Sämtliche Werke - Band 7 - Ernst Jünger - E-Book

Sämtliche Werke - Band 7 E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

Inhalt: Strahlungen VI, Strahlungen VII; Siebzig verweht IV, Siebzig verweht V Der vorliegende Band entspricht Band 21 der gebundenen Ausgabe. Hinzugefügt wurde »Siebzig verweht V (Strahlungen VII)«, bislang in Band 22 der gebundenen Ausgabe zu finden. Der vertraute Umgang mit der zur Heimat gewordenen Wilflinger Landschaft und die zahlreichen Ausflüge in die Fremde haben einen Schatz von teils kostbaren, teils signifikanten Einzelheiten angehäuft, die sich durch die Kunst des Autors zu einem unverwechselbaren Muster zusammenfügen, in dem die Harmonie des zugrundeliegenden Weltplanes aufleuchtet. Das mit wachen Sinnen registrierte Fortschreiten der Erdrevolution mit Hilfe der perfektionierten Technik führt bei Ernst Jünger auch im Alter nicht zu einem Einstimmen in die Klagen der Kulturpessimisten, sondern stärkt sein Vertrauen in eine Entwicklung, als deren Gesetz er die Annäherung an das Vollkommene begreift. In den zu Lebzeiten Ernst Jüngers abgeschlossenen achtzehn Bänden der »Sämtlichen Werke« sind die nach 1983 publizierten Arbeiten des Autors noch nicht enthalten. Deshalb werden die »Sämtlichen Werke« um vier Supplementbände ergänzt, mit denen das Gesamtwerk Ernst Jüngers in einer geschlossenen Edition vorliegt.

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Seitenzahl: 886

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ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE

Tagebücher I-VIII

Band 1 Der Erste Weltkrieg

Band 2 Strahlungen I

Band 3 Strahlungen II

Band 4 Strahlungen III

Band 5 Strahlungen IV

Band 6 Strahlungen V

Band 7 Strahlungen VI, VII

Band 8 Reisetagebücher

Essays I-IX

Band 9 Betrachtungen zur Zeit

Band 10 Der Arbeiter

Band 11 Das Abenteuerliche Herz

Band 12 Subtile Jagden

Band 13 Annäherungen

Band 14 Fassungen I

Band 15 Fassungen II

Band 16 Fassungen III

Band 17 Ad hoc

Erzählende Schriften I-IV

Band 18 Erzählungen

Band 19 Heliopolis

Band 20 Eumeswil

Band 21 Die Zwille

Supplement

Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß

Ernst Jünger

 

Sämtliche Werke 7

Tagebücher VII

Strahlungen VI

Strahlungen VII

Klett-Cotta

Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band entspricht Band 21 der gebundenen Ausgabe. Hinzugefügt wurde »Siebzig verweht V (Strahlungen VII)«, bislang in Band 22 der gebundenen Ausgabe zu finden.

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin

Gesetzt von pagina, Tübingen

Datenkonvertierung: Lumina Datamatics GmbH

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96307-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10907-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

STRAHLUNGEN VI

STRAHLUNGEN VII

INHALT

Strahlungen VI

Siebzig verweht IV

Strahlungen VII

Siebzig verweht V

STRAHLUNGEN VI

SIEBZIG VERWEHT IV

 

ERSTAUSGABE 1995

 

1986

Wilflingen, 3. Januar 1986

Die Übervölkerung war schlimmer als in Ägypten; auf Straßen und Plätzen bildeten sich Staus, die sich kaum auflösten. Vor den Läden mußte man halbe Tage lang anstehen; sie waren ausverkauft, wenn man an der Reihe war. Tagsüber kam man nicht zum Dienst und abends nicht zum Vergnügen, wenn man Pech hatte. Oft waren die Passanten wie Heringe eingeklemmt. Sie konnten die Arme nicht aufheben – außer zierlichen Taschendieben, die sich wie Aale im Netz bewegten und die Brieftaschen zogen, als ob sie Kleiderpuppen abstaubten. Sie wurden nicht einmal bestraft.

Zum Glück gabs Privilegien. Wenn man »dazugehörte«, trug man einen Mantel wie alle anderen – nur daß er mit Pelz gefüttert war. Man kannte das Paßwort: den Code, den man in das Mikrophon einer der Zellen flüsterte, die wie Bedürfniskabinette unauffällig im Gebiet verteilt waren. Man mußte sie kennen; sie waren als Hauseingänge getarnt. Auf den Code hin öffnete sich die Tür zu einem Fahrstuhl, der in den Untergrund hinabschwebte. Dort gab es Raum in Fülle, dazu laufende Bänder, die mit Sesseln bestückt waren und im Nu zum Ziel führten. Dann stieg man diskret durch eine der Zellen wieder aus, falls man nicht vorzog, unten zu bleiben, denn dort war für Bequemlichkeit in jeder Weise gesorgt; die Zeit verfloß wie im Traum. Bars, Kinos, Lesesäle, Bäder mit Bedienung, Callgirls standen zur Verfügung – alles umsonst. Ein unbegrenztes Scheckbuch wäre nur eine Vorstufe gewesen; das Codewort genügte zum Eintritt in den Untergrund. Und wenn sich einer einschliche? Das wollte ich ihm nicht anraten.

Wilflingen, 6. Januar 1986

Rauhnächte haben je nach der Landschaft verschiedene Namen: Rauch-, Raun-, Raub- und Freinächte; werden auch verschieden datiert. »Vielfach bezeichnet man die ganze Zeit der Zwölfe als Rauhnächte.« (Bächtold-Stäubli) Dem möchte ich mich meiner Erfahrung nach anschließen. Als besonders trächtig gilt die Dreikönigsnacht. Heuer war wenig zu notieren; die Nächsten zeichneten sich in den Traumgesellschaften nur vage ab.

*

In der Neujahrspost fallen Korrespondenten aus, die Jahre und Jahrzehnte lang gegrüßt haben. Für manche treten die Kinder ein; so setzen Otto und Christa Plassmann die lateinischen Augurensprüche und Sonja Maatsch die Zeichnungen der Väter fort.

Die Bilder der Abgeschiedenen verkleinern sich von Jahr zu Jahr; manche verschwinden bei wachsender Entfernung wie Sterne in der kosmischen Dämmerung. Andere werden wie Gemmen schärfer, weil das Alltägliche der Erscheinung schwindet – besonders solche, an die sich Anekdoten ansetzen.

*

An Konrad Zimmer: »Der im Kyffhäuser scheint sich nicht zu regen – entweder fühlt er sich nicht angesprochen, oder es muß ein Erdbeben kommen, bis er erwacht.«

*

Helmuth Krück bereichert mein Naturalienkabinett durch das Schwanzende einer Klapperschlange und notiert dazu: »Aus dem Land der zitternden Erde (Prairies tremblantes), dem von schwimmenden Inseln bedeckten Sumpf Okeefenokee an der Grenze zwischen Florida und Georgia. Eine diskrete Rassel (Rattle-Snake) keine Klapper! Sicher hat Hiawatha sie in seinem Medizinbeutel mitgeführt.«

Klappern und rasseln. Es liegt in der Natur der Sprache, daß sie der hörbaren Welt dichter anliegt als der sichtbaren. Daher ist sie bei der Schilderung von Farbnuancen auf Vergleiche angewiesen – türkisgrün, tabakbraun, zitronengelb. Lauten dagegen antwortet sie unmittelbar, besonders den eindringlichen, also der Brandung mehr als dem sanften Wellengang, dem Sturm mehr als dem leichten Wind. Hinweise auf Unterschiede von Schlag- und Blas- zu Saiteninstrumenten, von Ballade und Lyrik, Konsonanten und Vokalen, von Rhythmus und Melos schlechthin.

*

Daß Kindheitserinnerungen stärker und genauer sind als solche aus dem Alter, ist oft bemerkt worden. In einem Alten sind Lehrer und Kameraden der Vorschule lebendig, während ihm Einzelheiten des gestrigen Tages entfallen sind.

Wenn wir über eine Seite, deren Schrift noch feucht ist, mit dem Löscher fahren, bleiben die letzten Zeilen viel blasser als die ersten auf dem Blatt.

Damals müssen wir stärker gelebt haben. Und vielleicht noch stärker in Zeiten, von denen kein Echo kommt, zu denen keine Erinnerung reicht.

*

Wiederbegegnungen, die alles übertreffen, was uns im Leben köstlich schien.

Wilflingen, 9. Januar 1986

An den »Figaro littéraire«: »Lieber Kollege Rouart, ich erhielt Ihren Fragebogen – nicht ›von‹, sondern ›über‹ Ernst von Salomon. Leider kann ich ihn nur ganz kurz beantworten; die Post schwillt immer noch an.

Die Erinnerung an verstorbene Freunde und Bekannte pflegt nach Art von Photographien mit der Zeit zu verblassen; manche verschwinden bei wachsender Entfernung in der Dämmerung: Das gilt für viele – bei anderen treten die Konturen prägnanter hervor, besonders bei Naturen von anekdotenbildender Kraft. Zu ihnen zählte Ernst von Salomon.

Die ersten Briefe, die ich von ihm erhielt, stammen aus der Haft; die Korrespondenz setzte sich bis zu seinem Tode fort. Sie begann mit ›sehr verehrter‹ und schloß mit ›mein lieber …‹ ab. Viele Begegnungen und Besuche, von Berlin bis Wilflingen, gaben mir ein bleibendes Bild von ihm. Dabei fällt mir eine Notiz Nietzsches ein, der die Individualität leugnet – was wir dafür halten, sei eine Komposition verschiedener Individuen. Das habe ich in besonderem Maß an Ernst von Salomon beobachtet – ich lernte in ihm zwei Personen kennen, von denen kaum zu glauben war, daß sie in der gleichen Haut steckten.

Zunächst der Jüngling, der aus dem Zuchthaus kam: extrem mager, ausgehungert, mit unruhigem, durchbohrendem Blick. Dafür, daß er, wie ich glaube, für den Anschlag auf Rathenau nur ein Nummernschild gemalt hatte, war er streng bestraft worden. Er sagte mir einmal: ›Schon am Nachmittag wußte ich, daß es verkehrt gewesen war.‹ Für mich bot er ein warnendes Beispiel, das meine Abneigung gegen terroristische Akte bestätigte. Der Attentäter verletzt nicht nur sein Opfer; er fügt sich selbst eine unheilbare Wunde zu. Dostojewski schildert diesen Zustand genau.

Der Einfluß des Kadettenkorps war unverkennbar; nur der Blick war merkwürdig. Wie war das mit dem späteren Ernst von Salomon zu vereinen, mit dem ich mich befreundete? Ungewöhnlich schienen prima vista sowohl die Korpulenz wie der Humor. Er hatte sich zu einem jener Unterhalter entwickelt, die ihre Gesellschaft in eine ungebrochene und wachsende Heiterkeit hineinsteigern. Das hing mit seinem Talent als Anekdotier zusammen, dem er besonders im ›Fragebogen‹ ein über den politischen Anlaß hinausreichendes Denkmal geschaffen hat.

Ein Zwischenglied beider Charaktere bildet der ›Rebell‹, in dem die Auflehnung nicht mehr durch die Aktion, sondern durch die Feder vertreten wird – ein Essay, der besonders in Frankreich Freunde gefunden hat. Zur Aktion hat Salomon im Laufe der Zeit ein Verhältnis gewonnen, das man als wohlwollende Distanz bezeichnen kann. Unter anderem hat er einen Kongreß von Castro in Kuba besucht.

In ruhigeren Zeiten wäre er vielleicht ein allgemein beliebter Romancier geworden. Der Dialog fiel ihm leicht, daher hatte er auch als Filmautor Erfolg. Es machte ihm nichts aus, auf ein leichtes Genre überzugehen – so in der ›Schönen Wilhelmine‹, der Biographie jener Potsdamer Trompeterstochter, die Friedrich Wilhelm II. zur Mätresse erkor. Dabei fehlte es dem Freunde nicht an Selbstkritik: Ich besitze das Buch mit der Widmung: ›Sag es nicht weiter – aber dies ist mein eigentlicher Geschmack.‹«

Wilflingen, 10. Januar 1986

Die Moral ändert sich nicht nur mit den Breitengraden, sondern auch mit der Einwohnerzahl. Schon auf den Dörfern herrschen andere Sitten als in den Städten – selbst im kleinen Wunstorf sagten wir »der kommt vom Land«. Das war halb eine Entschuldigung, auch hinsichtlich des Anzuges.

Heut spricht man von Ballungsgebieten: dort nehmen die Vorschriften zu, mit ihnen die Verstöße, das schlechte Gewissen auch. Allein die Verkehrsregeln. Ein falscher Handgriff ist hochgefährlich, zudem stellt er das alte Untertanenverhältnis wieder her: die Polizei wird mächtig, der Fahrer zum Verkehrssünder.

Wenn ich mich morgens rasiere und den Schaum durch den Ausguß fließen sehe, muß ich an meine Mitschuld an der Verschmutzung der Gewässer denken: so beginnt der Tag.

*

Beim Frühstück lese ich wieder einmal eine wissenschaftliche Abfertigung der Astrologie und wundere mich darüber, daß die Astrologen sich darauf einlassen. Für sie spricht schon allein die Tatsache, daß sie einen Streit überlebt haben, der schon vor dem Bau des Turmes zu Babel begonnen hat.

Die Astrologie ist ein Spiel, keine Wissenschaft. Sie hat Sinn im Maße, in dem die Welt als Spiel besteht und als Spiel begriffen werden kann. Daher ist sie weit älter als die Wissenschaften und wird sie überleben wie der Tanz den Gleichschritt, obwohl beide zum selben Ziel führen. Sie wird auch die Geschichte hinter sich lassen oder das, was wir als Geschichte verstehen. Also Kopernikus auch.

Inzwischen ist auch die Sonne in Bewegung gekommen, und selbst die Milchstraßen geraten in Turbulenz. Das Universum wächst mit den Fernrohren. Da ist kein Ende, kein Abschluß mehr. Und alles scheint unbelebt.

Der Astrolog läßt sich darauf nicht ein. Für ihn ist die Erde immer noch die Mitte, wie auf ihr der Mensch mit seinem Schicksal – und zwar der Einzelne. Die Astrologie ist humaner als jede Abstraktion.

Unser Geschichtsbild ist eingeschlossen in die drei großen Zeichen des Stieres, des Widders und der Fische, und von ihnen deutlich geprägt. Auch der Wassermann beginnt sich abzuzeichnen – die Umwertung der Werte wirft ihren Schatten voraus.

Die astronomische Zeit ist ein Maßstab, die astrologische ist differenziert; sie hat nicht nur Dauer, sondern auch Qualität – und göttliche sogar.

*

Das Platonische Jahr zeitigt keinen endlosen Fortschritt, sondern es läuft kreisförmig ab. Daher ist der Rückblick auf Häuser und ihre astrologische Ausstattung möglich, in denen wir gewohnt haben, bevor es ein Geschichtsbewußtsein gab – etwa zur Vorpyramidenzeit.

Und weiter zurück zu prähistorischen, paläontologischen und geologischen Formationen mit ihren vulkanischen und stammesgeschichtlichen Wiederholungen. Der Einzelne durchläuft nicht nur die Ahnenreihe, sondern die Weltenuhr. Die Schöpfung wiederholt sich in ihm auch körperlich.

*

Hat ein Zug die Höchstgeschwindigkeit erreicht, so verstärken Versuche, ihn zu bremsen, nur die Gefahr.

Gilt auch politisch. Als die Französische Revolution ihren Höhepunkt erreicht hatte, riet Kaunitz: am besten lasse man den Vulkan ausbrennen.

Ludwigsburg, 12. Januar 1986

Sonnabend-Sonntag wie alljährlich Treffen der südwestdeutschen Koleopterologen in Ludwigsburg.

Alte Freunde, gute Vorträge – so der des Kollegen Evers über das Vorhandensein oder das Fehlen eines Fühlergliedes bei einer Cantharidengattung, die in Europa und Amerika verbreitet ist.

Das bliebe ein Jonglieren mit Staubkörnern, wenn es nicht mit der Kontinentalverschiebung in Verbindung gebracht würde. Ein Musterbeispiel für die Begegnung zwischen Minima und Maxima in der Natur.

Dabei ist zu bedenken: Reduktion kann Ursprünglichkeit vortäuschen. Das läßt sich verallgemeinern, auch anatomisch: der Wolfsrachen, affenartiger Haarwuchs, der Ohrenknick und ähnliches. Über die Bärte, die oft ein dürftiges Kinn verbergen sollen, hat Schopenhauer Gebührendes gesagt.

Eine Gerade kann sich, wie bei den Mollusken, zur Spirale einrollen. Wenn diese sich wieder ausstreckt, entsteht ein Verlust. Es ist wiederum eine Gerade, doch die ursprüngliche nicht mehr. Falls in ferner Zukunft ein Archäolog auf einem unserer Friedhöfe prächtige Gebisse ausgräbt, sollte er sie eher dem Stande unserer Technik als unserer Potenz zuschreiben. Schon heute wirken sie so surrealistisch, daß man selbst den echten Zähnen nicht mehr traut.

Ein Stil, der wiederholt oder nachahmt, ist verdächtig, obwohl er bezaubern kann. Das ist der Vorteil der Epigonen und Dekadenten: die Welle schäumt stärker am Heck als am Bug.

Wilflingen, 13. Januar 1986

Erotische Begegnungen im Traum. Sie können sich wiederholen – auch mit Personen, die in der Tageswelt nicht begehrt wurden.

Wenn Tote auf diese Weise wiederkehren, ist anzunehmen, daß ihre Liebe nicht erhört, ja nicht einmal bemerkt wurde. Stille Neigung kann Jahre lang unbeachtet und ein geheimer Anruf ungehört bleiben. Nun wird er vernommen und im Traum auch erhört. So können Geister gezeugt werden.

*

Ist es möglich, daß eine Frau sich nicht nur an Tieren und Gegenständen, sondern auch an einem Mann »versieht«? Es heißt, daß Kinder von Europäern, die in China geboren werden, oft einen asiatischen Gesichtsschnitt tragen – das könnte freilich auch erdgeistig zu erklären sein. Immerhin bleibt es merkwürdig.

Erscheinungen wie der »böse Blick« und das »Versehen« beruhen auf magnetischen oder telepathischen Wirkungen. Ähnlich muß man sich die Zeugung von Geistern vorstellen. Ein unerhörtes Begehren wird erfüllt. Ein Mögliches, das sich nicht realisieren konnte, verwirklicht sich immateriell.

Wilflingen, 15. Januar 1986

An Wolf Jobst Siedler zum Sechzigsten: »Wie die Zeit vergeht – das spüre ich weniger am eigenen Altern als durch die Jubiläen der Freunde und Gefährten, besonders wenn ich sie schon in ihrer Jugend gekannt habe. Sie behalten diese Jugend in meiner Vorstellung. Um so mehr bin ich überrascht, wenn ich erfahre, daß ein ›großer‹ Geburtstag vor der Türe steht.

Sie zählen nun zu meinen frühesten Freunden; der Tag, an dem uns das Schicksal zusammenführte, liegt über vierzig Jahre zurück. Damals, am 12. Februar 1944, erreichte mich in Paris ein nächtlicher Anruf des Kaplans Ronneberger: mein Sohn Ernst sei wegen aufrührerischer Reden im Gefängnis zu Wilhelmshaven, zusammen mit einem jungen Kameraden – dieser Freund und Kamerad waren Sie.

Mein General meinte, das sei eine Sache, in der man Urlaub verlangen dürfe, und so fuhr ich nach Berlin, um mit Ihrem Vater zu beraten, und dann mit meiner Frau Gretha nach Wilhelmshaven, wo wir uns, nachdem der Wärter die Zelle aufgeschlossen hatte, persönlich begegneten.

So begann unsere Freundschaft; die Stationen sind Ihnen bekannt, ich will sie nicht ausspinnen. Daß es uns damals mit gutem Beistand gelungen ist, das Ärgste von Ihnen beiden abzuwenden, wurde mir erst allmählich und nach vielen Jahren bewußt. Daß Ernstel dennoch heute unter den Gratulanten fehlt, bleibt für Sie wie für mich ein nicht zu heilender Schmerz.

Ein großer Geburtstag, soweit er über das Familiäre hinausreicht, setzt voraus, daß sich der Jubilar einen Namen gemacht hat, und das ist Ihnen geglückt. Ich habe an Ihrem Wege und seinem Gelingen teilgenommen, vor allem, wenn wir uns in Berlin oder in Wilflingen wiederbegegnet sind. Für Ihren guten Stern spricht, daß Ihr väterliches Haus inmitten des Unheils, während dessen ich zum ersten Male in ihm weilte, unzerstört geblieben ist. Das hat mich gerührt, als ich es im vorigen Jahre nach so langer Zeit wieder betrat. Daß Sie Berliner nicht nur von Geburt, sondern auch aus Leidenschaft sind, ist rühmlich bekannt.

Ich sollte nun meinen Dank auch als Leser begründen, doch der Rahmen eines Geburtstagsbriefes ist begrenzt. Desgleichen will ich, da ich der Angesprochene war, mich auf Dank beschränken für die bisherige Krönung unserer Freundschaft: Ihre Laudatio anläßlich der Verleihung des Goethe-Preises an mich in der Frankfurter Paulskirche. Das war keine leichte Aufgabe. Um so mehr haben mich der einstimmige und wohlbegründete Beifall für Ihre geistige Leistung und Ihre persönliche Zuwendung gefreut.

Lieber Wolf Jobst Siedler: für das kommende Jahrzehnt meine herzlichen Glückwünsche.«

Wilflingen, 18. Januar 1986

Zum Weg. Wenn ich nach dem Seilspringen den Strick zu Boden werfe, überrascht mich an jedem Morgen die Figur, zu der er sich fügt.

Manchmal entstehen einfache Muster wie Kreise, Ovale, Achten, Spiralen, starke oder schwache Wellen, doch andere könnte ein Koranschreiber erdacht haben.

Dem ersten Wurf muß ein Entwurf vorausgegangen sein – eine kryptogrammatische Idee. Die Entfernung hatte noch keine Maße; sie war maß-gebend und konnte mit Höhen und Tiefen besetzt werden, die Qualität gewannen wie Noten einer Partitur oder Charaktere, die sich im Erbgang sonderten. Das war der Weg, »via«, von dem sich das Leben, »vita«, abzweigte.

Wenn wir vor der Höhe und Tiefe eines Gebirges erschrecken – wer kennt die Zahl, geschweige denn die Kraft seiner Atome – oder auch vor einem Schweigen im stillen Hause, dann verbirgt sich in diesem Schrecken mehr als präsente Gefahr. Uns bedroht der Entwurf, von dem an Gefahr erst möglich geworden ist.

Auch die Schlange verbirgt sich im Seil. Sie ist im Natursystem nicht ursprünglich, sondern die Rückbildung eines Wesens, das Glieder besaß und sie wieder eingezogen hat. Aber die Täuschung ist gelungen, sie führt wie kaum eine andere auf den ersten Entwurf zurück. Schlange und Seil sind konform. Der Mensch erschrickt vor jeder Schlange, gleichviel ob sie giftig oder harmlos: vor der Schlange an sich.

Und es bedarf nicht einmal der realen Schlange, damit der Schrecken erwacht. Ein Rascheln im Laube genügt.

*

Am Abend in Saulgau; wir trafen dort Ionesco mit seiner sehr kleinen, doch hochaktiven Frau. Das ist für Autoren ein Gottesgeschenk. Gespräch über den Ruhm und seinen Schatten – es ist auch etwas vom König Midas dabei. So pinselt Ionesco leichthin Figürchen, die reißenden Absatz finden, obwohl sie nicht billig sind. Er sagte: »Die Leute finden sie schön, besonders für die Kinder – ich kann das nicht beurteilen. Aber warum soll ich ihnen nicht den Gefallen tun?«

Wir verabredeten einen Besuch in seiner Wohnung, Boulevard Montparnasse.

Wilflingen, 20. Januar 1986

Nachts Sturm und Gewitter, ungewöhnlich um diese Zeit. Auch während meines Abendganges war seltsame Stimmung – fast als ob man sich im Stockwerk geirrt hätte. Ich sah die Alpen im Föhn.

Die Sonne war untergegangen, ein bleicher Halbmond stand am Himmel, die Luft war klar. Die Mauern der Kirche und einiger Häuser hoben sich selbstleuchtend von der Dämmerung ab. Das war nicht gerade unheimlich, doch beunruhigend – kubineskes Licht.

*

Zweige vom Lebensbaum, die ich neben Ernstels Bild in eine Vase stelle, halten das Wasser monatelang frisch; es verdunstet auch kaum. Bei den Forsythien dagegen, die um diese Zeit als »Barbara-Zweige« vorgetrieben werden, muß ich es schon nach Tagen auswechseln.

Zypressen sah ich als Schmuck türkischer Brunnen, auch auf den Grabsteinen von Friedhöfen und auf Gebetsteppichen.

Wilflingen, 8. Februar 1986

Außer der Ginsterkatze in Angola habe ich noch kein so scheues Wesen wie Aïscha gesehen. Sie ist in jeder Stellung und bei jeder Entfernung vom Menschen auf Deckung bedacht. Wie andere Tiere den Schatten vermeiden, so sie die leiseste Möglichkeit des Zugriffes.

Es bedarf umständlicher Annäherungen, ehe ich mich, ohne daß sie davonspringt, zu ihr setzen darf. Gelingt es mir, sie auf den Schoß zu nehmen, so legt sie zur Vorsicht die Pfote auf meinen Arm. Manchmal vergißt sie auch das; sie beginnt sich zu dehnen und leise zu schnurren – die Harmonie ist perfekt.

Ich frage mich, warum sich das an jedem Vormittag in aller Form wiederholen muß. Aber vielleicht verzichtete auch ein alter Chinese, selbst wenn wir befreundet wären, nicht auf das gebührende Zeremoniell.

Wilflingen, 9. Februar 1986

Nachbarbesuch bei Stauffenbergs. Am Tisch auch »Büffel« Krosigk, bei dessen Familie wir oft zu Gast waren.

Erinnerungen an jene Zeit kurz vor dem Rückzug der Portugiesen aus Angola, auch an Bekannte, die, wie die Baronesa, ermordet worden sind. Wir hatten damals gehofft, daß Angola sich nach dem Muster von Brasilien entwickeln würde, was für beide Teile besser gewesen wäre – leider folgte eines der unheilvollen Geschwüre, die den Vorstellungen amerikanischer Philanthropen zu verdanken sind.

Große Erlebnisse markieren die Datierung auch persönlich – so höre ich von der Baronin: das war vor, oder nach, dem Attentat. Das wird den meisten so gehen; vorwiegend sind diese Daten unangenehmer Art.

*

Zum Matriarchat ein arabisches Sprichwort: »Der Mann ist das Haupt der Familie und die Frau der Hals, der den Kopf dreht.«

*

Spät noch bei starkem Frost Gang um den Schinderbühl. Die Hunde bellten gegen den Wind.

Wilflingen, 16. Februar 1986

Sonntag Invocavit. (Et ego exaudiam eum?)

Frost. Wenn die Sonne scheint, und sei es auch nur durch einen Schleier von Hochnebel, wähle ich den Gang durch die Feldflur, der um das Hofwäldle führt. Ein junger Fichtenbestand ist an den Rändern verkrautet und von einigen Überhaltern durchsetzt. Trotz seiner geringen Fläche beherbergt er Pilze, Pflanzen und Tiere verschiedenster Art.

Ein Vögelchen bewegte sich munter zwischen dem dürren Gras und den Zweigen, die fast den Boden berührten; ich hielt es für einen Grünfinken. Als es mir aber gelang, das Tierchen für einen Augenblick mit dem Glas zu erfassen, erkannte ich es an seinem safrangelben Scheitel als das Winter-Goldhähnchen. Ein alter und lieber Bekannter, obwohl ich ihm selten begegnet bin. Besonders erinnert es mich an einen Wald oberhalb von Brixen, wo ein Schwarm die kahlen Lärchenzweige abkleibte. Damals hörte ich auch seine Stimme, ein Gewisper – Heinrich Seidel, der Dichter des »Leberecht Hühnchen«, fand sie »zierlich wie gesponnenes Glas«.

*

Auf Grund persönlicher Erfahrungen darf ich behaupten, daß die Ornithologen sich durch ein besonders liebenswertes Gemüt auszeichnen. Sie übertreffen darin noch die Botaniker – die der »scientia amabilis« Beflissenen.

Die Stämme und Familien der Pflanzen und Tiere ergänzen einander wie die Instrumente eines Orchesters – oft erkennt man schon physiognomisch, wer dieses oder jenes zu spielen berufen ist.

Freilich mindert auch hier die Verzifferung den Eros: ihr Fortschritt ist zugleich ein Abstieg vom Stand des alten Naumann und des Vaters Brehm. Aber es bleibt eine große Welt – von der Blaumeise, die ans Fenster pickt, bis zu den Geschwadern, die über den nächtlichen Wolken ziehen.

*

Bei Frost und guter Sonne scheint der Schnee mit einem Feingewebe übersponnen, in dem der Regenbogen spielt. Im Anstieg blitzten die Kristalle blau, grün und türkis, im Abstieg changierten sie zu Purpur, Zitronengelb und einem milden Orange. Eine Kristallwelt, dazu der knirschende Schnee.

Wilflingen, 24. Februar 1986

Seit nunmehr sechsunddreißig Jahren beobachte ich nach dem Aufstehen die Umfassung des Treibbeetes im Garten und schätze an ihr die Schneehöhe. Heut morgen war nicht nur zum ersten Mal der Pegel, sondern das ganze Beet unsichtbar geworden – weiß überdeckt. Trotzdem wird mein geheimer Wunsch, einmal völlig einzuschneien, hier kaum erfüllt werden.

Wilflingen, 28. Februar 1986

Erwachen um Mitternacht. Was scheren mich zwei Weltkriege, die ich mitverloren habe, während ich noch am Dreißigjährigen laboriere: Wallenstein und Richelieu, Stralsund und La Rochelle.

*

Unser Unglück besteht nicht darin, daß wir eine Linke, sondern daß wir eine unfähige Linke gehabt haben. Das ist schlimmer als gar keine.

Wilflingen, 4. März 1986

Zeitung – schon für Schopenhauer der »scheußliche Aperitif, mit dem der Tageslauf beginnt«.

Heute: Ein Ehepaar mit Tochter fliegt für drei Wochen auf Urlaub nach Florida. Ausgerechnet am ersten Tag stirbt der Vater an einem Herzinfarkt. No problem – er wird bis zum Heimflug tiefgekühlt.

Ferner: »Pastor will Feldwebel in Uniform nicht trauen.« Begründung: die Trauung eines Uniformierten bedeute für ihn »einen schweren Gewissenskonflikt«.

Der Ort dieser Schaunummer ist die kleine Gemeinde Walle, die zu Bremen gehört. Ich entsinne mich, vor fünfzig Jahren von dort etwas ganz Ähnliches gehört zu haben: damals konnte es ein Standesbeamter mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, die Trauung eines Ariers mit einer Jüdin zu beurkunden.

Es scheint, daß sich inzwischen in Bremen wenig geändert hat. Vielleicht bin ich auch nur mit einem zu guten Gedächtnis gestraft.

Wilflingen, 18. März 1986

Grippe, diesmal nur kurz, zwei bis drei Tage Fieber – immerhin sollte ich mich allmählich bequemen, mein Alter in Betracht zu ziehen.

Rundgang bei guter Sonne. Der Weiher ist noch gefroren, der Friedhof unter Schnee, der Garten hingegen zum großen Teil davon befreit. Ein Pulk von Winterlingen steht in voller Blüte als einziger weit und breit. Er sprießt am Fuß einer Himbeerstaude, als ob sie ihn gewärmt hätte. Handbreite Flächen sind von grünen Härchen beflaumt. Das ist Krokus – nicht aus der Zwiebel, sondern versamt.

Als Morgengast vorm Fenster ein Star im Hochzeitskleid; ich habe es zum ersten Mal in solcher Nähe gesehen. Die Federn bewegten sich und blitzten wie eine Brünne, der durch einen Hauch von Öl Hochglanz verliehen worden war.

Häufig kommt jetzt der Dompfaff; er fällt in Gesellschaften ein. Der Schnee steht ihm besonders gut. Der Zeisig bevölkert Stauffenbergs Linde – vielleicht schon auf dem Rückzug in nördliche Gegenden. Nach Brehm erscheint er um diese Zeit manchmal zu Tausenden.

Wilflingen, 27. März 1986

Ich verbrachte den Vormittag mit der Lektüre der anschwellenden Geburtstagspost. Dabei fügen sich Steinchen in das Mosaik der Biographie.

Zum Beispiel: Nächtliche Begegnung 1942 im Wartesaal des Hannoverschen Hauptbahnhofs mit einem Gefreiten meiner ehemaligen Kompanie. Er kommt verwundet aus Rußland zurück. Wird von Kameraden ermutigt, mich anzusprechen, setzt den Helm auf, schnallt Koppel um. Ich fordere ihn auf »abzuschnallen«, lade ihn zu einem Bier ein, sage ihm, daß mein Nachfolger mich über das Ergehen der Kompanie und jeden Einzelnen auf dem Laufenden hält. Es freut mich immer, wenn Feldpost von ihm kommt.

Solche Kleinigkeiten gewinnen mit der Zeit. Dieser nächtlichen Wartesäle während des Krieges erinnere ich mich wie einer Vorhölle.

*

Dann versuchte ich, meine Ausgabe der »Causes célèbres« zu kollationieren, und kam nicht zu Rande damit. Einheitlicher barocker Einband, mehrere Buchhändler, verschiedene Jahrgänge. Der erste Band ist 1766, der achtzehnte 1741 datiert, dazwischen Band 3 mit 1738, also vier Jahre nach der Erstausgabe des »Pitaval«, als deren Fortsetzer ein Avocat de la Ville zeichnet.

Meine Bände sind offenbar von einem Vorfahren Friedrich von Stauffenbergs gesammelt und gebunden; ich bekam sie als Geburtstagsgeschenk. Ist es vergebene Liebesmüh oder Zeitverschwendung, wenn ich solchen Nachforschungen Stunden opfere?

Beim Blättern fällt mir auf, wie sehr Teile jener Rechtshändel inzwischen an Bedeutung verloren haben – zum Beispiel jene, die sich mit der legitimen Geburt und den sich aus ihr ergebenden Ansprüchen beschäftigen.

Ein Kapitel, das ich nach der ersten Lesung angestrichen habe, trägt die Überschrift: »Juifs condamnés pour un crime énorme, qui révolte l’humanité«.

Mangeote Willemin, Frau eines Stellmachers, ging am 25. September 1669 in der Nähe von Metz zu einer Quelle, um dort zu waschen, begleitet von ihrem dreijährigen Sohn. Das Kind trug eine rote Kappe, es hatte blonde Haare und war gut frisiert. Kurz vor der Quelle war es verschwunden; die Mutter dachte, daß es nach Hause gegangen sei. Aber dort war es nicht angekommen, alles Suchen blieb umsonst. Auf Grund der Erkundigungen meldete sich ein Zeuge; er hatte einen schwarzbärtigen Juden, der ein Kind im Arm hielt, auf einem Schimmel vorbeireiten sehen. So kam man Raphael Levi aus Boulai auf die Spur. Inzwischen hatte die Mutter die Kappe und andere Kleidungsstücke des Kindes nahe der Quelle entdeckt.

Es ist erstaunlich, wie sich in solchen Fällen alles zusammenfügt. Unter anderem hatte eine Zeugin durch ein Fenster an einem Karfreitag beobachtet, wie der Beschuldigte zusammen mit einem anderen Juden den Gekreuzigten geißelte. Unheimlich ist das Plakative solcher Aussagen; sie wirken wie Abziehbilder aus der Passion.

Der Prozeß ist lehrreich, nicht nur als Muster für die Gattung, sondern auch für die eigentümliche Lage von Metz. Er war langwierig, doch schon vor Beginn der Verhandlung wird deutlich, daß sie mit einem Todesurteil enden wird. Levi wird lebendig verbrannt. Vor der Folter betont er, daß, falls der Schmerz ihm ein Geständnis entrisse, er es nach einer Stunde widerrufen würde – doch war das nicht nötig, obwohl die Tortur zwei Mal wiederholt wurde.

Auch seine Haltung auf dem letzten Gang ist würdig; er wird dabei von Mönchen, die ihn vergeblich noch zu bekehren suchen, umschwärmt.

Der Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Metz gibt zu Protokoll, daß sie in der Karwoche die Bitte, es möge zu dieser Zeit kein Christenkind verschwinden, in das Gebet einschlössen.

Damals übernahm der Marschall de la Ferté das Gouvernement von Lothringen. Die Juden von Metz beeilten sich, ihm dazu eine Ehrengabe zu überreichen: eine Börse, gefüllt mit zweihundert Goldmünzen, auf der Vorderseite das Bild des Marschalls, auf dem Revers die Ansicht von Nancy. »Ungeachtet des Widerwillens, den der Seigneur gegen diese Nation hegte«, nahm er das Geschenk wohlwollend entgegen, meinte aber, die Stadt Nancy sei auf den Münzen so klein geraten, daß sie kaum von einer anderen zu unterscheiden sei.

Die Juden sagten, daß sie diesen Einwand sehr gut fänden. Dann schafften sie einen anderen Beutel mit zweihundert Münzen herbei, die fast die Größe einer Medaille aufwiesen.

Die Juristen des »Pitaval« berichten das als einen gelungenen Witz. Wie das durch zwei Jahrtausende, und wenn wir Ägypten und Babylon mitrechnen, noch um ein drittes überlebt werden konnte, bleibt ein Rätsel – warum gerade die Juden und nicht die Chaldäer oder die Phönizier, die nur anonym in der Geschichte nachwirken? Das ist ohne die Nähe zur Transzendenz nicht zu erklären und führt unausweichlich zum Sinai zurück. Dort werden die Dinge sinnfällig, das Gold und die Schlange, das Feuer und das Meer. Daher ging es in jenem Prozeß auch nicht um Raphael Levi, sondern um ihn herum. Obwohl er es nicht wußte, sagte es ihm der Instinkt.

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Was ein »r« ausmachen kann: »Cogitor, ergo sum«. (Franz von Baader)

Wilflingen, 30. März 1986

Gestern Geburtstag, heute Osterspaziergang bei rauhem Wind. Ich glaubte die erste Schwalbe zu sehen.

Die Haselkätzchen sind seit einigen Tagen wollig, in gelbem Pastell. Gerade bei Windstille scheinen diese Raupen mit einer sanften, die Bestäubung verkündenden Kraft geladen – ein Hauch, und eine gelbe Wolke hebt sich ab.

Die Buschwindröschen sind noch ohne Blüten, doch sie kräuseln sich in lebendigem Grün aus dem Herbstlaub hervor.

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Wenn der Karren im Dreck steckt, stehen sie um ihn herum und streiten, wer ihn hineingefahren hat – anstatt zusammen anzufassen, um ihn herauszuziehen.

Ich muß einräumen, daß die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine Ausnahme bildete. »Es muß erst ein großes Unglück kommen«, hatte der Vater gesagt. Aber das hatte er sich doch nicht vorgestellt.

Wilflingen, 2. April 1986

Verspätet erhalte ich die Nachricht vom Tode Richard Scheringers – des »Deutschen Kommunisten und des Leutnants von Ulm«, wie ihn ein Film pries, der während eines seiner letzten Geburtstage im Dürrhof gespielt wurde.

Wieder schließt sich mit dieser Botschaft ein Dossier. Ich finde darin wenig Briefe, doch Telegramme, in denen er einen Geburtstagsbesuch in Wilflingen, auch in Begleitung Ernst von Salomons, ankündigt. Wenn dazu noch Gerhard Nebel im Haus war, ging es lebhaft zu.

Einmal lädt er mich zu einem gemeinsamen Besuch bei Ludwig Renn ein, ein anderes Mal soll ich einen Protest gegen das Verbot der kommunistischen Partei unterschreiben; er ist der Meinung, daß »eine legale KPD im Geburtsland von Karl Marx und Friedrich Engels schon aus historischen Gründen am Platze« sei.

Wir lernten uns kennen, als er eines Abends in Goslar anklopfte – es muß um 1934 gewesen sein. Sein Name war mit dem Ludins durch den »Reichswehrprozeß« bekannt geworden; Goebbels hatte sich vergeblich um ihn bemüht, nachdem der Leutnant aus dem Gefängnis – oder gab es damals noch »Festung«? – entlassen worden war.

Hugo Fischer, der mit uns in der Bibliothek saß, sagte: »Das ist ein Florian Geyer«, nachdem Scheringer gegangen war. Das war eins seiner kurzen, treffenden Urteile. Freilich: Was ist ein Bauernführer im Zeitalter des Arbeiters? Da lag das Problem.

Ein Kranz mit der Schleife »Dem alten Freunde« kommt hoffentlich noch zurecht.

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Ich warf aus diesem Anlaß einen Blick in die Briefe, die Hugo Fischer mir um jene Zeit geschrieben hat, fand aber Scheringer nicht erwähnt. Das starke Konvolut beginnt 1927; die Briefe sind leichthin aus der Feder geflossen, weit leserlicher als Hugos Bücher, und eine Fundgrube – auch eine Ergänzung zur Korrespondenz mit Friedrich Georg, Carl Schmitt, Alfred Baeumler, Ernst Niekisch und anderen.

Im Flugzeug, 7./8. April 1986

Bei jedem neuen Fluge nach entferntem Ziel überraschen Fortschritte zur Perfektion. Dieser Satz hätte sich während meiner Kindheit gelesen wie in einem Roman von Jules Verne. Er hätte uns beflügelt – doch inzwischen zeichneten sich die Schatten ein. Die Flughäfen bei Nacht wirken dämonisch – nicht nur wegen der bis in die Ferne verteilten Lichter, die an die Versuchung des heiligen Antonius erinnern; es sind auch die Geräusche: man lauscht auf eine besondere Art. Man könnte sich daran gewöhnen; das wäre noch gefährlicher.

Als Ausnahme empfand ich die kurze Zwischenlandung in Dubai: bengalische Beleuchtung eines Wüstenfeldes in vielen Farben – offenbar herrscht Überfluß an Energie. Jetzt, um zwei Uhr morgens, noch Lichterketten: vielleicht kehren Emire von üppigen Festen zurück.

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Wie erklärt sich diese Beschleunigung von Fortschritten – manchmal großen wie zum Düsenantrieb, aber auch minimalen des Komforts, der Beleuchtung, der Ersparung von Gängen und Handgriffen – im Rückblick auf den Anfang des Jahrhunderts, als noch bestritten wurde, daß Fliegen »schwerer als Luft« überhaupt möglich sei?

Damals, zur Zeit der Lilienthals, schien das Problem noch halb utopisch wie für Leonardo; einige Sonderlinge beschäftigten sich mit ihm. Heut fliegen Millionen, und Tausende treiben in den Büros die Entwicklung voran. Dazu die Verwaltung, der Bodendienst, die Flughäfen – während Abzweigungen wie die Raketentechnik und die Raumfahrt bereits in das nächste Jahrhundert hineingreifen.

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Inzwischen sind Großstädte durch Luftangriffe zerstört worden. Auch heftet sich der Luftfahrt eine besondere Kriminalität an wie jeder neuen Technik – vor allem, wenn sie merkurischen Charakter trägt. Wir haben vorm Abflug in Frankfurt und auch bei der Zwischenlandung hier in Dubai erfahren müssen, daß die Prüfung des Gepäcks und die Betastung wiederum gründlicher geworden sind. Selbst mein Taschenmesser bekam ich nicht ohne Bedenken zurück.

Allerdings nimmt die Zahl der Flugzeugentführungen und der Anschläge auf Passagiermaschinen zu; die Opfer sind unschuldig. So die vier, die neulich während eines Fluges der Transworld Airlines über Griechenland eine Explosion tötete – darunter eine Großmutter mit Tochter und Enkelin. Die Bombe war unter ihrem Sitz versteckt gewesen; sie schlug ein Loch in die Bordwand – der Überdruck stieß die Ahnungslosen in großer Höhe hinaus.

Ein tückischer Zugriff wie in »Tausendundeiner Nacht«. Jeder könnte so gefaßt werden, und jeder fragt sich, was er damit zu schaffen hat. Wo der rationale Faden dünn wird, könnte man das Horoskop befragen – es gibt Konstellationen, die von Seereisen, und andere, die von Luftfahrten abraten, auch glaubwürdige Berichte von Vorahnungen. Siehe Thornton Wilder: »The Bridge of San Luis Rey«.

Kuala Lumpur, 8. April 1986

Nachmittags Landung in Kuala Lumpur, wo Wolfram Dufner uns erwartete. Wir fuhren zusammen in seine Residenz. Zum dritten Mal in dieser Stadt, sahen wir, wie sie sich wiederum verändert hat. Bald werden die letzten Gebäude der Kolonialzeit dem Weltstil gewichen sein.

Wiedersehen mit Brigitte Dufner, Tee im Garten – ich erkannte die Bäume wieder, auch die Gebüsche, die reich in Blüte standen – vorgestern lag in Wilflingen noch Schnee.

Einige Stämme sind inzwischen dem Sturm zum Opfer gefallen, doch steht noch der mächtige Feigenbaum in seinem Panzer von Luftwurzeln. Er darf nicht angestrahlt, muß überhaupt mit Ehrfurcht behandelt werden, weil ein Geist in ihm wohnt. In Anzahl Palmen und Frangipanis, hoch und schlank ein Fackelbaum mit seinem feurig leuchtenden Schirm.

Ein solcher Garten ist reich belebt. Besonders fiel mir ein Specht auf, der an den Palmen kletterte: Flügel orangefarben, Hals weiß mit schwarzen Streifen, blutrote Haube, die sich zum Kamm aufrichtete. So umrundete er rastlos den Stamm.

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Natürlich konnte ich mir nicht versagen, einige der Büsche zu revidieren; ich fand sie mit kleinen Rotköpfen besetzt. Dabei fiel mir die Beruhigung ein, mit der ich vor etwa fünfzig Jahren einen Reisebericht in den »Entomologischen Blättern« studiert habe. Ein Sammler von Bockkäfern – ich glaube, es war Tippmann – schilderte eine Exkursion in Brasilien. Besonders behagte mir daran, daß die Teilnehmer, die dort so munter die Netze schwangen, das stattliche Alter von siebzig Jahren erreicht hatten. Sollte ich ihnen nacheifern, so würde die Subtile Jagd in den Tropen immer noch möglich sein. Das schienen mir erfreuliche Aussichten. Inzwischen habe ich mehr als zwanzig Jahre darüber hinaus zugelegt.

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Es wird behauptet, daß zwischen einer angeborenen Neigung und dem Altern Beziehungen bestehen. Was man oft und gern treibt, möchte man immer tun. Das spiegelt sich in den Vorstellungen der Paradiese – für den Jäger sind es die Ewigen Jagdgründe. Zu den Jägern zählt auch der Sammler, gleichviel, worauf sich sein Trieb richte. Sammler sind unersättlich; daher sollen auch Geizhälse sehr alt werden.

Als Friedrich Wilhelm I. bei der Generalbeichte von seinem Hofprediger hörte, daß es im Himmel keine Soldaten gebe, wollte er sich schwer damit abfinden. Mir geht es ähnlich, wenn ich mir eine Welt ohne Blumen und Falter vorstellen soll.

Die Anziehung des Islam gerade auf Naturvölker erklärt sich auch durch den Anteil, den der Prophet den Sinnenfreuden zubilligt. »So tötet nun eure Glieder, die auf Erden sind« (Kolosser 3) – damit läßt sich bei ihnen nicht viel ausrichten.

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Zum Weg. Der Tod darf die Lust verwandeln, doch nicht auslöschen. Ich komme auf die Spirale zurück. Eine unausgedehnte Spirale, also schon die Spirale der Mathematiker, kann ich mir vorstellen oder eher noch »ausdenken«.

Wie aber, wenn sie sich realisiert – als Schraube, Turbine, Bohrer, Kaiserwinde, Baumschlange, Korkenzieher? Wo ist der Übergang? Da helfen keine darwinistischen Ausflüchte, keine »kleinsten Schritte«, kein Heranschleichen an die Materie.

Nein, es muß einen Sprung gegeben haben – und mit ihm eine Minderung. Der Kreis wurde zum Rade, gab Urkraft als Bewegung ab. Das Rad ist eine Vorweisung auf schmerz- und mühelose Welten – es ächzt und stöhnt, wenn wir es antreiben. So auch der Falter als ein Bote, den die platonische Schönheit sendet – aber als Schatten nur. Auf Erden müssen wir uns abfinden.

Kuala Lumpur, 9. April 1986

Die Stadt soll den Rekord an Gewittern halten – ich weiß nicht, ob es stimmt. Jedenfalls begann es zum zweiten Mal zu donnern, als wir beim Golfklub aus dem Wagen stiegen; wir wollten dort im Schwimmbecken ein Bad nehmen.

Der Golfplatz, eine großzügige Anlage im englischen Kolonialstil, wurde schon vor dem Regen von den Spielern verlassen, da es auch zu ebener Erde einschlägt; es gibt immer wieder Todesfälle durch Blitzschlag in Zinnadern, die sich unter dem Rasen dahinziehen.

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Im Ankleideraum. Es geht mir mit den Chinesen, nicht nur den jungen, wie mit manchen Blumen, deren Schönheit mir erst nach Jahren bewußt wurde. Ich will mich dabei aufs Physiognomische nicht einlassen – etwa darauf, ob wir »weißen Langnasen« anziehender sind. Aber die Glätte der Haut, ihr »mondener« Glanz, Bambus und Jade, spiegeln die Ruhe eines Kunstwerkes, dem nichts fehlt, nichts hinzuzusetzen ist. Meine Zuneigung ist eher die zu einem Kunstwerk, also nicht im engeren Sinn erotisch – vielmehr der Hinweis auf eine höhere Qualität.

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Noch zur Spirale. Möglich scheint auch, daß der Bios sich von den idealen Formen abgelöst und nur die Erinnerung oder die Sehnsucht nach ihnen behalten hat. Er hat sie zwar nicht vergessen, aber er bleibt von ihnen abgeschlossen in einem Reich, das einerseits zu dem des Todes, andererseits zum Jenseits geworden ist. Damit ist eine Minderung der Werte verbunden; selbst die Vorstellungen vom Paradiese reichen nicht aus. Der Vorzug der Tiere besteht darin, daß sie den Zustand akzeptiert haben. Sie leben amoralisch und stärker in der Gattung als in den Individuen. Den Alten galten sie für heiliger als der Mensch.

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Drei Punkte, selbst an den Grenzen der Sichtbarkeit, wekken das Bedürfnis, sie durch eine Linie zu verbinden; so entstehen die Sternbilder. Diese Linie ist unausgedehnt und nicht zu fassen; wir können uns also das Nichtvorhandene vorstellen – allerdings brauchen wir Anhaltspunkte dazu. Wir bekleiden die Figuren mit Bildern, indem wir aus dem Vorrat unserer Erfahrung Muster hervorsuchen. Hier könnten Übungen ansetzen.

Kuala Lumpur, 10. April 1986

Wir fuhren mit der Dolmetscherin der Botschaft zur chinesischen Apotheke, der Medical Hall, in die Stadt. Die Dolmetscherin heißt, wenn ich sie recht verstanden habe, Aw Pin Pin, das ist »die Höfliche«. Sie übersetzt aus dem Mandarin ins Englische und zurück.

Wir waren angemeldet; der Apotheker Lee Tan Shep und seine Gattin begrüßten uns und ließen Tee auftragen. Außer ihnen waren noch ein Gehilfe und ihr fünfjähriges Töchterchen im Geschäft, das lebhaft besucht wurde. Die Kunden verweilten längere Zeit, denn der Apotheker versorgt sie nicht nur mit Medikamenten, sondern er wird auch konsultiert, ist also, wie bei uns zu Paracelsus’ Zeiten, Iatro-Chemiker. Er hat vier Jahr in Ipoh Medizin und ein Jahr in Hongkong Pharmazeutik studiert.

Der chinesische Begriff der Gesundheit umfaßt körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden; diesem Ziel gilt die Behandlung – die Ausgewogenheit von Yin und Yang spielt die Hauptrolle dabei. Der Patient sitzt dem Arzt gegenüber, der sein Gesicht, besonders die Augen, beobachtet, ihn sprechen läßt, den Puls an beiden Armen und am Zeigefinger prüft, kurzum ein Urteil vom psychophysischen Befinden zu gewinnen sucht, nach dem er die Behandlung einrichtet.

Die Apothekerin verteilte auf einem Tablett zwölf Medikamente aus den drei Naturreichen und legte Kügelchen daneben, die sie über Nacht geknetet hatte; sie zeigte einige der Ingredienzien – darunter Schlangengalle und Pulver aus getrockneten Seepferdchen. Dann tat sie, als ob sie einem Patienten gegenübersäße, und begann, um Yin und Yang auszugleichen, zu manipulieren, indem sie hier von einer Tafel abbrach, dort einem Pulver eine Prise zufügte.

Um Pulver und Perlen abzuwiegen oder Gifte zu dosieren, bediente sie sich eines zierlichen Instrumentes, das sie aus einem Futteral hervorholte. Obwohl die Perlen kostbar sind, bekommt auch das Töchterchen einige im Mörser zerstoßene ins Getränk. Sie sollen den hellen Teint bewirken, der um so höher geschätzt wird, je mehr er sich dem blendenden Weiß des Ming-Porzellans nähert: mit Perlstaub gepudert erscheint die Braut am Hochzeitstag.

Auch teuer, doch unentbehrlich ist die Ginsengwurzel; wir sahen ein handlanges Stück, das mit achtzig Dollar ausgezeichnet war. Da Ginseng überall auf der Welt zu verschiedenen Preisen angeboten wird, frage ich mich, worauf der Unterschied beruht. Einmal wohl auf dem Fundort: die beste Wurzel wird in den Einöden Koreas und der Mandschurei erbeutet; der glückliche Finder markiert sie durch ein Stäbchen und läßt sie ausreifen. Es muß aber auch substantielle Hinweise auf die Qualität geben. Ich konnte darüber nichts erfahren – vielleicht, weil ich nicht verstanden wurde oder weil das Wissen geheim bleiben soll. Der eigentliche Maßstab der Güte bleibt der Erfolg. Ginseng soll die allgemeine Lebenskraft erhöhen, insbesondere die Potenz. Die Wurzel wird sparsam verwendet – entweder prisenweis anderen Medizinen beigegeben oder in Hühnerbrühe geschabt. Von unseren Ärzten wurde Ginseng lange Zeit in den Aberglauben verwiesen; jetzt wird er wieder in jeder Apotheke geführt. Im alten China war Ginseng die letzte Gabe, die dem Sterbenden gereicht wurde; mythisch wird die Alraune den Drei Göttern und dem Orion zugesellt.

Hochgepriesen wird die Heilkraft eines seltenen Rehes; sie verdichtet sich in der Galle und dem getrockneten Schwanz. Wir sahen auch Gallenblasen von Krokodilen und anderen Tieren: Säckchen, die mit einem Stoff gleich getrockneter Tinte gefüllt waren. Als bewährtes Mittel gegen Schwellungen nach Mückenstichen gilt eine Schuppe vom Panzer des Gürteltieres; der Schmerz verschwindet, wenn man damit sanft über den Einstich streicht.

Die Seepferdchen waren teils klein, teils von einer Größe, wie ich sie nie gesehen hatte, so daß sie an die Steckenpferde von Kindern erinnerten. Sie waren früher auch bei uns offizinell. Altvater Gesner empfahl sie als Mittel gegen die Tollwut; auch sollen sie »zur Unkeuschheit beitragen«, wie er sagt. Vielleicht bin ich nicht ganz auf dem Holzweg mit dem Verdachte, daß gerade dieser Ruf das überreiche Angebot erklärt. Hier harren sie mumifiziert der Verwendung wie auch die Seedrachen, Frösche und anderes zum Pulverisieren verwahrtes Gut.

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Chinesische Küchen und Apotheken werden schon in alten Reisebeschreibungen geschildert – halb als Grusel-, halb als Raritätenkabinette. Natürlich trägt, wie überall, viel Humbug zum Angebot bei. Andererseits ist die Heilkraft mancher Mittel seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden erprobt. Zum Beispiel die Schlange: Vipernbrühe galt in der Antike und noch im Mittelalter als unübertrefflich zur Erneuerung der Lebenskraft. Auch hier hat es eine Wiederentdeckung gegeben: das Schlangengift ist zu einem großen Pharmakon geworden – es ist das Gegengift schlechthin.

Gut ist auch, daß nicht nur abstrakte Mittel wie Pulver, Tabletten und Tinkturen verabreicht werden, sondern daß man viel in natura sieht. Auch in unseren Apotheken wird der Mangel empfunden – daher die Kuriositäten in den Schaufenstern. Vielleicht führt gerade dieses Bedürfnis zu einem Übergreifen der chinesischen Medizin in westliche Länder, wie es auch in der Gastronomie zu beobachten ist. Das Eindringen der Akupunktur ist ein Vorzeichen.

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Dieser chinesischen Bekanntschaft schloß sich eine malaiische an. Auf der Rückfahrt kamen wir an der National-Galerie vorbei und sahen, daß dort das Œuvre Ibrahim Husseins ausgestellt ist. Hussein gilt als der beste Maler des Landes; wir stiegen aus, um einen Eindruck zu gewinnen, und hatten das Glück einer Begegnung mit dem Meister, der zufällig anwesend war. Wir hatten mit ihm, einem der Menschen, die auf den ersten Blick für sich einnehmen, ein gutes Gespräch. Er sagte, daß die Ausstellung an seinem fünfzigsten Geburtstag eröffnet worden sei.

Wenn ich zum ersten Male einem solchen Opus gegenüberstehe, habe ich für meinen Privatgebrauch zwei Fundamentalfragen. Erstens, um einen Ausdruck Baudelaires zu verwenden: »Hat er ein poncif?« Das heißt, hat er ein Webmuster, einen persönlichen Stil, an dem zu erkennen ist, ob ein Bild von ihm stammt, wie immer es gelungen sei. Das war hier der Fall. Merkwürdig ist ein Geflecht hauchfeiner Linien, die daktyloskopisch viele Bilder durchziehen. Das nur als Detail. Hussein hat eine breite Palette – er malt gegenständlich und abstrakt, impressionistisch und surrealistisch: Landschaften, Blumen, Porträts, darunter gute Selbstbildnisse. Aber das Werk als Ganzes hat seine Art.

Der zweite Test erinnert an jenen MacMahons, der bei der Beurteilung eines Offiziers zum Abschluß fragte: »Und wie sitzt er zu Pferd?« Das würde hier bedeuten, ob der Maler auch zeichnen kann. Er mag es vergessen, wie man vergißt, daß man reiten oder schwimmen kann. Um mich auf Ingres zu berufen: »Die Zeichnung ist die Ehrlichkeit der Kunst.«

Wie gesagt, kamen wir in ein angeregtes Gespräch, bei dem Wolfram Dufner den Dolmetscher machte und Ibrahim Hussein mir seinen Katalog schenkte. Durch manche Bekanntschaft, auch freundschaftlichen Verkehr mit guten Malern hat sich in mir die Vorstellung von einem Typ gebildet, dem auch diese Begegnung entsprach: bescheidene Sicherheit. Man weiß, was man kann, hält die Reserven zurück. Ruhiger, fester Blick, auch auf den Partner – halb erwartend, halb abwägend.

Ein Unterschied der bildenden Künste einschließlich der Architektur zur Dichtung liegt darin, daß das Opus im Augenblick zu überschauen ist. Der Poet trägt vor, der Maler enthüllt. Die Ausstellung ist ein Wagnis, sowohl der kritischen Betrachtung wie dem eigenen Können gegenüber – das prägt sich auf die Dauer im Charakter aus.

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Ein solcher Rundgang kann nur einen flüchtigen Eindruck geben – immerhin war er stark. Zwei Bilder bleiben mir in besonderer Erinnerung: Das einer Sonnenblume – auch hier die feine Lineatur. Fruchtboden dunkelgrün, fast schwarz, Kronblätter heller grün, sich dann in eine reiche Palette ausfaltend. Endlich eine Sonnenblume nicht à la van Gogh: tropisch, näher an Mexiko.

Dann ein Doppelbild: Ein Astronaut, wie eine Gliederpuppe aus Instrumenten zusammengebaut, mit Tauchermaske und einem Gürtel aus Geldscheinen. Daneben Ibrahims Vater, nur bekleidet mit dem Lendenschurz der Reisbauern.

L’homme machine und der natürliche Mensch, wie schon Hesiod ihn besingt: »Nackt pflüge der Mann!« Dazu der Maler: »Als ich meinem Vater erzählte, daß ich dem Menschen begegnet sei, der als erster den Mond betreten hat, hatte ich auf sein Erstaunen gerechnet, doch der Alte sagte: ›Ihr seid ein verrücktes Volk. Was habt ihr auf dem Mond zu suchen? Da ist nichts – aber viel Elend hier.‹«

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Die Staatsgalerie ist im ehemaligen Hotel »Majestic« eingerichtet, das durch Romanciers, die man die »literarischen Orientkunden« nennen könnte, berühmt geworden ist. Sie sind dort, ähnlich wie bei »Raffles’« in Singapur, gern eingekehrt und haben auch verweilt. Da die Räume des Klimas wegen hoch gebaut sind, eignen sie sich gut für eine Galerie. Der Botschafter meinte, daß auch Hermann Hesse vor dem Ersten Weltkrieg dort gewohnt habe – das stellte sich, als ich am Abend dessen Aufzeichnungen »Aus Indien« konsultierte, als Irrtum heraus. Hesse ist am 1. Oktober 1911 auf dem »noblen«, im Moschee-Stil erbauten Bahnhof von Kuala Lumpur angekommen und hat im inzwischen aufgelassenen »Empire« gewohnt. Sein Urteil darüber ist wenig günstig: »Feines Hotel, teuer, äußerlich imponierend, doch nicht gut. Kost und Bedienung schlecht, in den Zimmern ungeleerte Nachttöpfe.« Zu seiner Mißstimmung mag die Falterjagd beigetragen haben, die ihn am Vormittag im heißen Gestrüpp bei Ipoh ermüdete. Am Abend erholte er sich bei einem chinesischen Privatfest und auf Gängen durch die Stadt. Dabei fielen ihm die hellerleuchteten Altäre in den Fluren der Chinesenhäuser und, was ihn wunderte, auch der Bordelle, auf – wo sie freilich, was schon die Alten wußten, besonders nötig sind.

Am nächsten Morgen ging Hesse wieder auf Falterjagd, diesmal im Stadtpark, und fuhr dann zu den Batu Caves, dem Hindu-Tempel, den auch ich bald wiederzusehen hoffe – er wurde dort, wie er schreibt, in Zauberflötenstimmung versetzt. Inzwischen hat sich hier viel verändert, obwohl er damals schon ein gutes Bahnnetz und »Rubber«-Plantagen fand – dagegen kaum Autos, viel Rikschas und originale Kultur.

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Spät präparierte ich noch eine kleine Ausbeute – Zufallsfunde innerhalb der Stadt, ähnlich wie Hesse sie erwähnt. Zuvor suchte ich lange nach einer Lupe, die ich verlegt hatte. Ich notiere es, weil eine zweite, die denselben Dienst geleistet hätte, mir zur Hand auf dem Fensterbrett lag. Darüber wuchs der Ärger, doch so ungereimt handeln viele: der ephemere Verlust wird nebensächlich – es geht jetzt um die Ordnung an sich.

Ich habe viel Zeit mit solchen Recherchen verloren – allerdings zugunsten der inneren Disziplin. Übertrieben scheint auch die Unruhe, die uns ergreift, wenn uns im Gespräch ein Wort entfallen ist. Wir haben im Labyrinth der Sprache den Faden verloren und müssen ihn wiederfinden – mehr als die flüchtige Mitteilung ist bedroht.

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Der Arzt, den wir nur im Traum konsultieren: wir vergessen ihn. Aber wir erkennen ihn zur Nachtzeit wieder, wenn wir ihn besuchen, auch sein Haus, die Etage, die Einrichtung. Dann führt er die Behandlung fort.

Fraser’s Hill, 14. April 1986

Wir verbrachten einige Tage auf Fraser’s Hill, der ehemaligen Bergresidenz des englischen Gouverneurs, die wie alle Einrichtungen der Kolonialzeit dem malaysischen Staat anheimgefallen ist. Jetzt dient sie zur Erholung des Ministerpräsidenten Mahathir, der sie dem Botschafter und seinen Gästen zur Verfügung gestellt hat.

Der Aufstieg von Kuala Lumpur ins Gebirge führt durch dichte, hügelige Wälder, deren Schluchten der Nashornvogel, Hornbill, überfliegt. Leider blieb uns sein Anblick versagt; dafür fehlte es nicht an anderen bunten Vögeln und großen Faltern, auch riß während der ganzen Fahrt der schrille Zikadengesang nicht ab.

Wir passierten auf der engen Straße, die zum Teil nur als Einbahn befahren werden kann, die Stelle, an der, etwa um 1950, der englische Gouverneur mit seiner Begleitung auf der Rückfahrt nach Kuala Lumpur von Partisanen erschossen worden ist. Dieser Tat schlossen sich langwierige Kämpfe an, die auch mit der Unabhängigkeit Malaysias nicht endeten. Noch jetzt ist die Gegend unsicher; für die an die Wälder grenzenden Dörfer gilt ein nächtliches Ausgangsverbot. Es kommt immer wieder zu Scharmützeln: erst vor kurzem spürte die Polizei eine Partisanengruppe an einer Wasserstelle auf und beschoß sie; eine Rotarmistin wurde getötet, die übrigen flohen in den Wald.

Der Polizeichef Haniff Omar warnt Sympathisanten, von denen die Partisanen mit Waffen, Proviant, Medizin und Funkgeräten versorgt werden. Sie bringen die Vorräte aus dem Stadtgebiet an den Waldrand, wo Streifen aus dem Inneren des Dschungels sie abholen. Diese Unruhe glimmt wie ein fast erloschener Brand unter der Asche weiter; sie kann jederzeit wieder aufflammen.

Ein Feuer wird auf kleiner Flamme gehalten; gewiß wird es in entfernten Büros beobachtet, vielleicht auch genährt. Wer weiß, wozu es einmal dienen kann. Es heißt, daß die Chinesen die Partisanen nicht mehr mit Waffen, wohl aber mit Nachrichten versehen. Viele der outlaws, des Lebens im Dschungel müde, stellen sich und kehren zu ihren Familien zurück.

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Louis James Fraser war ein schottischer Abenteurer, der zu Beginn des Jahrhunderts in diese Gegend kam, nachdem er in Australien Gold geschürft hatte. Hier richtete er für chinesische Bergleute einen Maultierpfad ein, auf dem Zinnerz an die Küste transportiert wurde. Eines Tages verschwand er und wurde nie mehr gesehen. Er wäre längst vergessen, wenn nicht Ferguson Davie, der Bischof von Singapur, nach seinem Verbleiben geforscht hätte. Die Suche blieb vergeblich, doch benannte der Bischof den Berg zum Andenken an ihn.

Wahrscheinlich wird Fraser sich im Dschungel verirrt haben und dort umgekommen sein, so wie der Fabrikant, von dessen Schicksal wir in den Cameron Highlands gehört haben. Auch wir wurden davor gewarnt, den Wald, der unmittelbar an das Grundstück grenzt, außerhalb der markierten Pfade zu betreten; einige Schritte seitab, und man verirrt sich hoffnungslos im Gestrüpp.

Wir begnügten uns also mit Gängen auf den gebahnten Wegen; die Siedlung ist wie Rom auf sieben Hügeln erbaut. Auf ihnen ist der Wald für »Hill-Stations« von Sultanen und großen Firmen gelichtet; auch ein Golfplatz fehlt nicht in der weiträumigen Anlage.

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Ich war – soll ich sagen: nebenbei oder hauptsächlich – mit zwei Erwartungen gekommen: einmal, wie es sich versteht, mit entomologischen, zum anderen mit dem Wunsche, den Halleyschen Kometen zu sehen oder: besser noch, wiederzusehen. Die gewitterschwüle Atmosphäre von Kuala Lumpur bot wenig Aussicht; ich hatte meine Hoffnung auf diese Höhe gesetzt.

Die erste Erwartung wurde weit übertroffen; die Einzelheiten sind für die Hausarbeit notiert. Eine große, bei Einbruch der Dunkelheit hell erleuchtete Terrasse, davor ein Urwald bis weit über den Horizont hinaus, mit blühenden Bäumen und totem Holz. Da ließ der Anflug nicht lange auf sich warten – zunächst von großen Faltern, Käfern und Zikaden, die wie Spielzeuge knarrten, wenn sie nach dem Aufprall am Boden kreiselten. Im Nu waren die Wände rings um die Lampen und die weißen Fliesen mit Mustern bedeckt, und bald erwiesen die Fangflaschen sich als zu klein. Daneben fehlte es nicht an Winzlingen; auch Geckos und eine Kröte ließen sich sehen. Sie nahmen sich ihren Anteil, und über dem Waldrand räumten Fledermäuse zwischen den Schwärmen auf.

Erstaunlich war die Zahl und auch die Mannigfaltigkeit der Hirschkäfer – und doch erklärlich, da die Tiere sich im morschen Holz entwickeln, an dem es hier gewiß nicht fehlt. Sie kamen langsam, in fast senkrechter Haltung, angeflogen und waren auch an Größe recht verschieden; ein nußbrauner Adonis war nur wie der Daumennagel, ein brillantschwarzer Riese wie mein Mittelfinger lang. Ihn präsentierte mir das Stierlein wie einen zappelnden Krebs am Halsschild – und damit an diesem letzten Abend hier den Haupttreffer.

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Nicht zu vergessen ist Mister Fu, ein emsiger Chinese, bei dem wir auf einem unserer Rundgänge einkehrten. Dort lernte ich die Quelle des Insektenhandels kennen; wir trafen ihn in seiner Hütte beim Präparieren einer immensen Ausbeute. Zwei seiner Kinder sprangen draußen in der Hitze mit Netzen umher.

Die Prachtstücke, die der Entomolog halb bewundernd, halb abschätzig »Augenreißer« nennt, werden zum Wandschmuck gerahmt und samt der unsortierten Menge nach Singapur gesandt. Von dort gehen sie an Händler, Museen und Sammler in aller Welt. Mister Fu wiederum hat die Bauern der Umgebung, vor allem deren Kinder, als Zubringer. Dabei ist nicht zu befürchten, daß irgendeine Art bedroht oder auch nur selten wird. Vielmehr werden Schädlinge reduziert – so das mächtige erzglänzende Dreihorn, Chalcosoma, das, wie wir hörten, die Bananenpflanzungen verheert. Die bescheidene Entnahme eines Mister Fu verschwindet im großen Buche der Natur, verglichen mit der Vernichtung, die mit ihren Giften, ja rein durch ihre Ausbreitung die Landwirtschaft anrichtet.

Bescheiden nach alldem, was ich hier gesehen habe, stelle ich mir auch die Einnahmen dieses Wildbeuters vor. Ehe seine Fänge dorthin gelangen, wo sie den Liebhabern zu Preisen angeboten werden, von denen er nicht einmal zu träumen wagt, sind sie durch viele Hände gegangen, haben einen weiten Weg zurückgelegt.

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Mein zweiter Wunsch: das Wiedersehen mit dem Halleyschen Kometen, blieb mir leider versagt, obwohl die Aussicht hier besser gewesen wäre als unten im Dunst von Kuala Lumpur oder gar am Rande der Schwäbischen Alb. Wolfram Dufner hatte sich von Astronomen den Azimut für Fraser’s Hill berechnen lassen und täglich den Wecker auf fünf Uhr morgens gestellt – leider blieb der Himmel bedeckt.

Kuala Lumpur, 15. April 1986

Das Wiedersehen ist doch noch gelungen – ein Markstein gesetzt. Wolfram Dufner klopfte an – um, wie ich dachte, uns zur Abfahrt zu wecken, aber es war noch dunkel, und er rief: »Der Komet ist da!« Das war kaum zu glauben – wir stürzten in sein Zimmer, ich mit dem Feldstecher in der Hand. In der Tat – Halley stand ebenso deutlich am Himmel wie damals zu Rehburg vor sechsundsiebzig Jahren, als ich ihn mit Eltern und Geschwistern gesehn hatte.

Diesmal schien er mir etwas größer, doch ebenso wenig imponierend wie damals – schweiflos, diffus, etwa wie ein Garnknäuel. Er stand auch höher – unter dem südlichen Sternbild des Triangulums, mit dem er ein gestrecktes Trapez bildete.

Kometen stellen wir uns vor, wie die alten Maler sie über den Stall von Bethlehem setzten und wie sie in der Tat nach glaubwürdigen Überlieferungen in erschreckender Größe erschienen sind. Die meisten Photos, die ich gesehen habe, wenigstens die von der Erde aus aufgenommenen, trügen, denn wer lange genug belichtet, kann jedem Gestirn einen Schweif von beliebiger Länge anhängen.

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Ein Wiedersehen eigener Art, und unter Umständen, die damals keine Phantasie ersonnen hätte: in den Präludien der Wassermannzeit.

Ich glaube, es war Ranke, der sagte, als Historiker müsse man alt werden, denn nur, wenn man große Veränderungen persönlich erlebt habe, könne man solche wirklich verstehen. Er wird damit wohl weniger den einzelnen Vorgang als den Gewinn an Erfahrung gemeint haben. Das Verhältnis ähnelt dem des Soldaten, der nur auf dem Exerzierplatz geübt, zu jenem, der auch im Gefecht gestanden hat.

Wieviel Zeit muß verfließen, ehe man den eigenen Vater versteht. Wenn ich an ihn zurückdenke, um den wir damals vor unserem Hause standen – die Mutter, vier Söhne und die Tochter – will es mir scheinen, daß er einerseits typisch die Epoche vertrat, in der er lebte, sich andererseits von ihr kritisch distanzierte und zudem archaische Züge besaß.

Typisch für die Epoche war schon das Bild, das wir boten: der Vater inmitten seiner großen Familie. So hielt es der Kaiser, hielten es die meisten unserer Bekannten und die Bauern ringsum. In gewissen Abständen mußten wir, was mir nicht angenehm war, mit ihm nach Hannover fahren – erst zum Friseur, dann zum Photographen, möglichst an einem Tag, an dem im Theater eine Mozartoper gespielt wurde.

Das Bild ist zugleich archaisch: die Familie bei der Betrachtung eines ungewöhnlichen Zeichens am Himmel; ein Rest von Ehrfurcht läßt sich nicht abweisen. Mit Wendungen wie »typisch für die Epoche« muß man überhaupt vorsichtig sein, denn in jede Epoche paßt viel, paßt sogar alles hinein, selbst wenn es nicht harmoniert. Eine Vorstellung davon bekommt man beim Blättern in alten Stammbüchern. Von denen, die sich dort »verewigten«, wurden die einen Geistliche, Ärzte, Richter, Beamte, die anderen Bankiers oder Revolutionäre, wiederum andere erlitten Schiffbruch und verschwanden in Amerika. Aber der Duktus der Handschrift ist gemeinsam; er läßt sich Jahrzehnten zuordnen. Sie alle hatten mehr als sie dachten und mehr als sie wollten miteinander gemein.

Bei der Lektüre von Turgenjews »Väter und Söhne« fiel mir die Ähnlichkeit der geistigen Haltung des Vaters mit jener der jungen Nihilisten auf, deren Arroganz der Autor vorausgesehen hat. Das rationale Klima der Heidelberger Universität hatte ihn unverkennbar geprägt. Lange nach seinem Tode habe ich mit der uralten Tochter Victor Meyers, bei dem er Assistent gewesen war, darüber korrespondiert. Sie hatte im Bunsenschen Palais mit ihm getanzt.

»Die Theologie ist keine Wissenschaft.« Oder: »Gedanken werden durch Kombination und Zerfall von Eiweißmolekülen produziert.« Solche Sprüche lenkten Wasser auf meine Mühle, sagten mir zu. Andererseits die fast zärtliche Bewunderung der in der Natur wirkenden Kräfte und ihrer Listen – in ihnen mußte eine unbegreifliche Intelligenz verborgen sein. Sie gab die Richtung; ihr mußte man nachfolgen.

Naturwissenschaften – vor allem Chemie – und Geschichte gaben die Grundpfeiler. Auch das Geschichtsbild war positivistisch; es wurde durch die großen Einzelnen bestimmt. Seine besondere Neigung galt Alexander, Cortés, Wallenstein, Napoleon. Dazu die Paladine: die Argonauten, die Diadochen, die Konquistadoren, die Marschälle. Es fiel mir auf, daß der Vater trotz seiner Vorliebe für große Operationen am Ersten Weltkrieg geistig kaum Anteil nahm; er vermißte die logische Prägnanz – das Material wurde zu stark. Eine Ausnahme bildete die Skagerrakschlacht, die er studierte wie eine Schachpartie.

Philosophie hat ihn kaum je beschäftigt; für ihn waren die Tatsachen keiner Erklärung bedürftig – sie sprachen für sich. Der Gesellschaft gegenüber verhielt er sich skeptisch – en masse war ihr alles zuzutrauen. Die musischen Neigungen waren begrenzt: Schillers historische Dramen, Mozart, seit früher Jugend die »Ilias«, die klassischen Sagen, »Tausendundeine Nacht«. Am Rande das Schachspiel, später die Astronomie. Als Student hatte er, angeregt durch Scheffel, Trompete geblasen –