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Der achte Band beschließt mit Jüngers Reisetagebüchern die erste Abteilung der Gesamtausgabe. Dabei spannt sich der Bogen von dem Aufenthalt der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger in Dalmatien im Jahre 1932 bis zu einer Spitzbergenreise Jüngers 1964. Der vorliegende Band entspricht Band 6 der gebundenen Ausgabe. Insgesamt elf Reisen hat Jünger in diesen Tagebüchern dokumentiert: »Dalmatinischer Aufenthalt«, »Myrdun«, »Aus der Goldenen Muschel«, »Atlantische Fahrt«, »Ein Inselfrühling«, »Am Sarazenenturm«, »San Pietro«, »Serpentara«, »Ein Vormittag in Antibes«, »Xylókastron« und »Spitzbergen«.
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Seitenzahl: 687
ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE
Tagebücher I-VIII
Band 1 Der Erste Weltkrieg
Band 2 Strahlungen I
Band 3 Strahlungen II
Band 4 Strahlungen III
Band 5 Strahlungen IV
Band 6 Strahlungen V
Band 7 Strahlungen VI, VII
Band 8 Reisetagebücher
Essays I-IX
Band 9 Betrachtungen zur Zeit
Band 10 Der Arbeiter
Band 11 Das Abenteuerliche Herz
Band 12 Subtile Jagden
Band 13 Annäherungen
Band 14 Fassungen I
Band 15 Fassungen II
Band 16 Fassungen III
Band 17 Ad hoc
Erzählende Schriften I-IV
Band 18 Erzählungen
Band 19 Heliopolis
Band 20 Eumeswil
Band 21 Die Zwille
Supplement
Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß
Sämtliche Werke 8
Tagebücher VIII
Reisetagebücher
Klett-Cotta
Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band entspricht Band 6 der gebundenen Ausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter
Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin
Gesetzt von pagina, Tübingen
Datenkonvertierung: Lumina Datamatics GmbH
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96308-3
E-Book: ISBN 978-3-608-10908-5
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
INHALT
Dalmatinischer Aufenthalt
Myrdun
Aus der Goldenen Muschel
Alantische Fahrt
Ein Inselfrühling
Am Sarazenenturm
San Pietro
Serpentara
Ein Vormittag in Antibes
Xylókastron
Spitzbergen
ERSTDRUCK 1934in: »Blätter und Steine«
Den Juni und Juli des Jahres 1932 verbrachte ich mit Friedrich Georg im Dalmatinischen Küstenstrich. Nach der phantastischen Landkarte, die wir von Ländern, die wir noch nicht gesehen haben, im Kopfe tragen, hatte dieses Gebiet als eine Art erweiterten Italiens in meiner Vorstellung gelebt. Während des langen Tages, an dem unser weißer Dampfer an gezackten Inseln und zerrissenen Küstenbändern vorüberglitt, hatte ich Zeit, mich von diesem Irrtum zu befreien.
Ich fühlte mich durch den ersten Eindruck fast enttäuscht. Die karstigen Felsmassen, die sich, vielfach zerklüftet, zum Brandungsstreifen niedersenkten und sich dort wie geschmolzenes Blei verästelten, erschienen mir nur als der Knochenbau einer Landschaft, der die gefällige Rundung und der fleischige Ansatz mangelten. Später merkte ich freilich, daß dieses Land seine geheimen Kräfte besitzt; es belebt sich in der Erinnerung und ruft ein Gefühl von Heimweh hervor. Entfernt schien es mir der Lüneburger Heide verwandt.
Unser Landungsplatz war Korčula, ein uraltes, befestigtes Seenest, dessen Gründung dem Antenor zugeschrieben wird. Dort begrüßte uns unser Wirt, Kapitän Bohrer, ein alter Kaiserlich-Königlicher Seeoffizier. Wir überquerten in seinem Motorboot den schmalen Meeresarm, der Korčula von der fingerförmig ausgestreckten Halbinsel Sabbioncello trennt. Am Nordausgang des kleinen Marktfleckens Orebić leuchtete Bohrers »Hotel Bellevue«, in dem für uns ein Zimmer mit der Aussicht zum Meere bereitet war.
Auf einem ersten Gang durch den Ort schlossen wir Bekanntschaft mit dem kroatischen Typus, einem angenehmen und gut gewachsenen Menschenschlag. Die Kroaten hatte ich mir ungefähr so vorgestellt, wie sie bei uns zulande in der Erinnerung an den Siebenjährigen Krieg weiterleben – als eine Art von zottigen Barbaren mit hängenden Schnurrbärten und finsterem Blick. Zu unserem Erstaunen trafen wir dagegen ein freundliches, fleißiges und kultiviertes Völklein an. Mit Behagen tauchten wir in ein patriarchalisches Element, wie es bei uns schon seit Urgroßvaters Tagen verloren gegangen ist. Daß an diesem Gestade noch die alte, gewachsene Schichtung lebendig ist, wurde uns bald an mannigfaltigen Beobachtungen klar. Zu ihnen gehört die Unterscheidung von Gospodin und Gospodar in der Anrede der Person. Gospodin bedeutet einfach Herr; die Bezeichnung Gospodar dagegen steht dem Familienvater zu, der auf eigenem Grund und Boden sitzt. Den Unterschied kennt man bei uns nicht mehr, abgesehen vielleicht von unseren östlichen Marken, in denen der Patron noch als der »gnädige« Herr angesprochen wird.
Die Bevölkerung lebt vom Land und vom Meer. Wir sahen in den Gärten den mürben, rotbraunen Boden, der köstliche Weinsorten, Oliven, Mandeln, Feigen und Granatäpfel trägt. Die Häuser sind sauber aus Stein gebaut; in den schönsten wohnen alte Kapitäne, die sich nach ihren Fahrten an dieser Küste niedergelassen haben. Sie pflegen ihre Wohnsitze mit der Ordnung und dem peinlichen Raumsinn einzurichten, an die man sich auf den Schiffen gewöhnt. Wir kamen oft an ihnen vorüber, wenn sie am Strande an ihren Segelbooten arbeiteten oder von ihren terrassenförmigen Gärten aus mit Fernrohren das Meer beobachteten. Wenn ihre alten Schiffe vorüberfahren, werden sie von ihren Nachfolgern durch ein Sirenensignal begrüßt. Dalmatien bringt seit alten Zeiten einen vorzüglichen Schlag von Seefahrern hervor.
Die Mahlzeiten nahmen wir auf einer von Weinreben beschatteten Terrasse ein. Ich setzte hier das Studium der Mittelmeerfische fort, die ich mir jedesmal zeigen ließ, ehe sie aus den Körben der Fischer in die Küche wanderten. Leider hatte ich im Trubel der Abreise vergessen, Ovids »Halieutikon« und das 32. Buch des Plinius einzupacken, wie es meine Absicht gewesen war. Daß wir uns in einem alten österreichischen Kronland befanden, verriet uns schon die Mannigfaltigkeit der Mehlspeisen, die eine unerschöpfliche Erfindungsgabe hervorzauberte. Nicht eine von ihnen wiederholte sich während der Wochen unseres Aufenthalts. Eine besondere Erwähnung verdient auch der dalmatinische Schinken, der es mit dem westfälischen aufnehmen kann. Er verdankt seinen Wohlgeschmack den würzigen Hölzern der Macchia, mit denen er geräuchert wird. An Weinen lernten wir zwei Sorten kennen, den roten Opolo als Landwein und den feurigeren, bernsteinfarbigen Grk, Weine von hoher Erdkraft, die sich jedoch nicht ohne Widerstand darbieten, sondern deren Geist man sich erobern muß. Bei der ersten Probe stößt sich die Zunge an einem eigenartigen Äther- oder Terpentingeschmack, der sich im Laufe der Wochen mehr und mehr verliert. Nichts macht mit einer Landschaft vertrauter als der Genuß der Weine, die auf ihrer Erde gewachsen und von ihrer Sonne durchleuchtet sind.
Abends, wenn der Duft der blühenden Orangenbäume und der in Marmorbecken eingepflanzten Geranienbüsche in die Salzluft des Meeres einzuströmen begann, saßen wir gern in der freundlichen Gesellschaft unseres Wirtes hinter einer oder mehreren Karaffen am Tisch. Wir lernten in ihm eine der einfachen Naturen kennen, denen ein soldatisch geführtes Leben einen hohen Grad von Kindlichkeit erhalten hat. Freilich hatte auch auf seinem Gemüt die Katastrophe ihre Schatten hinterlassen; dennoch hatte sie die ihm angeborene Heiterkeit nur getrübt, nicht aber zerstört. Bei einem Angriff gegen die venezianische Küste hatte ein Torpedo sein Schiff innerhalb von Minuten versenkt; ein Patrouillenboot fischte ihn, nachdem er eine Nacht verzweifelt geschwommen war, wieder auf. Zuweilen bemerkten wir an ihm Anflüge eines Leidens, das man das österreichische nennen kann und das vielen alten Angehörigen dieser letzten wirklichen Monarchie gemeinsam ist. Mit ihr wurde eine Form des Lebensgenusses zerstört, die in den übrigen Ländern Europas schon seit Generationen unvorstellbar geworden war, und diese Zerstörung wirkt sichtbar in den Einzelnen nach. Besonders deutlich wurde uns die andere Art, in der sich der Umsturz in Österreich vollzogen hat, als uns Bohrer eines Abends über die Vorgänge berichtete, die sich während der Revolution in der Offiziersmesse von Spalato abgespielt hatten. Bei uns im Reich hatte sich, von der allgemeinen Erschöpfung abgesehen, doch höchstens die Verschiedenartigkeit sozialer Schichtungen bemerkbar gemacht; hier aber hatten sich die Klüfte der Nationalitätenunterschiede aufgetan. In der Erzählung des biederen Kapitänleutnants klang das Entsetzen nach, das er empfunden hatte, als sich der alte Kameradenkreis eines Tages, wie durch einen Zauberstab berührt, in Polen, Tschechen, Serben, Slowaken, Kroaten und Italiener gespalten hatte und in alle Winde zerstoben war. Wir wurden nicht müde, ihn nach den Einzelheiten zu fragen, denn das ist die innigste Art, auf die man in die Geschichte eindringen, und der beste Schlüssel, den man sich zum Verständnis der alten Autoren erwerben kann. Das alte Österreich ist für uns, die wir wieder vor der Bildung von Imperien stehen, wie ein Fossil, aus dessen erhaltenen Knochen man den Aufbau einer andersartigen Welt errät – einer Welt, die hinter, aber vielleicht auch schon wieder jenseits der Moderne liegt.
Ich hatte mir in Berlin vorgenommen, mich an der Beobachtung der Tiere und im besonderen der Insekten dieser Landschaft zu erfreuen – also Insektenbelustigungen zu treiben, um mit dem alten Rösel von Rosenhof zu sprechen, der uns ein prächtig illuminiertes, zu Nürnberg um 1750 erschienenes Kupferstichwerk unter diesem Titel hinterlassen hat. Zu solcher Belustigung boten bereits die angenehmen Abende, die wir hinter unserem Opolo verplauderten, manche Gelegenheit. Das Licht einer starken Lampe, die über uns im Weinlaub hing, zog Scharen geflügelter Gäste an, die mit hartem Aufschlag auf den Steinplatten der Terrasse landeten. Zu den ansehnlichsten dieser Besucher gehörten der Nashornkäfer, dessen Flügeldecken glänzen wie rotbrauner Lack, und auch der Mulmbock, der in Deutschland nur selten anzutreffen ist. Er schlüpft aus alten Nadelhölzern, deren Duft er mitbringt und deren Farbe er trägt. Ich kannte ihn schon seit meiner Kindheit aus Abbildungen, und es bleibt immer ein Erlebnis, zu sehen, »daß es solche Tiere auch wirklich gibt«. In großen Mengen flog eine südliche Art von Johanniswürmchen an, die sich von unseren deutschen durch bedeutende Länge unterschied.
Die Ankunft dieser Tierchen zog wie ein Mannaregen allerlei hungrige Mäuler an. Bald nachdem die Lampe angezündet war, erscholl auf den Fliesen ein leises, klatschendes Geräusch; es rührte von einer gefleckten Kröte her, die mit großer Pünktlichkeit ihren Beobachtungsstand bezog, der an einer taktisch günstig gewählten Stelle innerhalb des Strahlenkegels gelegen war. Halb hinter einer Weinrebe verborgen, starrte sie mit unbeweglichen Goldaugen vor sich hin als ein Sinnbild orientalischer Genügsamkeit, denn sie verschmähte es durchaus, nach den geblendet am Boden taumelnden Motten oder den vorüberkriechenden Leuchtkäfern auch nur den Kopf zu wenden, geschweige denn einen Sprung zu tun. Sie beschränkte ihre Jagd auf den kleinsten Raum, der genau dem Umkreis entsprach, den sie mit ihrer Zunge zu bestreichen imstande war. Näherte sich eine Beute auf weidgerechte Entfernung, so schoß sie dieses Organ mit unfehlbarer Sicherheit darauf ab und zog es ebenso schnell mit dem darauf angeleimten Opfer wieder zurück.
Bedeutend beweglicher waren die Scheibenfingergeckos – zierliche, durchscheinende, zwischen rosa und violett changierende Echsen, die um die gleiche Stunde hinter den Spalieren hervorhuschten, um an der beleuchteten Hauswand, an der sie mit großer Sicherheit hafteten, den Nachtschmetterlingen nachzustellen. Zuweilen stürzte dennoch einer von ihnen im Eifer der Jagd zu Boden und schlug auf die Fliesen, um im Nu von dem großen Hauskater verschlungen zu werden, der unter unserem Tische lauerte. Die Geckos stehen seit Aristoteles’ Zeiten an allen Küsten des Mittelmeers im unverdienten Rufe außerordentlicher Giftigkeit. Man sagt ihnen sogar nach, daß ihr Schatten die Milch vergifte, und in Palermo verweigerte mir meine Wirtin zum Abschied die Hand, nachdem ich zu ihrem Entsetzen einen der dort so zahlreichen größeren und dunkleren Mauergeckos gestreichelt hatte.
Während der Zeit, in der wir mittags und abends auf den Klang der Tischglocke warteten, hielt ich mich gern in dem großen Hausgarten auf. Er war mit Mandel- und Pistazienbäumen bepflanzt, und an seinen verwilderten Rändern leuchteten die brennenden Sternblüten des Granatbusches, die von jeher von den Dichtern als das Sinnbild feuriger südlicher Liebe besungen worden sind. Ein mächtiger Feigenbaum war überreich mit schweren grünen Früchten behangen; Bohrer nannte diese Sorte die Petrovacer, weil ihre Erstlinge schon am Sankt-Peterstage genießbar sind. Diese Feigen werden beim Reifen nicht dunkler, sondern sie behalten ihre leuchtend grüne Farbe und sind so zart, daß ein prüfender Fingerdruck, wie ich ihn mir zuweilen aus Lüsternheit gestattete, sie am Zweige verderben läßt.
Mein Lieblingsbaum jedoch in diesem Garten war ein unscheinbares und kränkliches Pfirsichstämmchen, das Bohrer zuweilen sorgenvoll betrachtete. Sein kümmerliches Wachstum hing ohne Zweifel mit den zahlreichen ovalen Bohrlöchern zusammen, von denen sein Holz zerschnitten war. Bohrlöcher dieser Art pflegen die Prachtkäfer auszuschneiden, metallisch gefärbte Insekten, die als die wahren Kinder der Sonne zu bezeichnen sind. Die höchste Glut des südlichen Mittags verleiht ihnen ein außerordentliches Leben; mit ihren kahn- oder torpedoförmigen, ganz auf den Flug zugeschnittenen Körpern schwirren sie glühend und funkelnd im Licht. Inmitten der tiefen Einsamkeit verbrachte ich manche Mittagsstunde an diesem Ort im Banne des schlafenden Pan.
Zunächst fiel mir ein großer schwarzer Geselle auf, dessen wie poliertes Eisen schimmernde Flügeldecken mit kreideweißen Schuppen gemustert waren und in dem ich einen alten Bekannten wiederfand. Ich hatte ihn bereits gejagt, als ich vor Jahren in Gesellschaft eines befreundeten Mafioten durch die große Macchia gefahren war, die sich zwischen den sizilischen Küstenstädten Cefalù und Sant’ Agata Militello erstreckt; auch hatte ich ihn in dem zauberhaften Park La Favorita, der sich in sarazenischer Pracht vor dem Löwentore Palermos breitet, zahlreich auf Johannisbrotbäumen entdeckt. Ein kleiner, unten glänzend kupferroter, oben matt bronzefarbiger Verwandter saß wie erstarrt an dem verwitterten Stamm; nur das elektrische Zittern der zierlichen Fühlhörner verriet, welches Leben in ihm war. Äußerst beweglich dagegen wie eine schönfarbige Fliege spielte in den obersten, wipfeldürren Zweigen eine flüchtige, grün und golden schimmernde Art, die auf ihren Flügeldecken, wie durch einen Münzstempel eingeprägt, sechs dukatenfarbige Grübchen trug.
Der Kundige hat aus diesen Andeutungen vielleicht bereits die Gattungen Capnodis, Perotis und Chrysobothris erkannt, oder die Rauchfarbige, die Durchbohrende und die Goldgrubige, wie sie in der Übersetzung heißen würden. Diese Art der Benennung, die uns die Wissenschaft in ihren Systemen darbietet, gleicht einem Tabu, mit dem man sich den flüchtigen und mannigfaltigen Eindruck der lebendigen Erscheinungen inniger und dauerhafter anzueignen sucht. Es ist einmal die Schärfe des Begriffes, die hier der unmittelbaren Anschauung zu Hilfe kommt – der alte Linné war recht eigentlich der erste und stärkste Enzyklopädist. Darüber hinaus aber empfand ich schon als Kind ein Vergnügen daran, mir die fremdartigen Namen von Pflanzen und Tieren einzuprägen; ich führe das nicht zuletzt auf die Jahre in unserer alten Adlerapotheke zurück, in der ich auf dem Kräuterboden und in der wunderlich duftenden Offizin die Aufschriften der Kästen und Standgefäße entzifferte.
Es klingt vielleicht seltsam, doch möchte ich mich dafür verbürgen, daß unter den unzähligen Nomenklatoren der beschreibenden Naturwissenschaften so mancher unbekannte Dichter verborgen ist. Schon die Kürze der Kunstform, die vorgeschrieben ist, fordert zu höchster Anschaulichkeit des Ausdrucks heraus, denn um eine neue Art zu benennen, steht ihrem Paten nichts weiter zur Verfügung als ein Substantiv nebst einem einzigen Adjektiv. Es gibt hier außerordentliche Leistungen, deren Eleganz und Treffsicherheit noch kein Anthologist seinen Eifer gewidmet hat. Wer etwa jemals den heiligen Scarabaeus beim unermüdlichen Rollen seiner Kugel beobachtete, wird zugeben, daß man keinen besseren Namen für ihn finden konnte als den des Sisyphus, den Latreille einer seiner Arten verliehen hat. Längst nach dem Versiegen der klassischen Sprache im Mittelalter stoßen wir hier auf eine späte Form ihrer praktischen Anwendung, gleichsam auf eine Endmoräne, die von den Überresten einer antiken Vegetation besiedelt ist.
Das Bild eines solchen Baumstammes wäre nicht vollständig, wenn man die kleinen Wespen vergessen würde, die an seiner Rinde beschäftigt sind. Sie tragen die Farben tiefleuchtender roter, grüner und blauer Seidenstoffe und eilen, hier und dort verweilend, in kurzen, flüchtigen Sätzen umher. Sorgfältiger als irgendein Arzt dem Schlage des Herzens lauschen sie den Bewegungen der Larven, die tief in das Holzmark eingebettet sind. Sie lähmen sie mit unfehlbarem Stich.
Um die Zeit der Dämmerung wurde zuweilen aus einem der größten Fluglöcher vorsichtig ein langer, schwarzer Taster ausgestreckt. Er kündete das Erscheinen des großen Heldbocks an, der bei uns, wie der schwarze Storch und der Hirschkäfer, der untergehenden Tierwelt der germanischen Eichenwälder angehört. In dem sagenhaften Hercynischen Walde, der sich, sechzig Tagereisen weit, vom Rhein bis an die Sudeten dehnte, wird er häufig gewesen sein. Vielleicht waren es seine Larven, die unter dem Namen »Cossi« für die römischen Tafeln gesammelt und mit Mehl gemästet wurden. Das lange, dunkle Tier haftete, nachdem es ausgekrochen war, noch einige Zeit unbeweglich am Stamm und flog dann, an einen allerdings etwas verdächtigen Geheimrat erinnernd, mit hakenförmig vorgestreckten Fühlhörnern davon.
Hinter dem Hause dehnte sich bis an die Linie, an welcher der nackte Fels aus dem Boden trat, ein Gewirr von Gärten, das vom Laube großer Ölbäume beschattet war. Hier wurde die Einsamkeit außerordentlich. Die einzelnen Gärten waren durch halb verfallene Mauern getrennt, auf denen die gelben Blütenbäusche von Spiräen aufschäumten. An dichten Hekken von Maulbeerbüschen rankte sich eine Schlingpflanze, unzählige weiße Sternchen entfaltend, empor. An ihren Behängen funkelten große Rosenkäfer in feurig goldenen, erzgrünen und veilchenfarbigen Spielarten von metallischer Durchsichtigkeit. Zuweilen fielen sammetgelbe, mit schwarzen Augenflecken geschmückte Hornissen oder stahlblaue Hummeln in die Blütenpolster ein. An offenen Stellen sonnte sich der Scheltopusik, eine große, glänzend laubfarbige Schleiche, die beim leisesten Geräusch raschelnd in den Büschen verschwand. Einmal, dichter am Meer, bekamen wir auch die schönste der europäischen Schlangen zu Gesicht, die zierliche Leopardennatter, die auf mahagonibrauner Grundfarbe blutrote, schwarz gesäumte Makel trägt.
Diese zauberhaften Gärten, in denen sich der Atem diokletianischer Zeiten bewahrt zu haben schien, wurden von einem bereits versiegten Bach durchschnitten, in dessen stufenförmigem Bett das Wasser in großen Lachen stehen geblieben war. Hier beobachteten wir zuweilen die Würfelnatter auf der Jagd; sie schwamm so reißend, daß das vordere Drittel ihres Körpers mit dem hoch erhobenen Kopfe senkrecht aus dem Wasser stand. Ihr Anblick hatte etwas Schreckliches; der Grund lag wohl darin, daß sie sich nicht wie die natürliche Schlange in horizontalen, sondern wie die Schlange unserer Träume in vertikalen Windungen zu bewegen schien.
Höher am Berge ruht auf einer vorgeschobenen Klippe das kleine Kloster Sottomonte, dessen Glocke die auf dem Meer vorüberziehenden Schiffe mit ihren Klängen geleitete. Von dort überblickten wir die steil sich anschwingende Berghalde in ihrer vollen Ausdehnung. Ein dichter Zypressenbewuchs gab diesem Hange ein merkwürdiges Gesicht. Die Form der Zypresse ist so ausgeprägt, daß selbst hier, wo sie zu Tausenden nebeneinander stand, das Wort Wald nicht am Platze schien. Zum ersten Male hatten wir also ein buchstäbliches Beispiel für das alte Sprichwort, daß man einen Wald vor Bäumen nicht sieht – ein Beispiel, das ein Freund von logischen Figuren in mannigfaltiger Weise ausspinnen mag. Zwischen diesen Laubkegeln, die wie grüne Flammen im Sonnenlicht zitterten, zogen sich in den Bergschrunden Massen von rotblühendem Oleander wie breite Feuerströme zu Tal.
Die Vormittage hatten wir ganz den Freuden des Strandes geweiht. Schon früh verließen wir, nur in den Bademantel gehüllt, das Haus, denn die Sonne gewann bald eine außerordentliche Kraft. Unter den kleinen Buchten, die sich zu einer Kette von felsigen Muscheln aneinander schlossen, hatten wir eine gewählt, an deren Rand ein Wäldchen von Meerstrandföhren Schatten versprach. Dieser schöne Baum gedeiht an Orten, an denen er seine Wurzeln in den vom Salzwasser des Meeres getränkten Sandboden versenken und seine Krone in der brennenden Luftschicht entfalten kann, die die Sonne über flimmernden Dünen erzeugt. Dort wird er schirmartig. Vor diesem Wäldchen spannte sich als äußerste Vorpostenkette des Pflanzenreiches ein schmales Band von Salzkräutern aus. Hier wuchs der zierlich gefiederte gelbe Strandmohn und eine erzgrüne Wolfsmilchart. Zwischen den Steinen streckte eine Komposite ihre dreikantigen Blätter wie lange, fleischige Kristalle aus; ihre Blüten glichen leuchtenden Sonnen mit rotem Strahlenkranz.
Das halbrunde Becken, das die Bucht umschloß, war als ein natürlicher Wall aus unzähligen Steinen zusammengefügt. Der Stein steht in einem besonderen Verhältnis zur Zeit. Er stellt im Körper der Erde das Knochengerüst dar, das allen Verwandlungen in geringerem Maße unterliegt. Von Steinen umgeben, spürt man den Atem der längeren Kreisläufe, und der Augenblick fliegt wie im saturnischen Alter dahin. So waren wir jedesmal überrascht, wenn die Rauchfahne des kleinen Postdampfers die Mittagsstunde kündete.
Der Grundfels, von dem die unablässige Arbeit des Meeres gewaltige Blöcke abgespalten und sie wiederum zu breiten Geröllmassen zerkleinert hatte, bestand aus einem spröden, feinkörnigen Kalk. Angeschlagen, gab er einen hellen Klang; und an steilen Stellen entstand jedesmal, wenn eine zurückgleitende Welle die Trümmer mit sich herunter riß, ein klares Geläut, das an die Töne erinnerte, die man in Tropfsteinhöhlen den steinernen Bändern und Zapfen entlockt. Das feine Korn dieses Gesteins kam vor allem zur Geltung, wo die Brandung seine Masse zu breiten Bänken abgeschliffen hatte – dort griff es sich kühl, glatt und etwas speckig an wie der Rücken eines Meerungetüms. An anderen Stellen hatte der Strudel flache, kreis- oder muschelförmige Wannen ausgeschabt, in denen ein Wasser von besonderer Wärme stand. Besonders dort, wo grüne, rote und weiße Bänder den Fels marmorierten, hatten sich kleine Calidarien gebildet, wie es deren sicher auch in den Bädern des Tiberius keine schöneren gab.
Die hohen Geröllhalden konnte man als das unerschöpfliche Archiv eines Bestrebens betrachten, alle Arten der Rundung darzustellen, die denkbar sind. Sehr selten stießen wir jedoch unter den unzähligen scheibenförmigen, ovalen und zylindrischen Schliffen auf die reine Kugelform. In manche Stücke waren äußerst zierlich versteinerte Nummuliten eingekieselt, die man bei uns zulande auch Münzsteine nennt. Andere waren von den Gängen der Bohrmuschel wie von Flintenschüssen durchlocht.
Jeden Morgen bauten wir, nachdem wir den Körper mit Öl eingerieben hatten, auf einer kleinen Klippe, die sich inmitten der Bucht aus dem Wasser erhob, eine Reihe von steinernen Zielscheiben auf und schossen uns mit runden Kieseln, die beim Aufschlag auseinander sprangen, auf sie ein. Das ist eine gute Übung, die ich besonders in Anbetracht der Schrapnellkugel veranstaltete, die Friedrich Georg noch immer im rechten Schultergelenk trägt.
Wenn die Sonne das Wasser erwärmt hatte, schwammen wir weit in die Meerenge hinaus. Gegen Mittag kam mit großer Regelmäßigkeit eine leichte Brise auf; bis dahin spannte sich die Oberfläche des Meeres glatt und unbeweglich wie eine silberne Haut. Der hohe Salzgehalt des Wassers machte das Schwimmen angenehm; seine Klarheit gab auch bei größerer Tiefe alle Einzelheiten des Grundes preis. In einiger Entfernung vom Strande versäumte ich nie, unterzutauchen und von dem Wasser zu trinken – das ist ein Trank, den schon Hippokrates preist und auf dem, wie auf so vielen Überlieferungen der antiken Medizin, vielleicht ein findiger Kopf eines Tages ein neues Heilsystem errichten wird.
Hier, wie an vielen anderen Stellen des Mittelmeers, fiel mir wieder auf, wie wenig Tiere man eigentlich an den vom Tageslicht erleuchteten Stellen des Meeres zu sehen bekommt. Das Element des Wassers ist jeder Annäherung und damit auch jedem Zugriff günstiger als das der Erde; der Verzehr in ihm ist lebhafter. Auf den ersten Blick sichtbar waren nur stark gepanzerte Arten – Muscheln, Krabben und Einsiedlerkrebse, braune Seewalzen und Kolonien dunkelblau aus der Tiefe hervorleuchtender Seeigel.
Wie viele von diesen Früchten des Meeres genießbar sind, hatten wir schon in Sizilien erfahren, wo man zuweilen in heiterer Gesellschaft, mit Wein, Weißbrot und Zitronen reichlich versehen, ein Frühstückslager in der Nähe der Riffe veranstaltet, an denen sie gedeihen. Wir machten daher auch hier von unserer fröhlichen Wissenschaft Gebrauch. Allerdings setzt der Genuß, besonders der Seeigel, eigentlich den Besitz eines rüstigen Sklaven voraus, der die stachligen Kalkschalen mit dem Messer halbiert. In Palermo leistete uns ein fünfzehnjähriger Antinoos diesen Dienst. Man schlürft die rötlichen, fünfstrahligen Ovarien oder tunkt sie mit einem Stückchen Weißbrot auf und empfängt dabei den Geschmack einer heiteren, neptunischen Fruchtbarkeit. Die Kenner behaupten, daß ihre Üppigkeit mit der Rundung des Mondes wächst.
Daß es diesem Meeresarme auch an Fischen nicht mangelt, stellten wir eines Abends fest, an dem Korčulaner Fischer ihr Schleppnetz in der Nähe unserer Terrasse landeten. Wir traten hinzu, als die Beute bereits in den Körben lag, und beleuchteten mit Kerzen den Fang. Wie in einem Nest lagen hier, noch zitternd, die Körper von Fischen und Tintenschnecken in weichen Rundungen aneinandergeschmiegt. Ein Maler hätte an ihnen alle Spielarten studieren können, in denen das Silber sich verfärbt. Es fehlte wohl kein Ton der sichtbaren Skala, aber alle waren auf einen geheimnisvollen Schlüssel der Tiefe gestimmt. Der wunderbare Schmelz dieser in der Anstrengung des Todes oszillierenden Lichter erinnerte an die geisterhaften Farben, die man in den elektrischen Röhren der Physiker erblickt. Unter allen menschlichen Künsten vermag vielleicht nur eine von ihnen eine Vorstellung zu geben – die des Glasbläsers, der seinen durchsichtigen Stoff mit metallischen Oxyden färbt oder zart irisierende Häute auf ihm niederschlägt. Das sind Farben der Tiefe, wie man sie auf vergrabenen Gläsern findet und auch immer häufiger in unseren großen Städten trifft, denen neben vielen anderen Eigenschaften ein submariner Charakter eigentümlich ist und die man zuweilen in einer Stimmung durchwandelt, welche an die des Tauchers gemahnt. Beim Anblick der Kalmare mit ihren großen grünlich-goldenen Augen, der perlmuttfarbigen Sepien, der langen Meeraale voll opalisierender Geschmeidigkeit, der Makrelen mit ihrer dunkelgrünen, hieroglyphischen Bänderung kam mir der Gedanke, daß Huysmans in seinem spätromantischen Zauberschlosse des Des Esseintes ein Zimmer vergessen hat: ein grottenartiges, ganz mit grünen Spiegeln ausgelegtes Kabinett, in dem an unsichtbaren Fäden ein Heer von phantastischen, aus buntem Glas geblasenen Fischen schwebt.
Gegen Mittag, wenn die Steine zu glühen begannen, zogen wir uns in den Schatten der Meerstrandföhren zurück. Um diese Zeit erschien zuweilen ein schwarzer Schmetterling, dessen elegant geschnittene Flügel ein Saum von weißen Tupfen zierte, und suchte die vom Wasser benetzten Stellen auf. Zwei- oder dreimal hatten wir auch das Glück, die Spiele eines Paares von Delphinen belauschen zu können, deren mächtige Rücken weit draußen leuchteten. Als ich zum ersten Mal ganz unerwartet diese großen Tiere auftauchen sah, faßte mich ein ungläubiges Erstaunen wie vor einem Augentrug, das aber bald der Heiterkeit wich, denn es war überaus ergötzlich, zu sehen, wie sich in ununterbrochener Folge der schwarze Körper hoch aus dem Wasser hob, um dann mit überkugelnder Bewegung wieder einzutauchen, bis nur die breite Schwanzflosse noch sichtbar war. Bei Sturm wirft sich der Delphin, der den Fischern noch heute als heilig gilt, mit jubelnder Lust in den flockigen Schaum; seine Kraft scheint zu wachsen mit der des mütterlichen Elements.
Es ist immer erheiternd, wenn man ein Geschöpf in der spielerischen Beherrschung der ihm verliehenen Mittel erblickt. In solchen Erscheinungen offenbart sich die Tiefe der Eleganz. Dieses Gefühl hatte ich auch, als ich, von der Hitze fast eingeschläfert, wie im Traum ein anderes Tier des Apollo, ein außergewöhnlich großes Exemplar der Smaragdeidechse, den schmalen Strandgürtel überqueren sah. Durch den lang ausgezogenen Schwanz gesteuert, schoß der Körper pfeilgerade über das Gestein dahin, und kaum erblickt, war er bereits in den Büschen verschwunden wie ein grünfunkelnder Blitz.
Seit wann ist uns das Glück dieser Einblicke bekannt, während deren wir den Gang der Zeit anhalten möchten und vor denen unser Sinn wie eine angeschlagene Saite erklingt? Vielleicht hat es Stendhal entdeckt, als er sich bemühte, den Aufschlag zu schildern, mit dem sein erster erbeuteter Krammetsvogel zu Boden fiel, vielleicht Brockes in seinem Gedicht über »Frühe Knospen an einem Birnenbaum«, vielleicht schon Dürer in seinen Blumen und Tieren, die von denen der Bosch und Cranach so verschieden sind. Ohne Zweifel hat der Zusatz an Bösem unseren Farben eine tiefere Leuchtkraft verliehen.
Wenn die Sonne ihre höchste Kraft erreicht hatte, drangen wir zuweilen in das glühende Gestrüpp der Macchia ein. Zypressen, Stecheichen, Lorbeer, Oleander und Rosen hatten sich hier zu dichten Gebüschinseln verflochten; zwischen ihnen waren die weißblühenden Polster der Zistrose eingebettet, die einer Anemone des Hochsommers gleicht. Die unübersehbare Buschlandschaft war ganz von einem wunderbaren, trockenen und dornigen Geruch erfüllt, der sich in den Tälern und Mulden betäubend verdichtete. In unsichtbaren Flüssen strömte der balsamische Dunst der harzigen Hölzer und der flüchtigen Blütenöle herab, um sich in diesen heißen Kesseln und Becken zu vereinigen. Von den Tieren, die hier schwirrten, gefiel mir vor allem ein winziger Prachtkäfer in Purpur und Grün, der wie ein doppelfarbiger Turmalinschliff in den Zistrosen funkelte. An die Halme eines Wollgrases klammerte sich der braune Igelkäfer an, dessen Flügeldekken in lange, hornige Stacheln ausgezogen sind – ich hatte bisher nur die kleinere schwarze Art während eines Spazierganges an den Ufern der Aude in der Nähe von Carcassonne kennengelernt. Die hohen Schirme der Fenchelblüten wurden von einem erbsgelben Bock beflogen, dessen zottiger Rückenschild eine dunkle, keilschriftartige Zeichnung trug. Vergebens spähte ich hier wie an vielen anderen Orten nach dem Purpurbock, in dessen glühendrote Oberfläche eine große schwarze Sammetmakel eingebettet ist. Ebenso stellte ich erfolglos einer Zikade nach, deren Schnarren wie der Ton einer Kinderklapper im Gestrüpp zu hören war.
Nach diesen Ausflügen, die uns manchen Hautriß eintrugen, erfrischten wir uns durch ein zweites, ausgedehnteres Bad und nahmen unsere Lagerplätze wieder ein. Immer eilte die Zeit wie auf Flügeln dahin. Es gibt wenig Dinge, denen wir uns ganz ohne Langeweile hingeben können und die das Heer der Gedanken zerstreuen, dessen unablässigem Angriff wir in unseren Städten unterworfen sind. Hierzu gehören die Betrachtung des flackernden Feuers, der Anblick der wirbelnden Schneeflocken und der dunkle, brausende Ton, mit dem die Welle am Strande sich überschlägt. Der ferne Anblick der grauen Ringmauer von Korčula mit ihren runden, mächtigen Wehrtürmen steigerte das Gefühl der Zeitlosigkeit; man konnte meinen, daß man sich an einem vergessenen Gestade des Mittelalters oder selbst der homerischen Welt befand. Häufig feierten sie drüben irgendeinen Heiligen durch Böllerschüsse, und man war versucht, wenn der dumpfe Klang über das Meer herüber drang, nach der Ankunft einer türkischen oder venezianischen Kaperflotte auszuspähen.
Dieses Strandleben versenkte uns in einen Zustand pflanzenhafter Müdigkeit; wir verbrachten die heißen Nachmittage auf dem Bett oder in bequemen Liegestühlen unter den Feigenbäumen des Gartens ausgestreckt. Die wahre Faulheit gehört zu den paradiesischen Tugenden, deren bei uns zulande nur noch die Katzen teilhaftig sind. Ich hatte mir die »Griechische Kulturgeschichte« von Burckhardt mitgenommen, kam aber trotz wiederholten Anläufen nicht über die ersten zwanzig Seiten hinaus.
Immerhin machten wir auch einige kleine Ausflüge; so fuhren wir zuweilen nach Korčula und tranken, vor kleinen Schenken auf der Straße sitzend, gekühlte Grenadine oder süßen Kaffee nach türkischer Art. Man braucht nicht nach Pompeji zu reisen, um eine antike Stadt zu sehen; Städte fast rein antiken Charakters gibt es am Mittelmeer noch überall. Selbst die Angriffe der großen Industrie haben nur selten den festen Stadtkern aufgelöst. Überall in Korčula hört man den Ton der Hämmer und Sägen aus den Werften, auf denen man seit alten Zeiten kleine, aber seetüchtige Schiffe für den Küstenverkehr baut. Die Wälder der Umgebung liefern das Holz, das überall in hohen Stapeln lagert und dessen Geruch die Straßen und Plätze erfüllt. Besonders wertvoll sind gewisse durch den natürlichen Wuchs gebogene Stücke, die man für die Rundungen braucht und mit langen, von zwei Mann bedienten Handsägen zerteilt. Auf diesen Werftplätzen hat man noch Gelegenheit, zu beobachten, wie ein großes Werkstück durch reine Handarbeit entsteht. An der Betrachtung solcher physischen Vorgänge erkennt man erst, wie sehr sich die Metaphysik der Arbeit verändert hat.
Der Anlegeplatz des kleinen Hafens ist aus mächtigen Quadern des weißen Marmorkalks errichtet, der den Bauwerken dieser Gegend ihre außerordentliche Festigkeit und Dauer verleiht. Durch das tiefblaue Wasser, das hinter den Kielen der Schiffe milchig aufschäumte, drang der Blick mühelos auf den klaren, von dunklen Seeigeln besternten Grund. Zwischen den Steinfugen bewegten sich große Seespinnen mit ihren stachligen, von grünen Algen bewachsenen Schalenkapseln; kleine silberne Fische mit schwarzen Augenflecken schossen zuckend zur Oberfläche empor.
Eines Nachmittags machten wir mit Bohrers Motorboot einen Abstecher nach dem berühmten Weinort Lumbarda, der auf einem schmalen Landsattel an der Südspitze von Korčula liegt. Wir berührten auf der Fahrt das dichtbewaldete Eiland Otok, das ein im 14. Jahrhundert erbautes Franziskanerkloster beherbergt, und die kleine Insel Vrnik, die eigentlich nur aus einem mächtigen, weißschimmernden Steinbruch besteht, der sich weithin sichtbar über die blaue Flut erhebt. Hier wird seit jeher der prächtige Marmorkalk gefördert und bearbeitet, aus dem bereits Diokletian die Mauern seines stadtartigen Palastes aufführen ließ und aus dessen Quadern nicht nur das Serail in Konstantinopel und viele venezianische Palazzi, sondern auch moderne Berliner Gebäude errichtet sind. Steinbrüche und Bergwerke sind die ältesten Bauten der Welt, und vielleicht nicht ohne Grund die einzigen, bei denen von einer Arbeit des Menschengeschlechts als solchem gesprochen werden kann.
Die Reben von Lumbarda wurzeln in einem pulverigen, äußerst fruchtbaren Staub. Aus den Feldern erheben sich kleine weiße Türme, die man zur Zeit der Ernte mit Wächtern besetzt. Die Trauben an den peinlich gepflegten Stökken waren bereits schwer und mit einem hellgrünen Schimmer bereift. Bald hatte uns der Staub, den unsere Schritte von den eingeschnittenen Wegen aufwirbelten, die Kehlen ausgedörrt. Nachdem wir noch am Strande eine flüchtige Art von Sandläufern gejagt hatten, kehrten wir in den Ort zurück, vor dessen Häusern die Frauen mit kleinen Spinnrokken beschäftigt waren, und ließen uns vom Klange deutscher Studentenlieder leiten, der aus einem weißen Gehöft herüberdrang.
Wir fanden hier Wiener Studenten beim Zechen, während der über den unverhofften Besuch erfreute Wirt unermüdlich große, weithalsige, mit feurigem Grk gefüllte Glasgefäße von der Form, die man in den deutschen Apotheken Maulaffen nennt, aus seinem Keller zutage förderte.
Hier, auf einer breiten, von Orangenbäumen beschatteten Terrasse mit dem Ausblick auf die Weingärten, das Meer und die Inseln, schlossen wir unsere innigste Bekanntschaft mit diesem herrlichen Wein und befanden uns bald in jenem Zustand der unbegrenzten Sympathie, in dem man der Wahrheit der Menschen und Dinge am nächsten ist. In ihm verbrüderten wir uns mit einem kroatischen Oberlehrer, der plötzlich an unserem Tisch auftauchte und dessen Erscheinung sich sehr von unserer mit dem Titel verknüpften Vorstellung unterschied, denn seine Kleidung bestand nur aus einer Hose und einem zerrissenen Hemd. Der alte Knabe war feurig genug, und es war eine Lust, ihm zuzuhören, obwohl uns von seinen Reden nur ein Wort, und zwar der Name eines erschossenen kroatischen Bauernführers, verständlich war. Aber auch ohne diesen uns wohl bekannten Namen hätten wir rein aus seinem Mienenspiel, seinen Gesten und dem Klang seiner Stimme erraten, daß die Freiheit sein Gegenstand war. Der Wein ist das Symbol des Blutes, das den Geist der gefallenen Helden beschwört. Unklar entsann ich mich, daß ich in der Nacht, bevor sie am Waterlooplatze putschten, in einer kleinen hannoverschen Weinstube auch einen Oberlehrer in ähnlicher Weise von Stein und Scharnhorst hatte sprechen hören, und dunkel floß das vergangene Erlebnis in das gegenwärtige ein. Wir besitzen ein zweites, feineres und tieferes Gedächtnis, das sich über die Stunden des Rausches wie über eine glühende Kette fortpflanzt und während des gewöhnlichen Lebens versinkt.
Spät fuhren wir in unserem von singenden Studenten überfüllten Boot nach Orebić zurück.
Mühsamer war die Besteigung des Monte Vipera, des höchsten Gipfels der felsigen Halbinsel, der die zerrissene Inselwelt weithin beherrscht. Wir unternahmen den Ausflug in der Hoffnung, auf ihm zwei für Europa merkwürdige Tiere zu Gesicht zu bekommen, nämlich den wilden Esel und den Schakal. Freilich handelt es sich hier nicht um den eigentlichen Wildesel, sondern um verwilderte Tiere, die schon seit Jahrhunderten in dieser einsamen Bergwelt heimisch geworden sind. Der Schakal besitzt hier einen seiner letzten europäischen Standorte; wir hörten zuweilen in den Nächten aus den am Strand mündenden Schluchten sein Gebell, das von allen Hofhunden in jener Mischung von Erregung und Haß beantwortet wurde, mit der jedes Haustier den Ruf des freien und ungezähmten Verwandten vernimmt.
In aller Frühe machten wir uns auf den Weg, um möglichst noch vor dem höchsten Sonnenstand auf dem Gipfel zu sein. Im ersten Anstieg durchquerten wir zwischen Wein- und Maispflanzungen die Gärten einiger einsamer, von hohen Maulbeerbäumen beschatteter Gehöfte, in denen sich sicher seit Hesiods Zeiten das Leben nur wenig verändert hat. Eine mächtige, von kahlen Geröllhalden umwallte Schlucht bildete das Einfallstor in die Gebirgsmasse. Hier spähten wir vergeblich nach den Schakalen aus, die wohl schon mit der frühesten Morgendämmerung in ihre Schlupfwinkel zurückgewechselt waren. Zur Entschädigung entdeckte ich eine fast mannshohe, grüne Schirmblume mit knotigem Schaft, die von einer dichten Wolke von Laubkäfern umflogen war, und zwar von einer zierlichen Gattung, die sich durch bunte, schuppige Bestäubung auszeichnet. Hier schwärmte eine Art, die sich in moosgrünem Mehl gewälzt zu haben scheint, weshalb ihr Linné auch den treffenden Beinamen farinosa verliehen hat. Eine andere, die ich zuweilen in den Dünen der deutschen Ostseeküste erblickte, trägt einen Anflug von irisierendem Silberstaub, eine dritte, südfranzösische, erstrahlt in prächtig azurblauem Glanz. Die Bestäubung oder der Puder stellt eine Art des Farbauftrags dar, die eine weiche und satt leuchtende Oberfläche erzeugt. Man trifft sie bei vielen Tieren, vor allem bei den Schmetterlingen, aber auch bei mannigfaltigen Früchten, an. Ihr großer Schilderer ist Jan van Huysum, der uns eine Reihe von zauberhaften Frucht- und Blumenstücken hinterlassen hat. Unter den Künsten ist ihr die Pastellmalerei gewidmet, als deren oberstes Thema der Hauteindruck des weiblichen Gesichtes zu betrachten ist. Als eine der feinen Künste des geselligen und erotischen Lebens hebt sie die Tiefe der Oberfläche hervor und vermittelt dem Auge das zärtliche Gefühl der tastenden und streichelnden Hand.
Nachdem wir die lange, steinige Mulde, über der einige große Raubvögel schwebten, überwunden hatten, nahm uns ein dichter Buchenwald auf, dessen frischgrüne Farbe sich angenehm von dem verbrannten Bewuchs des Küstengürtels und seiner Buschwälder unterschied. Der Weg schraubte sich nun in Serpentinen durch die Laubmassen empor, denen man wohl insofern den Namen eines Urwaldes zubilligen konnte, als die Axt ihren Hölzern bislang ersichtlich fremd geblieben war. Dieser schattige Laubgürtel, der die höheren Gebirgszüge des trockenen Südens umschließt und besonders in den romanischen Ländern fast ausgerottet ist, hat in alten und neuen Zeiten zahlreiche Schilderer gefunden; unter all diesen Beschreibungen schätze ich am höchsten den wunderbaren Aufsatz, den Fallmerayer dem Berg Athos gewidmet hat und dessen Worte und Sätze selbst sich wie ein Schirmdach von Blättern und Zweigen zusammenschließen, das den Leser erquickt.
Jenseits des Waldes empfing uns die Glut der bereits hoch gestiegenen Sonne um so drückender. Dem kahlen, runden Kopf des eigentlichen Gipfels war noch eine Hochebene vorgelagert, deren leicht gewulsteter Rand in zerstreuten Beständen von hohen Königskerzen, Wollkraut, Wolfsmilch und anderen Gewächsen des trockenen, steinigen Bodens besiedelt war. Gegen die Mitte fiel das Gelände zu einer flachen Mulde ab und nahm einen moorartigen Charakter an. Die Moosdecke glich jedoch nur einem dünnen Belag, durch den, wie durch einen abgetretenen Teppich, der helle Sandboden schimmerte. Ein inselförmiger Bestand von Salweidenbüschen ließ hier und dort den Ausblick auf eine von Bergzügen abgeschlossene Park- oder, besser: Weidelandschaft frei.
Hier sollten wir, nachdem wir die Schakale verpaßt hatten, wenigstens durch den Anblick des Wildesels entschädigt werden. Noch ehe wir ihn zu Gesicht bekamen, trug uns ein Windhauch auf große Entfernung seine stechende Witterung zu, die alle bösen Dinge zu bestätigen schien, die der Studentenwitz von Jena und Halle dem Waldesel nachzusagen pflegt, der seit Apulejus’ Zeiten in der Zotologie eine bedeutende Rolle spielt. Wir brauchten uns also nur unter dem Winde zu halten, und unsere Spannung erinnerte mich ein wenig an die Augenblicke sinnlicher Erwartung, die man als Kind in den von Schweiß und Elefantenwitterung geschwängerten Zirkuszelten erlebt. Wirklich scheuchten wir bald zwei Tiere aus ihrem Mittagslager auf – ein braunes Weibchen, von einem mausgrauen Füllen gefolgt, beide mit einem langen schwarzen Rückenstrich. Ihre Bewegungen hatten durchaus nichts Phlegmatisches, sie eilten vielmehr in einem schlanken Mitteltrab über Stein und Strauch dahin und stießen dabei ihr gellendes, von den Wänden des felsigen Kessels wie von einem Resonanzboden verstärktes Eselsgeschrei aus. In diesem Geschrei paart sich auf seltsame Weise der Schmerz mit dem Übermut, und zwar behält der Schmerz das letzte Wort. Hier allerdings, inmitten der glühenden Einsamkeit, hatte die Erscheinung dieser Tiere etwas ungemein Erheiterndes; sie machte uns mit einem Schlage den satyrhaften Charakter der Landschaft offenbar. Der Satyr liebt solche Schauplätze, auf denen offene Flächen schattigen Gebüschen vorgelagert sind; und es geht aus den Berichten hervor, daß der phallische Teil der Dionysosmysterien sich im wilderen Gürtel oberhalb der Grenze des Weinbaues vollzog. Bei diesen Feiern trat übrigens auch der Onozentaur auf, eine Durchdringung von Menschen- und Eselsgestalt.
Während des Aufstiegs zum Gipfel stöberten wir noch ein schwarzes Männchen auf und vernahmen überhaupt, wie die Rufe von Mittagsdämonen, bald hier, bald dort hinter Klippen und Büschen das langgezogene und sich spöttisch in der Ferne verlierende Geschrei.
Vor diesem letzten Teil des Weges hielten wir noch in einer zyklopischen Hütte Rast, die sich am Rande eines Fichtenwaldes inmitten der Einsamkeit erhob. Der Bau war, wie wir bereits durch Kapitän Bohrer erfahren hatten, während des Krieges eine Artilleriebeobachtungsstelle gewesen; auch der verwilderte Pfad, dem wir bislang gefolgt waren und der hier endete, war wohl in Kriegszeiten angelegt. Von hier aus hatte der Posten das weithin übersehbare Meer nach der Annäherung von Kriegsschiffen auszuspähen und die tausend Meter tiefer an der Strandlinie lauernden Geschütze zu benachrichtigen. Wir versuchten, auf dem flachen Dache des Blockhauses stehend, uns ein solches Gefechtsbild inmitten der klaren Meeres- und Gebirgseinsamkeit vorzustellen und fanden, daß es eher an eine antike Belagerung mit weiträumigeren Mitteln erinnern müßte als an unsere Erlebnisse im flandrischen Qualm. Während tief unten die verfallenen Wachttürme der venezianischen Republik sich auf den Vorgebirgen erhoben, weilten wir hier vor einer Ruine unserer eigenen Zeit – auf einem der verlassenen Grenzposten des germanischen Ostreiches, dessen Untergang in unsere Tage fiel.
Die Dachfläche war durch einen aufgemauerten Rand als Regenfang eingerichtet, aus dem Röhrenleitungen eine Zisterne auffüllten. Mit einem langen Schöpfer, der im Wachtraum zurückgeblieben war, förderten wir ein wunderbar frisches und kühles Wasser aus der Tiefe empor.
Es gibt Lagen, in denen uns der tiefere Sinn von langvertrauten Worten mit einem Schlage sichtbar wird. De Quincey beschreibt in seinen »Bekenntnissen« ein solches Erlebnis in bezug auf die Worte Consul Romanus; ich hatte ein ähnliches mit dem Wort Zisterne bei diesem köstlichen Trunk inmitten der ausgeglühten Einsamkeit.
Man hat schon häufig versucht und versucht immer wieder, den Unterschied zwischen unserer nördlichen Welt und der des Mittelmeeres in Gleichnisse zu fassen, und hat Gegensätze, wie die zwischen Form und Bewegung, Sonne und Nebel, der Zypresse und der Eiche, dem flachen und dem spitzen Dache beigebracht. Ich glaube, daß die Gegenüberstellung der Zisterne und der Quelle es mit ihnen aufnehmen kann. Die Zisterne bildete den Mittelpunkt des römischen Hauses; sie bildet ihn noch heute in sizilischen Cortiles und südspanischen Patios wie in den Prunkhöfen Arabiens, Ägyptens und der Berberei. Vor allem scheint zwischen der Zisterne und der Schärfe der Rassenausprägung ein übergeordnetes Verhältnis zu bestehen, das in der Gemeinsamkeit des Gebietes zum Ausdruck kommt. Schon auf Mallorca war mir beim Anblick der kunstvollen Röhrenleitungen, durch welche die Gärten berieselt werden, der Gedanke gekommen, daß zwischen dieser Art der Wasserverwaltung und dem Blut ein Zusammenhang bestehen muß. Die Mauren als die Schöpfer dieser Künste sind auch als Meister in jeder Art der Züchtung bekannt. In den trockenen Ländern ist der Transport des Blutes abgeschlossener und damit der Ausprägung der Rassen günstiger.
Dieses Verhältnis läßt sich auf viele Gebiete des Lebens ausdehnen; so besitzt das Römische Recht Zisternencharakter – man schöpft aus ihm das Urteil auf ganz andere Weise als etwa im germanischen Recht. Dasselbe gilt für die antike Literatur; ihr großer Zusammenhang ist nicht der eines Stromsystems, sondern der von Gewölben, die durch Aquädukte verbunden sind. Daher ihre außerordentliche Zitierbarkeit, daher auch die Tatsache, daß es hier in einem ganz anderen Sinne als bei uns Klassiker gibt. Diese Möglichkeit, sich an abgeschlossenen Inhalten zu erquicken, tritt auch in der Grammatik hervor; gewisse Partizipialkonstruktionen und vor allem der absolute Ablativ schließen sich wie kleine Zisternen in die Prosa ein. Zur sinnlichen Darstellung gelangt der Geist der Zisterne vielleicht am schönsten in der Erzählung von dem Lastträger und den drei Damen in »Tausendundeiner Nacht«, während der Geist der Quelle in der Goetheschen Ballade vom Fischer unübertrefflich zum Ausdruck kommt.
Neu belebt und im Gespräch über diese Dinge brachen wir zum Gipfel auf. Friedrich Georg machte hier die Bemerkung, der »Don Quijote« sei eine wahre Zisterne der Heiterkeit. Nachdem wir bislang gestiegen waren, galt es jetzt zu klettern, denn der nackte Fels brach steil und fast stufenförmig aufgetürmt aus dem Erdreich hervor. Selten klammerte sich noch in seine Fugen eine gelb blühende Wolfsmilchstaude oder ein Dornenstrauch. Die Gesteinsmasse war durch unzählige, senkrecht eingekerbte Risse zerklüftet; manche waren schmal wie Messerschnitte, andere so breit, daß wir nur mit Mühe über sie hinwegturnten. In ihrer Tiefe zeigten sie Neigung, sich auszubuchten; daher war der Fels von zahllosen Blasen und Höhlungen erfüllt, und der Schritt klang hohl wie auf einem steinernen Rost.
Die Bildung war wie geschaffen, allerlei Echsen und Schlangen zu beherbergen, die wir auf Schritt und Tritt in ihren Schlupfwinkeln verschwinden sahen. Der Name des Berges als eines Monte Vipera oder Schlangenberges war also nicht übel gewählt. Die Insekten wurden hier oben seltener; einmal nahm ich eine weiß und rot marmorierte Gespenstheuschrecke auf, ein anderes Mal einen Erdbock, sammetschwarz mit kreideweißen Längsstreifen – eine Art der Färbung, auf die man, ähnlich wie auf die gelb- und schwarze Bänderung, in der Natur immer wieder stößt. Zuweilen schwebte der leuchtend gelbe, mit blauen Streifen und Flekken geschmückte Segelfalter vorbei, ein Tier, das die Gipfel liebt.
Wir hatten uns während des Aufstiegs bemüht, die Augen von dem Ausblick auf den Umkreis zurückzuhalten, der sich bei jedem Schritte mächtiger erweiterte. Erst auf der Spitze gönnten wir uns den vollen Überblick.
Die Sonne hatte bereits den Mittagsstand überschritten, und die äußerste Ferne verhüllte sich hinter einem flimmernden Dunst. Wir hatten den höchsten Rückenwirbel der langgestreckten Halbinsel erklommen und blickten auf ihre Nordküste mit dem entlegenen Städtchen Trappano hinab, dessen weiße Häuser in der Tiefe schimmerten. Jenseits eines schmalen Meeresarmes dehnte sich unübersehbar das Festland aus, in dessen Mitte der breite grüne Sumpfgürtel der Narentamündung eingebettet lag. Zur Linken deuteten sich die Ausläufer der Dinarischen Kette, zur Rechten das Albanische Bergland an. Auf der Südseite, von der wir aufgestiegen waren, spannte sich das Meer wie eine geschliffene, graublaue Scheibe aus. Von solchen Höhen betrachtet, scheint die Meeresoberfläche sich gegen den Horizont zu heben und mit dem Himmel zu verschmelzen, so daß der Eindruck eines geschlossenen, kugelförmigen Raumes entsteht.
Während des Marsches waren Korčula und die anderen Inseln dem Auge als Teile eines zusammenhängenden Festlandes erschienen; nun hoben sie sich in ihrer Mannigfaltigkeit als ein wohlgegliederter Archipel voneinander ab, und zwar in einer Schärfe, die an alte, in Kupfer gestochene Seekarten erinnerte. Zwischen den winzigen Klippen und Ziegeneilanden, die man Poljen nennt, tauchten Korčula und Lagosta wie gewölbte Schildkrötenrücken aus der Flut. Im äußersten Westen verschwammen die Umrisse von Lissa, das durch Tegethoff und seine Flotte einen größeren Namen erhalten hat. Deutlicher lag im Süden das einsame, wilde Melada mit seinen Meeresgrotten, aus deren Abgründen das Getöse eines unterirdischen Donners ertönt.
In der Tiefe strebte jetzt der Mittagsdampfer der Insel Lesina zu; er schien kaum größer als das Boot, das den gefesselten Odysseus am Eiland der Sirenen vorübertrug. Das Wunderbare ruft in uns kein Erstaunen hervor, denn das Wunderbare ist uns am tiefsten vertraut. Das eigentliche Glück, das uns sein Anblick bietet, liegt darin, daß wir die Wirklichkeit unserer Träume bestätigt sehen. Wie hätte sonst Hölderlin, fern von den Spielplätzen der Delphine, die unvergängliche Schönheit der Inselwelten im innersten Sinne erkannt?
Alle leben sie noch, die Heroenmütter, die Inseln,
Blühend von Jahr zu Jahr …
ERSTAUSGABE 1943
An Bord, 6. Juli 1935
Es sei Dir vermeldet, daß der Magister und ich gestern morgen von Goslar aufgebrochen sind und jetzt bereits die Elbe hinabtreiben. Noch ist mir benommen zumute wie jemandem, der durch den engen Hals einer Flasche hindurchgeblasen ist. Es mag auch sein, daß die Gesellschaft des Magisters dazu das ihre tut, denn ich beobachtete schon in anderen Himmelsstrichen, daß wir uns zu einem Molekül verschwistern, das sich inmitten einer ein wenig aufgekräuselten Realität bewegt. Ich hatte als Kind ein ähnliches Gefühl, wenn ich über einen glühenden Ofen hinweg die Gegenstände im Zimmer zittern und schwimmen sah.
Schon in Uelzen erfaßte mich ein leichter Schwindel, als auf dem Bahnsteig eine alte Dame erschien, die unserer verstorbenen Großmutter in lächerlicher oder vielmehr schon in unerlaubter Weise ähnlich sah. Sie glich ihr nicht nur bis in die kleinen Bewegungen, sondern auch bis in die Pigmentflecke am Haaransatz, die ich als ein mir geläufiges Merkmal mit den Blicken sogleich aufsuchte. Obwohl ich weiß, daß die Frauen ihrer Sippe sich sehr ähnlich sehen, konnte ich doch dieser verblüffenden Reproduktion gegenüber die Befangenheit nicht abstreifen. Unsere arme Vernunft steht und fällt eben mit dem Satze der Identität.
Von unseren Bekannten wurden wir auf Hamburger Weise bewirtet, das heißt: reichlich und gut. Nach der üblichen Hühnerbrühe, die dort die Gelage beschließt, gingen wir mit unserem Gastfreund nach Haus, wo ich in der Bibliothek ein Bett für mich aufgeschlagen fand. Ich vertiefte mich noch ein wenig in das außerordentliche Geheimtagebuch des Sir Samuel Pepys und schlief dann ein. Beim ersten Lichte wurde ich durch Poltergeister geweckt – der Gastfreund und der Magister hatten noch einen Grog angesetzt und erprobten nun ihre Geschicklichkeit im Faustkampfe. Gerade hatte der Magister einen schönen Treffer erhalten, der ihm die Brille herunterriß, als sich eine Tür öffnete und die Tochter des Gastfreundes, ein Kind von zehn Jahren, den Tumult mit mehr erstaunten als erschrockenen Augen betrachtete. Diese Erscheinung stellte als ein übergeordnetes Prinzip sogleich die Ruhe wieder her, und darüber hinaus überraschte die kleine Person mich noch, indem sie von ihrer Tür aus einen Vorstoß gegen uns unternahm. Sie schwebte wie eine der Tänzerinnen in der Oper über das Parkett heran, erfreute mich durch einen magnetischen Händedruck und war ebenso schnell verschwunden, wie sie gekommen war.
Am Vormittag hatten wir viel zu tun. Zunächst mußte der Magister seine Brille wiederherstellen lassen, und dann gingen wir nach Devisen auf die Jagd. Der Magister behauptet, daß ethnologische Studien und insbesondere eine genaue Kenntnis des Tabuwesens unentbehrlich seien, um diese Gelder ausfindig zu machen, über die der Drache Staat so eifersüchtig wacht. In der Tat bewunderte ich seine Gelehrsamkeit, denn nachdem er eine Zeitlang planlos durch Bankbüros und Wechselstuben geschritten war, auch mehrere Audienzen bei an der Sache ersichtlich unbeteiligten Leuten erwirkt hatte, zahlte ein Beamter, der schon seinen Schalter geschlossen hatte, uns beiden unversehens eine Summe norwegischer Kronen aus. Das Ganze paßte weniger in die Domäne der Finanzen als in die der Schlafwandelei. Seitdem ich aber unseren Freund mit stets dem gleichen Lächeln in der Via de l’Oro die Klausur eines Nonnenklosters durchbrechen oder in Leipzig in Filzpantoffeln zur Vorlesung gehen sah, wundert dergleichen mich nicht mehr. Auch war er mir von jeher – gleichviel, ob er seinen letzten Fünfmarkschein als Lesezeichen in einen Schmöker legte, den er dann auf der Bibliothek ablieferte, oder ob er ohne Geld in der Tasche auf Reisen ging, von denen er mit Geld wiederkam – ein lebendiges Beispiel der Nichtachtung ökonomischer Spielregeln. Hinsichtlich der Gemütsruhe und der Überlegenheit des Menschen, der keinen Pfennig in der Tasche trägt, habe ich viel von ihm gelernt.
Bei diesem Hin und Her erfrischte uns ein gewaltiger Sturmwind, der durch die Straßen blies. Hüte und Schirme flogen durch die Luft, und Fahrräder wurden auf das Pflaster geweht. Den Magister erheiterte dieser Anblick sehr, und er fragte mich einige Male, ob ich schon je eine Stadt gesehen hätte, in der die Räder so umherflögen. Mit der skurrilen Frage traf er indessen den Gesamteindruck nicht übel, denn in Hamburg habe ich immer die Nähe eines wüsten Elementes verspürt, und das Stadtbild wirkt auf mich wie eine Reihe von Materialisationen, die ungefüge zusammengeschoben sind. Die Stadt steht noch in ihrem titanischen Alter, und ich habe schon viele vergnügliche Gänge in ihr getan.
Übrigens erscheint mir diese Frage auch aufschlußreich in bezug auf die rhetorischen Figuren, die der Magister anwendet. Er benutzt mit Vorliebe eine Unregelmäßigkeit oder einen verblüffenden Zug und legt ihn dem Ganzen als Eigenschaft bei. Dadurch erfährt dieses Ganze dann eine starke und oft beängstigende Veränderung.
Nachdem wir noch allerlei Überflüssiges eingekauft hatten, setzten wir uns in ein Auto und fuhren zum Schiff. Den Kai, an dem unser Dampfer lag, umhüllte ein dicker, grüner Geruch – nach Fischen, nach Tran und unbekannten Zutaten. Er empfing uns als ein erstes Portal zu den fernen Küsten und Fischgründen.
An Bord, 9. Juli 1935
Sobald wir aus der Elbe herauskamen, wurde der Sturm, von dem ich Dir berichtete, sehr unangenehm. Unser Schiffchen, das sich »Iris« nennt, begann die Wogen hinauf- und hinabzuklettern, und in seinem Inneren wurden die Seegeräusche rege, die recht gespenstisch sind – das Gurgeln und Rauschen in den Wasserröhren, das Schlagen von schweren Türen, dann hin und wieder ein Klingelzeichen oder das Stürzen und Poltern von Gepäck. Das Ohr lauscht dabei noch auf ein Besonderes, Unbekannt-Erwartetes. Vor allem ist das Poltern ein niederträchtiges Geräusch, und das plattdeutsche Wort »klabautern« finde ich dafür sehr ausdrucksvoll. Hinter Helgoland erfuhr der Spuk insofern eine Steigerung, als die Schraube in regelmäßigen Abständen aus dem Wasser tauchte und das Schiff in leeren Umdrehungen erschütterte.
Der Magister und ich suchten, sowie es zu schaukeln begann, die Kojen auf und lagen dort vierzig Stunden lang mit angezogenen Knien wie die Embryos. Der Magister verglich die Kurven, die wir dabei beschrieben, recht treffend den Bewegungen, mit denen die Fadennudeln in einer kochenden Bouillon umhertreiben. Ich finde, daß man solche Stunden, ganz ähnlich wie durchfieberte Nächte, nicht ohne Vorteil verbringt. Der Gedankenstoff, der in ihnen abgesponnen wird, ist bedeutend, auch nehmen die Dinge eine andere Färbung an. Durch die Seekrankheit tritt man gewissermaßen experimentell in den Zustand des Leidens ein – ich verstehe darunter eine Minderung, die weniger mit dem Schmerz als mit einer starken Lähmung des Willens verbunden ist und während deren man die Zeit wie ein angeschossener Hase im Wundbett verbringt. Man liegt im farblosen Sein.
Das Unwetter beruhigte sich endlich auf fast zauberhafte Art, sobald wir den Inselgürtel durchbrochen hatten und an der ausgedehnten Küste entlangglitten, der er vorgelagert ist. Hier werden die Gewässer wie durch ein zusammenhängendes Riff gegen den schweren Seegang des Ozeans geschützt. Nachdem wir in Stavanger ein Stündchen gerastet hatten, machte es mir viel Vergnügen, am Bug des Schiffes zu stehen und die blitzende Wasserstraße zu betrachten, die sich bald zwischen den Klippen wie zwischen den Pfeilern von Eingangstoren zusammenschnürte, bald wieder mächtig an Ausdehnung gewann. Der Anblick erweckte ein starkes Raumgefühl, und sicher begünstigten die Vorgebirge diesen Eindruck noch, denn sie dehnten sich wie eine Kette von Vorhängen bis an die Grenzen der Sicht. Obwohl sie sich Tor um Tor öffneten und wieder im Nebel versanken, war doch kein Ende dieses immer tieferen Eindringens abzusehen. Aber nicht nur Fels und Meer wetteiferten, das Traumbild einer endlosen Bahn hervorzurufen, sondern auch die Wolken schlossen sich ihrer Gliederung an. Sie waren als eine regelmäßige Folge von weißen Bänken um die Gipfel geballt und wiederholten die Bildung der Küsten mit ihren Vorsprüngen und Buchten im luftigen Raum.
Auch schien es mir, als ob die Fahrt in steigendem Maße magnetischen Sinn gewönne, den ein Gefühl der Erwartung begleitete. Es ließe sich aber schwer sagen, was denn das Auge hinter diesen immer neuen Vorsprüngen zu sehen erhoffte – denn vielleicht wirkt hier nur die gewaltige Anziehung, durch welche das Nichts oder die Leere sich das Herz unterwirft.
Die Formen gleichen einer in immer deutlicherer Wiederholung vorgespielten Melodie, doch mit der Ordnung des Sichtbaren steigert sich die Fremdartigkeit. Man könnte sich vorstellen, daß mit der Entfernung die Kälte und Regelmäßigkeit der Bildungen anwüchse vom kristallinischen Urgestein zum reinen Kristall der Gletscher und Eisberge und von dort zu den Kugelformen der Sternenwelt.
Eidsbygda, 15. Juli 1935
Seit fast einer Woche hausen wir hier in Eidsbygda, also in einem auf einer Landenge gelegenen Dorfe; denn Bygd ist der »Bau« und Eid ist die »Landenge«. Das Nest ist zwischen zwei entlegenen Fjorden der Landschaft Romsdalen versteckt; dazu kommt noch die schätzenswerte Sitte des Norwegers, erst die größtmögliche Entfernung von jeder Nachbarschaft zu ermitteln, bevor er den Grundstein seines Hauses legt. Daher gibt es hier genug Gehöfte, in denen man jahraus, jahrein keine fremden Gesichter sieht – menschliche Wohnstätten, die im Gewirr der Inseln oder in der Einsamkeit fast unzugänglicher Gebirgstäler errichtet sind.
Als wir im Hafen von Molde, einer nordischen Blumenstadt, anlegten, erwarteten uns unsere Gastfreunde, Celsus und Celsa, am Kai. Ich sah mit einiger Spannung vom Schiff herab und fand zu meiner Freude in Celsus, der dem Magister zuwinkte, einen alten Bekannten wieder, nämlich den Kaukasier, der unter der Rubrik »Menschentypen« in unserem Schulatlas abgebildet war. Er hat dasselbe regelmäßig geschnittene Gesicht mit der hohen Stirn und dem freundlich durchdringenden Blick und vor allem dem langen weißen Bart, der bis zum Gürtel reicht. Celsa, seine Frau, ist eine mächtige Wirtin, die Menschenkenntnis, Ironie und starke Urteile besitzt. So würde sie »Goethe, wenn er noch lebte, nicht die Hand geben«. Zunächst flößt diese resolute Art in Dingen des Charakters, in denen wir doch heute allzumal nicht Helden sind, Besorgnis ein; doch bald errätst Du unter einer zuweilen fast grimmigen Oberfläche die treffliche Frau.
Nachdem wir einige Einkäufe gemacht und Kaffee getrunken hatten, fuhren wir mit einem Motorboot in die Fjord- und Waldlandschaft hinein. Bald waren wir im besten Gespräch, und ich dachte mir dabei, daß in dem gleichen Maße, in dem sich die Staaten konzentrierten und in dem ihre Ansprüche an den Einzelnen sich verschärfen, auch bestimmte Gegengewichte sich auslösen. Der Mensch wird auf Verhältnisse verwiesen, die ihm seit Urzeiten eigentümlich sind, wie auf den Familienverband im sizilianischen Sinne, auf die Gastfreundschaft, das Asyl und den Tauschhandel, und ich möchte eine Zukunft prophezeien, in der auch der Räuber seine Wiederauferstehung erlebt.
Inzwischen habe ich, meist in Gesellschaft des Magisters, ein wenig die Topographie der Landschaft ausgemacht. Ihr Schwerpunkt liegt in einiger Entfernung von unserer Landenge – dort, wo das mächtige Romsdalshorn das Hochgebirge überragt. Seine zackige Spitze und ein lang ausgezogener Grat, die Vengethin oder Geierzinne, leuchten in rotem Glanz zu uns herüber, wenn die Sonne untergeht. Aber auch ganz in unserer Nähe erheben sich Kuppen, mit denen nicht zu spaßen ist. Ihr Fuß ist von Wäldern umgürtet, und ihre Gipfel sind von Steinfeldern und Hochmooren gekrönt. Gleich hinter Celsus’ Haus wächst der Oksen, ein gewaltiger runder Bursche, empor, und weiter hin, jenseits des schmalen Roedven-Fjordes, erhebt sich der Stula, der die nähere Umgebung gebieterisch beherrscht. Es gibt Bilder, vor denen man sogleich erschrickt wie vor den Träumen einer allzu kühnen Phantasie; so ging es mir, als ich beim ersten Anblick dieses Bergmassivs erfuhr, daß es der Sitz oder der Sessel heißt. Die Ehrfurcht hat auch eine mathematische Wurzel; und diesem Thronsitze verglichen, ist der Mensch winziger als eine Ameise. Auf der Rückenlehne, die kaum ein Sonnenstrahl berührt, hält sich der Schnee jahraus, jahrein. Er übersommert in drei tiefen Schrunden, die sich in der Form der Mannrune vereinigen. Die Art, in der die Äste dieses Zeichens hervorzutreten und abzuschmelzen beginnen, bestimmt seit Urzeiten die Wettervoraussage für das laufende Jahr.
Gleich an einem der ersten Tage bestieg ich den Oksen bis zur oberen Grenze des Baumgürtels. Der Wald besitzt hier eine starke geistige Kraft, besonders in den höheren Lagen, in denen ein Behang aus zottig weißen Flechten die Hölzer umspinnt. Man sagt, daß hier die Huldren wohnen, betörende weibliche Geister, denen gegenüber Vorsicht geboten ist. Man spricht von Fällen, in denen Menschen, die den Tag bei einsamer Arbeit im Walde verbrachten, etwa Holzhauer, »bergtagen« zurückkehren – das will sagen, mit einer Benommenheit oder Berührung, die vom Berge stammt. Solche Leute gelten als gestört, doch ist ihnen, wie Celsus mir erzählte, nicht sehr viel anzumerken, nur schaffen, sprechen, gehen und denken sie seit der Zeit langsamer und schwerfälliger, auch sind sie etwas wunderlich.
Wenn man die Region der Moose und Flechten erreicht, bis zu der man in diesen Breiten schon nicht mehr allzu hoch zu steigen hat, genießt man einen weiten Überblick. Vor allem tritt der Anteil des Meeres hervor, das sich in verästelten Armen bis tief in das Innere des Landes erstreckt. Das Ganze bietet so das Bild einer Schweizer Landschaft dar, bei der jedoch die tieferen Täler vom Wasser überflutet sind und das Land im Reiche der Matten und Sennhütten beginnt. Der Fjord wirkt auf das Auge bald wie ein See und häufiger wie ein Fluß; aber recht unheimlich erscheint mir dabei, daß ein solcher Fluß Meereskräfte besitzt. Man merkt das beim Baden; zwar ist das Wasser fast süß, aber man wird aus der Tiefe heraus von mächtigen Wirbeln und Wallungen erfaßt. Es gibt hier eine Stelle, an der ein Ausläufer des Stur-Fjordes sich auf die Breite eines Mühlbachs zusammenschnürt. Hier kann man Ebbe und Flut beobachten wie den spielenden Tastarm eines Ungeheuers, das weit hinter den Bergen liegt.
Daß die Wasserkraft sehr stark empfunden wird, ersieht man daraus, daß ein Bewußtsein für den Stand der Gezeiten besteht und daß viele alltägliche Verrichtungen davon abhängig gemacht werden. Man behauptet, daß die Fischklöße bei Ebbe nicht so gut aufgehen wie bei Flut. Auch schlachtet man lieber bei steigendem Wasser, weil dann die Borsten besser abgehen. Ferner sollen Beziehungen der Tide zu den Geburts- und Sterbestunden bestehen.
Es mag aber auch sein, daß der Einfluß der Elemente überhaupt kräftiger empfunden wird. So lassen sich bei Celsus Leute gegen den Erdpüst oder Erdhauch behandeln – das ist ein besonderer Ausschlag, der durch den Boden erzeugt werden soll. Auch wir glauben bereits ein wenig von dieser Kraft zu verspüren – jedenfalls behauptet der Magister, daß man hier nicht allein mit dem Kopfe, sondern mit dem ganzen Körper zu denken beginnt. Die Folge davon ist, daß er sich aufs Tanzen verlegt.
Eidsbygda, 19. Juli 1935