendet, die ihn mit ihren Krankheiten aufsuchen.

Wenn alle Gebäude zerstört sein werden, bleibt doch die Sprache bestehen, als Zauberschloß mit Türmen und Zinnen und mit uralten Gewölben und Gängen, die niemand je erforschen wird. Dort, in den Schächten, Oublietten und Bergwerken, wird man noch weilen können und dieser Welt verlorengehen.

Beendet die »Contes Magiques«. In diesem Buch erfreute mich der Satz:

»Hienieden sind nur die Menschen hohen Geistes einer großen Liebe fähig, da sie allein nicht die Idee den äußeren Reizen aufopfern.«

Paris, 17. März 1943

Zum »Arbeiter«. Die Zeichnung ist genau, doch gleicht er einer scharfgestochenen Medaille, der die Rückseite fehlt. Es wäre in einem zweiten Teil zu schildern die Unterstellung der beschriebenen dynamischen Prinzipien unter eine ruhende Ordnung von höherem Rang. Wenn das Haus eingerichtet ist, gehen die Mechaniker und die Elektrotechniker hinaus. Wer aber wird Hausherr sein?

Wer weiß, ob sich für mich noch einmal die Zeit, hier wieder anzuspinnen, finden wird? Doch glückte Friedrich Georg in dieser Richtung mit seinen »Illusionen der Technik« ein bedeutender Schritt. Das zeigt, daß wir doch wahre Brüder sind, im Geist noch ungetrennt.

Blut und Geist. Die oftmals festgestellte Verwandtschaft spiegelt sich auch in der Zusammensetzung, insofern der Unterschied von Blutkorpuskeln und Serum auch seine geistige Entsprechung hat. Es ist hier eine materielle und eine spirituelle Schicht zu unterscheiden, ein Doppelspiel der Bilder- und Gedankenwelt. Doch sind im Leben beide eng verbunden und setzen sich nur selten voneinander ab. Die Bilder rollen in der Gedankenflut dahin.

Entsprechend läßt sich eine seröse und eine korpuskulare Prosa unterscheiden; es gibt Grade der Anreicherung mit Bildern bis zum Hamannschen Hieroglyphenstil. Auch gibt es seltsame Durchdringungen wie bei Lichtenberg. Hier handelt es sich um einen durch den Intellekt gebrochenen Bilderstil, um eine Art von Mortifikation. Man könnte, um im Vergleich zu bleiben, sagen, daß beide Elemente sich voneinander abgeschieden hatten und dann zu künstlicher Verbindung zusammengeschüttelt worden sind. Der Ironie muß immer ein Bruch vorausgegangen sein.

Paris, 20. März 1943

Mittags Gespräch mit dem Präsidenten über Hinrichtungen, deren er in seiner Eigenschaft als Oberstaatsanwalt eine große Zahl gesehen hat. Über die Typen der Henker; es melden sich vor allem Pferdeschlächter zu dem Beruf. Diejenigen, die noch mit dem Beil köpfen, haben den Guillotinisten gegenüber einen gewissen Künstlerstolz, das Bewußtsein der Hand- und Maßarbeit.

Bei der ersten Hinrichtung unter Kniébolo: der Henker, der zum Köpfen den Frack ausgezogen hatte, meldete sich in Hemdsärmeln, den Zylinder schief auf dem Kopfe, in der linken Hand das bluttriefende Beil, die Rechte zum »Deutschen Gruß« erhoben: »Hinrichtung ausgeführt.«

Die Hirnanatomen, die den Schädel und seinen Inhalt möglichst frisch fixieren wollen, lauern auf den Hieb wie die Aasgeier. Einmal, vor der Hinrichtung eines Mannes, der sich in seiner Zelle aufgeknüpft hatte, doch lebend abgeschnitten worden war, sah man sie in Scharen am Fuße des Schafotts. Es wird behauptet, daß sich gerade nach dieser Art des Selbstmordversuchs im späteren Leben eine besondere Geisteskrankheit einstelle und diese Disposition sich schon frühzeitig in Veränderungen des Gehirns andeute.

Nachmittags in Saint-Gervais, einer Kirche, die ich zum ersten Mal betrat. Die engen Gassen, die sie umringen, bewahren ein Stück Mittelalter auf. Das Unersetzliche an diesen Bauten: mit jedem wird ein Stück Wurzelwerk zerstört. In der Kapelle der Sankta Philomela, einer mir unbekannten Heiligen. Dort sah ich eine Sammlung von Herzen, aus denen wie aus runden Fläschlein Flammen brachen, manche in Kupfer, andere in Bronze, wenige in Gold. Das schien mir ein guter Ort, die Wendung zu bedenken, mit der das Jahr im Kaukasus begann.

Durch das Gewölbe dieser Kirche schlug am 29. März 1918 eine Granate des deutschen »Parisgeschützes« und tötete eine Menge der Gläubigen, die dort den Karfreitag feierten. Ihrem Gedächtnis ist eine besondere Kapelle gewidmet, deren Fenster ein Spruchband mit der Inschrift: »Hodie mecum eritis in paradiso« ziert.

Dann an den Quais, um Bücher zu besehen. Das ist immer eine Stunde, die mich besonders befriedigt, eine Oase in der Zeit. Ich erstand dort »Le Procès du Sr. Edouard Coleman, Gentilhomme, pour avoir conspiré la Mort du Roy de la Grande Bretagne«. Hambourg 1679.

Wie ich von Florence höre, sagte Jouhandeau über meinen Besuch bei ihm, ich sei »difficile à développer«. Das könnte das Urteil eines Seelenphotographen sein.

Moisson, 21. März 1943

Abfahrt nach Moisson, wohin ich zu einem Lehrgang kommandiert wurde. Vom Bahnhof Bonnières marschierten wir das Seinetal entlang und sahen zur Linken, am jenseitigen Ufer, eine Kette von Kreideklippen aufragen. Vor ihnen erhoben sich Schloß und Burg La Roche-Guyon und auch ein einsamer Glockenturm, der über dem Gewölbe der Höhlenkirche von La Haute Isle errichtet ist.

Ich wohne bei einem alten Geistlichen namens Le Zaïre, der sein Leben als Jesuit in China verbrachte, um dort christliche Kirchen zu bauen, und der den Rest seiner Tage dieser auf dürftigem Boden gelegenen und unbegehrten Pfarre gewidmet hat. Sein Blick ist kindlich angenehm, obwohl ein Auge erblindet ist. Ich führte mit ihm ein Gespräch über Landschaften und fand ihn der Meinung, daß es nicht lohne, weit zu reisen, da man überall die gleichen Bildungen treffe – einige wenige Muster seien die Grundlage.

Das ist der Gedanke eines Abgewandten, der das Leben jenseits des Prismas liebt und der auch sagen könnte, daß sich der Blick aufs Spektrum nicht lohne, da sein Band bereits im Sonnenlicht enthalten sei. Doch wird, so muß man hier erwidern, mit dem Bande dem Menschenauge zugleich die Sichtbarkeit der Farben verliehen als köstliches Geschenk.

Die Unterhaltung gemahnte mich an einen meiner frühen Zweifel: ob nicht beim Rücktritt in die Einheit uns ein Genuß verlorengehe, den nur die Zeit und nur die Mannigfaltigkeit gewähren können, und ob sich nicht gerade darin der Grund zu unserer Existenz verberge, daß Gott der Individuation bedürftig sei. Ich hatte das Gefühl so oft beim Anblick der Insekten und Meerestiere und all der unerhörten Wunder der Lebensflut. Der Schmerz ist tief bei dem Gedanken, daß es eines Tages von all dem Abschied zu nehmen gilt.

Demgegenüber ist zu sagen, daß wir beim Rücktritt Organe gewinnen werden, die wir nicht kennen, obwohl sie in uns angelegt und vorgebildet sind, wie etwa die Lungen im Kind, das die Mutter im Schoße trägt. Die körperlichen Augen werden gleich unserer Nabelschnur verdorren; wir werden mit einer neuen Sehkraft ausgestattet sein. Und wie wir hier die Farben im Aufgeteilten sehen, so dort mit höherem Genuß ihr Wesen im ungeteilten Licht.

Abends Gespräch über den Osten, auch über Kannibalismus; es wurde behauptet, daß insbesondere der Genuß von Hoden beobachtet worden sei. Dem soll nicht bloßer Hunger zugrunde liegen; so will man Partisanen gefangen haben, die sie zum Tauschen, etwa gegen Zigaretten, im Brotbeutel mitführten.

Bei solchen zoologischen oder auch dämonischen Zügen der untersten Zone fällt mir stets Baader mit seiner Lehre ein. Rein ökonomische Doktrinen müssen notwendig dem Kannibalismus zuführen.

Moisson, 23. März 1943

Neue Genüsse, die ich hier kennenlernte: Der Anblick der Pfirsichblüte, in der sich ein wunderbares Erwachen aus dem Winterschlaf vollzieht – so wie ein Schmetterling, der aus der dunklen Puppe kriecht, die Flügel reckt. Der dürre Boden der Felder und die grauen Mauern der Häuser werden durch diesen neuen Glanz erhöht; ein leichter, farbiger Schleier erheitert sie. Dabei ist diese rosa Blüte sparsamer als die weiße, und doch insofern viel mehr Blüte, als sie am kahlen Ast ausschlägt. Daher ist auch der Eindruck auf das Gemüt bedeutender. Der zarte Vorhang, mit dem das Jahr sein Zauberspiel beginnt.

Sodann das Morgenfeuer im Kamin. Ich schichte am Abend im kalten Zimmer den Holzstoß mit trockenen Reben und Eichenscheiten vor, den ich dann morgens eine halbe Stunde vor dem Aufstehen anzünde. Der Anblick des offenen Feuers mit seiner Wärme und seinen Strahlen ermuntert und heitert den Beginn des Tageslaufes auf.

Moisson, 26. März 1943

Vormittags Felddienst auf der trockenen, mit weißlichgrauen und grünen Flechten bedeckten Heide, die hier und dort von Birken und Kiefern bewachsen ist. Wir werden durchlebten Dingen in Spiralbewegung wieder zugewandt und überwinden sie – sie werden für uns, wenn nicht bedeutungslos, dann Stoff zu höherem Triumph. So geht es mir mit diesem Ersten und Zweiten Krieg. Im Sterben soll noch einmal der Lebenslauf an uns vorüberziehen – dann wird der Zufall geweiht durch das Notwendige. Ihm wird ein höheres Siegel aufgeprägt, nachdem im Schmerz das Siegelwachs zerschmolz.

Es war auf dieser Heide mit ihren Kiefernstücken schon tüchtig heiß. Im Mittagslicht sah ich ein Tier vorüberschwirren, das mir fremd erschien: ein Wesen, das in zartrosa und opalenem Glanze gläserne Flügel regte und wie Schleppen oder Fahnen zwei lange, schön gebogene Hörner nach sich zog. Doch dann erkannte ich in ihm das Männchen des Zimmerbockes, das ich zum ersten Mal im Fluge sah. In solchem blitzschnellen Einblick liegt ein großes Glück verborgen; wir ahnen geheime Gründe der Natur. Das Tier erscheint in seinem eigentlichen Wesen, in seinen Zaubertänzen und der Montur, wie sie Natura ihm verliehen hat. Das ist einer der äußersten Genüsse, die das Bewußtsein uns gewähren kann: Wir dringen in die Tiefe des Lebenstraumes ein und existieren in den Geschöpfen mit. Es ist, als ob auf uns ein Fünkchen überspränge von der ungemeinen, unreflektierten Lust, die sie erfüllt.

Am Nachmittag machte ich mit Münchhausen und Baumgart zum zweiten Mal den Ausflug nach Haute Isle und La Roche-Guyon. In dieser Landschaft mit ihren steilen und vielfach ausgehöhlten Kreideklippen, die den Flußlauf wie Orgelpfeifen begleiten und überhöhen, liegt ein Zug, der spüren läßt, daß sie bereits vor grauen Zeiten von Menschen besiedelt war. Die Aufeinanderfolge tritt in La Roche-Guyon zutage – man sieht im weißen, von Efeu übersponnenen Felsen die dunklen Mündungen von tiefen und weitverzweigten Höhlen, von denen manche noch als Speicher und Ställe dienen; dicht neben ihnen dann die ungefügen Festungsbauten aus der Normannenzeit und endlich im Vordergrund das stolze Schloß mit seinen Türmen, wie es im Laufe milderer Jahrhunderte erwuchs. Doch unter allem sind wie tiefe Keller, in denen der Geist der Urzeit webt, die Höhlen noch erhalten, mit Bändern aus Feuerstein, vielleicht mit Schätzen, mit Gold und Waffen, mit Erschlagenen, mit riesenhaften Ahnen, ja auch mit Drachen in manchem geheimen und eingestürzten Gang. Das spürt man selbst in der freien Luft, als magische Präsenz.

Paris, 27. März 1943

Am Abend Rückfahrt nach Paris, nachdem ich am Vormittag neben dem Kamin im Tagebuch mancherlei Nachtragungen gemacht hatte. Im »Raphael« fand ich schon Stöße von Geburtstagspost – ich las zunächst die Briefe der Bekannten und Klienten, dann der Vertrauten und endlich der Nächsten, vor allem von Perpetua und Friedrich Georg.

Perpetua teilt mir Träume mit. Sie warf ein Netz aus, um einen Fisch zu fangen, statt dessen zog sie mit großer Mühe einen Anker aus dem Wasser und fand darin die Worte eingeritzt: »Persischer Diwan, 12. 4. 98. Rimbaud an seine letzten Freunde.« Sie rieb den Rost herunter und erkannte, daß der Anker aus purem Gold gebildet war.

Den Rang der Nächsten dürfen wir uns zurechnen. Der Stand auf gutem Boden, am rechten Ort wird offenbar. Desgleichen spricht die Untreue von Schülern, Freunden, Geliebten gegen uns. Noch mehr ihr Selbstmord: er bezeugt unsicheren Grund. Wenn wir wie Sokrates ins Unglück fallen, muß noch ein letztes Symposion möglich sein.

Paris, 28. März 1943

Bei Valentiner. Er brachte mir aus Berlin einen Brief von Carl Schmitt mit einem Traumbild, das dieser in den Morgenstunden für mich notiert hatte. Darin auch ein Zitat aus Oetingers »Geheimnis vom Salz«:

»Habt Salz in Euch zum Frieden, oder Ihr werdet mit einem anderen Salze gesalzen werden.«

Das erinnerte mich an mein Bild vom Einfrieren und Auftauen.

Paris, 29. März 1943

Da in der Nacht die Uhr um eine Stunde vorgestellt wurde, sprang ich mit einem Satz ins neue Lebensjahr. Aus einem Traum erwachend, kritzelte ich auf einen Zettel, den ich dann beim Aufstehen fand:

»Evas Plazenta. Der Mad (t) reporen-Stock.«

Die Einsicht, wenn ich mich recht entsinne, war etwa diese: die physische Nabelschnur wird durchschnitten, die metaphysische bleibt bestehen. Aus diesem Zusammenhang erwächst ein zweiter, unsichtbarer Stammbaum vom Grunde der Lebensflut. Durch seine Adern sind wir stets verbunden und haben auch mit jedem, der jemals lebte, mit allen Geschlechtern und Heeren der Toten Kommunion. Wir sind mit ihnen durch ein Fluidum verwoben, das in den Träumen und ihren Bildern wiederkehrt. Wir wissen voneinander mehr, als jeder ahnt.

Wir haben zwei Arten, uns fortzupflanzen, sowohl durch Knospung als auch durch Kopulation. Im zweiten Sinne zeugt uns der Vater, im ersten stammen wir von der Mutter ganz allein und stehen in immergrünem Zusammenhang. In diesem Sinn gibt es für die gesamte Menschheit nur einen Geburts- und einen Sterbetag.

Freilich hat das Mysterium auch einen paternitären Pol, insofern sich in jeder Zeugung ein geistiger Akt verbirgt und dieses Verhältnis bei der Zeugung des absoluten Menschen in seiner reinsten Höhe zum Ausdruck kommen muß. So entspricht »Der Mensch«, sowohl was die männliche als auch was die weibliche Seite seines Ursprungs betrifft, der äußersten Möglichkeit.

Übrigens läßt sich der doppelte Ursprung auch aus den Gleichnissen ablesen. Sie lassen sich einteilen in solche, in denen die materielle, und in andere, in denen die geistige Herkunft vorwaltet: der Mensch spricht als Lilie, als Senf- und Weizenkorn; er spricht auch als Himmelserbe und des Menschen Sohn.

Um neun Uhr rief mich Speidel aus Charkow an und wünschte mir über die ungeheure Entfernung hin als erster Glück. Der Tag verlief heiter und angenehm. Abends mit Heller und Valentiner bei Florence, mit der sich heute die Bekanntschaft jährt. Wir nahmen unsere damals über den Tod geführte Unterhaltung wieder auf.

Paris, 30. März 1943

Abends beim Oberleutnant von Münchhausen, mit dem ich während der Übung in Moisson Bekanntschaft schloß. Er stammt, ähnlich den Kleists und Arnims oder den Keyserlings im Osten, aus einem unserer geistigen Geschlechter, was ihm wohl anzumerken ist. Ich traf dort auch seinen Arzt, einen russischen Emigranten, Professor Salmanoff.

Kamingespräch über Kranke und Ärzte; ich fand in Salmanoff seit Celsus, bei dem ich in Norwegen weilte, und Weizsäcker, der mich in Überlingen kurz besuchte, den ersten Arzt mit allgemeineren Ideen und hätte wohl Lust, mich seinen Händen anzuvertrauen. Er geht vom Ganzen aus und damit auch von der Zeit als Ganzem, die er als krank bezeichnet – es sei für den Einzelnen, der in ihr lebt, ebenso schwierig, gesund zu sein, wie für einen Wassertropfen in einem stürmischen Meer, nicht in Bewegung zu sein. Als besonderes Zeitübel sieht er die Neigung zu Konvulsion und Krampf. »Umsonst ist der Tod« – das heißt, daß man seine Gesundheit verdienen muß, und zwar durch eine gemeinsame Anstrengung von Krankem und Arzt. Im Kranken beginnt das Kranksein oft als moralisches Übel, das sich dann in den Organen ausbreitet. Wenn der Kranke sich in dieser moralischen Schicht nicht zur Gesundung willig zeigt, muß der Arzt die Behandlung ablehnen; er würde nur unverdientes Honorar beziehen.

Salmanoff zählt zweiundsiebzig Jahre, studierte und heilte in fast allen europäischen Ländern und auf mehreren Kriegsschauplätzen und verließ, als er bereits in reiferem Alter stand und Professor an einer Universität geworden war, die Schulmedizin, um in der Praxis sein Wissen noch einmal aufzubauen. Zu seinen Patienten gehörte Lenin, von dem er behauptet, daß der Grund zu seinem Tode die Langeweile gewesen sei. Seine wesentliche Fähigkeit sei die des Konspirierens und der Bildung von kleinen revolutionären Gruppen gewesen – auf der obersten Stufe und im Besitz der unangezweifelten Autorität sei er in die Lage eines Schachspielers geraten, der keinen Partner findet, oder in die eines vorzüglichen Beamten, den man vorzeitig pensioniert.

Das wesentliche Honorar Salmanoffs bestand darin, daß er bei seinen Besuchen Lenin einen kleinen Zettel mit den Namen von Verhafteten überreichen konnte, deren Freilassung dann verfügt wurde. Lenin verschaffte ihm auch den Paß, der ihm und seiner Familie die Auswanderung ermöglichte.

Salmanoff glaubt nicht, daß man die Russen besiegen kann; sie würden aber in sich verändert, gereinigt aus dem Kriege auftauchen. Der Angriff hätte gelingen können, wenn eine höhere Moral ihn unterstützt hätte. Ferner sagt er ein Bündnis zwischen Rußland und Deutschland nach Ablauf von wenigen Jahren voraus.

Paris, 31. März 1943

Während der Mittagspause im Musée de l’Homme, dessen Doppelwesen von rationaler Geistigkeit und Zauberkunst ich immer wieder bewundere. Ich sehe es als eine scharf gestochene Medaille, die ganz aus uralt dunklem, radioaktivem Metall besteht. Entsprechend unterliegt der Geist einer doppelten Einwirkung – sowohl der systematisch anordnenden Intelligenz als auch der unsichtbaren Ausstrahlung der von ihr angehäuften magischen Substanz.

Abends mit Baumgart Schach im »Raphael«. Anschließend Unterhaltung mit ihm und Weniger, der 1915 als Artillerist mit mir in Monchy war. Er bereist die Truppe, um Vorträge zu halten und dann in Nachtgesprächen die Offizierkorps zu sondieren, und meinte, daß heut um die bedeutenderen Generale eine Bewegung sei, die an den Spruch im Matthäus-Evangelium erinnere: »Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines anderen warten?«

Paris, 1. April 1943

Mittags bei Florence, bei der ich Giraudoux und Madame Bousquet sah. Sie schenkte mir einen Brief von Thornton Wilder für meine Sammlung von Handschriften.

Briefe. Merkwürdig, daß ich an die Frauen, die mir am nächsten stehen, so flüchtig schreibe, so wenig Wert auf Stil lege. Beruht vielleicht auf dem Gefühl, daß Briefe hier fast überflüssig sind. Man ist in der Materie.

Mühe dagegen gebe ich mir immer, wenn ich an Friedrich Georg schreibe, auch an Carl Schmitt und zwei, drei andere. Die Anstrengung gleicht der des Schachspielers, für die der Partner entscheidend ist.

Paris, 3. April 1943

Nachmittags in der Rue Lauriston zu einem türkischen Kaffee bei Banine, einer Mohammedanerin aus dem südlichen Kaukasus, deren Roman »Nami« ich kürzlich las. Ich fand darin Stellen, die mich an Lawrence erinnerten, auch eine ähnliche Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Körper und seiner Vergewaltigung. Merkwürdig, wie weit der Mensch sich von seinem Körper, von seinen Muskeln, Nerven, Sehnen wie von einem Instrument aus Tasten und Saiten entfernen kann – als Fremder lauschend der Melodie, die durch das Schicksal angeschlagen wird. Diese Begabung schließt immer die Gefahr besonderer Verletzung in sich ein.

Paris, 3. April 1943

Nachmittags bei Salmanoff, der seine Sprechstunde in einem kleinen, ganz mit Büchern vollgestopften Zimmer hält. Während er mich ausfragte, studierte ich die Titel, die mir Vertrauen einflößten. Gründliche Untersuchung; er fand die kleine Verwachsung, die von meinem Lungenschuß zurückgeblieben ist. Diagnose und Vorschriften sind einfach; er meinte, in drei Monaten würde ich mit mir zufrieden sein. Speramus.

Übrigens unterscheidet er sich von meinem guten Celsus dadurch, daß er Pharmaka, wenn auch bescheiden, anwendet. Stets haftet auch den besten Ärzten ein wenig vom Scharlatan an; man könnte ein Schema ihres Umgangs mit den Patienten anlegen. So ein Prophetenwesen – sie stellen eine Frage, die, gleichviel ob bejaht oder verneint, ihr Ansehen erhöht. Im ersten Falle war es eine tiefsinnige Erwägung, die sie leitete, im zweiten nehmen sie Divination in Anspruch: »Sehen Sie, das habe ich mir gedacht.«

So bin ich leicht verstimmt; das hängt mit der überscharfen Beobachtung zusammen, mit der ich gestraft bin wie andere mit einem übermäßig feinen Geruchsorgan. Allzu deutlich sehe ich die Winkelzüge, die den Menschen nun einmal eigentümlich sind. In Zeiten der Schwäche, der Krankheit nimmt das noch zu. Da sah ich zuweilen die Ärzte an mein Lager treten, als ob ich sie mit Röntgenstrahlen durchleuchtete.

Der gute Stilist. Er wollte eigentlich schreiben: »Ich habe recht gehandelt«, doch setzte er dafür »unrecht«, weil es besser in den Satz paßte.

Paris, 4. April 1943

Sonntag. Als ich mich nach dem Essen im »Raphael« umzog, ertönte Fliegeralarm, zugleich mit dem Feuer der Artillerie. Vom Dach aus sah ich am Horizont eine hohe Rauchwand stehen, während die Bomber sich bereits entfernt hatten. Es scheint, daß so ein Angriff kaum länger als eine Minute währt.

Dann, da die Métro stillag, Spaziergang zu Georges Poupet in der Rue Garancière. Es war ein herrlich milder und blauer Frühlingstag. Während sich in den Vorstädten noch Hunderte im Blute wälzten, promenierten die Pariser in Massen unter den grünen Kastanien der Champs-Elysées. Dort stand ich lange vor der schönsten Gruppe von Magnolien, die ich jemals sah. Die eine blühte blendendweiß, die zweite zartrosa, die dritte purpurrot. Es lag das Frühlingszittern in der Luft, der Zauber, den man in jedem Jahre einmal spürt, als Schwingung kosmischer Liebeskraft.

Bei Poupet traf ich das Ehepaar Mégret. Gespräche über Krieg und Frieden, über die Teuerung, über Hercule und über die Anarchisten von 1890, denn ich studiere gerade den Prozeß gegen Ravachol. Mégret erzählte, daß Bakunin, als er eines Tages im Wagen an einem Haus vorüberfuhr, das abgerissen wurde, hinaussprang, den Rock abstreifte und eine Hacke ergriff, um mitzutun. Das sind groteske Vortänzer der Vernichtungswelt; sie führen vor den Augen erstaunter Bürger den roten Reigen an.

Noch kurz in Saint-Sulpice. Ich sah dort die Wandgemälde von Delacroix, die in den Farben gelitten haben, und die zierliche Orgel der Marie Antoinette, deren Tasten auch von Gluck und Mozart berührt worden sind. Unter dem Herzen der Kirche sangen zwei alte Frauen einen lateinischen Text; ein Greis, der gleichfalls sang, begleitete sie auf dem Harmonium. Die schönen Stimmen, die aus den verbrauchten Körpern aufstiegen, aus den verdorrten Kehlen, an denen das Spiel der Sehnen und Knorpel sichtbar war, und aus den von Falten umringten Mündern, bezeugten die ewigen Melodien, die auf brüchigen Instrumenten möglich sind. Auch unter diesem Gewölbe, ganz ähnlich wie in Sankt Michael zu München, herrscht rationale Theologie und astronomische Geisteskraft. Wie oft an solchen Orten, erfaßten mich Gedanken über den Schöpfungsplan, den Geistesbau der Welt. Wer kennt die Rolle, die eine solche Kirche in der Menschengeschichte spielt?

Trotz vorgerückter Stunde ließ ich mich noch über die enge Wendeltreppe, die Huysmans in »Là-Bas« beschrieb, auf den höheren der beiden Türme führen, von dem aus die Sicht auf die Stadt vielleicht am schönsten gerundet ist. Die Sonne war eben gesunken, und herrlich strahlte das frische Grün des Luxembourg inmitten des silbergrauen Mauerwerks.

Es wird doch immer für die Menschen sprechen, daß sie zu solcher Bildung fähig gewesen sind, auch wenn man sie so niedrig in ihren Geschäften und Leidenschaften walten sieht. In dieser Art erstaunen die künstlichen und schillernden Gehäuse, die die Mollusken aus ihrem Schleim erzeugen und die noch lange am Meeresstrande leuchten, wenn die Körper, die sie bewohnten, vergangen sind. Sie zeugen, jenseits von Tod und Leben, für eine dritte Macht.

Paris, 5. April 1943

Bis heute mittag waren über zweihundert Tote gezählt. Einige Bomben trafen den Rennplatz von Longchamp, der dicht bevölkert war. Den Sonntagsspaziergängern, die aus den Métroschächten kamen, stürzte eine Menge von atemlosen Verwundeten entgegen, Menschen mit zerfetzten Kleidern, die sich den Kopf oder einen Arm hielten, eine Mutter mit blutendem Kind an der Brust. Durch einen Treffer auf eine Brücke wurden viele Passanten, deren Leichen man nun auffischt, in die Seine gefegt.

Zur gleichen Minute flanierte am anderen Rande des Wäldchens eine heitere Menge geputzter Menschen im Genuß der Bäume, der Blüten, der milden Frühlingsluft. Das ist der Januskopf der Zeit.

Paris, 10. April 1943

Bei Fliegeralarm am Platz des Ternes. Gespräch auf dem Rondell neben dem kleinen Blumenstande, während den Schutzräumen zustrebende Menschen an uns vorbeieilten. Rhetorische Figuren – bei den kühnsten erhellten Feuerstöße fallender Bomben die Luft. Über die ausgestorbenen Straßen zum Stern, während Ketten von weißen, roten und grünen Geschossen jenseits des Waldes aufstiegen und in der Höhe zersprühten wie Funken beim Schmiedewerk. Das war ein Sinnbild des Lebensweges, ein Zauberflötengang.

Paris, 11. April 1943

Die menschlichen Begegnungen und Trennungen. Wenn eine Trennung sich vorbereitet, kommen Tage, an denen das ermattende Verhältnis sich noch einmal verdichtet und kristallisiert – an denen es in seiner reinsten, notwendigen Form erscheint. Und doch sind gerade sie es, die das Ende unwiderruflich bestätigen. So folgt auf eine Reihe von heiteren Tagen oft unbestimmtes Wetter, und dann kündet ein Morgen von besonderer Klarheit, an dem sich alle Berge und alle Täler noch einmal in ihrem vollen Glanze zeigen, den großen Klimasturz.

Darüber sinnend, stand ich heute morgen im Badezimmer und, wie damals vor meiner Rußlandfahrt, stieß ich ein Glas um, das zerbrach.

Die gute Prosa ist wie Wein und lebt auch weiter, entwickelt sich wie er. Da gibt es Sätze, die noch nicht wahr sind, doch ein geheimnisvolles Leben baut sie zur Wahrheit auf.

Auch ist die frische Prosa noch ein wenig roh; im Lauf der Jahre gewinnt sie Patina. Das merke ich oft alten Briefen an.

Beim Mittagessen Gespräch mit Hattingen über Uhren und Sanduhren. Im Rieseln der Sanduhr webt noch die unmechanisierte, die Schicksalszeit. Das ist die Zeit, die wir im Rauschen der Wälder spüren, im Knistern des Feuers, in der Brandung der Meeresflut, im Wirbel der Schneeflocken.

Sodann, obwohl es trübe war, kurz im Bois, nahe der Porte Dauphine. Ich sah dort Knaben im Alter von sieben bis neun Jahren spielen; Gesichter und Gestik erschienen mir ungemein ausdrucksvoll. Die Individuation erwacht hier eher und prägt sich schärfer aus. Doch hat man den Eindruck, daß in den meisten Fällen etwa mit sechzehn Jahren ihr Frühling erlischt. So überschreitet der Romane zu früh die Grenze, hinter der er fertig ist, während der Germane sie meist nicht erreicht. Aus diesem Grunde ist die Mischung günstig; zwei Mängel summieren sich zu einem Vorzuge.

Ich rastete am Fuße einer Ulme, die von blaßvioletten Nesseln umwuchert war. Die Blüten wurden von einer Hummel beflogen – während sie schwirrend über den Kelchen stand, sah man ihr sammetbraunes Korsett, den leicht gekrümmten Hinterleib, den aufgereckten Rüssel, der gleich einer schwarzen hörnernen Sonde zielend gerichtet war. Die Stirn trug eine goldgelbe Makel aus Blütenstaub, ein Mal, das durch die Fülle der Berührungen entstanden war. Merkwürdig war der Moment des Eintauchens; in ihm erfaßte das Tierchen mit den beiden Vorderbeinen die lange Blütenscheide und zog sie als Futteral über den Rüssel, fast wie es ein Narr zur Fastnacht mit einer künstlichen Nase tut.

Zum Tee bei Valentiner; ich traf dort Heller, Eschmann, Rantzau und die Doctoresse, Gespräch über Washington Irving, Eckermann und den Fürsten Schwarzenberg, auf dessen Betreiben in Wien ein ungeheures, noch unbearbeitetes Material über die europäischen Geheimgesellschaften zusammengetragen worden sein soll.

Paris, 12. April 1943

Lektüre: »Carthage Punique« von Lepeyre und Pellegrin. Die Eroberung dieser Stadt ist reich an Zügen, die dem gewaltigen Ereignis anstehen. Nachdem die Römer in die Mauern eingedrungen waren, verteidigten sich auf dem höchsten Tempel die zum Kampf bis auf den Tod Entschlossenen, darunter vor allem Hasdrubal mit seiner Familie und andere vornehme Karthager, dann aber auch neunhundert römische Überläufer, die nicht auf Gnade rechneten.

In der Nacht vor dem entscheidenden Angriff verläßt Hasdrubal heimlich die Seinen, um Scipio aufzusuchen, mit einem Ölzweig in der Hand. Scipio läßt ihn am Morgen vor den Tempel führen und stellt ihn, um sie zu entmutigen, den Verteidigern zur Schau. Diese jedoch, nachdem sie eine unendliche Menge von Schmähungen und Verwünschungen gegen den abtrünnigen Feldherrn ausgestoßen haben, stekken das Gebäude in Brand und stürzen sich in die Glut.

Es heißt, daß während der Brandlegung die Frau des Hasdrubal in einem der inneren Gemächer des Tempels sich mit ihren besten Gewändern rüstete; dann trat sie in vollem Schmuck mit ihren Kindern an die Brüstung und sprach zunächst den Scipio an. Sie wünschte ihm Glück für seinen Lebensweg – sie gehe ohne Groll von ihm, da er gehandelt habe, wie es nach Kriegsrecht billig sei. Sodann verfluchte sie den Gatten im Namen der Stadt und ihrer Götter wie auch im eigenen und dem ihrer Kinder und sagte sich auf ewig von ihm los. Darauf erdrosselte sie die Kinder und warf sie in die Flammen, und endlich stürzte sie sich in die Glut.

In solchen Konstellationen gewinnen die Menschen ein unheimliches Maß; die individuellen Gefäße füllen sich bis zum Rande mit symbolischem Gehalt. In dieser Frau tritt im Augenblick des Unterganges Karthago selbst auf die flammende Schaubühne, vor den zum letzten Opfer gerüsteten Altar. Sie segnet und verflucht mit furchtbarer, ihr zuströmender sakraler Kraft. Der Ort und die Umstände und der Mensch – alles ist dann gerüstet, und das Zufällige sinkt dahin. Das alte Baalsopfer, das Brandopfer an den Kindern, wird hier zum letzten Male wiederholt. Es wurde vollzogen, damit die Stadt bestehe; nun wird es, damit sie ewig lebe, dargebracht. Dann aber mag mit den Früchten auch der Stamm verbrennen; die Mutter bringt sich selber dar.

Paris, 13. April 1943

»Carthage Punique«. Zu jenen Zeiten waren die Beziehungen zwischen den Staaten plastischer, die Kraft der Abmachungen bindender. Bei dem berühmten Vertrag zwischen Hannibal und Philipp von Makedonien waren auch die Götter der beiden Partner anwesend, insbesondere die Kriegsgötter, vertreten durch die Vorsteher ihrer Priesterschaft.

Nach der Zerstörung der Stadt wurde ihr Platz verflucht. Er wurde mit Salz bestreut, zum Zeichen der Malediktion. Das Salz ist also hier Unfruchtbarkeitssymbol. Sonst gilt es als Sinnbild des Geistes; wir finden hier, wie überall in der Symbolik, den negativen und den positiven Pol. Das gilt besonders bei den Farben: Gelb für den Adel und den Pöbel, Rot für die Herrschaft und den Aufstand, Blau für das Wunderbare und das Nichts. Sicherlich wird diese Spaltung auch von Unterschieden der Reinheit begleitet, wie Goethe das in seiner Farbenlehre vom Gelb erwähnt. So darf man wohl das Salz der Malediktion sich als grob und ungereinigt vorstellen, im Gegensatz zum attischen, mit dem man an der Tafel des Geistes die Speisen würzt und dauerhaft erhält.

Kubin sandte aus Zwickledt wieder eines seiner Hieroglyphenschreiben, das ich bei größerer Muße meditierend entziffern will. Grüninger kündet Abschriften der letzten Briefe des Oberstleutnants Crome aus Stalingrad an. Es scheint, daß sich auf diesen verlorenen Posten eine starke Rückwendung zum Christentum vollzieht.

Paris, 14. April 1943

Besuch des Malers Hohly. Er überbrachte mir Grüße von Cellaris’ Frau und sagte, daß dieser trotz der langen Haft und seiner schweren Erkrankung geistig sehr rege sei. So darf man hoffen, daß er das Licht noch sieht. Das Gespräch erinnerte mich wieder an den furchtbaren Tag, an dem ich nach Berlin gefahren war und mit Cellaris’ Rechtsanwältin telefonierte – in der Millionenstadt vergeblich auf Zuspruch hoffend wie in der Wüste auf einen Trunk. In der Telefonzelle hatte ich den Eindruck, daß der Potsdamer Platz glühend war.

Abends in der Comédie Française, zur Premiere von Cocteaus »Renaud et Armide«. Ich sah, daß ich die beiden starken Stellen dieses Stückes, die mir bei der Vorlesung in der Rue Verneuil aufgefallen waren, gut im Gedächtnis behalten hatte: den Zaubergesang Armidens und Oliviers Gebet. An einem Talent wie dem von Cocteau ist gut zu beobachten, wie die Zeit ihre schmerzhaften Schlingen nach ihm wirft, wogegen die Substanz sich zu behaupten hat. Die magische Begabung wächst und schwindet, entsprechend den Schichten, in denen sie sich bewegt. In den dünnsten wird sie zur Seiltänzerei, zur Bouffonnerie.

Im Publikum viele bekannte Gesichter, ich sah auch Charmille.

Paris, 15. April 1943

Vormittags Gespräch mit Rademacher über die Kriegslage. Er hofft auf Cellaris und Tauroggen. Abends bei Salmanoff.

»Wenn die deutsche Intelligenz die russische so gut gekannt hätte wie die russische die deutsche, würde es nie zum Kriege gekommen sein.«

Dann über das Massengrab bei Katyn, in dem man Tausende von polnischen Offizieren, die in russische Kriegsgefangenschaft gerieten, gefunden haben will. Salmanoff hält das Ganze für eine Propagandaangelegenheit.

»Aber wie sollen die Leichen dorthin gekommen sein?«

»Wissen Sie, Leichen gibts heute ohne Ticket.«

Gespräch über Aksakow, Berdjajew und einen russischen Autor namens Rozanow. Salmanoff hat mir ein Buch von ihm besorgt.

Rückweg durch den Bois; der halbe Mond stand über dem frischen Grün. Trotz der Nähe der volkreichen Stadt herrschte völlige Stille; das brachte eine halb angenehme, halb beängstigende Wirkung hervor, wie etwa die einer Bühne vor einer gefährlichen Aufführung.

Paris, 16. April 1943

In den Morgenstunden bedeutsamer Traum über Kniébolo, verflochten mit Vorgängen in meinem Vaterhaus. Er wurde dort erwartet aus einem Grunde, der mir entfallen ist. Man traf allerlei Vorkehrungen, während ich mich, um ihm nicht zu begegnen, in entferntere Räume begab. Als ich wieder zum Vorschein kam, war er schon dagewesen; ich hörte Einzelheiten über den Besuch, darunter vor allem die, daß mein Vater ihn umarmt hatte. Auch beim Erwachen fiel mir besonders dieser Umstand auf. Ich entsann mich dabei der unheilvollen Vision, von der Benno Ziegler berichtete.

In Gesprächen über die Grausamkeit dieser Tage taucht oft die Frage auf, woher all die dämonischen Kräfte, wie die Schinder und Mörder, kommen, die doch sonst niemand sah und nicht einmal vermutete. Doch waren sie potentiell vorhanden, wie nun die Wirklichkeit erweist. Das Neuartige liegt in ihrer Sichtbarwerdung, in ihrer Freilassung, die ihnen erlaubt, den Menschen zu schädigen. Zu dieser Freilassung führte unsere gemeinsame Schuld: indem wir uns der Bindungen beraubten, entfesselten wir zugleich das Untergründige. Da dürfen wir nicht klagen, wenn das Übel uns auch als Individuen trifft.

Paris, 17. April 1943

Nachmittags im Park Bagatelle. Die starke Wärme dieser Tage drängt die Blüte symphonisch zusammen – zahllose Tulpen flammten auf den Rasenplätzen und auf den Inseln des kleinen Sees. In manchen Blüten, wie in den veilchenblauen und seidengrauen, so federleichten und doch an Schönheit schweren Trauben der Glyzinen, die an der Mauer niederhingen, schien Flora sich zu überbieten – das mündet in Märchen-, in Zaubergärten ein.

Ich fühle das immer als Lockung, als Versprechen ewiger Herrlichkeiten – als funkelnden Lichtstrahl aus Schatzkammern, deren Tür sich flüchtig geöffnet hat. Das Flüchtige ist das Verwelken, und doch sind diese Blütenwunder Sinnbilder eines Lebens, das nie verwelkt. Von dort kommt das Entzükken, das ihre Farbe und ihr Duft erwecken; sie sprühen bunte Funken in das Herz.

Ich sah auch die alte Freundin, die Goldorphe, wieder; ihr Rücken glühte im grünen Wasser der Grotten auf. Sie weilte hier still, während ich mich in Rußland bewegt habe.

Über die Perversionen – ob nicht Abneigung zwischen Vater und Mutter die Quelle ist? Dann müßten sie in Ländern und Gesellschaftsschichten, in denen die Vernunftehe herrscht, häufiger sein. Ebenso müßten sie bei Rassen von kühlem Blut vorwiegen und nicht umgekehrt, wie man gemeinhin glaubt. Durch die Begattung vererbt sich der Haß, der Widerwille gegen das andere Geschlecht. Das ist das Fundamentale, anderes kommt hinzu. Natürlich findet auch eine Auslese statt; die Natur bevorzugt die Früchte der lustvollen Zeugungen. Vielleicht wird aber das Individuum durch Geist entschädigt – geniale Naturen sind oft Früchte von Alterszeugungen, wie Baudelaire; man denke auch an die skurrile Art, in welcher Vater Shandy die Uhr aufzieht.

Die Zusammenhänge sind wenig erforscht, entziehen sich auch dem wissenschaftlichen Blick. Man müßte in die Geheimgeschichte ganzer Familien, ganzer Stämme eindringen.

Gegen die These könnte man einwenden, daß es bäuerliche Landschaften gibt, in denen die Vernunftehe seit Menschengedenken üblich ist. Dort ist indessen auch die Individuation weniger fortgeschritten; jeder gesunde Mensch ist dem anderen recht. Außerdem reicht die Degeneration gewisser Landstriche an die der Großstädte heran, ist nur verborgener. Vielleicht sind auch die Erscheinungen verschieden; die Sodomie wird auf dem Lande häufiger sein als in der Stadt.

Übrigens kann das, was wir als Abweichung betrachten, durchaus mit einer tieferen Welteinsicht verbunden sein, und zwar gerade deshalb, weil der Blick dem Zwang, dem Schleier der Gattung nicht so unterliegt. Das fällt gemeinhin bei den Homosexuellen auf, die geistig urteilen. Daher sind sie dem geistigen Menschen immer dienlich, ganz abgesehen davon, daß ihr Umgang erheiternd ist.

Der Dreyfusprozeß ist ein Stück Geheimgeschichte – das heißt, solcher Geschichte, wie sie gemeinhin nicht sichtbar wird. Dergleichen bleibt sonst in den Labyrinthen, die unter den politischen Gebäuden verborgen sind. Man hat bei der Lektüre das Gefühl, mit einer Tabusache beschäftigt zu sein. Man nähert sich hier, wie bei der Mumie des Tutanchamon, sehr dichten Substanzen, daher ist auch die Unbefangenheit, mit der man junge Historiker wie Frank mit solchem Stoff hantieren sieht, beängstigend.

Berufswahl. Ich möchte ein Sternpilot sein.

Über die Selbsterziehung. Auch wenn man schwächlich geboren ist, kann man zu beachtlichen Graden der Gesundheit aufsteigen. Ebenso in der Wissenschaft; man kann sich vom Einfluß der schlechten Lehrer und der Vorurteile, die man in seiner Zeit vorfindet, durch Studium befreien. Viel schwieriger ist in gänzlich korrumpierter Lage auch der bescheidenste Fortschritt in der Moral. Hier berühren die Dinge den Grund.

Wenn ein Ungläubiger, etwa in einem atheistischen Staat, den Gläubigen den Eid abfordert, so gleicht das dem Verfahren eines betrügerischen Bankhalters, der erwartet, daß die Mitspieler echtes Gold auf sein Tuch legen.

In einem atheistischen Staatswesen gibt es nur eine Sorte von Eiden, die gültig sind, das sind die Meineide. Alles andere ist Sakrileg. Dem Türken dagegen kann man schwören und mit ihm Eide wechseln; das ist Tausch ohne Betrug.

Am Abend mit dem Propheten Maleachi die Lektüre des Alten Testamentes beendet, die ich am 3. September 1941 in Paris begann. Will morgen mit den Apokryphen anfangen.

Ferner begonnen »Esseulement« von Rozanow. Ich fühlte sogleich, daß Salmanoff mich hier an einen Geist verwiesen hat, der in mir Gedanken, wenn nicht anregt, so doch zur Auslösung bringt.

Paris, 18. April 1943

Zum Tee bei Marie Louise Bousquet, am Platz du Palais Bourbon, der sich durch die römische Strenge seiner Architektur auszeichnet. Diese alten und mit ererbten Dingen gefüllten Wohnungen haben sich im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte dem Menschen und seinem Wesen angepaßt wie Gewänder, die sich nach langem Tragen dem Körper in jeder Falte anschmiegen. Es sind Gehäuse im Sinne höherer Zoologie. Ich traf dort auch Heller, Poupet, Giraudoux und Madame Ollivier de Prévaux, eine Urenkelin von Liszt. Madame Bousquet – in deren Behandlung ich übrigens immer eine gewisse Behutsamkeit walten lasse wie ein Chemiker gegenüber Stoffen von unbestimmter Reaktion – zeigte mir die Bibliothek, die klein, quadratisch und ganz mit Holz getäfelt war. Ich betrachtete dort die Manuskripte, die Widmungen und die schönen Einbände. Sie waren zum Teil in genarbtem Leder gehalten, dessen Berührung den Genuß des Lesens verdoppelt, und in Farben, die man am Goldlack studieren kann – vom weichen, fast bis ins Schwarze vertieften Violett zu seinen helleren Schattierungen und vom dunklen Goldbraun zu goldgesprenkelten und goldgeflammten Mustern ausstrahlend.

Am Abend Rückweg durch die Champs-Elysées. Es war ein herrlicher Sonnentag. Ich war auch mit mir zufrieden, was ich notiere, da ich es so selten von mir sagen kann.

Beendet: Rozanow, »Esseulement«, einen der raren Punkte, an denen Autorschaft, eigenes Denken, in unserer Zeit gelang. Bei solchen Bekanntschaften will es mir immer scheinen, als ob sich eine der farblosen Stellen im Deckengewölbe füllte, das unseren Raum abschließt. Merkwürdig an Rozanow ist seine Verwandtschaft zum Alten Testament; so wendet er das Wort »Samen« genau in dessen Sinne an. Dieses Wort, auf den Menschen bezogen, als Symbol seiner Essenz, ist mir übrigens von jeher peinlich gewesen – ich fühlte einen Widerwillen dagegen, ganz ähnlich jenem, den Hebbel gegen das Wort »Rippe« empfand, das er aus seiner Bibel auskratzte. Wahrscheinlich wirken hier alte Tabuvorstellungen mit. Der spermatische Charakter des Alten Testamentes überhaupt, gegenüber dem pneumatischen der Evangelien.

Rozanow starb nach 1918 in einem Kloster; man sagt, daß er verhungert sei. Über die Revolution bemerkte er, daß sie scheitern werde, weil sie den Träumen nichts darbiete. Daran werde auch ihr Gebäude zugrunde gehen. Sympathisch, daß seine flüchtigen Aufzeichnungen, eine Art von plasmatischer Bewegung des Geistes, ihm in Augenblicken der Muße zugetragen werden – wenn er seine Münzsammlung sortiert oder sich nach dem Bad im Sande sonnt.

Paris, 19. April 1943