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Die Bände vier und fünf der »Sämtlichen Werke« enthalten mit »Siebzig verweht« die Tagebücher Jüngers aus den Jahren 1965 bis 1980, die wiederum mit der für ihn so charakteristischen Mischung aus Tagebuchnotaten, Briefen, Reflexionen und Kommentaren aufwarten. Dieser Band umfasst dabei die Jahre 1965 bis 1970. Deutlich rücken in diesen Tagebüchern die zeitkritische Sicht Jüngers und das Verhältnis des Autors zu seinem eigenen Werk ins Zentrum der Reflexionen. Der Gegenwartskunst steht er skeptisch gegenüber – jedoch nimmt er vieles davon erst gar nicht zur Kenntnis. Eingestreut sind zudem Berichte über die Arbeit an eigenen Werken, etwa den »Subtilen Jagden«, »Drogen und Rausch« oder der »Zwille«. Nicht nur als textgenetische Quelle interessant, sind die Tagebücher indes auch Ausdruck von Jüngers Selbststilisierung, die von der Kritik wiederum kontrovers bewertet wurde.
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Seitenzahl: 828
ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE
Tagebücher I-VIII
Band 1 Der Erste Weltkrieg
Band 2 Strahlungen I
Band 3 Strahlungen II
Band 4 Strahlungen III
Band 5 Strahlungen IV
Band 6 Strahlungen V
Band 7 Strahlungen VI, VII
Band 8 Reisetagebücher
Essays I-IX
Band 9 Betrachtungen zur Zeit
Band 10 Der Arbeiter
Band 11 Das Abenteuerliche Herz
Band 12 Subtile Jagden
Band 13 Annäherungen
Band 14 Fassungen I
Band 15 Fassungen II
Band 16 Fassungen III
Band 17 Ad hoc
Erzählende Schriften I-IV
Band 18 Erzählungen
Band 19 Heliopolis
Band 20 Eumeswil
Band 21 Die Zwille
Supplement
Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß
Sämtliche Werke 4
Tagebücher IV
Strahlungen III
Klett-Cotta
Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band entspricht der gebundenen Ausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter
Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin
Gesetzt von pagina, Tübingen
Datenkonvertierung: Lumina Datamatics GmbH
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96304-5
E-Book: ISBN 978-3-608-10904-7
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Wilflingen, 30. März 1965
Das biblische Alter ist erreicht – merkwürdig genug für einen, der in der Jugend niemals das dreißigste Jahr zu erleben gehofft hatte. Noch kurz vor dem dreiundzwanzigsten Geburtstag, im März 1918, hätte ich mit dem Teufel paktiert: »Gib mir dreißig Jahre, die aber sicher, und damit Punktum!«
Das aber nicht wegen der unmittelbar bevorstehenden großen Offensive, der ich eher mit Spannung und in der Hoffnung, daß wir das Schicksal noch einmal für uns wenden würden, entgegensah. In der Jugend ist eine trübe Grundstimmung häufig, als ob der Herbst seine Schatten vorauswürfe. Die Welt ist neblig, dunkle Blöcke ragen hervor. Allmählich wird die Sicht klarer; auch Leben muß gelernt werden.
Kann ich eine Erfahrung anläßlich des Datums mitteilen? Vielleicht diese: Die großen Abschnitte der Geschichte beginnen mit einer neuen Religion und jene im Leben des Einzelnen mit einem neuen Gebet. Das ist eine Wahrheit, aber kein Rezept. Beter und Träumer ist jeder, auch wenn er es nicht weiß. Er vergißt, was er im Schlaf getrieben und im Namenlosen verrichtet hat. Wenn es ernst wird, zerbricht auch die Form des Gebets.
*
Trotz den Anstrengungen der beiden letzten Tage gingen wir zur Schatzburg und blickten von der Ruine auf die einsamen Wälder hinab. Die Burg wurde unter Jos von Hornstein, dessen Leben, wie die Familienchronik sagt, »sich in Fehden bewegte«, während eines Streites mit dem Bischof von Augsburg niedergebrannt.
Hier hatte ich wieder Grund, mich des Stierleins zu freuen, und zwar über eine Bemerkung zur Archäologie. Das Gemäuer der Burg ist mit Ziegelscherben gefüttert, die, wie ich meinte, als Überreste einer früheren Bedachung zum Bau gedient hatten. Das Stierlein bewies mir jedoch, daß die Scherben in eine schon bestehende Mauer eingefügt sein müßten, und demonstrierte es vor der Wand. Eine archivarische Begabung erkennt man unter anderem am Blick für das Nacheinander, das sich im architektonischen Objekt verbirgt. Auch Kirchen und Schlösser haben ihre Genealogie. Das ist ein Puzzle von besonderem Reiz.
Der Tritt auf die Burgfläche klingt hohl; es muß ein Gewölbe unter ihr verborgen sein. Der Name reizte einen Wilflinger Sonderling zum Schatzgraben; es trug ihm Kleinfunde, wie Pfeilspitzen, ein, doch kein Gold.
Die Sonne schien warm auf den steil abfallenden Sporn des Burgberges. Am Fels erfreute sich ihrer eine braune, grüngestreifte Eidechse. Vielleicht war es ihr erster Ausflug im Jahr; jedenfalls duldete sie, daß ich sie behutsam streichelte. »Ist halt noch benommen vom Winterschlaf.«
Gut, doch ist, wenigstens klimatisch, vor allem nach einem Schlafe von so langer Dauer, ein Auferstehungsgefühl dabei. Im Erwachen überhöht es die vitale Existenz.
In der Kindheit haben mich solche Bilder oft beschäftigt; aus einem Schlafe mit Eltern und Geschwistern auf einem Lager tief unter den Pyramiden erwachte man alle hundert Jahre, und es genügte zum Glück, zu wissen, daß sie noch da waren. Dabei war keine Aussicht, störte keine Hoffnung den reinen Genuß der bis zur Grenze der Wahrnehmung gestreckten Zeit.
Auch der »gewöhnliche Schlaf« kann zwischen dem Erwachen und dem Wiedereinschlafen eine Ahnung dieses Wohlgefühls mitteilen. Stärker noch genießen es die Tiere; gern beobachte ich an meinen Katzen das behagliche Dahindämmern in der Sonne oder am Herd.
Wilflingen, 4. April 1965
Immer noch Mengen von Post. Man muß den Reaktor klein halten, damit er nicht außer Kontrolle gerät. Nietzsche wußte nicht, wie gut die Einsamkeit von Sils-Maria für ihn war.
Vor zwanzig Jahren untersagte Goebbels den Zeitungen, von meinem fünfzigsten Geburtstag Notiz zu nehmen, ohne zu wissen, welchen Gefallen er mir damit tat. Er hätte mich, wie der Fachausdruck lautet, »groß herausstellen« sollen, um mich wirklich zu schädigen. Allerdings hätte er bei dieser Kombination den eigenen Untergang in Rechnung ziehen müssen; diese Figur paßt nicht in den vorletzten Akt. Im letzten soll auch der Passagier dran glauben: »Batavia, Fünfhundertzehn«.
*
Nachmittags bei schönstem Osterwetter mit dem Stierlein Rundgang um die Kiesgrube und den Schinderbühl. Am Ausgang nach Sigmaringen entsteht ein neues Dorf. Der große Acker dort wird Bauland; man möchte denken, daß dem Löwenwirt, der ihn besitzt, damit ein Bonum geschieht. Mitnichten, da er ihn lieber auf die alte Weise bestellen als für schweres Geld parzellieren will. Frau und Tochter sagen: »Dir gibt mer emal e Stück Vieh und en Acker mit, wenn de stirbst.« Das könnte auf keltische Wurzeln zurückgehen.
*
Unterwegs begegneten wir Paulchen, der einen Strauß gepflückt hatte: Anemonen, Küchenschellen, Lungenkraut, Seidelbast. Für das Lungenkraut erfuhr ich von ihm einen neuen Namen: Hausanbrenner.
Das Kraut war mir in meiner Kindheit unangenehm. Warum wohl? Wahrscheinlich, weil ich die eigentümliche Doppelfärbung als krankhaft empfand. Dabei scheint sich weniger die organische Variabilität zu entfalten als die chemische Labilität; sie erinnert an das Lackmuspapier. Ähnlich zuwider war mir das Etiolement, selbst wenn es, wie bei den für Rabatten beliebten Blattpflanzen, prächtige Muster bildete.
Von solchen Abneigungen geben wir uns kaum Rechenschaft. Die Begründungen sind oft dürftig; der Grund steht fester als Begründendes.
*
»Strahlungen ––– ich hatte nicht daran gedacht ––– viele, viele ––– sind sie gefährlich? ––– Genossen, könnt ihr nichts tun? ––– versteht mich doch ––– entsetzliche Einsamkeit.«
Das Tonband registriert ein Knistern, dann sekundenlang ein Rauschen wie von großen Flügeln, dann nichts mehr. Es ist der 12. November 1962, 8.09 Uhr Turiner Zeit.
Offenbar eine der Stimmen todgeweihter Kosmonauten aus der Umlaufbahn. Ihre Gespräche werden zuweilen von Amateuren erlauscht. Das geht über alle Schrecken, geht selbst über E. A. Poes Phantastik hinaus. Der Umfang des Abenteuers, seine Tiefe, auch seine Rückwirkung deuten sich noch kaum an. Wo die technischen Probleme kulminieren, ja gelöst scheinen, ist die Rechnung aufgegangen, und Leere bleibt zurück. Der Tod wird sichtbar, der im Gestell verborgen war. Und was sagt die Gäa dazu? Das muß aus den Mythen zu erfahren sein.
*
An Ernst Niekisch: »Für Ihr Gedenken zu meinem Geburtstag sage ich Ihnen meinen herzlichen Dank. Da hat wieder einmal der Alte vom Berge gesprochen; das hört man weithin, und der Eindruck ist stark.
Es erfüllt mich mit Stolz, daß ich vom Anfang unserer Bekanntschaft an auf Sie gesetzt hatte. Erst weit danach kam Rommel; von ihm hatte ich wenigstens erhofft, daß er die Partie liquidieren würde, die von Anfang an verloren war. Wir haben es mit Schrecken gesehen. Hat das Schicksal den Deutschen so unfehlbare Karten in die Hand gegeben, damit sie sinnlos verspielt würden?
Daher hat mich Ihr Gruß auch mit Trauer erfüllt. Das ist die Pranke des Löwen; die Deutschen haben ihn im Hause gehabt und in den Käfig gesperrt. Dafür ließen sie die Hyänen und die Schakale frei.
Lieber Ernst Niekisch: Sie haben deutlich unser gemeinsames Schicksal und auch das des Reiches erkannt. Es liegt darin, daß wir nie eine starke Linke gehabt haben. Das war seit den Bauernkriegen so, und es ist so geblieben – dürfen wir hoffen, daß es einmal anders wird? Aber der große Plan wird sich vollenden, ob mit dem Deutschen, ob ohne oder ob gegen ihn. Das wissen Sie so gut wie ich.«
Wilflingen, 10. April 1965
Aus Wilsede zurück, wo ich einige Tage zu Gast bei Alfred Toepfer war.
Notizen aus der Bibliothek:
Wolfgang Sorge, »Geschichte der Prostitution«. Der Autor ist sowohl Historiker als auch, im aktuellen Teil, ein Halbwelt-Baedeker. Er bereist die Haupt- und Provinzstädte, erkundet den Strich und dessen Taxe, die Stundenhotels, die maisons de rendez-vous. Aus der Spätantike sind ähnliche Werke bekannt.
Auf p. 375 ein Fazit: »Was früher als ungehörig galt, ist heute eben erlaubt. Das nennt man Evolution.«
*
Ferner:
Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht
und:
Sie sind verdorben, gestorben
Zwei Verse, die in das Allgemeinbewußtsein übergegangen sind. Wer aber kennt noch ihren Autor: Zuccalmaglio (1803–1869)?
Wie ich hier beim Nachschlagen erfahre, ist es der jüngere von zwei Brüdern, die beide als Dichter bekannt waren: Wilhelm Florentin, der unter dem Pseudonym Wilhelm von Waldbrühl Lieder, Komödien und wissenschaftliche Werke veröffentlichte.
Ein Beispiel für das Ungesonderte, das Anonyme der dichterischen Kraft. Sie hinterläßt ihre Spur vielleicht in einem einzigen Vers, den das Volk adoptierte, während der Autor vergessen wird. Viele Sprichwörter entstanden auf solche Art. »Der Dichter« lebt in jedem; daher waren und werden Zeiten möglich, in denen das Leben zur Dichtung wird.
*
Zu beachten:
In deinen Händen ist die Macht;
Wer einem Sieger widerspricht,
der widerspricht mit Unbedacht.
(Platen: »Harmosan«)
Dann eine späte Entdeckung: Marie von Ebner-Eschenbach. Sie würde in einer Sammlung deutscher Aphorismen von Lichtenberg bis Nietzsche ihren Platz halten.
*
Einer kam vom Königsmahle
In den Park, sich zu bewegen;
Aus dem Busch mit einem Male
Trat ein andrer ihm entgegen.
(Chamisso: »Böser Markt«)
Darin ein Reim, durch den zwei Wörter, von gleichem Klangwert, doch verschiedener Bedeutung, gekoppelt sind. Ein Beispiel dafür, daß sich hinter der akustischen noch eine andere Spielregel verbirgt.
*
Herrn Bürgermeister Beller: »Zu Beginn dieses Jahres erschien der Schlußband der Gesamtausgabe meiner Schriften. Daß mir die Arbeit an den zehn Bänden gut und flüssig von der Hand ging, verdanke ich nicht zuletzt dem friedlichen Leben und der guten Nachbarschaft hier in Wilflingen.
Bitte nehmen Sie als bescheidenen Dank ein Exemplar dieser Ausgabe für die Gemeinde in Empfang.«
*
Wilflingen, 25. April 1965
Aus Düsseldorf zurück. Verleihung des Immermann-Preises; ich folge darin mit einigem Abstand Friedrich Georg nach.
Auf die Autorität von Rudolf Alexander Schröder hin hatten sie’s vor zehn Jahren in Bremen zum ersten Mal mit mir riskiert. Da ich dort wenig angenehme Erfahrungen gemacht hatte, war ich nicht ohne Skepsis nach Düsseldorf aufgebrochen, doch wurde ich durch die Ansprache des Oberbürgermeisters im Schloß Benrath angenehm überrascht.
Der Tenor war ungefähr: »Wenn wir in der Politik schon so viel Porzellan zerschlagen haben, wollen wir wenigstens die Kultur aus dem Spiel lassen.«
Gut – und überhaupt sollte man das Spiel aus dem Spiel lassen. Im antiken Rom schwieg während eines Triumphes jede Gegnerschaft. Zu solcher désinvolture muß man nicht nur der Sache, sondern auch der eigenen Position sicher sein. Beides war in Bremen wohl noch nicht der Fall, sowohl beim Magistrat als auch bei mir.
Nach der Verleihung bat das Stadtoberhaupt die Gäste zu einer Erfrischung in den Empfangsraum des Schlosses Benrath – ich bedauerte, daß August Bebel die Handbewegung nicht würdigen konnte, mit der die Einladung geschah. Vermutlich hätte er der Sache mit gemischten Gefühlen beigewohnt.
Geld, Macht und große Häuser: das sitzt erst in der dritten Generation. Die Evolution ging über Zwischenglieder wie Winnig, von dem ich in seiner Potsdamer Stadtwohnung viel über Bebel gehört habe. Man müßte auch die Horoskope vergleichen; das von Bebel gibt außerordentliche Hinweise.
*
Während dieser Notizen sitzt Amanda, unsere neue Siamesin, mir auf dem Schoß. Das Tierchen ist liebebedürftig; wenn ich es anspreche, antwortet es mit einem halb klagenden Schrei. Es berührt mich mit den Pfoten, reibt sein Köpfchen an meinem Knie. Ich bemühe mich, zu erraten, was es gerade denkt. Wozu eigentlich? Wir beide kennen den Text – was sollen die Übersetzungen? Die Sympathie reicht tiefer als jeder Gedanke hinab.
Die Spekulationen über den Bau der menschlichen Sprachwerkzeuge als Voraussetzung für unsere spezifische Intelligenz sind scharfsinnig, doch sekundär. Es sind Papageien denkbar, die lange Texte sprechen könnten, ohne daß ein Gespräch zustande käme – andererseits bedarf der Geist der Sprache nicht. Ein Taubstummer kann »sprechen«; in Sizilien sah ich Hirten, die sich schweigend unterhielten; sie bewegten nur die Hände dabei. Musik und Tanz vermitteln mehr als das gesprochene Wort. Unsere Mimik und Gestik sind stark reduziert.
*
Das Korn ist reines Erbteil, die Erde gibt ihm Schutz und Nahrung; sie leistet, was sehr wichtig, ihm auch Widerstand.
Licht muß hinzutreten, wenn dieses unmittelbare Erbe verzehrt worden ist. Nun kommt es zur freien Entfaltung im Raume; der Schutz wird weniger genossen, als daß er zur Aufgabe wird. Das Individuum bildet Schirm und Krone aus. Den Widerstand leistet jetzt die sichtbare Welt. Sie bildet ein unsichtbares Spalier.
Die Frucht als zeitliches Ziel, etwa in der Familie, dem Vermögen, dem Werk. Das Leben stirbt ab – entweder periodisch oder ein für alle Mal, als ob es sich in ihr erschöpft hätte. Die Früchte fallen ab. Manche Boviste verwandeln sich ganz in Sporen; ein pergamentenes Häutchen bleibt vom Individuum zurück. Sie gleichen Mörsern, die mit Frucht geladen sind.
Im Gelingen steckt kein Verdienst: das sind Genfer Wunschträume. In der Hervorbringung wird noch ein anderes Gesetz als das des Wachstums befolgt. Das Gleichnis meint nicht die bloße Vermehrung des Pfundes, und schon gar nicht die merkantile, sondern das Wuchern als Dank für die Existenz. Diese kann auch durch Nichthandeln an Wert gewinnen, so durch das Opfer, die Askese, die Meditation, das Gebet.
Im Pflanzenreich spricht das Universum reiner und deutlicher als in der Tierwelt und der Menschengeschichte; darauf beruht der Wert botanischer Studien. Die Gleichnisse führen vor allem in die Gärten: der Feigenbaum, das Senfkorn, die Lilie.
Vielleicht sind ferne Gestirne nur von Pflanzen und Sinnpflanzen belebt. Die Blüten ahmen die Gestirne nach, besonders die Sonne, der sie sich zuwenden. Das sind Spiegelungen; sie geben die Ahnung einer mächtigen Mitte, welche die Sterne ihrerseits nachahmen. Und auch das Auge: »sonnenhaft«.
Wilflingen, 26. April 1965
Aasgeier – nicht immer harmlose Polizisten: es soll Arten geben, die ein Schaf, das am Abgrund weidet, unvermutet hinabstoßen. Dann halten sie in der Tiefe ihren Schmaus.
Das ist das Schema eines schmutzigen Verbrechens: Das Opfer muß zunächst in den Zustand gebracht werden, in dem der Unhold es genießen kann. Hierher auch die Beschmutzer, Bespritzer, berufsmäßigen Verkleinerer.
Wilflingen, 27. April 1965
Immer noch grau, feucht und kühl. Nicht einmal Aprilwetter.
Auf dem täglichen Gang um die Kiesgrube besuchte ich wieder einmal meine Lasius-Kolonie, die sich dort unter einem flachen Ziegel eingerichtet hat. Wenn ich ihn abhebe, beginnt darunter ein gelbes Gewimmel, als ob Chinesen den Markusplatz bevölkerten. Besorgte Ammen schleppen bleiche Säuglinge davon.
Darunter vereinzelt der Keulenkäfer: Claviger. Ich erkenne ihn am bedächtigen Schritt, mit dem er sich im Getümmel bewegt, als ob es ihn nichts anginge. Er ist es gerade, dem ich nachstelle.
Solch ein Wesen zu sehen, muß auch gelernt werden. Bewegt es sich dort als Sklave oder als Lustknabe? Das eine schließt das andere nicht aus. Ich entsinne mich dabei eines Gespräches, das ich mit einem längst verstorbenen Freunde geführt habe: Albrecht Erich Günther, der sich mit den Absonderlichkeiten der Ameisen- und Termitengäste beschäftigte.
Er wußte von Ameisen zu berichten, die Artgenossen zu Honigtöpfen degradieren; sie füllen sie zu kirschgroßen Kugeln, die sie in Vorratskammern verwahren und nach Bedarf heimsuchen. Andere halten sich Verwandte eben dieser Keulenträger, die einen angenehmen, vielleicht narkotischen Saft absondern. Es kann vorkommen, daß die Wirte süchtig werden, dann vermehren sich die Gäste übermäßig, und der Stock verfällt.
Gewisse Dienste, die physischen Kontakt bedingen, rükken mehr oder minder an die Leibeigenschaft heran. Das gilt schon für Barbiere, Masseure, Badediener, kurzum für jene, die zwar zur Kaste der Sudras gezählt werden, doch andererseits zu einem satrapenhaften Behagen beitragen.
Hier erhielt sich ein Grundstock, der sich der Rationalisierung entzieht. Daher läßt sich selbst innerhalb einer allgemeinen Promiskuität die Prostitution nicht abschaffen. Der Mann sucht und findet bei der Dirne etwas Spezifisches. Sie kommt dem entgegen, und daß es sich dabei um mehr als um bezahlte und befristete Leibeigenschaft handelt, ist aus der bedingungslosen Hingabe zu schließen, mit der sich die Dirne ihrem Zuhälter unterwirft. Sucht sie sich dem zu entziehen und auf rationale Weise das Geschäft zu betreiben, so fällt sie der Unterwelt anheim.
Wilflingen, 29. April 1965
Jedes Licht hat seinen Schatten, jede Schatten- auch ihre Lichtseite. So rafft ein mächtiger Frühling die Blüte dahin, kaum daß man sie genießen kann. Das rauhe Wetter dagegen erhält sie lange, wie jetzt die Kaiserkrone, die ich seit zwei Wochen täglich bewundere. Sie ist fast brusthoch, zugleich kraus und kräftig, wie die barocken Maler sie abbildeten.
Wie alle Liliaceen ist auch sie empfindlich; oft sind die Schäfte taub, oder die Blüte entwickelt sich mangelhaft. Andererseits gedeihen prächtige Büschel in Bauerngärten, in denen sie kaum beachtet wird. Vorm Schloß von Neufra sah ich vor Jahren eine üppige Rabatte; der Besitzer sagte mir, daß es vor allem darauf ankomme, das abgewelkte Laub nicht zu entfernen, auch wenn es schon völlig abgestorben scheint. Dem folgend, habe ich gute Erfahrungen gemacht. Neun Blüten am Stengel waren das Maximum. Christian Grunert, ein passionierter Gärtner, Freund des Magisters, erzählte mir, daß er einmal deren vierzehn gezogen habe, die wie ein Reifrock vom Schaft abstanden. Auch die gelbe Sorte, deren Zwiebel ich vor Jahren in Paris bei Vilmorin kaufte, hat sich vermehrt.
Die Kaiserkrone verdient ihren Namen; sie beherrscht durch Farbe, Haltung und Höhe weithin den gleichzeitigen Tulpen- und Narzissenbestand. Wie jede Stolze ist sie dem Vorwurf des Hochmuts ausgesetzt. So heißt es, daß sie im Paradiese als die Allerschönste die Glocken nach oben getragen und auf die anderen hinabgeschaut habe. Zur Strafe sei ihr die Krone nach unten gekehrt worden. Nach Brockes ist ihr Kopfschmuck »ein Büschel Gras« und mahnt die Großen dieser Erde:
daß auch Gras nach kurzer Zeit
Gekrönte Häupter decken werde.
Wenn etwas in unseren Gärten an ihr befremdet, so der orientalische Schopf, der asiatische Dekor. Das sind Ansichten. Alles läßt sich aus der Natur heraus- und alles in sie hineinlesen.
*
Ganz dicht bei diesem Meisterstück der Japanische Knöterich, der sich im Lauf der Jahre zu einem mächtigen Busch entwickelt hat. Im September umhüllt er sich mit einer schaumigen Blütenwolke, doch darf ihm der Frost nicht zuvorkommen.
Seine außerordentliche, an den Bambus erinnernde Vitalität hat auch ihre Schattenseite: in weitem Umkreis treiben Ausläufer hervor. Früher suchte ich sie auszurotten, sowie sie sichtbar wurden; jetzt warte ich, bis sie kniehoch emporgeschossen sind. Das hat zunächst den Vorteil, daß sie nicht abreißen, da sie inzwischen eine festere Faser ausbildeten. Wichtiger ist, daß die vegetative Kraft den spermatischen Charakter verloren und sich konsolidiert hat; das Übel kann mit der Wurzel entfernt werden.
Daß eine Krankheit in den ersten Stadien schwer zu bekämpfen ist, wußten die alten Ärzte; sie beginnt mit diffusen Erscheinungen. Deren Unterdrückung kann sogar schädigen. Das gilt auch politisch und strategisch: Der Feind muß sich entwickelt haben; er muß nach Art und Absicht zu erkennen sein.
Wilflingen, 1. Mai 1965
Das Maiwetter kam pünktlich zu Beginn des Monats und überraschend, wie ich es nur wenige Male erlebt habe – 1917 im französischen Quartier und in Hameln vor dem Ersten Weltkriege. Die unverhoffte Beglückung erhält sich in der Erinnerung.
Gang in der Richtung nach Billafingen am Waldrand entlang. Noch blühten die Buschwindröschen und sogar der Seidelbast, während die Wiesen von Primeln übersät waren. Ich pflückte einen Strauß für Ernstel, der heut Geburtstag hat.
Gerade an einem schönen Tag wie diesem wächst an den Gräbern das Gefühl der Schuld, in der wir bei den Toten stehen. Sie haben uns etwas voraus, haben eine Leistung vollbracht, die kein Opferdienst aufwiegt, wie lange er auch währen mag.
Das auch im großen, in der Geschichte des Menschen ––– der Dienst in hunderttausend Kirchen, die zerfallen und auf den Trümmern wieder errichtet werden, kann die Stunden am Kreuz nicht wettmachen. Da wurde ein Vorsprung gewonnen, der in der Zeit nicht aufzuholen ist.
Wilflingen, 4. Mai 1965
Nachmittags in der Riedlinger Weiler-Kapelle, zur Trauung von Ulrich und Marie-Louise Blersch. Diese Kapelle ist der Maria und den Vierzehn Nothelfern geweiht. Daß der heilige Joseph Beistand in der Todesstunde gewährt, erfuhr ich durch eine Inschrift an seinem Standbild; es war mir neu.
Hier im Oberland gelingt noch zuweilen, was ich die Einholung des Schweigens nennen möchte: die Voraussetzung dafür, daß Schweigen walten kann. Dafür muß die Fassung gediegen und sparsam sein. Mit Wort und Gedanken darf kein Aufwand getrieben werden; gut sind die lateinischen Formeln, auch Sätze, die seit Jahrtausenden auf der Erde als Anruf gehört werden.
Unter den Pfarrern findet sich hin und wieder noch eine anima candida, wie ich ihr in Spanien und Süditalien öfters begegnet bin. Herrliche Köpfe von Hundertjährigen im Kloster von Los Desiertos bei Benicasim, gut schwäbische Köpfe auch in den Klöstern von Santos und Bahia – Gesichter, wie man sie aus den Bildern der Donauschule kennt. Ob das der immer stärkeren Ausbildung des Großhirns gewachsen sein wird?
Abends große Bauernhochzeit beim Bräumeister in Hailtingen.
Wilflingen, 8. Mai 1965
Goya: »Porträt des Malers Francisco Bayeu.« Das Bild strahlt große Ruhe aus. – Kann übrigens Ruhe »ausstrahlen«? Sie hat eher etwas Saugendes. »Stille Wasser sind tief.« – Hier mag es angehen; es ist die Ruhe des aktiven Menschen, nicht Meditation, sondern Konzentration. Wenn Goya noch auf den Pinsel verzichtet hätte, den der Maler in der Hand hält, würde der Eindruck vollkommen sein.
Dazu die Farben: ein Grau, das sich in blaue, grüne und violette Töne sublimiert. Wenn es dämmert, erwacht in den Augen der Siamkatzen ein ähnliches Farbenspiel.
Endlich das noble Gesicht, eigentlich unspanisch. Ich hatte auf den ersten Blick gedacht, ein mir unbekanntes Porträt Lord Nelsons zu sehen.
*
Worin sie sich alle einig sind: im Bewundern der Darbietungen des reinen Zeitgeistes, und zwar ohne jede Kritik. Dazu gehört notwendig, daß die Darbietenden von der Oberfläche abschöpfen.
Man möchte unsere Epoche für besonders stupid halten, wenn man die Idole sieht. Wahrscheinlich ists aber immer so. Nur manchmal hat es insofern einen Treffer gegeben, als sich hinter der Blendung noch etwas anderes verbarg. Zunächst sah die Menge die Effekte, die durch Bewegung erzeugt werden. Man könnte auch sagen, daß der Autor Glück und dazu noch Erfolg hatte, indem er den Zeitgeist ansprach, ohne gänzlich in ihm aufzugehen.
Dabei wird der Gegenstand mitwirken. »Guernica«. Innerhalb der absoluten Kunst dürfte die Zeit keine Rolle spielen; der Lorbeer würde, wie in einem großen Museum, unmittelbar zuerkannt.
Das ist nicht der Fall. Dennoch muß auch die Kunst ein Absolutes bergen und ebenso wie die Materie auf letzte und feinste Maße gegründet sein. Diese freilich können nur im Gleichnis erfaßt werden. Daher bleibt jedes Kunstwerk provisorisch und wird einmal »zu Grunde gehen«, das heißt, in die Heimat zurückkehren.
Ein starker politischer Effekt ist sowohl dem Werk wie dem Künstler ungünstig. Das Explosive ist zu vermeiden; Beaumarchais ist ein typischer Fall. Dagegen gibt es klassische Stücke, die immer wieder politisch brisant werden und innerhalb scheinbar ganz anderer Krisen nicht aufzuführen sind. Durch sie wurde die Freiheit nicht in ihrer politischen Erscheinung, sondern in der Substanz berührt.
Wo der Weg des Autors der Generallinie konform läuft, werden kaum seine stärksten Werke entstehen. »Werthers Leiden« wären nur in der Literaturgeschichte bekannt, wenn Goethes Opus sich auf sie beschränkt hätte. Man würde seinen Namen nennen wie etwa den von Leisewitz.
Heut muß man sich innerhalb weniger planetarischer Gemeinplätze halten, will man Erfolg haben. Es ist unglaublich, wie dann die Segel gebläht werden. Dagegen Nietzsche: »Als mir ein Wind hielt Widerpart, segelt ich mit allen Winden.«
Noch einmal zum »Werther«, den ich, als ich »meine Bildung nachholen« wollte, im November 1918 zum ersten Male las. Ich empfand die Lektüre als langweilig und war froh, zum Schluß zu kommen, teilte also wahrscheinlich Lichtenbergs Urteil: »Die beste Stelle des Buches ist die, an welcher der Hasenfuß sich erschießt.«
Dem widersprach das Stierlein, mit dem ich mich vorhin darüber unterhielt, und das sich mit dem Roman nicht nur als Leserin, sondern auch als Editorin oft und gründlich beschäftigt hat: »Als ich den Werther zum fünfundzwanzigsten Male las, mußte ich stärker mit den Tränen kämpfen als je zuvor. Er bleibt für alle Zeiten ein gefährliches Buch.«
Wilflingen, 13. Mai 1965
Gestern abend um acht Uhr während der Patience plötzlich Mißstimmung, eine Grisaille im Kaleidoskop. Nichts paßte, nichts war recht, nichts konnte gut gehen. Ich legte mich sogleich zu Bett, von der Siamesin begleitet, und vertiefte mich in meine Lektüre: Ernst Alexander Römer, »Der Wind war von Anbeginn«.
Das Buch ist dem Segelschiff gewidmet, einem der archaischen Männerspielzeuge, die, wie die Reiterregimenter, in unser Jahrhundert hereinragten. Vieles wird unverständlich, nicht etwa der veralteten Technik, sondern des Ethos wegen, das dazugehört. Wie war es möglich, daß Jungen von zu Haus ausrissen, um dabei zu sein, wie Römer, der heute Fünfundsiebzigjährige, der mir sein schönes Buch zum Geschenk machte? Ich hoffe, ihn kennen zu lernen, wenn wir in vier Wochen in Hamburg sind.
Vormittags rief Margret an wegen der Impfungen, die für die Reise verlangt werden. Dabei erfuhr ich, daß sie gestern von acht bis elf Uhr von einem Patienten zum andern gefahren sei. Es bestätigt meine Vermutung: daß diesen jähen und unerklärlichen Mißstimmungen barometrische oder vielleicht noch verborgenere Generalia zugrunde liegen müssen; zudem scheint hier eine besondere Ecke dafür zu sein.
Heut morgen war das Wetter schön und sonnig; ich war ohne Mühe tätig – zunächst mit Geburtstagsdanksagungen, soviel Resle tragen konnte, dann weiter an den Cicindelen, auch mit dem Rad zum Dentisten, der die Zähne in Ordnung fand.
Dazwischen hin und wieder im Garten, in dem besonders die Primeln prächtig geraten sind. Wenn Blüte an Blüte steht, verbinden sich runde und radiäre Formen nach Art der Kugelkorallen – Kissen ist das rechte Wort dafür. Dazu der ungemeine Wechsel der Farben, sowohl bei den Stöcken als auch innerhalb der Blüten selbst. Blumen, die man in Reihen pflanzen sollte, um sich an der Vielfalt ihrer milden Töne zu erfreuen, selbst an den Schatten- und Nordseiten.
Infolge der Streckung durch das kühle Wetter blühen zwei zierliche Gewächse zusammen – noch die Fritillaria und schon der Amelanchier. Beide habe ich in der Natur vergeblich gesucht, den Amelanchier am Hohentwiel und die Fritillaria am Hohenstoffeln, wo sie vorkommen soll.
Der Amelanchier oder die Felsenbirne hat die zierlichste, gefälligste Blüte unter den Rosaceen; er gleicht einer Schlingpflanze, die sich im freien Wuchs erhält. Dazu die prächtige Herbstfärbung der Blätter: purpurn gerippt.
*
Unter der Post ein Brief von K. U. Leistikow; er wünscht bereits für Ostasien Glück. Das von ihm am liebsten gehörte Kommando auf reisefertigen Schiffen: »Besucher von Bord«.
Wilflingen, 15. Mai 1965
Lubin Baugin (ca. 1610 bis 1663). Beispiel eines kristallisierenden Geistes, der sich nicht nur in der Wahl der Gegenstände, sondern auch in deren Behandlung verrät.
Stilleben: ein achteckiges, halb mit Rotwein gefülltes Glas, dazu ein gleichfalls achteckiger Wandteller über einem schachbrettartig getäfelten Tisch. Ferner eine Laute mit gekantetem Boden, ein vierkantiges, wie eine Bischofsmütze geformtes Weißbrot, ein gerippter Tabaksbeutel, ein leicht angefächertes Kartenspiel.
Vorzügliche Arbeit, die dennoch befremdet, weil sie auf einen zu starren Geist schließen läßt. Ähnlich bei vielen Sonntagsmalern; sie können sich vom Zwang der Muster nicht befreien.
Wilflingen, 18. Mai 1965
Warmblüter. Wahrung der Temperatur innerhalb enger Grenzen, jenseits deren Fieber oder Unterkühlung zum Tod führen.
Die erste Klimaheizung, geniale Replik auf eine kosmische Provokation. Einst lebten die Geschöpfe in der Gäa wie im Mutterleibe; sie nahmen an der Wärme der großen Sümpfe oder des Weltmeers teil. Wo es dann kühler wurde, mußten sie sich anpassen oder zugrunde gehen. Manche, oft besonders prächtige Arten, wie die Korallenfische, tötet bereits eine geringe Abkühlung. So hält sich auch unter den Pflanzen die Victoria regia nur dicht am Äquator oder in Treibhäusern.
Die Ausbildung eines geschlossenen Wärmehaushalts ist keine Anpassung, sondern eine echte Replik, ein Gegenzug. Auch in den kalten Meeren leben warmblütige Tiere – Wale, Robben, Delphine; es sind Rückwanderer, die sich der Fischform wieder annähern. Um nicht zu erfrieren, haben sie Mäntel angelegt.
Es gibt auch einfachere Repliken, die zum Teil mit der Warmblütigkeit kombiniert sind: Federn und Pelze, die Kältestarre, den Winterschlaf, das periodische Aufsuchen milderer Orte, wie im Vogelzug.
Die Reduktion wird auch räumlich sichtbar; wenn wir uns den Polen nähern, verschwinden die Echsen, die Insekten, sogar die Urtiere. Endlich besteht nur noch der Mensch, dank seiner Erfindungskraft.
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Die Erde gab Sorge ab; das bringt neue Gefahren, aber auch Freiheiten. Den Müttern wird ein Teil der Obhut übertragen; in den Nestern der Vögel, der Bruttasche der Beutler, dem Uterus der Säugetiere erhält sich wie in Höhlen die frühe Erdwärme.
Hierher auch die australischen Wallnister, die sich in ihren Gewohnheiten von allen anderen Vögeln dadurch unterscheiden, daß sie für ihr Gelege Hügel aus Schlamm und gärendem Laub zusammenscharren. Sie halten sich in der Nähe auf und überwachen das thermische Gleichgewicht.
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Generell ist zu beachten, daß sich im Haushalt der Erde nichts verliert. Der Vorrat bleibt konstant; Produktion und Konsum gleichen sich aus. Die großen Fische fressen die kleinen, und die kleinen die großen; der Bios geht immer wieder durch die Mahlgänge. Es gibt im Ganzen keinen Zuwachs und keinen Fortschritt, wohl aber in den räumlichen Provinzen und in der zeitlichen Folge, in der sich das Ganze abwickelt.
Das gilt auch für den Vorrat an Intelligenz. Der Sinn der Erde kann sich in Instinkt und Intellekt verwandeln: ein Kraftwerk zweigt Strom ab, der als Licht erscheint. Das sind Abgaben, die an anderer Stelle Verluste oder Beraubung einschließen, wie etwa das enorme Wachstum des humanen Wissens die Verödung der Natur.
Intelligenz wird abgesondert, wird delegiert – freilich nicht ohne Spuren ihrer ungesonderten Kraft, die, jenseits des Willens zur Macht, zur Anschauung, auch zur Verehrung herausfordert. Daher das Erstaunen, das sich mit wachsender Einsicht steigert: Der Geist gewinnt eine Ahnung von seiner eigentlichen Heimat, dem »Innren der Natur«.
Wilflingen, 19. Mai 1965
Lektüre: »Erinnerungen eines Bühnenautors« von Sigmund Graff.
Ein Altersgenosse; sein Buch bringt typische Erfahrungen unserer vor der Jahrhundertwende geborenen Generation, die sich schnell zu lichten beginnt. Ich begegne vielen Personen, die auch ich gekannt, finde Orte wieder, an denen auch ich mich bewegt habe: Döberitz, Schützengräben des Ersten, Bunker des Zweiten Weltkrieges, soziale und nationale Revolutionen, Expansionen und Okkupationen, Vormärsche und Rückzüge. Zum Typischen zählen auch die Lager und Gefängnisse, die mir erspart blieben.
Als ich mich 1925 mit Perpetua in der Leipziger Sidonienstraße eingerichtet hatte, war Graff unser erster Gast; er erwähnt den Besuch in seinen Aufzeichnungen. Später wurde er als Bühnenautor bekannt; sein Stück »Die endlose Straße« hatte großen Erfolg. Um jene Zeit beobachtete ich, daß die Herren- und Damenmäntel, die »Trenchcoats«, mit kleinen Achselklappen verziert wurden.
Bei solcher Lektüre merkt man auch, wie viel an Detail schon der Abstand von wenigen Jahren verwischt. Den Wetterstürzen gehen mikroklimatische Veränderungen voraus. Innerhalb der wachsenden politischen Unruhe erzeugt jede Strömung auch eine Gegenströmung, die beide in der Richtung sich unterscheiden, doch ähnliche Bilder hervorbringen.
Der gemeinsame Fortschritt liegt in der Quantifizierbarkeit der Dinge und Menschen, in ihrer Bezifferung. Wer eher dahinterkommt, daß etwas quantifiziert werden kann, das sich bislang der Bezifferung entzog, hat einen Vorsprung gewonnen, der auch die Gegner in Form bringt, wenn er aufgeholt werden soll.
Zur Manipulierbarkeit gehört der Einsatz von Personen unter unvermuteten Gesichtspunkten. Zum Beispiel wurde im September 1937 jeder Berliner Theaterleiter beauftragt, zehn bis zwanzig prominente Berliner Schauspieler anzurufen und zu fragen, ob sie an einer kurzen, angenehmen Reise in einem Sonderzug teilnehmen möchten ––– Unkosten: keine; einzige Bedingung: Abenddreß.
Es stellte sich dann heraus, daß sie zum Empfang Mussolinis nach München gebracht wurden. Dort vereinigten sie sich mit anderen »Kulturträgern« im Haus der Deutschen Kunst zu einem illustren Kreis. Bald erschienen auch Hitler und Mussolini zu einem kurzen Rundgang durch die Bildersäle und schritten an einem Spalier von erhobenen Armen vorbei.
Als Graff einige Zeit später einen Funktionär des Propaganda-Ministeriums fragte, weshalb man eigentlich der paar Minuten wegen einen ganzen Sonderzug mit ersten Schauspielern und Sängern in Bewegung gesetzt habe, antwortete dieser mit einer Gegenfrage:
»Wie hätte man sonst wohl binnen vierundzwanzig Stunden so viel Herrschaften mit guter Figur und tadelloser Garderobe auf die Beine gebracht?«
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Vom Mimen in politicis Charakter zu verlangen oder ihn für Dinge haftbar machen zu wollen, die während seiner Spielzeit vor sich gegangen sind, ist ein Unding; ebenso gut könnte man ihm die Luft abschneiden. Das gilt nicht für den Dichter; wenigstens nicht für jenen, dem »die Nachwelt Kränze flicht«.
Übrigens bleibt das Theater ein Ort, an dem noch ein Rest von höherer Gesittung sich erhält. Auch deshalb können viele klassische Stücke in Diktaturen nicht mehr gespielt werden; das Mißverhältnis zu den idealen Maßen wird offenbar.
Wilflingen, 21. Mai 1965
Exercitium. Wenn wir etwas verlegt haben und dringlich suchen, erfaßt uns eine steigende Unruhe. Statt uns zu konzentrieren, beginnen wir zu »wühlen«, wobei die Unlust wächst.
Notwendig kommt der Augenblick, an dem uns einfällt, daß »wieder einmal« der oder jener am Werk gewesen sei. Die Unlust verdichtet sich auf ihn. Am Ende hat er uns sogar beraubt.
Meist finden wir dann das Gesuchte an einem Ort, an dem wir es nicht vermuteten. In jedem Fall stand unser Zorn im Mißverhältnis zur Schuldfrage. Das zeigt schon die Leichtigkeit, mit der wir uns selbst den Irrtum verzeihen. Daher sogleich das Eifern unterdrücken, wo es aufglimmen will.
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Bilder: Joachim Uytewael: »Küchenstück« (1605). Im Vordergrund ein Koch, der einen Fisch schlachtet, eine Köchin, die Geflügel aufspießt, ein Hund, eine Katze, ein naschendes Kind. Am offenen Feuer ein Küchenmädchen; sie wehrt einen Zugänger ab, der ihr unter den Rock greifen will. Mit zugleich lüsternem und ängstlichem Blick wendet er sich nach der Hauptköchin um. Das Spiel der zugreifenden und abwehrenden Hände ist für Ort und Stunde zu weit vorgeschritten, wird jedoch durch die Trunkenheit des Burschen motiviert.
An den Wänden, auf den Tischen und am Boden Geräte, Kessel, Wildbret, Fische, Gemüse, mächtige Fleischstücke. Die Küche öffnet sich durch eine schmale Tür auf einen Saal, in dem gespielt wird, und durch einen breiten Bogen auf einen prächtigen Platz. Architekturen, Bildsäulen, eine Volksmenge. Das Universum konzentriert sich mit wachsender Farbigkeit auf ein Stilleben.
Ein Bild, das auf den ersten Blick durch die Kraft der Kontraste und durch seine Vitalität anzieht, das man aber bei Tisch auf die Dauer nicht um sich haben mag. Solche Werke sind eher am Platz in Sälen, in denen sie täglich neue Gäste erfreuen.
Wilflingen, 31. Mai 1965
Nach dem Ersten Weltkrieg träumte ich kaum – was eigentlich zu erwarten gewesen wäre – von den Materialschlachten. Die Prüfung, die Treppe, der Fahrstuhl, die Schlange, das Umherirren auf Bahnhöfen und Korridoren – das kam häufiger vor. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sind Gefechtsbilder selten, nur fliegen jetzt ganze Stadtviertel in die Luft. Es scheint auch in den Träumen eine Progression zu geben, weniger der technischen Entwicklung als der ihr zugrunde liegenden dynamischen Gewalt.
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Ein Vergißmeinnicht-Strauß, der zu verblassen begann, indem er sich in das Köpfchen meiner Siamkatze verwandelte. Nur zwei der Blütensterne blieben als Punkte, um die sich die Verwandlung kristallisierte; sie wurden die Augen jetzt.
Gedanke: das waren die Gleichheitspunkte; sie sind im Blick zu behalten, wenn es über die Brücke geht. Die Identität von Auge und Sonne wird dann erkannt.
Wilflingen, 2. Juni 1965
Francesco Guardi (1712–1793): »Venezianisches Gala-Konzert«.
Ein Menzel, um hundert Jahr vorweggenommen; in beiden deutet sich der Impressionismus an, der zu den wiederkehrenden Möglichkeiten, vielleicht auch zu den Versuchungen, gehört. Vergleichbar ist Menzels »Théâtre Gymnase«.
Bei beiden sind die einzelnen Figuren der Gesellschaft erhalten; hier bei Guardi wird der Eindruck der Bewegung vor allem durch das Schillern der Gewänder erzeugt. Pailletten-Wirkung ohne pointillistische Auflösung der Umrisse.
Das Bild führt vom Elementaren über das Humane zur souveränen Ordnung: im Vordergrunde der rote Teppich, dann die farbig bewegte Gesellschaft und über ihr der streng mathematisch gezeichnete grüne Plafond.
Wo Auflösung zum Stil wird, könnte ein mit äußerster Schärfe erfaßter Gegenstand die Anwesenheit der meßbaren Ordnung stellvertretend bezeugen und zugleich den Maler vom Verdacht befreien, daß er sie nicht beherrscht. Ich denke etwa an fernöstliche Bilder, auf denen Schilf oder Gebüsch nur angedeutet sind, während ein einzelnes Insekt darauf realistische Meisterschaft repräsentiert. Besonders schön war das mit einem Glühwürmchen gelungen: Der Gegenstand präzisierte sich in seinem eigenen Licht.
Unsere Wahrnehmung ist punktuell; je schärfer wir sehen, desto näher rückt das Diffuse an den Gegenstand heran.
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Sollten wir hadern, weil die Dissonanz dominiert? Ein goldener Tag, alle Elemente des Glückes sind gegeben, nur eines der Moleküle ist verlagert: »Der Wurm sitzt drin.«
»Hast alles, was Menschenbegehr« – nur leider Zahnweh dabei. Der Festsaal hallt vom Beifall wider, doch ein einzelner Pfiff kann die Freude daran aufheben. Das sollte eher als Hinweis darauf gelten, daß Harmonie die Regel, die Vorschrift im Universum ist.
Wilflingen, 4. Juni 1965
Die Impfung wirkt immer noch nach. Reisevorbereitungen: Auswahl der Lektüre, der Manuskripte, der Ausrüstung für die Subtile Jagd. Am Mittag kam Oschi mit seiner Frau; sie werden während unserer Abwesenheit hier Haus halten.
Nach dem Essen zum Georgenhof. Ich war von Mendelssohns zum Konzert eingeladen und fuhr mit Oschi dorthin. Er hat sein Cello mitgebracht – eine seiner Maximen lautet: »Ein guter Cellist findet immer sein Abendbrot.«
Gespräch mit dem Grafen von der Goltz und einem intelligenten Engländer, der dessen Oktett angehört, über Zeit und Ton. Viel stärker noch als durch jede optische Hemmung würde sich uns die Welt verwandeln, wenn wir den Ton drosseln und damit die Folge strecken könnten, in der wir Gesang und Musik wahrnehmen. Dabei darf man nicht an eine Art von Tonzeitlupe denken, also an eine Dehnung der astronomischen Zeit. Dazu würde genügen, daß man eine Platte langsamer laufen läßt. Es geht nicht um die rhythmische, sondern um die melodische Wahrnehmung.
Doch schon ein Mensch, für den die Uhrzeit nur halb so schnell liefe, würde doppelt so viel wahrnehmen. Das würde seine Gewandtheit steigern; er würde selbst in grob physischen Geschäften, wie beim Boxen, unschlagbar sein. Die Alten wußten von einem Athleten zu berichten, der mächtige Gegner nur durch Ausweichen bezwang. Jazzmusiker kennen Drogen, nach deren Genuß der Einsatz unfehlbar wird.
Es geht nicht um die Annäherung an den arithmetischen, sondern an den orphischen Nullpunkt, nicht um Triumphe, sondern um die schweigende Beglückung in den Vorhöfen. Hier schwinden die Qualitäten; die Fibrillen, die Atome werden gleichwertig. Ein Schritt weiter würde tödlich sein.
Wilflingen, 5. Juni 1965
Elisabeth-Louise Vigée-Lebrun (1755–1842): »Der Dauphin und Madame von Frankreich«, Kinderbild, Versailles.
Ein Dokument dafür, daß die Zeit nicht nur im heutigen Sinne sozial, sondern auch gesellschaftlich und formal am Ende war. Unüberbietbare Lieblichkeit. Demgegenüber liefert Marie Laurencin nur Farbflecke.
Eine weitere Entwicklung ist nicht abzusehen, es sei denn ins Groteske, etwa der »incroyables« innerhalb der royalistischen Opposition. Also mußten neue Prinzipien eintreten: les sans-culottes.
Den Prozeß könnte man sich verlängert vorstellen – auf Inseln oder in abgeschlossenen Stromtälern ohne äußere Einflüsse. Dort würde man letzte Verfeinerungen des Handwerks beobachten, artistische Glanzleistungen, Orchideen in Treibhäusern. Zoologisch sieht man an der Fauna entlegener Inseln oder in Tiefseebecken Vergleichbares. Wie ist es übrigens möglich, daß der Pfau mit seiner Schleppe sich auf der freien Wildbahn erhält?
Die Vigée-Lebrun ist sehr alt geworden. Ich habe vergeblich ihre Memoiren aufzutreiben versucht. Sie hat Marie-Antoinette an zwanzig Mal porträtiert, dann in der Emigration Lord Byron und Lady Hamilton (als Bacchantin), nach ihrer Rückkehr Madame de Staël in Coppet.
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Dazu die Memoiren von Cécile de Courtot, dame d’atour der Prinzessin Lamballe. Ich habe das Buch kürzlich aus einem Antiquariatskatalog bestellt und bin zufrieden mit dem Fund.
Die Baronesse emigrierte nach der Ermordung der Prinzessin und fand zu Kalbe in der Altmark für einige Jahre Unterschlupf.
»Der Freiheitsstrom brauste über den Rhein, dessen (sic!) Wogen sich erst an den altpreußischen Provinzen, an den wie ein rocher de bronce zu ihrem Königshause stehenden Brandenburgern, Altmärkern und Pommern zerschellen sollten.«
Marie-Antoinette schrieb am 12. Juni 1787, also bald zwei Jahr vor der Bastille, an die Prinzessin:
»Je ne vous dis rien des affaires de la ville, vous savez tout ce qui se passe. Il est impossible de sortir sans être insulté une douzaine de fois.«
Trotzdem widmet sie sich in dieser Zeit noch stärker ihren Vergnügungen. Sie denkt nicht daran, auf ihr »cœur de trèfle« zu verzichten, das sich aus Monsieur Léonard, ihrem Haarkräusler, Mademoiselle Bertin, ihrer Modistin, und Madame Montasin, einer reichen Theaterdirektorin, zusammensetzt. Dort werden vor allem Dinge des Chics beraten; je mehr die reale Macht schwindet, desto wichtiger wird die Autorität in Modefragen – das ist ein dandystischer Zug.
Neu war mir die Tatsache, daß die Prinzessin Lamballe, ähnlich wie die Dubarry, bereits in England in Sicherheit war und dann nach Paris zurückkehrte. Ihre Ermordung bezeichnet einen der absoluten Tiefpunkte der Geschichte; da wirds ganz dunkel, nicht nur widrig grau wie auf den heutigen Schindäckern. Einzelheiten kann man bei Dühren und anderen Autoren finden; solche Stellen sollte man, wie Hebbel das Wort »Rippe«, aus den Büchern auskratzen.
Die Lektüre warf auch einige Nebenausbeute ab. So die Schilderung der Altmark und ihrer Familien, der Bismarcks, Kattes und Alvenslebens, wie ich sie aus meinen Besuchen in Zolchow und aus Martins unerschöpflichem Anekdotenschatz kenne; es hatte sich wenig verändert seitdem.
Besuch bei Hofe in der Glaskutsche. Selbst passionierten Monarchisten gelingt es nicht, die Persönlichkeit Friedrich Wilhelms III. etwas aufzuwerten; in Frankreich würde er wohl noch eher als Ludwig XVIII. erledigt gewesen sein. Überall verschärft noch ein stupider Hofadel die Situation. So war es in Preußen vor 1806 und nach 1813; man konnte dort hören, daß Yorck in Tauroggen vielleicht Gutes bewirkt habe – er hätte sich aber anständigerweise erschießen müssen nachher.
Besonders an den kleinen deutschen Höfen konnte man selbst nach der Französischen Revolution einen Grad geistloser Anmaßung beobachten, wie er hundert Jahr vorher undenkbar gewesen war. Das illustriert auch die Hochzeit eines hessischen Prinzen, zu der die Baronesse auf ihrer Rückreise, ich glaube: in Darmstadt, eingeladen war. Unglaublicher Scharfsinn wird auf leeres Gepränge und Etikettenfragen verwandt. Auch der Zopf wurde noch getragen oder wieder angelegt.
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Ferner, vom gleichen Antiquar erworben: »Das Ende des russischen Kaisertums« vom General Komaroff-Kurloff, ehemaligem Chef der russischen Geheimpolizei (Scherl, 1920).
Das Buch gibt mir eine wertvolle Ergänzung zu den Memoiren des Fürsten Urussow, mit denen ich mich 1930 befreundete und die hoffentlich noch irgendwo in meiner Bibliothek verborgen sind.
Komaroff ist konservativer und weniger intelligent als Urussow, hat sich aber über das Ressort der Polizei, das er als Gehilfe des Innenministers verwaltete, Gedanken gemacht.
Die Russische Revolution ist auch insofern merkwürdig, als ihr Ausbruch, obwohl immer notwendiger werdend, sich lange verzögerte. In solchen Fällen entstehen suspendierte Mengen von ungeheurem Gewicht. Dann wird selbst eine kleine Zahl von intelligenten Gegenspielern höchst gefährlich – von Feuergeistern im Pulvermagazin.
Die unaufgeklärten, also in der Evolution zurückgebliebenen, Massen sind immobil. Das kommt der Regierung, aber auch den Revolutionären zugut. Vor einer Front von Analphabeten kann ein Tyrann, aber auch ein Meuterer Erstaunliches ausrichten. Er steht vor einer homogenen Masse, die sich am Hebel bewegen läßt. Er selbst muß freilich wissen, was er will. Die Dekabristen waren zu gebildet; sie konnten die harrenden Truppen nicht in der Weise ansprechen, in der es die Orloffs vermocht hätten.
Die Feuerwerker kennen Stoffe, die hin und wieder aufsprühen, ehe der Vorrat explodiert. Dann ist der kritische Punkt schon überschritten, selbst wenn man die Funken noch austreten kann. Das war Komaroffs Aufgabe. Die Einzelheiten belegen die enge Verwandtschaft des Verbrechens mit der Polizei.
Der Punkt, an dem diese Verwandtschaft zur Identität wird, ist beim Agenten zu suchen, dessen die Polizei, wie Komaroff auch zugibt, nicht entraten kann. Wertvoller als die Agenten, die man von außen in die Verschwörung einschleust, sind die innerhalb ihrer Gruppen geworbenen. Der Verräter ist effektiver als der Spion.
In jedem Agenten steckt ein Doppelagent, wie in jedem berufsmäßigen Spieler ein Falschspieler. Man begegnet siamesischen Zwillingen, Vertrauten sowohl der Nihilisten wie der Polizei. Die Rechnung wäre einfach, wenn man sie nur für Halunken hielte; sie sind aber zugleich von der Sache, die sie verraten, überzeugt. So scheitern sie an ihr und gehen an sich selbst zugrunde – entweder auf Hakeldama oder von den Genossen liquidiert, auch auf dem Schafott, wenn sie nicht entlarvt wurden. Hakeldama war der Friedhof für die Ortsfremden.
Wie sehr hier Vorsicht geboten ist, zeigt die Ermordung des Innenministers Stolypin durch einen Revolutionär namens Bogrow, der in Komaroffs Diensten stand. Dieser Bogrow sollte im Theater vor einer Aufführung, die der Minister besuchen würde, eine zugereiste Studentin identifizieren und dann das Haus verlassen. Bogrow führte den Auftrag aus, verstand es aber, sich wieder einzufädeln, und brachte Stolypin durch Revolverschüsse um.
Das non plus ultra an Doppeltätigkeit wurde wohl durch Asew erreicht, der jahrzehntelang sowohl die Ochrana als auch seine ihm blind ergebenen Anhänger zu täuschen verstand. Rivalen denunzierte er der Polizei. Andererseits hatte er bei der Ermordung Plehwes und anderer Machthaber die Hand im Spiel.
Man täte den Anarchisten Unrecht, wenn man sie mit den Nationalrevolutionären über einen Kamm scherte. Deren Schreckenskabinett ist reich an pathologischen und hysterischen Typen; schon Dostojewski hat sie vortrefflich erfaßt. Was an Idealismus dazukommt, wird schäbig verbraucht.
Die Symptome sind widrig, doch muß man sie in Hinsicht auf den Körper beurteilen, das heißt: auf den todkranken Staat. Ohne die Kriege und mit Reformen hätten sich die Dinge länger halten lassen können, denn einem Patienten darf man außergewöhnliche Anstrengungen nicht zumuten. Selbst ein gewonnener Krieg wirkt ungünstig. Die Industrie muß vermehrt werden, neue Schulen und Universitäten sind notwendig. Die Soldaten lernen das Ausland kennen, wie einst die Dekabristen Paris. Wer Krieg führt, um Revolutionen zu vermeiden, zäumt das Pferd vom Schwanz her auf.
»Die Macht Rußlands stieg unter Alexander I. zu einer Höhe, die Peter der Große nur ahnen konnte.« Aber was hat ihm zu einem Peter dem Großen gefehlt?
Wilflingen, 7. Juni 1965
Pfingstmontag. Das Wetter ist ein wenig besser; wir hatten bis gestern geheizt. Maiglöckchen auf Grethas Grab.
Wilflingen, 9. Juni 1965
Die Zurüstungen sind beendet; wir wollen morgen aufbrechen. Martin Heidegger, der anscheinend zur Zeit alte Chinesen liest, schreibt mir, daß man sich am besten in seinem Zimmer aufhalten, ja nicht einmal aus dem Fenster schauen soll. Das als persönliche Maxime, nicht im Hinblick auf unsere Reise gemeint. Er legt ein Gedicht von Laotse bei.
Stuttgart, 10. Juni 1965
Nach langen Vorbereitungen Abfahrt zur Asienreise bei Wolkenbruch. Oschi, Margret und Resle winkten uns nach.
Das Frühjahr war so außerordentlich kühl und verregnet, daß ich mich an ein ähnliches nicht erinnern kann. Das Donautal ist zum vierten Mal überschwemmt.
In Stuttgart sahen wir kurz noch Ernst Klett, der seiner Tochter Christiane wegen in großer Sorge ist. Kinderlähmung; sie wurde vor zehn Tagen mit dem Flugzeug aus Bagdad gebracht.
Spät in den Schlafwagen.
Hamburg, 11. Juni 1965
Wir standen erst kurz vor Hamburg auf. Frühstück im Bahnhof von Altona. Dann fuhren wir in das vertraute Gästehaus Alfred Toepfers an der Elbchaussee, wo wir unser altes Zimmer mit dem großen Blick auf die Elbe wieder bewohnen. Leider haben wir das kühle Wetter mitgebracht.
Nachmittags bei des Coudres’ zum Tee. Wir fuhren durch das Villenviertel nach Blankenese; Rosen, Rotdorn, Rhododendren ––– man sah, daß es viel Feuchte gegeben hat.
Unter den alten Hamburger Freunden ein neuer: Kapitän Römer, von dem ich neulich das Buch über die Segelschifffahrt bekam und in dem ich den Mann fand, den ich im Autor erkannt hatte. Einer von denen, die physisch groß wirken, obwohl sie eine kleine, gedrungene Statur haben. Hat zehn Mal Kap Hoorn umsegelt; man spürts am Händedruck.
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Abends mit Toepfers im Gästehaus. Wir sprachen über alte Bekannte: Ernst Niekisch, Hugo Fischer und A. Paul Weber, dann über den Abend in der Rue du Faubourg Saint-Honoré, an dem der Hausherr mich zur Schrift über den Frieden ermunterte. Auch Heinz Justus war gekommen; ich hatte ihn seit dem August 1917 nicht mehr gesehen: dem Tag, an dem er bei Langemarck mit dem Bataillonsstab in Gefangenschaft geriet. Schon einmal, bei Guillemont, waren sie als die einzigen davongekommen; das sollte sich nicht wiederholen – Rocholl, der Kommandeur, ließ sich mit dem Stabe und den Verwundeten von den Engländern überrollen; es war damals noch kein großes Risiko.
In Douchy, wo wir über ein Jahr lang fast ein Garnisonleben führten, bin ich Justus oft begegnet, sowohl in den Gräben wie im Quartier. Er hatte sich zur Infanterie gemeldet, als es bei den Husaren langweilig wurde, und ist mir als Dandy in Erinnerung. Es gibt Bilder, die sich stark einprägen – so das seine, als er, von einer Gewaltpatrouille zurückkommend, im Morgengrauen lässig über die Dorfstraße schritt. Am Abend bot er mit der gleichen Lässigkeit den Halbgöttern von den berühmten Justusimporten an.
Die Engländer ließen ihn nach dem vierten Fluchtversuch frei, weil sie für Sport Sinn haben. Andererseits wurde er ihnen unheimlich. Einmal hatte er sich als Mädchen verkleidet, aber auch ein vorgetäuschter Selbstmord durch Erhängen gehörte dazu. Einkalkuliert war, daß der Soldat, der das Essen brachte, ihn abschneiden würde; die Rechnung war gewagt, doch sie ging auf.
Oschi Kius, der mit ihm die Gefangenschaft im Lager von Wakefield geteilt hat, erzählte mir diese und andere Anekdoten über ihn.
An Bord, 13. Juni 1965
Gegen elf Uhr holte Werner Traber uns ab und fuhr uns zum Schiff. Die Häfen – immer erregend, einmal als Titanenreiche, deren Maße die humanen überschreiten, und dann als Orte mit fremdartiger Ausstattung. Dazu das Sichtbarwerden statistischer Bezüge – etwa: dreihundert Wasserklosetts, aufgereiht am Quai.
Der Freund und Stifter dieser Reise brachte uns an Bord des Motorschiffs »Hamburg«, wo wir mit ihm noch das Frühstück einnahmen. Die Kabine schmückten Rosen von ihm und Nelken von Justus, auch an Zigaretten und Whisky war gedacht. In dieser »Kammer« werden wir vier Monate leben; sie ist geräumig, schön eingerichtet, mit zwei Fenstern, Bad, Toilette und einem abgetrennten Flur. Wir fanden das große Gepäck schon vor.
Gegen vierzehn Uhr Abfahrt bei ruhiger See. Am Abend legten wir in Bremerhaven an.
An Bord, 14. Juni 1965
Nach dem Frühstück gearbeitet.
Nachmittags über den Deich zur Stadt. Zunächst in den »Tiergrotten«, einem schmalen, doch sehr geschickt bestellten Geländestreifen am Flußufer. Er kam mir wie eine Sandbank vor. Außer den Gehegen und Schwimmbecken sahen wir eine Volière und ein Aquarium, beide groß und gut gehalten; offenbar fühlen die Tiere sich wohl.
Neu war mir der Pfauentruthahn – ein Geschöpf, über das ich mich noch informieren will. Es hält in der Tat genau die Mitte zwischen einem Pfauen- und einem Truthahnweibchen ein. Der Anblick verwirrt, weil er Unterschiede, die dem Auge geläufig waren, einebnet.
Die Hauptpolemik gegen Darwins Theorie kann man sich sparen, wenn man die Idealität der Zeit in Rechnung stellt. Ob das »Werde« mit einem Schlage verwirklicht oder ob die Hervorbringung der Geschöpfe zeitlich gestreckt wurde – das bleiben taktische Unterschiede, und notabene Unterschiede der menschlichen Anschauung.
Unter den Menschenaffen ist der Anblick des Schimpansen besonders ärgerlich. Am Gorilla tröstet die brutale Stärke, am Orang-Utan der zottige Behang. Der Schimpanse erinnert an einen gutmütigen Seemann, in dessen Antlitz eine bösartige Krankheit ihre Spuren hinterließ. Durchaus erfreulich ist der Gibbon, ein unübertrefflicher Vorturner. Er liefert eine artistische Nummer; sie ist angeboren, nicht mühsam einstudiert. Dazu die erotische Lässigkeit.
Eine Meerkatze schien sich mit einer anderen zu streiten – oder war es ein Liebesspiel? Die himbeerrote Rute war gesteilt. Darunter das Scrotum – himmelblau. Das Organ wirkte, als wäre es mit leuchtenden Pastellfarben massiert.
Die Tiergärten: das ist eine andere Welt. Als Kind spürte ich die Annäherung schon auf dem Wege dorthin, wenn die fremdartigen Schreie herüberschallten; so begann die Initiation.
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Zur Nacht in einer Kirche. Dort Hermann Pfaffendorf, pädagogisch: »Dem muß man doch öfters den Todesspiegel vorhalten.«
Ferner eine kleine Votivtafel: »Der Vater sagte, es sei wunderbar. Gut, daß ich vertraut habe.«
Rotterdam, 16./18. Juni 1965
Wir ankerten über Nacht in der Maasmündung; unser Liegeplatz war besetzt. Vormittags starker Regen, während die Ladearbeit weiterging. Das Schiff schluckte Unmengen von Kali, das für Port Swettenham bestimmt ist, außerdem Güter aller Art.
Nachmittags bei wahrem Orkan durch die älteren Teile der Stadt zum »Europamast«, einem hohen Aussichtsturm. Die Häuser an den Grachten, aus dunklem Ziegel mit hell eingefaßten Fenstern, geben eine Vorstellung vom früheren Wesen der Stadt. Da lebte ich auf. Meine Reihenfolge: Natur lieber als bestelltes Land, in den Städten die alten Bauten lieber als die heutigen. Das knistert aus der Substanz.
Vom Hochturm gute Übersicht. Viele Häfen wirken wie kariertes Schwemmland – so dieser auch.
An Bord, 19. Juni 1965
Noch im Hafen von Rotterdam. Es hat aufgeklart. In diesem Jahr hatten wir erst ein Mal wirklich schönes Wetter, an meinem Geburtstag, und dann ein wenig später, beim »Badengele«-Suchen, wenngleich nicht so heiteres. Wir haben bis zu unserer Abfahrt am 10. Juni geheizt.
Heut ist es ein wenig »föhnig«, wie man in Wilflingen sagen würde; die Arbeit geht nicht voran. Selbst das Briefschreiben fällt schwer.
Nachmittags wieder en route.
An Bord, 20. Juni 1965
Beim Erwachen im Hafen von Antwerpen. Ich habe Henri Plard benachrichtigt, weiß aber nicht, ob er von Brüssel herüberkommt.
An der Reling. Schiffe in Ruhe und in Bewegung, wippende Kräne und Batterien von Öltanks, dagegen viel weniger Personal, als man es vor dreißig Jahren sah. Chiricos Visionen realisiert.
Nachmittags in der Stadt. Museum der Schönen Künste; im unteren Stock moderne Bildwerke. Ich blieb dort nur einige Minuten; der flämische Charakter gewinnt nicht im Lauf der Jahrhunderte. Es bleiben gerade die Elemente zurück, die im Süden und Westen von Anfang an abstießen, nun ohne Hintergrund. Siehe Baudelaire und Bloy. De Coster gelangen noch Rückblicke. Der Realismus wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders grobschlächtig. Man spürt im Vergleich, was verloren gegangen ist.
Oben die alten Bilder, eine der herrlichsten Sammlungen, ein nördliches Gegenstück zu den Uffizien. Hier sind die Italiener so spärlich vertreten wie die Niederländer dort.
Leider hatten wir nur wenig Zeit. Da muß man mehr die Atmosphäre genießen, als sich mit einzelnem einlassen. Zunächst begrüßt man die großen, aus Katalogen, Kalendern und Monographien geläufigen Bilder, dann die unbekannten Werke berühmter Meister, um sich endlich dem Anruf der Schulen hinzugeben, in dem der Name verklingt.
Die Fülle ist nicht zu bewältigen, wohl aber als solche zu genießen in ihrer anonymen Anflutung. Wie das Namen- und selbst das Gestaltlose hervordrängt, das sich hinter Namen und Themen verbirgt – das läßt sich in solcher Spanne wahrnehmen oder ahnen, und der Gewinn wird sogleich sichtbar, wenn man die Straße betritt. Hier sah ich Physiognomien, seltsame Typen in großer Menge; die Straßenbahn, in der wir zurückfuhren, war davon erfüllt. Die Bilder hatten mich angesprochen; ich hatte geantwortet. Nun kam wiederum das Echo zurück.
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Ich war mehr durch die Säle gegangen, als daß ich verweilt hätte. Dennoch konnte ich mich der Macht des Mohrenfürsten in Rubens’ großer »Anbetung der Könige« nicht entziehen. Da ist das Morgenland in seiner Einfalt, seiner Fremdheit und seiner Pracht. Der Mohrenfürst; die grüne Seide des Gewandes; der Reichtum wird in den Atomen erkannt.
Die »Austreibungen aus dem Tempel« von verschiedenen Meistern fielen mir wohl nicht zufällig auf. Sie illustrieren das zentrale Thema unserer Zeit. Die Wechsler sind in Gebiete eingedrungen, von denen das bis vor kurzem nicht einmal zu ahnen war. Sie folgen der Vergeistigung mit ihren Banken und Bänken; ihre Gedanken beherrschen die Welt. Die Zahlen vernichten die Bilder; die Tempel haben Drehtüren. Ein Wechsler treibt den anderen hinaus.
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Im Original sah ich hier zum ersten Mal ein Bild, das mir schon in den Reproduktionen mißfallen hat: Fouquets »Maria mit den Engeln und dem Kind«. Daran stört nicht der Manierismus, sondern der Widerspruch des Motivs zur Dämonie der Darstellung mit den glühenden Engeln im Hintergrund. Das wirkt, als ob der Einfluß einer beglückenden und der einer erregenden Droge sich gemischt und im Bild kristallisiert hätten.
An Bord, 21. Juni 1965
Vormittags gearbeitet, nachmittags wieder auf See. Ich führe drei Manuskripte nebeneinander: dieses Reisejournal, ferner die allgemeinen Notizen, mit denen ich anläßlich des Siebzigsten begonnen habe, endlich »Subtile Jagden«; dort bin ich angelangt bei »Cicindela III«.
Dabei kam ich heut wieder auf die Warm- und Wechselblütigkeit, mit der ich mich seit einiger Zeit beschäftige. Ein Ofen hat nur in geschlossenen Räumen Sinn. Eine gleichmäßige Temperatur, wie heute noch auf weiten ozeanischen Gebieten, konnte nur so lange gehalten werden, wie die Erde von einer Dampfhülle umschlossen war. In ihr muß eine ungeheure Wassermenge suspendiert gewesen sein. Ob die Meere einen geringeren Umfang hatten? Dafür gewaltige Sümpfe mit ihrer Vegetation. Auch durch die Pflanzen wird viel Wasser absorbiert. Das andere Extrem ist die Vereisung; ein gänzlich von gefrorenem Wasser bedeckter Planet. Endlich die Wüste ohne Wasser und Luft.
An Bord, 22. Juni 1965
Früh in Southampton. Zum dritten Mal im Leben durchquerte ich den Kanal, wie immer bei Nacht. Ein Mal erwachte ich und blickte aus dem Kabinenfenster auf eine Stadt, von der ich, wie von einem Planetensystem, nur ein Oval von bunten Lichtern sah. Einige rotierten, andere blinkten, die meisten standen still.
Im Hafen Möven mit schokoladebraunem Kopf. Bei manchen Exemplaren schienen die Flügelspitzen schwarz, doch sah ich es nicht genau. Zu Haus im Peterson nachschlagen. Inzwischen grüßt mir den Bodensee.
Inmitten der Dockanlagen erscheinen die Autos winzig – ein Symptom dafür, daß sich das Auge an die Maße der Titanenwelt gewöhnt.
Abends Relinggespräche – so gestern mit Herrn Becker, einem der Passagiere, der mir erzählte, daß er eine Sammlung von Zinnfiguren besitzt und ständig vermehrt, vornehmlich durch eigene Gußformen.
Um Zinn zu sparen und doch eine gewisse Mannigfaltigkeit zu erreichen, stattet man die Formen nach Art der indischen Götter aus. Ein Reiter schwingt mit der Rechten den Säbel in fünf verschiedenen Positionen, sein Pferd setzt fünf Vorderbeine vor. Nach dem Guß trennt man die überzähligen Glieder ab und variiert so die Postur. Die Mannigfaltigkeit steckt im Model; das Individuum wird ausgespart. Ein Anfänger hielte es umgekehrt. Es gibt eine eigene Zeitschrift für dieses Steckenpferd.
Ganz entfernt kam mir eine griechische Fabel in den Sinn: Ein Gigant wirft Zeus vor, daß er dem Stier die Hörner an den Kopf und nicht an die stärkste Stelle, die Brust, angesetzt habe. Darauf Zeus: »Du willst mich verbessern, der nicht einmal wußte, was ein Stier ist, bevor ich ihn schuf.«
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Zur Reiselektüre habe ich mir den Lichtenberg mitgenommen, und zwar in der Auswahl von Herbert Nette, 1962, bei Diederichs. Mit diesem in unseren Breiten ungewöhnlichen Kopf habe ich mich bald ebenso oft wie mit Montaigne, Bacon und den »Parerga« beschäftigt, und nie ohne Gewinn.
Dieser Gewinn liegt weniger im Text als in der Tonart; die Lektüre spannt die Saiten des Geistes schärfer; bald ist man in Stimmung, als ob man eine halbe Flasche Sekt im Leib hätte.
Testfrage für Höhere Schüler: Warum ist die Werthersche Sentimentalität dem gleichen Geist zuwider, dem die des Laurence Sterne so vollkommen entspricht? Wo endet die Aufklärung, wo beginnt der Sturm und Drang?
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Lichtenberg, p. 30: »Was ist wohl die schlechteste und welches die schönste Tat, die du in deinem Leben nach deinem Urteil begangen hast? Eine geheime Kabinettsfrage.«
Da wird manchem die schlechteste Tat eher als die beste einfallen – und vielleicht noch nicht einmal die schlechteste.
Sollten wir aus guten und bösen Genen gleichermaßen zusammengesetzt sein, etwa seit Kain und Abel, so sind doch die guten diffuser verteilt. Das Böse bringt markantere Figuren hervor; die Untat bleibt länger in der Erinnerung der Völker und der Einzelnen. Die Mischung ist mehr oder weniger unbestimmt. Gelingt das Gute in reiner Inkarnation, so antwortet ihm das absolut Böse; es kommt zu Sonnenfinsternissen in der moralischen Welt. »Messias«, Zweiter Gesang.
An Bord, 23. Juni 1965
Nachts Seegang. Da werden die Träume lebhafter. Wahrscheinlich spielen auch die anderen Himmelsstriche ein. Das Stierlein:
»Nach solchen Nächten freut es mich, daß ich normalerweise von Träumen unbehelligt bin.«
»Was hast du denn Schlimmes gesehen?«
»Ich wollte Licht machen und steckte den Kontakt in die Augen einer Schlange ein.«
»Zugegeben – das Bild ist unangenehm. Aber es steckt Pfeffer drin.«
Soweit das Morgengespräch. Ich dagegen hatte unablässig die Konsonantengruppen bl und pl