Sämtliche Werke - Band 5 - Ernst Jünger - E-Book

Sämtliche Werke - Band 5 E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

Die Bände vier und fünf der »Sämtlichen Werke« enthalten mit »Siebzig verweht« die Tagebücher Jüngers aus den Jahren 1965 bis 1980, die wiederum mit der für ihn so charakteristischen Mischung aus Tagebuchnotaten, Briefen, Reflexionen und Kommentaren aufwarten. Dieser Band umfasst dabei die Jahre 1965 bis 1970. Deutlich rücken in diesen Tagebüchern die zeitkritische Sicht Jüngers und das Verhältnis des Autors zu seinem eigenen Werk ins Zentrum der Reflexionen. Der Gegenwartskunst steht er skeptisch gegenüber – jedoch nimmt er vieles davon erst gar nicht zur Kenntnis. Eingestreut sind zudem Berichte über die Arbeit an eigenen Werken, etwa den »Subtilen Jagden«, »Drogen und Rausch« oder der »Zwille«. Nicht nur als textgenetische Quelle interessant, sind die Tagebücher indes auch Ausdruck von Jüngers Selbststilisierung, die von der Kritik wiederum kontrovers bewertet wurde.

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Seitenzahl: 835

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ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE

Tagebücher I-VIII

Band 1 Der Erste Weltkrieg

Band 2 Strahlungen I

Band 3 Strahlungen II

Band 4 Strahlungen III

Band 5 Strahlungen IV

Band 6 Strahlungen V

Band 7 Strahlungen VI, VII

Band 8 Reisetagebücher

Essays I-IX

Band 9 Betrachtungen zur Zeit

Band 10 Der Arbeiter

Band 11 Das Abenteuerliche Herz

Band 12 Subtile Jagden

Band 13 Annäherungen

Band 14 Fassungen I

Band 15 Fassungen II

Band 16 Fassungen III

Band 17 Ad hoc

Erzählende Schriften I-IV

Band 18 Erzählungen

Band 19 Heliopolis

Band 20 Eumeswil

Band 21 Die Zwille

Supplement

Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß

Ernst Jünger

 

Sämtliche Werke 5

Tagebücher V

Strahlungen IV

Klett-Cotta

Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band entspricht der gebundenen Ausgabe.

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter

Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin

Gesetzt von pagina, Tübingen

Datenkonvertierung: Lumina Datamatics GmbH

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96305-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10905-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

STRAHLUNGEN IV

SIEBZIG VERWEHT II

1971

Wilflingen, 24. Februar 1971

»Lieber Freund Almuro, herzlichen Dank für das Exemplar Ihrer Oper ›Visite à Godenholm‹ – eine kostbare Bereicherung sowohl meines Archivs wie meiner Bibliothek. Zu wissen, daß Sie mit dem Opus zum Ziel gekommen sind, hat mich gefreut. Nun wünsche ich Ihnen auch den verdienten Erfolg. Bitte lassen Sie mich von Zeit zu Zeit erfahren, wie es weitergeht.

Ist Ihr Werk speziell für radiophonische Sendungen bestimmt, oder haben Sie auch an andere Arten der Publikation gedacht? Schön wäre es, wenn auch deutsche Sender Text und Musik ausstrahlten.

Schon haben sich einige Sammler, die sich ungern solche Novitäten entgehen lassen, an mich gewandt. Bei einer Auflage von nur zweiunddreißig Exemplaren wird es aber kaum möglich sein, ihre Wünsche zu erfüllen. Man sollte also wohl eine Photokopie herstellen.

Wahrscheinlich werde ich Ende März einige Tage in Paris weilen. Es würde mich sehr freuen, wenn wir uns dann begegneten.«

Wilflingen, 10. März 1971

An Jan Meyerowitz: »Besten Dank für Ihre Schrift über den jüdischen Witz. Sie haben den heiklen Stoff mit Kennerschaft und Unbefangenheit gemeistert – was rebus sic stantibus, wie ähnliche Versuche zeigen, nicht einfach ist.

Inzwischen ist es März geworden, und vielleicht haben Sie auch die neue Europareise schon hinter sich. Auf alle Fälle wollte ich meinen Dank nicht länger hinauszögern.

PS. Ein Schnorrer kommt zu Rothschild:

›Herr Baron – ich habe seit drei Tagen nichts mehr gegessen.‹

Rothschild: ›Se müssen sich zwingen!‹«

*

»Lieber Prince Ruspoli, herzlichen Dank für die Zueignung des Oxycarabus saphyrinus ssp. juengeri Rusp.

Eine der seltenen Ehrungen, für die ich in dieser bildlosen Zeit noch empfänglich bin. Ich wußte nicht, daß Sie auch als Subtiler Jäger tätig sind.

Natürlich wäre ich gern im Besitz einer Cotype für meine Sammlungen, und auch einer kolorierten Zeichnung oder wenigstens eines Lichtbildes, das meine Trophäenwand bereichern soll.

Vor zwei Wochen war ich mit den Kollegen Heinz und Blumenthal zusammen in Ludwigsburg. Wir sprachen viel über die herrlichen Jagdgründe von Anatolien, die schon die Bodemeyers begeisterten. Herr Korge hat mir auch einige Cotypen der dort von ihm entdeckten Arten gesandt.«

Wilflingen, 12. März 1971

An Karl Christ: »Ihr Gedanke, rezente Schlachtfelder nach Relikten zu durchforschen, würde Jean Paul und Laurence Sterne begeistert haben – Liebhaber und Kenner des Spleens überhaupt.

Nur auf den Walstätten unseres Jahrhunderts kann man der Ausbeute sicher sein. Daher muß ich Sie besonders zum Fund der Chassepot-Kugel von 1870 auf den Spicherer Höhen beglückwünschen. Alte Schießstände will ich ausnehmen. Allerdings hat es dort auch früher nicht an Kugelsuchern gefehlt. In der guten alten Zeit schoß man mit Kugeln, die inzwischen zu ›Geschossen‹ degradiert worden sind. Das ist ein ähnlicher Abstieg wie vom Stuhl zur Sitzgelegenheit oder vom Ofen zum Heizkörper.

Sie wissen sicher, daß sich Fremdkörper von der Ackerkrume abheben. Kinder sehen das besonders gut. Wir haben hier in Riedlingen das Töchterchen eines Lehrers, der Pfeilspitzen und ähnliches aus der Steinzeit sammelt; und diese Kleine hat eine erstaunliche Gabe, im Vorbeigehen winzige Objekte zu entdecken, die der Pflug an die Oberfläche gehoben hat.

Die absolute Feuerkonzentration habe ich im Hohlweg vor Guillemont erlebt, von dessen Böschung man auf den zu Spänen zerschossenen Trôneswald hinuntersah. Dorthin sollten Sie einmal auf Beute gehen. Stark bleihaltig war es auch längs der Straße Langemarck-Bixschoote. Dort bin ich sogar Ihr Vorgänger gewesen, insofern als ich beim hastigen Eingraben auf Koppelzeug und Patronen von 1914 stieß.

In Flandern sollte man wohl auf den Höhen suchen, denn der Schlamm der Niederungen läßt die schweren Objekte einsinken. Es verschwanden ja sogar Kanonen in ihm.

Gewiß hat sich Ihnen, wie jedem Sammler, schon die Frage nach der Systematik gestellt. Die Beute meiner ›Subtilen Jagden‹ kann ich nach der Artzusammengehörigkeit oder nach den Fundorten einordnen. Ähnlich wird es bei Ihnen liegen – den Index geben entweder die Waffentechnik oder die Kampfplätze. Bei der Technik wird die Art der Waffe oder des Metalls im Vorrang stehen. Wahrscheinlich gibt es auch Funde, die der Schwere wegen für Sie zu groß zum Mitnehmen sind. Man hört von Bauern, die aus Blei und Eisen einen größeren Gewinn zogen als aus Kartoffeln und Korn.

Auch beim Briefmarkensammeln mußte zuerst einer auf die Idee kommen. Jedes Spiel hat Annehmlichkeiten, die sich ergänzen – so bei Ihnen der Genuß am Fußwandern. Wer ihn erst einmal entdeckt hat, läßt bis zum Ende nicht mehr davon ab. Eine Meile zu Fuß ist wertvoller als hundert Kilometer im Automobil. Als Sammler habe ich während der Pannen die besten Fänge gemacht. Hoffentlich wird sich das auch auf Kreta, wo ich den Mai verbringen will, wieder bestätigen.

Also halten Sie mich weiter über den ahasverischen Rundgang in den ausgeglühten Gefilden auf dem Laufenden. Und vergessen Sie nicht: Guillemont. Meine Schrapnellkugel werden Sie dort freilich nicht finden, denn ich nahm sie auf den Operationstisch mit.«

Wilflingen, 14. März 1971

Ein großes Netz war zu entwirren; wir tasteten uns in seiner Ordnung langsam vor. Masche um Masche wurde in die rechte Bahn gelegt; zuweilen wurden morsche Stränge abgeschnitten, andere abgezweigt.

Wir lagen auf dem Bauche, neben mir einer in abgetragener Uniform: der Oberförster, der diesmal als Hindenburg erschien.

Nachdem wir lange als Seilflicker und Seilflechter vorangekrochen waren, kamen wir in eine Höhle, in der die Netzbahn endete. Der Fang war merkwürdig: ein Adreßbuch mit einer Rangliste der russischen Generalität. Merkwürdig auch, daß es uns gute Laune machte, als wir es durchblätterten.

*

Der Traum ist mehr als eine Schachpartie, die der Geist auf seinem eigenen Felde genießt. Ihm ist dabei ein Blick hinter die Kulissen der raumzeitlichen Welt vergönnt. Ihr Ablauf wird bei solchen Einsichten verschoben, als ob ein Filmband rückwärts abrollte oder in die Zukunft vorschösse. Ursache und Wirkung scheinen wunderlich vertauscht.

Ursache und Wirkung sind in Bildern konzentriert. Wir sind präsent in einer Stärke, von der, was wir bei Tage als Geistesgegenwart bezeichnen, nur ein Schatten ist. Daß sich im Leben und seinem Schicksalsgang Auswege öffnen, die uns retten, hat in diesen Schichten seinen Grund. Wir finden in den Träumen unser Selbst in seiner Fülle wieder; und die Entdeckung läßt uns ahnen, daß wir viel mehr vermögen, als wir uns zutrauen.

*

Wir träumen als Übersetzer eigener Urtexte. Dabei ist uns die Freiheit des Romanciers gegeben, der, wenn er, von Schaffenslust getrieben, die Feder zur Hand nimmt, nicht weiß, wie die Handlung enden wird. Der Stoff beginnt zu keimen; es obliegt nun der Phantasie, hier oder dort anzusetzen – ein Zweig wird es auf jeden Fall. Die Freiheit des Autors fesselt stärker als die Strenge, mit der er das Thema zwingt.

Als Träumer ist jeder genial. Da ist er Künstler – ja mehr als das. Das Kunstwerk erinnert an unsere Traumwelt, doch nur als Annäherung – es führt an sie heran. Das ist einer seiner Ausweise: ob es diese Stimmung erzeugen kann.

Wilflingen, 3. April 1971

Gesät: Spinat, Mangold, Weiße Rüben, Braun- und Rosenkohl, Zuckermais, Petersilie. In der stahlblauen Nieswurz leuchten die weißen Staubfäden.

Wilflingen, 18. April 1971

Der Frühling ist trocken; trotzdem blühen die Blumen im Garten überwältigend. Darunter neue: so eine Gruppe spannenhoher Iris – einige tragen wie das Grünfinkenmännchen einen schwefelgelben Streifen, andere im matten Blau einen kräftigen Akzent von Saphir.

Vergängliche Schönheit; der Frühling huscht durch den Flor. Wir spüren davon nur einen Hauch. Wenn es den Duft nicht gäbe – vermissen würden wir ihn nicht.

Ein Tauber steht vor einer Spieluhr; er betrachtet die metallene Walze. Sie erfreut ihn wie eine Stickerei oder wie eine Schrift, die in ein Rollsiegel gestochen ist. Sie ist sichtbar, doch nicht lesbar für ihn.

Nun beginnt die Walze sich zu drehen und wiederholt im Wechsel das Punktogramm. Was würde es dem Tauben frommen, wenn er wüßte, daß jedem Punkte eine Note entspricht? Er erblickte vom Kunstwerk nur einen Ausschnitt: kaum mehr als die Mechanik der Umdrehung, die schon genügte, ihn zu entzücken; er entbehrte nicht ihr Lied. Aber er könnte es mit den Fingerspitzen abtasten. So legte Helen Keller die Hand auf den Mund der Lehrerin. Das Mädchen war nicht nur taubstumm; es war auch blind.

Das sind Kryptogramme; auch die Pracht einer Muschel aus der lichtlosen Tiefsee ist nicht für unsere Augen erdacht. Sie dürfen teilnehmen.

Heppenheim, 22. April 1971

Am Morgen Abfahrt. Aus dem Wagen sah ich, daß wieder an eines der schönen alten Häuser die Spitzhacke gelegt wurde. Das Gestühl, schon der Ziegel beraubt, zeigte noch einmal die strengen Linien, in denen es vor Jahrhunderten ländliche Zimmerleute aufführten – die Runenschrift.

Immer wieder das Dilemma der Frühlingsfahrten – will ich am Mittelmeer nicht frieren, so kann ich erst aufbrechen, wenn hier der Garten mit seinem vollen Flor beginnt. Jetzt standen die Kaiserkronen vor ihrer Öffnung – viele braunrote und eine gelbe; ich kaufte die Zwiebel vor vierzehn Jahren am Seinequai bei Vilmorin. Sie blieb dem Garten treu, doch immer nur mit einem Sproß, während die roten sich stark vermehrt haben. Die Händler wissen schon, warum sie für diese gelbe den hohen Preis fordern.

Vor der Blüte stand auch die Felsenbirne, Amelanchier, die ich vor zehn Jahren gepflanzt habe. Ich werde sie also heuer nicht im Schmuck ihres hauchfeinen Gefieders sehen, das einem Schwanenflaum gleicht.

Am Vorabend noch zwei Beete Erbsen gelegt, gelbe Lilien gepflanzt. Einen Garten läßt man ungern im Stich.

Im Flugzeug, 23. April 1971

Früh auf und mit dem Zuge nach Frankfurt. Dort am Bahnhof hatte ich den Eindruck der stärksten Massierung, die ich jemals sah. Selbst in Tokyo war ich nicht so im Malstrom von Menschen, deren Eigenart sich auflöst wie inmitten eines Heringsschwarmes oder der schnell rotierenden Grisaille eines Kaleidoskops.

Ich wartete auf das Stierlein, das sich nach einem Gepäckroller umsehen wollte, mit steigender Angst, als ob es unmöglich geworden wäre, es wiederzusehen.

Woher diese Angst? Sie hatte weniger mit dem Ort und dem Gewimmel zu tun als mit dem Angriff auf die Individualität. Der Mensch verliert als Einzelner den Sinn. Er wird den Nächsten nicht wiederfinden – das Verhältnis löst sich auf. Das heißt ertrinken im Menschenozean. Was sind dagegen die Revolten? Ganz kleine Wellen, die den Prozeß der Nivellierung eher begünstigen und beschleunigen als aufhalten. Das Schicksal wird immer eindeutiger zum Schicksal der Spezies. Sie fordert uns unsere Eigenart ab, und die Versuche, diese noch zu erhalten, etwa durch Haar- und Barttracht oder durch Exzentrizitäten, sind im Grunde Zuchthausrevolten; sie ändern nichts daran, daß es täglich mehr Menschen und mehr Maschinen geben wird. Die Rotation und mit ihr die Abschleifung gewinnt.

Eine weltweite Urbanisation, Fabriken und Schulen – die Pauker und die Bonzen spielen sich gegenseitig das Zepter in die Hand. Da fällt das Entrinnen schwer. Sie werden zunächst den Menschen schaffen, der damit zufrieden ist – und sei es durch Glückspillen.

Im Flughafen. Bedienung im Restaurant: ein Mann an der Bar, einer an der Kasse, ein dritter räumt die leeren Flaschen und Gläser ab. Für diesen Service hätte man früher fünfzehn bis zwanzig Kellner gebraucht. Wie bei all solchen Vereinfachungen wird allerdings die Arbeit nur neu verteilt, und zwar zu Lasten des Publikums. Das geht unter dem Euphemismus »Selbstbedienung« – ganz zu schweigen von der verminderten Qualität und dem Verlust an Gemütlichkeit.

Abflug 10.30 Uhr, also mit einer Stunde Verspätung. Zuvor wurde das Handgepäck nach Molotow-Cocktails untersucht und das Stierlein sogar in einer Kabine nach Waffen abgetastet, dann teilte uns der Flugkapitän mit, daß sich der Start wegen eines Bummelstreiks auf dem Kontrollturm verzögere.

12.15 Uhr Saloniki, dann, endlich einmal wieder, das Mittelmeer.

13.30 Uhr gezackte Inseln (Zakynthos, bei Homer »das wälderreiche«, jetzt aber kahl). Es könnten Wolken am blauen Himmel sein, wenn sich Oben und Unten umkehrten.

13.40 Uhr deutlich Santorin mit den beiden Teilen, sogar Thera als helles Reiskorn am Hang.

Landung in Iráklion. Dann im Autobus nach Stalís.

Erster Erkundungsgang am Berghang, der mit Johannisbrotbäumen locker bestanden war. Die Scillen waren bereits verblüht, doch reich standen noch Margeriten, Ginster und Calendulae im Flor, auch ein schöner gelber Labiat.

Nach solchen Betrachtungen erscheinen die Blüten dem inneren Auge vor dem Einschlafen und im Traum, als ob immer neue Augen sich aufschlügen.

Stalís, 24. April 1971

Erster Gang entlang der Küste bis nach Mália. Die rote Erde, auf der zahllose gelbe Margeriten blühen. Gespräch über den Dandysmus der Heutigen. Wollen den »Arbeiter« (den homo faber) in seiner Ordnung (»establishment«) schocken oder gar aus den Angeln heben: durch Ideen des 19. Jahrhunderts, aufsässiges Verhalten und nachlässige Tracht.

Der Dandy von damals verachtete das Wissen, benahm sich nachlässig, doch nobel. Diese verachten die Technik nicht, durchschauen die Fesselung, die sie zwar spüren, nicht hinreichend. Neue Schulen, neue Fabriken drohen. Haben Autos (während die Technik die Straßen zu verstopfen beginnt).

Nichtstuer spielen sich als Proletarier auf. Halbbildung. Schlagworte. Benutzen ihre Freiheit, um die Gleichheit auf niederer Stufe zu propagieren; ein böses Erwachen steht bevor. Freiheit fördern sie vielleicht nur in Dingen der Moral.

Wir kamen, Pflanzen und Tiere betrachtend, nach Mália. Aßen dort in einem kleinen Restaurant, dem eine junge Wirtin emsig vorstand, die zudem mit einem ungezogenen Kinde beschäftigt war. Erfreulich bald kamen Spießfleisch, Souflakia, Brot und Wein auf den Tisch. Ebenso erfreulich war es, dieser Behenden zuzusehen – wie immer, wenn wir jemandem begegnen, der sein Handwerk beherrscht. Neben uns junge Deutsche und Engländer mit überlangem Haar. Möchte demnächst mit einer solchen Gruppe ein Gespräch anknüpfen.

Auf dem Rückweg hielt ein Auto, das uns überholt hatte. Dr. Wittmer aus Basel und der Studiosus Wewalka aus Wien stiegen aus – damit waren wir innerhalb von zwei Tagen drei Entomologen begegnet, denn gestern sprach uns bereits Dr. Benick aus Lübeck, der große Kenner der Gattung Atheta, im Flugzeug an. Wir kamen sogleich am Straßenrand in ein lebhaftes Gespräch, zeigten die Ausbeuten vor. Wahrlich, ein Geheimorden, eine Art auf Ideogramme und Zeichen gegründeter Freimaurerei.

Stalís, 25. April 1971

Nachts schwüler Südwind. Vor unserem Gang, der auf den Berg führen soll, im Bungalow Notizen, Betrachtung des Herbars.

Vor der Terrasse ein Beet mit der rotbraunen Erde, die auch in Attika und auf Sizilien das Grün der Vegetation herausfordert. Schöne große Rosen, rot, gelb und weiß. Ein Zitronenbäumchen mit grünen Früchten, Sanddorn, Levkojen, Nelken, Rosengeranien, zerschlissene Bananenstauden, Opuntien. Zwei Wege, der eine von Wandelröschen, der andere mit hohen weißen Margeriten heckenartig gefaßt. Am Abend durchdringen sich Levkojen- und Orangenblütenduft.

Der Weg war steinig, an den Rändern Ginster und Pflanzen der Macchia. Nach zweistündigem Anstieg war der Kamm erreicht. Beschneite Gipfel tauchten auf. Ein Tal, gut bestellt mit Weingärten, die Reben stämmig, niedrig, alt. Dazwischen Weizen und Ölbäume. Die Feldmark des Dorfes Mochós, das mit seinen weißen Häusern und Mauern im Grunde leuchtete. Gang durch die Straßen, die aus dem Fels hervorwachsen. Rast in der winzigen Gaststube eines kleinen Wirtshauses. Gleich kam der gute blaßrote Wein des Tales auf den Tisch, dazu das weiße Brot seines Kornes und eine Sorte Oliven, fast eine Wildart, nur ein Viertel so groß wie die üblichen, doch von erlesenem Geschmack; endlich auch Spiegeleier, in Öl schwimmend, Seesalz dazu. Türkischer Kaffee beschloß das Mahl. Die Verständigung mit dem Wirt wurde schlecht und recht vermittelt durch Georgios Kallergis, einen Ansässigen, der vor einem halben Jahr aus Australien zurückgekommen ist. Bei solchen Gesprächen muß man eine Zwischenübersetzung einschalten – vom Australischen ins Englische. Er lud uns für den nächsten Sonntag ein nach Krássi, wo er mit seiner neunzigjährigen Mutter wohnt.

Stalís, 26. April 1971

Das erste Bad im Mittelmeer. Es war wie eh und je prächtig, obwohl mit gewissen Mängeln gerechnet werden muß. So mit Ölrückständen, die allerdings an der Atlantikküste bei Agadir gefehlt haben. Auf Elba fand ich sie besonders üppig ausgebildet, ebenso an der Nordsee auf Juist. Hier nehmen sie die Form festgeballter Klumpen an, sie wechseln von der Größe eines Roßapfels bis zu der eines Brotlaibes. Es soll Organismen geben, die sich von dieser Masse nähren; vielleicht könnte man sie züchten, etwa in Lagunen, und dann mit Flugzeugen auf das Meer absprühen.

Ferner bedrückt, hier wie überall, der Anblick von Neubauten, die längs der Küste emporwuchern.

Wir erkundeten den Strand, auf dem sich ein Sandläufer des östlichen Mittelmeeres tummelte. Die Gänge folgen an allen Küsten dem gleichen Ritus – langsames Schlendern mit der Betrachtung der Fauna und Flora, Gespräche über beliebige Themen, Meer- und Sonnenbad, dazwischen kurze Abstecher in das Dünenland und den Strandgürtel. Endlich auch Reflexion – so hier über »Die Zwille«, eine Erzählung, die seit Monaten in statu nascendi ist, ohne daß schon eine Zeile entstand. Die Zeit läuft leicht dahin; sie wird eher zu knapp als zu lang.

Auf dem Rückweg Rast vor einem kleinen Kapheneion, im Schatten eines Maulbeerbaums. Ein altes Ehepaar brachte Wein, Brot, Oliven; die Frau buk Eier in Öl. Ringsum verwilderte Äcker; die Bestellung der kleinen, steinigen Stücke lohnt wohl nicht mehr. Es wirft mehr ab, wenn man, wie der Sohn dieser Alten, nach Deutschland in die Fabriken geht.

*

Lange, tiefe Siesta; die Träume werden deutlicher. Dann Abendgang im Hinterland. Johannisbrot- und Olivenbäume, verkarstete Äcker, zerfallene Häuschen, deren Gemäuer der Gecko bewohnt. Bei Sonnenuntergang wird die Erde dunkler, fast blutig rot. Die Farben und Formen der Blüten schmelzen zusammen in breite Flächen – Verlust der individuellen Schönheit zugunsten tieferer Einheit, in der sich die Nacht ankündet.

Stalís, 27. April 1971

Nach dem Frühstück die tägliche Aufzeichnung, während deren der Blick sich zuweilen an dem roterdigen Beet erholt, auf dem herrliche Rosen bei einem Mindestmaß an gärtnerischer Mühe blühen.

Dann Strandgang in Richtung Cherssónissos, den Klippen entlang. Dort zwischen dem Gefels eine Mulde zum Sonnenbad. Das Wasser, grün und in den Wellen violett, war angenehm. Kleine Turmschnecken, bräunlichweiß marmoriert, zwischen den Tangschöpfen, jede von einem Einsiedlerkrebs bewohnt. Zuvor hatten wir ein wenig in den rockpools gefischt.

Mit dem Autobus ins Land. Wieder in einer der kleinen Wirtschaften. Vom Meer erfrischt, von der Sonne durchglüht, genießt der Körper ein zugleich waches und schläfriges Behagen; das animalische Wesen dehnt sich wie der Leib des Geckos auf der Felswand, dicht an der Erde, stärker besonnt.

Lässige Unterhaltung beim Genuß des weißen Weines der Insel, der den Namen des Königs Minos führt. Das Paradies ist seit jeher verloren; wir streifen nur seine Ränder an der Zeitmauer. Schon Hesiod beklagt den Verlust. Die Romantiker suchten noch einen Zipfel der Geschichte zu fassen, die vor ihren Augen entschwand. Und uns schmilzt die Natur zu immer kleineren, von der Ökonomie und der Technik bedrohten Inseln dahin. Das Gefühl des Beraubtseins vererbt sich von Geschlecht zu Geschlecht.

*

Dann über »Auferstehung«. Daran hatte ich kaum je einen Zweifel – im Gegenteil: diese unsere innerzeitliche Existenz kam mir mit der Zeit immer unwirklicher, dünner, schattenhafter vor.

Die Auferstehung wirkt glaubwürdiger als die Wiederkehr, an der ich ebensowenig zweifle – etwa an der Wiederkehr mythischer Figuren in den historischen – denn schon die Tatsache der Vererbung von Physiognomien und Charakteren bezeugt sie deutlich genug. Doch bleibt sie auf den natürlichen, mythischen und historischen Zusammenhang beschränkt. Die Auferstehung dagegen ist außerzeitlich, ist reine Aufzeigung unzerstörbarer Substanz.

Erscheinen uns daher Vater und Mutter oder auch der Bäcker, der an der Ecke wohnt, auf diese Weise, so mag es wohl einen Augenblick des Erstaunens und des Erschreckens geben, dann aber völlige Gewißheit, Übereinstimmung. Die Illusion fällt ab, in der wir wie in einer Muschelschale hausen; dem folgt ein Aufatmen – auch ein listiges Einverständnis: der Trug der Zeit ist überwunden; nicht nur die persönliche Existenz, sondern auch die Ordnung der Welt werden in das ihnen gebührende Maß gerückt. So beginnen die großen Abschnitte.

Wandlung und Wiederkehr: oft und in Stufen; Auferstehung nur ein Mal. Wandlung im Zwischenreich, Verwandlung in einer völlig neuen Dimension.

Stalís, 28. April 1971

Wetterwechsel, Wind bei getrübtem Himmel; gut für das Stierlein, die Sonne hatte ihm zugesetzt.

Ein freundlicher Engländer kam in unseren Bungalow. Nach einigem Mißverständnis begriff ich, daß er mir ein Insekt zeigen wollte; er hatte mich wohl bei der Subtilen Jagd beobachtet, vermutlich vorgestern am Strande, wo wir einer kupferbraunen Cicindela nachstellten. Seine Kinder führten uns dann zu einer Hecke, auf der ein Segelfalter ruhte, ein prächtig gebändertes Exemplar.

Während das Stierlein seinen Sonnenbrand pflegt, durchstreife ich den Felshang oberhalb des Orts. In solchem Gelände fühlt sich der Johannisbrotbaum wohl. Das Korn der Schoten soll früher als Edelsteingewicht gedient haben. Das griechische Wort karube wird von Etymologen mit Karat kombiniert. Merkwürdig insofern, als die Kerne doch wohl verschiedenes Gewicht haben.

*

Gut sind in den kleinen Wirtschaften das weiße Brot, das köstliche Wasser der Insel, der Wein und vor allem das freundliche Wesen der Kreter – ein großer Unterschied zum oft finsteren, mißtrauischen Verhalten der Sarden und Sizilianer; das Klima, auch im Humanen, ist aufgeschlossener. Sie fragen nach der Nationalität und begrüßen den Deutschen mit besonderer Freundlichkeit. Immerhin merkwürdig nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Viele haben in Deutschland gearbeitet.

Bald stehen die guten Dinge auf dem Tisch, ohne daß der Eindruck von Arbeit dabei entsteht. Arbeit und Muße sind noch nicht, wie bei den germanischen Völkern, getrennt. Freilich war es auch bei uns früher anders – ein Drucker, der vom Morgen bis zum späten Abend tätig war, arbeitete nicht im modernen Sinn. Paulus: »Die Kreter sind faule Bäuche« – Gott sei Dank.

Stalís, 29. April 1971

Iráklion. Abgesehen davon, daß alle Städte durch das Auto entmythisiert und durch Neubauten sowohl im Kern verändert werden als auch in der Ausdehnung verschwimmen, fand ich diese besonders deformiert.

Zunächst wurde, wie immer, der Markt besucht, der sich an einer Straße entlangzieht und aufweist, was die Insel zu bieten hat. Wieder entzückte mich das Wasser, das seit dem Altertum gerühmt wird; es ist klar und fast ätherisch, mit einer Ahnung von Blau. Die Elemente können sich in einer reineren und höheren, in ihrer eigentlichen Potenz zeigen; ich erfuhr das auch auf Rhodos mit der Luft.

Ich entsinne mich nicht meines ersten Aufenthaltes in Iráklion. Die Stadt ist eine Art Bahnhof für Knossós – als solcher dient sie den Strömen von Reisenden, die mit den großen Dampfern oder auf dem Flugplatz landen, während schon die Autobusse für sie bereitstehen.

In einer Wirtschaft am Brunnen des Morosini in einer Nebenstraße – doch keine ist so klein, daß nicht Motorräder wie auf dem Laufenden Band vorbeirollten.

Gespräch, unter anderem über die Abwertung der Ballade im Unterricht. Verständlich als Nebenerscheinung des Verlustes an historischem Bewußtsein und seiner Kontinuität. Man lebt nicht mehr vom Stoff und seiner Darbietung, wie etwa vor hundertfünfzig Jahren auch der einfache Mann von Schillers und Uhlands Gedichten oder »des Knaben Wunderhorn«. Damit gewann der Schüler mühelos, ja mit Genuß Modelle für menschliches Verhalten in den Höhen und Tiefen – Glück und Unglück, Schuld und Sühne, Mut und Hybris; das alles in großer Dichtung, nicht in dürftiger Ideologie.

Abneigung gegen die Erinnerung an den historischen Fundus ist eine Spezialform der Eliminierung des Schicksals überhaupt. Es soll, wie etwa Glück und Unglück, auf die Ziffer gebracht werden – durch Versicherung und allgemeine Teilhabe oder als der Haupttreffer unter Millionen, das Große Los.

*

Der Brunnen des Morosini, 1628, mit seinen Löwen und Seetieren ist durch Sonne und Salzluft stark verwittert, was ihm eher einen Reiz zuträgt: die Natur schließt mit dem Künstler einen Kompromiß. So bei der Venus von Rhodos, die in den Wellen gerollt wurde. Der Marmor spricht deutlicher, die Ausführung wird auf die Konzeption reduziert.

Dieser Brunnen bildet ein Zentrum – die allabendliche vólta, so heißt hier der corso, bewegt sich aber auf dem »Platz der Freiheit«, den Hunderte von Stühlen einsäumen. Zuweilen schreitet noch ein Kreter in der alten Volkstracht durch das Gewühl: mit Schritten des Mannes, der nicht ausgestiegen, sondern abgesessen ist.

In der Nähe dieses Platzes das Denkmal des Dhaskalojánnis, eines kretischen Freiheitshelden, modern, wie es nicht anders sein kann, da die Türken erst 1898 von der Insel abzogen. Dieser Märtyrer wurde von ihnen nach dem mißglückten Aufstand von 1771 öffentlich gehäutet; um sein Leiden zu verdoppeln, stellten sie einen Spiegel vor ihm auf. Ich fragte mich, ob ein solcher Zug von exzessiver Grausamkeit nicht besser aus der Erinnerung zu löschen und zu sekretieren sei. Doch was bedeutet eine solche Frage im Zeitalter des Filmes, der Photographie?

*

Den Weg zu unserem Bungalow faßt eine Doppelhecke von Wandelröschen ein; ihn zu beschreiten, ist jedesmal ein Genuß. Die bunten Blütenpolster sind in Pastellfarben gehalten; sie streicheln die Augen im Vorübergehen. Falter, Bienen und Hummeln fliegen zwischen ihnen hin und her.

*

Die Zecke. Es gibt derbhäutige Tiere, die sich durch ihre Plattheit schützen und kaum zu zerdrücken sind, dünn wie ein Bettelpfennig oder wie ein ausgehungerter Schulmeister des Alten Fritz. Doch finden sie ein Plätzchen zum Blutsaugen, so werden sie fett wie die Domherren. Sie sind auf derbsten Zu- und Angriff vorgeformt, auf Druck und Unterdrükkung präformiert.

Stalís, 30. April 1971

Besuch beim Doktor Benick, Notar in Lübeck, einem der Großmeister des Ordens der Subtilen Jäger; er hat sich als Sonderfeld die Gattung Atheta (ἄϑετος: »unpassend«, »äußerst schwierig«) ausgesucht. Sie umfaßt Hunderte von dunklen Kurzflüglern, von denen wenige länger als ein Reiskorn sind und die sich nur durch winzige Unterschiede voneinander abheben.

Gleich entspann sich ein intensives Gespräch, während das Stierlein und des Doktors Gattin ein wenig abseits andersartige Erfahrungen austauschten. Unter den Entomologenfrauen gibt es solche, denen die Tätigkeit des Gatten durchaus zuwider ist, während andere sie wohlwollend dulden oder gar sich als Helferinnen beteiligen. Da das Treiben im Feld und hinter dem Mikroskop sich oft zur Manie steigert, die jede freie Minute bis tief in die Nacht hinein ausfüllt, fehlt es nicht an Konflikten, die an jene des Jean-Paulschen Doktor Katzenberger anklingen.

»Wir müssen einräumen, daß wir unseren Frauen oft allerhand zumuten«, meinte Doktor Benick, »so war die meine doch wenig erfreut über einen Beutel voll Taubenmist, den ich in unser Reisegepäck einschmuggelte. Aber was wollen Sie: wie soll man Atheten ködern ohne Taubenmist?«

Ich entsann mich dabei ähnlicher Schwierigkeiten, so der Flasche voll Essigäther, die auslief, gerade als wir auf dem römischen Hauptbahnhof in den Schlafwagen einstiegen. Doch wie wäre die Welt erträglich ohne solche Narrheiten?

Die Stunde mit dem Ausblick auf die Ägäis war köstlich und ermunterte uns, für nächsten Dienstag einen Wagen zu mieten für eine Exkursion bis an die Schneegrenze.

Stalís, 1. Mai 1971

Ernstels Geburtstag; er würde heut fünfundvierzig Jahre alt.

Wieder im Strandnest. Das Meer war dunkelblau in den Wellen und blaßgrün in den Tälern – so faßt das Gefieder des Pfauenschweifes die Augen ein. Blau- und grünes Muster hieß die »Narrenfarbe« – das gilt nicht in der Natur, deren Einheit so mächtig ist, daß sie jeden Kontrast bezwingt.

Es war Sonntag; vor uns fischten zwei junge Griechen mit Dreizack und Maske; wenn sie eintauchten, leuchteten ihre grünen Flossen in der Sonne wie die von Seetieren.

Stalís, 3. Mai 1971

Nachts Schirokko; unruhiger Schlaf mit den Feuerträumen, die mir schon vor vielen Jahren auf Sizilien zusetzten. Ein potenzierter Föhn.

Erste Briefe. Friedrich Georg ist aus Rom zurückgekehrt. Es hat ihm dort gefallen, wie zu erwarten gewesen war. Schon in den »Zwei Schwestern« gab er ein gutes Bild der Straßen und ihrer Stimmung, obwohl er nur wenige Tage in der Stadt geweilt hatte.

Klaus Ulrich Leistikow schreibt aus Porto Alegre: »Hier zeigt die Bundesrepublik dreitausend Musterbeispiele jüngster Produktion des Büchermarkts. Ein Besuch, schlimmer als in der Morgue.«

Stalís, 4. Mai 1971

Ausflug mit Benicks durch das Hinterland. Dort wird es feuchter und grüner; weite Flächen sind mit Korn, Wein, Tomaten, Kartoffeln, Bananen und die Hänge mit Oliven- und Johannisbrotbäumen bestellt.

Kurze Rast am Paß von Lassíthi, den ein Gatter aus verfallenen Windmühlen krönt. Dort wurden Auf- und Abwind genutzt. Dann ausgedehntes Verweilen am kleinen Hügel des Klosters Panajía Kroustalénia an einem Wildbach, der zum Megálos Potamós strömt. Ein romantisch-heroischer Ort. Streifzüge im Wald und im Bachgrunde. Ahorne und Steineichen haben ihre Wurzeln in den Fels getrieben, der mit dem Holz zu einer silbergrauen Masse verschmilzt. Zeit und zeitlose Stille vereinen sich hier, als ob Jahrhunderte des Wachstums durch einen Zauber gebannt wären.

Vögel flogen über die Fläche, Bachstelzen und Steinschmätzer, in scheckigem Wirbel der Wiedehopf. Eine Nachtigall schlug einige Takte in den Baumkronen. Noch blühten der Weißdorn, der Ahorn, die Asphodelen, die Ferula und in außerordentlicher Schönheit eine safrangelbe Lilie. Wein und Efeu rankten sich bis in die Baumkronen.

Solche Stunden auf den Inseln geben immer wieder ein unvergeßliches Geschenk, als träte man in ihre Schatzkammern ein. Die Besuche in den Museen und Kirchen sind demgegenüber eher Bestätigungen, als gerönne ein plasmatischer Traum und würde in Werken und Taten fixiert. Geschlechter und Kulturen haben an der Substanz gewirkt und lassen die bunten Schalen der Schneckenhäuser zurück. Es ist ein Unterschied wie zwischen Melos und Sprache; er nährt sich vom Unaufgelösten; das Wissen schneidet uns die Stücke vor. Minos und Rhadamanthys kommen näher, wenn man die Namen vergißt.

*

In einem der nahen Dörfer hielten wir Mittagsrast. Auch hier das alte Wirtspaar, mit dem es, wenigstens sprachlich, kaum eine Verständigung gibt. Doch geschieht etwas in der Küche am offenen Herde, und während wir im Schatten plaudern, kommen Brot und Wein, kommen Oliven und Schafkäse, gebackene Eier und der türkische Kaffee am Schluß.

Das Brot, das sie brachten, war kein besonderes Brot, wie man es in vielen Sorten auf den Märkten sieht. Ich entsinne mich nicht, jemals desgleichen gekostet zu haben; es war das Brot schlechthin. Es war weniger in Scheiben geschnitten als zu Schollen gebrochen, rotbraun und klebrig wie diese Erde nach der Regenzeit. Darin waren Körner zu spüren, vielleicht Hafer oder Gerste, wildgrasartig, von urtümlicher Kraft. Eine Ahnung davon gibt der Pumpernickel, nicht der schwarze, der in den feinen Geschäften in Silberpapier ausliegt, sondern der braune, der in Westfalen gebacken wird oder jedenfalls früher gebacken worden ist. Das hier war nicht geweihtes Brot, nicht das Brot der Sakramente, nicht das tägliche Brot, vom Vater erbeten, sondern einfach verwandelte Erde, das Brot der Demeter unmittelbar. Es war nicht wohlschmeckend, aber es schien mir, als ich es aß, als ob alles Brot würde, als ob es ausstrahlte, bis auf die Hände der Alten, die es auftischte.

Dabei muß ich noch einmal das Wasser der Insel erwähnen, denn es geschieht selten, daß wir im Altvertrauten einen Genuß entdecken, als ob wir erst jetzt mit ihm bekannt würden. Dann verliert sich die Eigenart an ihm. Die Brise scheint nicht mehr zu wehen, sie hat weder Wärme noch Kühle; die Stille ist nicht mehr lautlos, sondern sie hat ihre Tiefe – und so ist es auch hier das Gefühl, als tränke man nicht Wasser mehr. Das ist die Wahrnehmung des Genuinen, und aus ihr ist zu schließen, daß das Glück unser eigentlicher Zustand ist. Dann stört auch die Zeit nicht mehr.

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Wir fuhren über Neápolis zurück, dessen Kathedrale fernhin erscheint. Wir traten nicht ein, denn von all diesen Hauptkirchen ist anzunehmen, daß sie erst in diesem Jahrhundert, nach dem Abzug der Türken, errichtet worden sind. Dagegen überstanden Hunderte von über die Landschaft verstreuten Kapellen, die oft ganz einsam liegen, die Fremdherrschaft.

Die Völker der Küsten und Inseln des östlichen Mittelmeeres, auch Spanier und Portugiesen, erfuhren durch lange Unterdrückung Abhärtungen wie durch eine Schutzimpfung. Die einen mußten den Effendi demütig grüßen, wenn er vorüberritt, andere zogen sich in die Gebirge zurück, den Knochenbau ihrer Landschaften. Sie sind hart in den Glaubens- und Nationalkriegen. Napoleon erfuhr es in Spanien, und auch wir auf dem Balkan während des Zweiten Weltkrieges.

Daß man hier als Deutscher ungeachtet der Erinnerung an die Besetzung nicht nur freundlich, sondern ausgesprochen herzlich begrüßt wird, notiere ich abermals am Rand. Der Besuch so vieler Deutscher einerseits, die Heimkehr von Kretern andererseits, die mit hartem Geld von der Arbeit bei uns zurückkommen, mag dazu beitragen.

Dabei fällt mir ein, daß ich über viele Zusammenhänge des letzten Krieges so mangelhaft informiert bin, als lägen sie in ferner Vergangenheit. Warum faßte Hitler den Entschluß zur Eroberung von Kreta, und was versprach er sich davon? Wollte er die Engländer vernichten, die sich nach dem Rückzug aus Griechenland hierher zurückgezogen hatten, oder Ägypten in die Zange nehmen – jedenfalls hat er zunächst unsere Elite dezimiert.

Die Charakterologie dieses Mannes ist wichtiger als die Kenntnis seiner Ideen, die aus dem Charakter hervorgingen. Nietzsche sah in Napoleon ein Stück Granit, das aus dem Urgestein hervorgehoben wurde; bei Hitler hat man eher den Eindruck einer magmatischen Eruption. Der Widder muß einspielen. General Konrad, dem ich 1943 im Kaukasus begegnete, meinte, daß Hitler die Konzentration auf den Schwerpunkt fehle – das dürfte dazu stimmen.

Stalís, 5. Mai 1971

Vormittags am Felsenstrand. Ich frühstückte dann wieder bei meinem Philemon, dessen Baucis mir mit Wein, Brot und Eiern, dann mit Kaffee aufwartete. Dieser Wein in der Mittagshitze macht wach und schläfrig zugleich. Angenehm: der Anblick von Spatzennestern zwischen den weißen Porzellanköpfen der Überlandleitung; die Halme hingen davon herab. Vielleicht kehrt unsere gesamte Apparatur einmal auf diese Weise »zurück zur Natur«. Angenehm auch das Laub des Maulbeerbaumes, unter dem ich dahinträumte. Unangenehm: die vergilbten Triebe daran. Ich hatte sie bereits an anderen Pflanzen beobachtet, so an den Reben und den Bananenstauden, und sie für die Nachwirkung eines Frostes gehalten – als ich meinen Philemon darauf hinwies, erfuhr ich, daß Austrocknung die Ursache sei. Er zeigte auf ein Pumpwerk, das am Ufer arbeitet und Wasser für die Hotels fördert. Eine Schattenseite des Fremdenverkehrs also; das Problem wird sich zuspitzen.

Während unseres Gesprächs erschien ein junger Kreter mit einem Fisch, den er harpuniert hatte und den er an einem Ast des Maulbeerbaumes aufhängte. Ein Zackenbarsch; das Tier bewohnt die submarinen Grotten der Felsküsten, in denen es sehr alt wird und ein Gewicht von mehreren hundert Pfund erreichen kann. Früher hauste dieser Einsiedler dort friedlich; zuweilen kam ein Barbierfisch und putzte ihm die Kiemen – seitdem das Tauchen Mode geworden ist, wird er aufgespürt.

Ich war ein wenig zu früh gekommen, sonst hätte ich an dem Festmahl teilnehmen können, das sich ankündete. Tomaten und Zitronen wurden herbeigeschafft, ein Feuer im Hofe entfacht. Alle waren durch den Anblick des großen Fanges in muntere Laune versetzt.

Stalís, 6. Mai 1971

Im Grabungsfeld von Mália. Der afrikanische Wind wehte über das Puzzlespiel der Archäologen; die Margeriten blühten, der Fenchel grünte, die Ameisen zogen über die Tempelstufen – schwarze und scheinbar unbewegte Heerstraßen.

Auch unsere Tourenwagen, die diesen Stätten strahlenförmig zustreben, bilden, aus einiger Entfernung gesehen, solche Bänder; die Menschen wimmeln daraus hervor. Warum kommen sie, mehr oder minder begierig, zu diesen Rekonstruktionen alter Tempel und Paläste von weither gereist? Es sind Wallfahrten; der Ort ist geweiht, trägt Stigmen dichterer Substanz. Hier waren Schatzgräber am Werke, ein Schliemann, ein Evans; sie trugen die Oberflächen ab, den Schutt von Jahrtausenden. Schatzgräber und Deuter zugleich; das Gerücht breitete sich aus.

Ein neuer Reisebus kommt mit seiner Fracht. Die Fremden zerstreuen sich, um zu photographieren; andere bilden Gruppen um die Führer, die ihre Texte aufsagen. Hier eine intelligente Griechin, die bald auf deutsch und bald auf englisch erklärt, durch welche Pforte König Minos einzog, wo er thronte und wo die Opfer gebracht wurden. Daß Menschen geopfert wurden, lehnt sie, ungeachtet der Sage vom Minotauros, entschieden ab. Ihr Vortrag ist flüssig, wenngleich nicht ohne Fehler; die Passion durchbricht die Grammatik, schafft sogar ein eigenes Vokabular. »Die bull-voltas der Jonglinge.« Gemeint sind die Stiersprünge. Dabei politisch gewitzt wie alle Griechen: »Nun für die Deutschen – pardon, für die Deutsch Sprechenden«. Felix Helvetia.

Gewisse Einzelheiten, wie das Geheimnis der Doppelaxt, werden in einer Weise angedeutet, die Unausgesprochenes ahnen läßt – ein priesterlicher Zug. Die Archäologen sind nicht nur zeitlich über die exakte Geschichtschreibung des 19. Jahrhunderts vorgedrungen; man könnte sie als Vortrupp einer anonymen Wanderung ansehen. Allerdings gab es schon immer Ansätze – Vico, Creuzer, Bachofen: Sondierungen bis zur Magmaschicht. Heute vollzieht sich das in der Breite; ein neuer Vulkanismus kündet sich an. Das nähert sich nicht nur dem Mythos, sondern führt in seinen Untergrund. Magma ist keine Quelle im historischen Sinn.

Der Mythos verhärtet oder kristallisiert eher, als erster Schritt zum Bewußtsein; der Schmerz wird stärker – nicht daß mit der Tragödie das Glück verschwände, aber es ist ein anderes, geteiltes Glück. Auch die Schrift verhärtet; sie hebt vom Sein eine Bewußtseinsschicht ab. Wo Schriftdokumente bestehen, wo Namen und Daten die Zeit bannen, mehrt sich das Wissen, das die letzte Kammer verstellt. Es wird schwieriger, wie Nietzsche es ausdrückt, »Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen«. In diesem Sinn ist das frühe Kreta trächtiger als Ägypten; und das Zukunftsfeld der Archäologen ist Mexiko.

Das Reich des Minos ist vorolympisch; der sagenhafte König ist kein Gott, obwohl er göttliche Gewalt ausübt. Sein Verhältnis zu Zeus ist rätselhaft; man hat den Eindruck, daß die Griechen es umdichteten. Zeus soll dem Minos und seinem Bruder Rhadamanthys das Totengericht verliehen haben – das dürfte eher den Moiren zustehen. Zeus wägt das Schicksal, aber er richtet nicht. Der Gestalt gemäßer erscheint Europas Mutterschaft. Die Insel ist der Erde heilig wie keine andere. Darauf verweisen der Stier, das Labyrinth, die Höhlen, die der Rhea als Zuflucht und dem Zeus zum Schutz gedient haben.

Wir hören von Minos und seinen Taten eher wie von Gerüchten als wie von Mythen, eher von einer titanisch-kentaurischen als von einer Götterwelt. Sowohl an Chiron wie an einen der findigen Schmiede erinnert auch Dädalus, der Erbauer des Labyrinthes, der erste fliegende Mensch. Das dringt in die Zeit wie die Kunde aus einer zugleich furcht- und fruchtbaren Höhle – in ihrem Dunkel scheint alles möglich; Gestaltung vor den Gestalten, Wehen vor der Geburt.

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Dann wiederum Züge von décadence, wie sie André Gide fesselten. Der Übergang vom Neolithikum in bald sehr prächtige und differenzierte Kulturen ist an sich schon erstaunlich, als ob die Zeit zu einem Sprung gerafft würde. Noch seltsamer ist die Gleichzeitigkeit an voneinander sehr entfernten Orten – in China und Ägypten, in Indien und den Stromtälern. Ähnliches geschieht mit der Schrift, dem Städtebau. Das Metall spielt vielleicht eine sekundäre Rolle; auch mit dem Obsidian ließ sich Großes ausrichten. Eine Wehe scheint einzusetzen, ein neues Weltalter beginnt – gleichzeitig, doch ganz verschieden in der Fortdauer. In Mexiko waren sie zu Cortés’, in Polynesien zu Cooks Zeiten noch nicht erwacht.

Der Widder als Sonnen- löst das Erdzeichen des Stieres ab. Warum hat das Pferd im astrologischen Sinne kein eigenes Haus? Es gehört zu den Heroen und Stierbezwingern, dann zu den Fürsten und Rittern bis in unsere Zeit. Es überdauert die Zeichen des Widders und der Fische und verliert plötzlich, als ob ihm die Sehnen durchschnitten würden, an Bedeutung und Macht. Den Schlußpunkt setzt die Tankschlacht von Cambrai; zum ersten Mal erschienen Panzer in Menge, und noch ein Mal griffen Berittene an.

Stalís, 8. Mai 1971

Fahrt nach Phaistos durch die fruchtbare Ebene von Messará. An ihrem Rande Górtis, Hauptstadt der Insel und der Kyrenaika zur römischen Zeit. Górtis war damals volkreich; jetzt sind außer der Ruine der byzantinischen Hauptkirche Ájios Títos kaum noch Reste zu sehen. Die Kirche wurde nach dem Begleiter des Paulus, den der Apostel auf der Insel zurückließ, dem ersten Bischof Kretas und seinem Hauptheiligen, benannt. Die Spatzen nisteten im Gemäuer; Chor und Apsis sind erhalten, das Schiff fehlt.

Der Palast von Phaistos – ein Herrensitz mit weitem Ausblick über das Fruchtland, das damals wohl noch dichter besiedelt war. Er wird dem Rhadamanthys zugeschrieben und hatte wie alle großen Residenzen seinen Sommersitz: in Ajía Triádha – sein Trianon. Dorthin führte vom Palast eine minoische Steinstraße.

In der Gestalt des Rhadamanthys gewinnt das Gerücht eine außerzeitliche Tiefe; er hat schon früh, und hat viele, zum Träumen verlockt. Auch wenn wir die Idee des Totengerichtes auf ägyptische Herkunft zurückführen, und das ist wahrscheinlich, so bleibt Ägypten nur eine ihrer Stationen, denn darunter verbergen sich älteste humane Ängste und Hoffnungen – auch eine der ersten Frohen Botschaften.

Was vom Palast erhalten ist, kam mir wie eine »späte Fassung« vor. Dabei ist zu bedenken, daß der Name »Minos« sich nicht auf eine Einzelperson bezieht und daß »minoisch«, ähnlich wie »pharaonisch«, mehrere Epochen umschließt. Könnten wir aus solcher Entfernung auf unsere eigene Zeit blicken, so schmölzen vielleicht der Alte Barbarossa und der Kaiser Wilhelm ineinander ein. Und dabei wäre noch zu fragen: welcher war denn der im Kyffhäuser eigentlich?

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Wir badeten im Libyschen Meer am Strande von Kokkinos Pirgos, aßen dann dort vor einer der kleinen Wirtschaften. Hier ist der wärmste Teil der Insel; trotzdem sahen wir noch große, mit Plastik gedeckte Treibhäuser. Vor allem Tomaten wuchsen dort in solcher Dichte, daß ihr Laub unter dem Behang der Früchte verschwand. Eine Vorstellung des Reichtums gaben Kolonnen von Lastwagen, die mit Fruchtkästen hoch beladen zu den Häfen abrollten.

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Wenn ich nach solchem Ausflug vor dem Einschlafen die Augen schließe, scheint die Fahrt sich fortzusetzen, das Muster der Landschaft rollt vorbei: Olivenbäume, Blüten, Felsen in lockerem Bestand. Das sind keine eigentlichen Nachbilder in Komplementärfarben, sondern verdichtete Motive, von der Erinnerung komponiert. Der Geist antwortet; er rafft die räumliche Fülle, die Wiederholung in der Zeit. Ich nehme an, daß die Höhlenbilder auf diese Weise entstanden sind. Reproduzierende Projektion. So zeichnet man auch am Mikroskop: das linke Auge auf dem Objekt, das rechte auf dem leeren Blatt.

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Im Museum. Gut, wenn die Inseln ihre zentralen Horte besitzen, wie Sardinien in Cagliari und Kreta hier in Iráklion. Beide sind vor allem der Erinnerung an die Blütezeiten gewidmet; es scheint, als ob immer nur eine gelänge, dort in der Nuraghen-, hier in der minoischen Kultur. Die Sammlung war mir von meinem ersten Besuch her in den Umrissen bekannt. Die Details würden Jahre oder auch ein Leben beanspruchen. Zwei Stockwerke: das untere im wesentlichen den Einzelfunden, das obere den großen Fresken gewidmet, an denen viel ergänzt worden ist. In Anklängen an den Jugendstil hat die Zeit von Evans mitgewirkt – hier könnte auch Gleichzeitigkeit in Spenglers Sinn einspielen. Aus großen Epochen wählt sich der Zeitgeist gern den ihm verwandten Abschnitt aus. Spenglers Genialität liegt darin, daß er die Wissenschaft ernst nahm und sie als Künstler behandelte.

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Hier stieß ich auf einen der Fehler innerhalb der eigenen Vorstellung, die zunächst verwirren, dann aber als gelöster Trugschluß den geistigen Bestand erweitern und bestätigen. Ich hatte auf einem Zettel die Tiere notiert, die mir auf den Siegeln, Gefäßen und Fresken auffielen. So den Löwen, den Leoparden, den Steinbock, das Rebhuhn, die Taube, den Wiedehopf, den Delphin, den Tintenfisch, den Thun, die Biene, den Scarabaeus, den Nashornkäfer, auch Fabelwesen wie den Greifen; vor allem den Stier von riesigen Ausführungen bis zur Miniatur. Das Pferd fehlte natürlich durchaus.

Nun aber in einer der Vitrinen mit dem Etikett »Archaic Relief Pinthoi« unter einer Menge von Tonscherben zwei, auf deren jeder unzweifelhaft ein Pferdekopf zu sehen war. Ich versuchte ihn zunächst umzudeuten, kapitulierte dann aber wohl oder übel vor dem Gegenstand.

Dem mußte nachgegangen werden. Ich sah mir also die Aufschrift über dem Eingang des Saales an und entdeckte, daß er die Privatsammlung eines Mäzens enthielt, der sich mit allen Epochen bis zur dorischen befaßt hatte. Das Rätsel schien also gelöst.

Nun gut – mich erfreute hier eine kleine Überraschung, die mir auch von der Prosa her geläufig ist: wir stoßen auf eine Unebenheit in der Sprache wie auf den Splitter an einem Brett, über das wir mit der Hand fahren. Wir glätten es, und die Ordnung ist wieder hergestellt. Nicht so sehr der geringfügige Zuwachs an Wissen ist daran erfreulich als die Bestätigung dafür, daß das Brett im ganzen gehobelt war.

Das ist überhaupt der Sinn der Museumsgänge: die Bewältigung der aufgestauten Objekte, indem man unter das Detail und seine Oberfläche taucht. Umriß und Geschichte der Funde gewinnen wir durch Wissen, den magischen Kontakt dagegen dadurch, daß wir vergessen, was wir gewußt haben. Allerdings darf kein Widerspruch entstehen. Und nicht in jedem Museum erreichen wir diese traumhafte Einschwingung. Die Objekte müssen sowohl durch ihre Tiefe wie durch ihre Einheit ausstrahlen. Das wiederum bestätigt, daß zu ihrer Sammlung sowohl Wissen als auch Liebe beitrugen.

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Was mochte mich »im Grunde« gestört haben? Doch wohl die Gleichzeitigkeit des Stieres mit dem Pferd. Das Pferd gehört zu den Heroen und Stierbezwingern, zu Theseus und Herakles, der sowohl mit dem kretischen Stier wie mit den Rossen des Diomedes zu tun hatte, der Stier zu Minos und den Herren der Unterwelt.

Daß das Pferd auf Kreta schon früh bekannt war, ist bei der Nähe Ägyptens sogar wahrscheinlich – bekannt aber wohl in dem Sinne, in dem ein Samurai zu Beginn unseres Jahrhunderts davon gehört hatte, daß es Wagen gäbe, die nicht durch Pferde bewegt würden.

Stalís, 11. Mai 1971

Fahrt mit Benicks nach Réthimnon. Wir erreichten allerdings das Ziel nicht, weil unterwegs an einem Flüßchen in der Nähe von Fódhele zwei schöne Stellen zum Sammeln einluden. Im Ort stießen wir zufällig auf das bescheidene Denkmal, das El Greco, der hier geboren wurde, gewidmet ist. Bei der Betrachtung kamen mir Erinnerungen an meine »negativen Lehrmeister«. Das »Spanische« wie das »Kretische«, beide in diesem Meister sogar vereint, haben eher Störungen der Generallinie bewirkt. Hier besonders der starke Einschuß vom Gallen- bis zum Zitronengelb. Kein Wunder, daß Philipp II. sein Gönner war und daß Barrès sich intensiv mit ihm beschäftigt hat. Eine Palette, die alle -ismen stimuliert. Auch die Expressionisten, für alle Überreizungen empfänglich, fühlten sich von ihr angezogen, besonders durch das ekstatische Licht.

Zu dieser Sparte allgemein: Stendhal, Barbey d’Aurevilly, Donoso Cortés, Bernanos. Bloy gegenüber war ich gesichert genug, hatte auch Maurice Barrès hinter mir.

Kazantzákis war ein typischer Kreter; wir sahen uns in Antibes häufig – die Bekanntschaft endete mit einer Verstimmung. Der äußere Anlaß war, daß ich ein Gastgeschenk mitzunehmen vergaß, das er mir überreicht hatte; der innere Eifersucht wegen einer gemeinsamen Freundin, die ihn vernachlässigte.

Die Spanier sind durch die Araber, die Kreter durch die Türken geimpft.

Stalís, 12. Mai 1971

Mit Hofmanns und Guanellas zum Karfí. Hanni Guanella ist Autorin des allgemein benutzten Handbuches über Kreta; sie wohnt am Rande von Mália. Beim Aufstieg Gespräch über die Ergänzung der Fresken von Knossós durch die beiden Maler Gilliéron, Vater und Sohn. Bilder wie »Die Pariserin« bereiten, wie Frau Guanella sagte, den Archäologen Kummer – Rudolf Schlichter hätten sie gewiß entzückt.

Immerhin gab es für die Ergänzungen Vorlagen – so Darstellungen auf Siegeln, Vasen und anderem Gerät. In der Archäologie geht es wie in Geschichte: zwei Zeiten greifen ineinander; die Optik wirkt am Gegenstande mit. Selbst das »Erscheinen« des Gegenstandes hat seine Zeit. Manche Potenz wird übersehen, wie die der sardischen Nuraghen von Winckelmann.

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Wir rasteten unterhalb des Klösterchens der Panajía Gouverniótissa, zu dem wir dann emporstiegen. Eine verfallene Mauer umschließt die Räume, in denen die Mönche hausen; ihre kretisch-byzantinische Kapelle ist in der Form eines Kreuzes gebaut, das eine Kuppel überhöht.

Als wir eintraten, glitt eine Äskulap-Natter in das Mauergestein. Uns begrüßten ein Pope und ein Lehrer, der, wie so viele, in Deutschland gearbeitet hatte und uns mit allerhand Kenntnissen aufwartete. Der heilige Mann stand schweigend dabei.

Das Innere der Kapelle war schwach erleuchtet; wir ließen die Tür offen. An den Wandbildern hatte die Zeit gewirkt. Sie waren stellenweis ganz erloschen oder, als ob sie geschmolzen wären, zu einer dunklen Bernsteintönung inkrustiert, aus der wie aus einem Tiegel Gesichter auftauchten. Soweit Gestalten noch zu erkennen waren, trugen sie Herzen auf der Brust. Gut erhalten war der Pantokrator, dessen Bild die Kuppel ausfüllte. Der Hof war mit Malven, Salbei und anderen, stark duftenden, Kräutern bewachsen, darunter Rigami, einem geschätzten Küchengewürz. Im Gezweig eines Baumes hing die Glocke; es war still, einsam und sonnig, als hätte sich der Friede von Jahrhunderten hier sublimiert.

Wir fuhren dann weiter nach Krássi. Das Wort ist auf der ersten Silbe zu betonen; sonst hieße es »Wein«. Während wir dort vor einem kleinen Kapheneion saßen, fiel mir ein, daß ich den Namen des Ortes von Georgios Kalergis gehört hatte. Als wir den Wirt nach dem »Australier« fragten, erfuhren wir, daß der gleich nebenan wohne, und nach wenigen Minuten trat er zu uns an den Tisch.

Es konnte nicht ausbleiben, daß wir eingeladen wurden; bald saßen wir auf der Terrasse vor seinem Haus. Er verschwand hin und wieder, holte Wein und Raki, einen milden Schnaps aus Trester, tischte Oliven, grüne Bohnen, Gurken und Tomaten sowie verschiedene Salate dazu auf. Die Terrasse war mit Reben überwachsen und auf drei Seiten von niedrigen Räumen umschlossen; die vierte gab den Ausblick auf das fruchtbare Tal und die fernen Berge frei. Das war wieder einer dieser Eidechsenplätze; die Zeit floß milder, schien stille zu stehn.

Einer der Räume diente Georgios als Vorratskammer; dort standen drei große Amphoren voll Öl, eine kleinere für Oliven, zwei Fäßchen Wein. Die gleiche Anordnung, nur größer, hatten wir im Palast von Phaistos gesehen. Überhaupt hat man am Mittelmeer den Eindruck größerer Beständigkeit als in unseren Nordländern.

Georgios führte uns dann an die berühmte Quelle des Ortes; sie ist in eine saalartige Brunnenstube gefaßt. Wir tranken von ihrem Wasser, das im Winter wärmer, im Sommer kühler springen soll.

Daneben eine ungeheure Platane; die mächtigen Stämme, die ich bislang auf Inseln und an Küsten des östlichen Mittelmeers bewundert habe, reichten an diesen nicht heran. Waren jene Elefanten, so war dieser ein Mammut oder ein Saurier. Eine riesige Holzmasse wuchtete sich aus dem Gestein und verzweigte sich in Einzelstämme, von denen jeder für sich schon Staunen erregt hätte. Georgios machte uns auf eine Verwachsung aufmerksam, auf eine Bifurkation, und rühmte die Kreuzform – das zeugte für seinen mythisierenden Blick.

Ein uralter Hirte kam vorüber; er folgte gemächlich seiner Schafherde. Wir hörten, daß er in seinem Leben nicht einen Tag lang krank und nie beim Arzt gewesen sei. Wasser, Luft, Erde, Sonne, die »ungemischte Speise«, fern von den Städten und »des Gedankens Blässe«, keine Schule – glückhafte Existenz.

Wir fuhren zusammen weiter bis an den Fuß des Karfí, das ist der »Nagel« – ein Doppelgipfel, in dessen Senke die Grundmauern einer subminoischen Siedlung freigelegt worden sind. Der Weg führte am einsam gelegenen Haus des Metaxas vorbei, eines griechischen Mäzens, der eine berühmte Sammlung von Siegeln und neolithischen Funden zusammengetragen hat.

Allmählich wurde der Anstieg zur Kletterpartie. Zwischen den Felsen blühten weiße und gelbe Asphodelen, und überall wuchsen die Kugelpolster, zu denen sich die verschiedensten Pflanzen zusammenfinden, die oft nur an der Blüte zu unterscheiden sind – ein guter Beleg für die Milieutheorie.

Der Tag war trübe, der Rundblick unvollkommen – hin und wieder schloß sich die Aussicht auf Berge, Täler, Siedlungen auf. Ich erinnerte mich dabei an das, was Kazantzákis mir über eine ähnliche Wanderung erzählt hatte.

In einer Schrunde zog sich eine rostbraune Ader hinauf – Scherben von Gefäßen wie am römischen Monte Testaccio – wohl eine Abraumhalde jener subminoischen Stadt. In einige dieser Scherben waren Fischgrätenmuster geritzt, in andere Ketten mit Fingerkuppen eingedrückt.

Nach dem Abstieg brachten wir Georgios Kalergis, der uns wacker begleitet hatte, wieder heim. Er hatte seinem Namen »kal-ergós« Ehre gemacht – ein »gutes Werk« an uns getan.

Stalís, 13. Mai 1971

Iráklion. Im Historischen Museum, das die Stadt im Hause des Stifters, A. Kalokairinós, eingerichtet hat. Die Sammlung beginnt, wo die des Archäologischen Museums aufhört, mit der christlichen Epoche, in der sich die Byzantiner, Araber, Venetianer, Türken und Griechen bis auf unsere Gegenwart ablösen.

Eroberer kommen und gehen – von den Dorern bis zu den Fallschirmjägern des Zweiten Weltkriegs. Das Volk muß sie dulden oder erschöpft sich in langwierigen Aufständen. Auf den Bergen und in Höhlen halten sich die Waldgänger, auch die Klöster der Insel spielen eine Rolle dabei. So das von Arkádhi, an das sich auf Kreta eine ähnliche Erinnerung erhalten hat wie jene der Griechen an Thermopylä. In einem der Säle wird ein Bild gezeigt, das mit der Devise »Freiheit oder Tod« die Erinnerung an den 8. November 1866 wach hält, der als Feiertag begangen wird. Der Abt Gavril zückt die Lunte gegen ein Pulverfaß, während die bereits in das Obergeschoß eingedrungenen Türken morden und vergewaltigen. Die Explosion soll tausend Griechen und achtzehnhundert Türken getötet haben – eine schier phantastische Zahl. Der Vorrat an Pulver muß also gewaltig gewesen sein. Es währte immerhin noch dreißig Jahre, bevor die Türken unter dem Druck der Großmächte abzogen. Der »Kranke Mann« verlor eine Insel nach der anderen. In unseren Tagen geht es auf Zypern um den Rest.

Bilder und Namen der Freiheitskämpfer waren mir aus alten Zeitschriften und Gedichten vertraut. Hier fand ich sie wieder: die Gestalten mit dem Waldgängerblick. Zur Tracht gehörten das Kopftuch, die Pluderhosen, die hohen Stiefel und vor allem die Leibbinde, aus der die ziselierten Knäufe von Dolchen und Pistolen hervorlugten. Sie hatten, wie eine der Unterschriften besagt, »meist getöteten Türken gehört«.

Abgesehen von diesen Kämpfen, haben die Türken in ihren Residenzen vermutlich ein satrapenhaftes Leben geführt. Wer sich eine Vorstellung davon machen will, sollte den Azrampalast in Damaskus besucht haben. Raffinierte Wollust – da liegt auch die Grausamkeit nicht fern. Häutung und Pfählung gehörten dazu. Jacob Burckhardts Urteil über die Türken schien mir lange Zeit zu strenge – es ist aber doch, als ob sich über die von ihnen eroberten Länder für Jahrhunderte eine ahistorische, bild- und kulturlose Schicht legte. Eine Art Versteppung zeugt für die Ursprünge. Anders die Araber. Von ihnen stammt auch die Schrift in ihrer hohen Eleganz – so hier auf den Stelen der großen Herren, wie jenes Ferhat Pascha, der 1898, im letzten Jahr der Türkenzeit, gestorben ist. Ein doppelter Turban krönt sie als Zeichen der wiederholten Pilgerfahrt.

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Oben in einem Flur Dokumente der jüngsten Besetzung Kretas durch deutsche Truppen, beginnend mit dem Absprung von Fallschirmeinheiten. Auf großen Photos zunächst Aufnahmen aus der Höhe mit Massen entfalteter Schirme, als ob Äolus eine Pusteblume abgeblasen hätte, dann Explosionen, Kämpfe, Züge von Gefangenen mit erhobenen Händen: Kreter und Engländer, Deutsche zuletzt.

Wenig erfreulich war die Aufnahme eines Gefangenen, den man als Zugtier vor eine Kanone gespannt hatte. Immerhin schien mir, daß wir den Türken gegenüber noch gut wegkamen. Die Bilder, wohl zum größten Teil aus deutschen Archiven, sind scharf und klar. Erstaunlich ist an solchen Operationen die Programmierung, der Zuschnitt von Zeit und Raum, bei der trotzdem das Unberechenbare, wie hier der Wind, zu großen Verlusten führen kann. Ich gedachte auch meiner Gefallenen.

Gleich daneben die beiden Nikos Kazantzákis gewidmeten Räume mit den Werken und Manuskripten, seinem Schreibtisch, seinem Gürtel und Siegelring. Ich besuchte auch sein Grab, oben auf der Martinengo-Bastion, und las dort die von ihm gewählte Inschrift: »Ich erhoffe nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei.« Dieses Wortes wegen wurde er nicht auf dem Friedhof beigesetzt.

Stalís, 14. Mai 1971

Wieder auf dem Ausgrabungsfeld von Mália. Heut war mein Ziel das sumpfige Ufer des Baches, der dort ins Meer mündet. Der Hotelportier hatte mir ein Gespräch aus Paris gemeldet, was mich nicht verwunderte, da ich dort bald zu tun habe. Der Anruf kam aber von Dr. Benick aus Lübeck, über Paris. Der Kollege beschrieb mir eine Binsengruppe an diesem Bache: in deren Wurzeln habe er eine neue Atheta entdeckt. Unbedingt brauche er Belegstücke.

Solche Passion ist ansteckend. Wir gingen also an das Ufer und rupften die Binsen aus, bis wir endlich ein Wesen heraussiebten, das kaum größer als ein Mohnkorn war. Nebenbei beobachteten wir die Schildkröten, die sich am Bach sonnten. Sie tauchen, selbst wenn sie den behutsamsten Schritt hören, ins Wasser und nehmen Deckung in den Uferhöhlungen.

Ein Grunddilemma des Bios, Sicherheit oder Freiheit, ist hier zugunsten des Panzers entschieden und hat sich seit Jahrmillionen bewährt. Doch auch die Schildkröte ist nicht unangreifbar – so gibt es Raubvögel, die sie erfassen und hoch in die Luft hinauftragen, um sie dann auf die Klippen fallen zu lassen, auf denen der Panzer zerschellt. Diese Räuber können vortrefflich zielen, wie der Tod eines griechischen Philosophen beweist, dessen Glatze ein Adler mit einem Stein verwechselte.

Auch seltene Vögel näherten sich während des einsamen Sonnenbades – so der Purpurreiher, der Sichler, ein Regenpfeifer mit schwarzem Halsband, ein rebhuhnfarbener Strandläufer. Die Mündung mag zu minoischer Zeit als Hafen gedient haben. Noch werden behauene Stufen von den Wellen bespült. Hinter dem Schilf haben die Ausgräber ein Muster von Grundmauern freigelegt. In der Sonne glänzte ein marmorner Türpfosten mit zierlichen Ritzungen. Wir mußten an den Rückweg denken – zuvor noch das Bad.

Auf den Feldern wurden Kartoffeln geerntet und in Netze gepackt, die sich an den Rändern anhäuften. Das Kraut war noch grün, die Knollen glänzten wie Lübecker Marzipan. Daneben standen Eselchen und grasten die Raine ab.

Viele Felder waren schon wieder bestellt, vor allem mit Kolokáthi, dem Kleinkürbis, der Courgette. Die Frucht wird grün, oft noch mit den gelbgezipfelten Blütenkelchen, aufgetischt. Sie fehlt kaum bei einer Mahlzeit, sei es als Gemüse oder als Salat. Die größeren Früchte werden mit Fleisch gefüllt und als »Kolokathikia« serviert.

Nizza, 25. Mai 1971

In Stalís kam ich nicht mehr zu Notizen – Post, Besuche, Lektüre, Sonnen- und Meerbäder.

Die Reise durch Länder und Bücher, die Bekanntschaft mit immer neuen Menschen, Tieren und Pflanzen – wozu dienen sie? Je mehr sich der Kreis erweitert, desto schwieriger wird der Stand im Mittelpunkt. Und auch hier gilt: safety first.

Wir besuchten mit Hofmanns und Guanellas die Grotten des Zeus. Unter den »Heroenmüttern, den Inseln«, sind Kreta und Malta der Großen Mutter in Sonderheit heilig. Ihre Verehrung reicht vor die der Götter und Heroen zurück. »Nichts ohne Theseus« – das war, wie die Verkündung des Alleingottes, eine Anmaßung. Auf Kreta nähern wir uns dem Zentralherd des weltweiten Bebens, das langwellig nachwirkt, wie heut noch in Indien, und dessen Wiederkehr droht. Das sahen deutlicher als wir schon die Alten, die eben hier die Stätten verehrten, an denen die Erdmutter Rhea den Zeus Kronion zur Welt brachte und ihn vor dem titanischen Vater verbarg.

Wunderlich bleibt, daß erst vor kurzem gewiegte Archäologen die Höhlen, vor denen die Kureten tanzten, in der Einsamkeit der Gebirge wieder aufspürten und das Museum der Hauptstadt durch erstaunliche Funde bereicherten, die sie aus der Asche der Opferbrände ans Licht brachten.

Das Wort Mutter wird in der Sprache noch einmal sowohl verallgemeinert wie präzisiert: Gebärmutter. Dort ist, befreit von allem Persönlichen und Ausgeformten, der Ort der großen Verwandlungen. In diesem zugleich frucht- und furchtbaren Dunkel ist alles möglich – Gestaltung geht den Gestalten voran. Ähnliches hat man von jeher in den Höhlen vermutet – sie sind die ältesten Kultstätten.

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Inzwischen las ich noch einmal das großartige Kapitel über Kreta in Bachofens Werk. Es wurde mir vor vielen Jahren von Alfred Baeumler geschenkt, dessen Einleitung seine politischen Mißgriffe überdauern wird. Bachofen finde ich im Brockhaus von 1953 in einigen dürftigen Zeilen als »romantischen Ausdeuter antiker Mythologien und Symbole« abgetan. Er starb 1887, hat also Evans’ Ausgrabungen auf Kreta nicht mehr erlebt. Das ist nicht zu bedauern, da die Funde von Knossós seiner Konzeption nichts hinzutrugen, sondern sie bestätigten.

Bachofen sieht Lykien als das Stammland des Mutterrechtes an, erwähnt aber, daß, nach Herodot, die Lyker von Kreta gekommen seien. Ich notiere aus seinem Kapitel über die Insel: