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Die vielen kleinen und großen Betrügereien, die nach der Wende im Osten geschehen, die lassen die Wut in Horst Horstmann hochkochen. Aber Horstmann ist nicht einfach nur ein Bürger, sondern Horstmann war auch ein NVA-Elitesoldat, ein Fallschirmjäger, der gelernt hat, lautlos zu töten. Seine Wut steigt und steigt und dann fasst Horstmann einen tödlichen Plan der Rache. Aus Horstmann wird „Satans tödliche Faust“ … Die vielen kleinen und großen Betrügereien, die nach der Wende im Osten geschehen, die lassen die Wut in Horst Horstmann hochkochen. Aber Horstmann ist nicht einfach nur ein Bürger, sondern Horstmann war auch ein NVA-Elitesoldat, ein Fallschirmjäger, der gelernt hat, lautlos zu töten. Der tödliche Plan der Rache von Horstmann, der sich „Satans tödliche Faust“ nennt, ist erfolgreich angelaufen. Den einen oder anderen Betrüger hat er schon auf seine Weise bestraft. Aber dann legt er sich in seiner Heimatstadt Leipzig mit der Russen-Mafia an, zu der längst auch deutsche gehören. Keine gute Situation für Horstmann, den einsamen Rächer …
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Seitenzahl: 368
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Jan Flieger
Satans tötende Faust – Im Höllenfeuer stirbt man langsam
ISBN 978-3-96521-081-3 (E-Book)
Die Druckausgabe „Satans tötende Faust“ erschien erstmals 1995 im Verlag Das Neue Berlin (Heft 188 der DIE-Reihe). Die Druckausgabe „Im Höllenfeuer stirbt man langsam“ erschien erstmals 1997, ebenfalls in der DIE-Reihe.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
2020 EDITION digital
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.edition-digital.de
Angeln, nichts weiter, angeln und grübeln.
Tage und Nächte blieb er von zu Hause fort, winkte nur schweigend ab, wenn Karin sich beklagte, saß reglos im Kahn oder am Ufer, starrte auf das Wasser und wartete auf den Fisch.
Immer öfter kaute er an den Nägeln, bis er Blut schmeckte, ohne Schmerz zu empfinden. Mit achtundvierzig Jahren war er entlassen worden. In Armut würde er leben müssen, doch Betrüger wurden reicher und reicher, ohne je bestraft zu werden, überall. Immer Neues las und hörte er über sie und ihre Untaten, und der Zorn in ihm wuchs und wuchs.
Doch eines Nachts wusste er, was er tun musste: Das Böse mit den Waffen des Bösen ausmerzen, gnadenlos. Genau an seinem neunundvierzigsten Geburtstag würde er losschlagen, und selbst gab er sich den Namen, unter dem man ihn einmal kennen sollte - Satans tötende Faust.
Gohlis erwachte, der Stadtteil, den der Leipziger Bauboom immer farbiger machte und zu einer guten und überteuerten Adresse für neue Mieter.
Über den Coppiplatz rasten die Autos, eine endlose Schlange wilder Kamikazefahrer. Eine Katze, von einem BMW erfasst, wurde in Minuten von vielen Rädern zermalmt.
Am Zeitungskiosk, neben den Stufen, die zum S-Bahnsteig hinabführten, grüßte mit brüllenden Lettern die Morgenpost:
Leipzig - im Osten Krachstadt Nummer 1 Bald würde das erste Surren eines Krans beginnen, würde das dumpfe Plumpsen von Zementsäcken das Kreischen der sich nähernden S-Bahn übertönen, würde der Kies von den Ladeflächen rauschen. Auf zweitausend Baustellen in der regsamsten Metropole Deutschlands begann Leben und Lärm.
Boomtown ... Leipzig kommt prangte nicht umsonst auf einer großen Plakatwand.
Horstmann hörte den alten Trabbi Lehmanns, der nicht anspringen wollte, und er wusste, dass er nun nicht mehr einschlafen konnte. Dieses elende Auto!
Er schlug das Deckbett zurück, stieg aus dem Bett, um dann minutenlang reglos hinter der Gardine zu verharren. Er hörte Karin in der Küche husten, sie, die stets früher als er erwachte, aber ihr Bett sehr vorsichtig verließ, um ihn nicht zu wecken. Es war immer halb sieben, wenn sie gemeinsam am Tisch in der Küche saßen. Die Macht der Gewohnheit war wie ein Sog, obwohl sie seit Monaten arbeitslos waren und wesentlich länger hätten schlafen können.
Mein Geburtstag, dachte Horstmann, der neunundvierzigste. Er starrte auf seine geballten Fäuste und öffnete sie ruckartig. Es war der Tag, an dem er beginnen würde. Die Todesliste war lang und wuchs und wuchs, an jedem Tag kamen neue Kandidaten hinzu, er brauchte nur in die Zeitung zu sehen. Heute würde er diesen Russen ansprechen, damit der ihm die versprochene Waffe rasch beschaffte und die Patronen. Das Schulterhalfter besaß er schon.
Der Tag war da!
Die tötende Faust Satans würde er sein, als Faust des Bösen würde er selbst das Böse vernichten.
Vielleicht waren es diese Gedanken gewesen, die seinen Geist immer hellwach gehalten hatten. Nie würde er aufgeben und sich gehen lassen wie Karin. Nie! Und er hatte das Töten auf theoretische Weise einmal erlernt, bei den Fallschirmjägern, das Töten mit der Waffe und das lautlose Töten, mit dem Messer und der Kante der Hand. Nichts hatte er vergessen. Wie Sam Croft würde er sein, Sam, der Held des Buches, das er mehrmals gelesen hatte. Sicher lag es daran, dass er sich mit Sam identifizierte. Er ähnelte ihm sogar körperlich. Er war schlank, von mittlerer Größe und hielt sich immer so gerade, dass er groß erschien. Und genau wie dieser Sam besaß er ein schmales, kantiges Gesicht, das immer ausdruckslos wirkte. Ebenso wie Sam hatte er eine harte schmale Kinnlade, hagere straffe Wangen und eine gerade, kurze Nase. Auch seine Augen waren ungewöhnlich blau. Er und Sam könnten eine Person sein, selbst der Hauptzug ihres Wesens war gleich, die überlegene Verachtung allen Menschen gegenüber. Und sie liebten beide nichts. Nur in der Haarfarbe unterschieden sie sich. Sam hatte dünnes, schwarzes Haar, er selbst hatte braunes, dichtes.
Immer wieder hatte er die Stelle gelesen, wo Sam als Nationalgardist seinen ersten Menschen tötete, als er die Versuchung fühlte und ihr nachgab, weil die Gelegenheit günstig war.
Er begann seinen Frühsport, zwanzig Liegestütze und dreißig Kniebeugen, um dann, heftig atmend, das Schlafzimmer zu verlassen. Im Bad duschte er sich kalt. Er fühlte sich befreit, denn dieser Tag war schneller da gewesen, als er gedacht hatte. Und nun würde er beginnen, ohne Aufschub.
Aber zuerst musste er die Waffe beschaffen. Gelang es ihm bei dem Russen nicht, würde er nach Hamburg fahren müssen, das wusste er, denn irgendein Zuhälter auf der Reeperbahn konnte ihm vielleicht helfen, die Pistole und die Patronen zu beschaffen. Doch diese Möglichkeit verwarf er wieder. Die Waffe würde sehr teuer sein, viel zu teuer. Und Tage würden vergehen, die Sache dort in Gang zu bringen. Heute oder morgen aber musste er das Problem gelöst haben. „Heute sagen, morgen haben“, hatte der Russe gesagt.
Er hörte Karin rufen und knurrte ein „Ja“ als Antwort.
Als er die Küche betrat, fiel sie ihm um den Hals.
„Ich gratuliere dir, Horst.“
Ihre Umarmung missfiel ihm, aber er wehrte sie nicht ab.
„Mm“, knurrte er abweisend.
Seit ihrer Entlassung aus dem Schuldienst fühlte sich Karin ausgestoßen, minderwertig. Zurzeit hatte sie wohl den absoluten Tiefpunkt ihrer Resignation erreicht, heulte in die gähnende Langeweile ihres Alltags hinein. Ihre Selbstachtung hatte sie verloren, endgültig.
Er setzte sich und begann Butter auf ein Brötchen zu streichen. Da sah er die noch ungeöffnete Whiskyflasche.
„Für diesen besonderen Tag“, sagte Karin leise.
„Gut“, lobte er kauend.
Vielleicht werde ich in drei Tagen den ersten Sauhund töten, dachte er dabei.
Das alte Haus im Stadtteil Connewitz war nicht sonderlich gut beleuchtet, und doch konnte Horstmann jeden, der es verlassen würde, beobachten. Er saß ruhig hinter dem Lenkrad seines dunkelgrünen Passat und wartete. Warten war ihm zur Gewohnheit geworden. Warten, nur warten ...
Aber Vorsicht war im Dunkeln in dieser Straße geboten, auch wenn in der nahen Kellerkneipe Boccaccio der Stammtisch Gogelmohsch tagte, das sogenannte zweite Stadtparlament - der Professor Schulter an Schulter mit dem Arbeitslosen, der Unternehmer neben dem Kabarettisten. Aber welche Straße in Leipzig war schon sicher, wenn die Nacht gekommen war, wo doch Passanten sogar am hellen Tag ausgeraubt wurden. Die Räuber sprangen aus dem Auto, schlugen zu, raubten und verschwanden ungestraft. Die Polizei, so hieß es im Volksmund, sei dieser gestiegenen Kriminalität nicht gewachsen, und so zahlten die Geschäftsleute Schutzgeld ohne zu murren, an Deutsche, an Italiener, an Russen, an Vietnamesen.
Horstmann erblickte den Mann, den er erwartete. Diesen Mongolen, der gebrochen Deutsch sprach und den er schon kannte, als er noch in Leipzig stationiert war. Also würde es gelingen! Die russische Mafia lieferte prompt und auf die Minute genau. Deutsch-sowjetische Freundschaft, dachte er bitter. Nichts gegen die Russen. Sie waren verlässlicher, als er gedacht hatte. Sie waren echte Geschäftspartner. Besonders in einem Land wie Deutschland, dass seinen Bürgern eine Waffe nur mit Waffenschein gestattete und sie somit den Ganoven schutzlos auslieferte.
Der Mongole öffnete die Beifahrertür, stieg wortlos ein.
„Und?“, knurrte Horstmann.
Der Mongole nickte grinsend, wies auf den Beutel in seiner Hand, zog eine Pistole hervor und zwei Handgranaten und reichte sie ihm.
„Gut“, lobte Horstmann und prüfte die Waffe sorgfältig.
Die Hand des Mongolen glitt erneut in den Beutel. Als sie wieder sichtbar wurde, sah Horstmann zwei Packungen Patronen.
Das sind nicht viel, dachte er, aber sie reichen für den Anfang. Auch wenn es über dreißig Jahre her ist, dass ich mit einer solchen Waffe geschossen habe, man verlernt das Schießen nicht, man hat es im Blut. Wer einmal bei den Fallschirmjägern war, kann es sein Leben lang.
Wortlos zog er das Bündel Banknoten aus der Tasche seines dunkelblauen Sakkos. Ein preiswerter Kauf, dachte er, für jeden Betrüger, der es verdient hat, eine Kugel, im Höchstfall zwei. Es werden nicht viele sein, einige Auserwählte, aber die büßen für die anderen mit und schrecken sie ab.
„Danke“, sagte der Mongole. „Wenn Nachschub brauchen, ich noch da.“
„Gut“, murmelte er und klopfte dem Mongolen auf die Schulter. „Charascho.“
Der Mongole stieg aus dem Auto, winkte kurz und schlenderte zurück.
Er schob die Waffe in die Aktentasche, die auf dem Rücksitz lag. Die Unruhe der letzten Monate war einer kalten Ruhe gewichen, nun, da die Zeit des demütigenden Wartens vorbei war, endgültig. Er startete den Wagen, um nach Hause zu fahren.
Unweigerlich musste er an seinem ehemaligen Werk vorbei, diesem gewaltigen, roten Backsteingebäude, in dem er zwanzig Jahre lang als Schlosser gearbeitet hatte. Gewöhnlich vermied er es, an dem Gebäude vorbeizufahren.
„Sauhund“, fluchte er, weil er an Leusing dachte, den Mann mit dem abweisenden Gesicht und den kalten Augen, den Ingenieur Leusing, Leiter des Betriebes, einst strammer Genosse vor der Wende. Systematisch hatte er als neuer Chef die Belegschaft verkleinert, einen nach dem anderen entlassen, hatte begonnen mit den Alkoholikern, dann mit den Demonstranten der friedlichen Revolution weitergemacht.
Leusing!
Nun munkelten die im Werk Verbliebenen, er würde es bewusst ruinieren, im Auftrag eines Konzerns, der es zu einem Spottpreis kaufen wollte.
Dieser verfluchte Leusing!
Unwillkürlich dachte er wieder an das Gespräch auf einem Flur des Verwaltungsgebäudes, ein zufälliges Zusammentreffen am Tag seiner Entlassung. Wütend hatte er Leusing angefahren.
„Sie entlassen Leute über fünfzig und ohne Abfindung, Herr Leusing. Glauben Sie, wir finden wieder Arbeit?“
Leusing war überrascht stehen geblieben.
„Wir müssen den Betrieb zur rentablen Arbeit führen. Da brauchen wir nur noch fünfzig Prozent der Leute. Wir müssen einfach die ehemaligen illegalen Arbeitslosen entlassen. Sie haben doch dafür demonstriert. Oder?“
„Und Sie werfen die Alten auf die Straße?“
„Nicht nur die Älteren.“
„Ah ja, Sie behalten nur die Dynamischen?“
Leusing nickte. „Tue ich es nicht, überlebt das Werk wohl kaum. Dann sitzen alle auf der Straße, Herr ...“
„Horstmann.“
Leusing räusperte sich. „Ich muss das gesamte Unternehmen sehen, Herr Horstmann, und nicht den einzelnen.“
„Das Einzelschicksal interessiert Sie nicht?“
„Nein, Herr Horstmann. Es darf mich nicht interessieren. Glauben Sie mir.“
„Sie haben einmal anders geredet, Herr Leusing! Nun ist der einzelne für Sie eine Laus.“
„Das Gespräch führt zu nichts“, wich Leusing aus. „Später werden Sie einmal begreifen, dass man es so tun muss. Jetzt sehen Sie nur Ihr persönliches Schicksal. Das macht Sie blind. Sie müssen sich eine neue Aufgabe suchen, Herr Horstmann.“
„Wenn man fünfzig wird, Herr Leusing?“
Leusing blickte betont auf die Uhr. „Sie müssen mich entschuldigen, Herr Horstmann, aber ich muss weiter.“
Und Leusing war mit raschen Schritten davongeeilt, ging zur Tagesordnung über, und die unerfreuliche Begegnung mit dem Aufsässigen legte er offensichtlich bereits zu den gedanklichen Akten. Leusing plagten andere Sorgen.
Leusing wird nun sterben, dachte er. Jetzt! Durch mich! Er ist einer von denen, die uns nun mit kalter Sachlichkeit regieren. Ich werde für ihn zum tödlichen Stolperstein.
Er bog nach rechts ab. Ein roter Ford raste in wilder Fahrt an ihm vorbei, so nahe, dass er befürchten musste, gestreift zu werden. Ein Tollwütiger, dachte Horstmann, der sein Selbstwertgefühl hinter dem Lenkrad zu steigern versucht und der vielleicht bald an den Raten für das Auto zerbrechen wird.
Zehn Minuten später betrat er seine Wohnung.
Heute war er besonders froh, Karin nicht vorzufinden. Die Jacke warf er über den Lehnstuhl, der auf dem Flur neben dem Telefontischchen stand, und ging mit der Aktentasche ins Wohnzimmer, um sich an den Sekretär zu setzen. Mit dem Daumen drückte er den Schalter der Schreibtischlampe nieder, dann erst zog er die Waffe aus der Tasche und streichelte sie. Sie war ein Modell, das er gut kannte, eine Selbstladepistole Modell Makarow PM. Die Munition kam aus einem Magazin, das acht Schuss enthielt. Hatte man ein volles Magazin in die Waffe eingeführt, so löste man den Fanghebel, der Verschluss glitt nach vorn und die Waffe war ohne Durchladen sofort wieder feuerbereit.
Er begann die Waffe auseinanderzunehmen, und er war überrascht, dass ihm jeder Handgriff sofort gelang. Aber es war auch sehr einfach, und er hatte keine Mühe damit. Die Waffe schien gepflegt zu sein. Liebevoll wog er sie in der Hand und strich fast zärtlich über ihren Lauf. Es war eine Waffe von solider Konstruktion und guter Verarbeitung, zuverlässig, treffsicher und äußerst robust, eine Waffe, die selbst den international üblichen Anforderungen an eine moderne Armeepistole entsprach.
Er würde sie nun oft benutzen, er würde die Vertreter des Bösen das Fürchten lehren, all die Betrüger, die von der Naivität der Menschen lebten.
So musste es getan werden!
So und nicht anders!
Vielleicht lag ihm das Töten auch im Blut. Töten war für Sam Croft ein Handwerk. Und für ihn, Horstmann, würde es das Handwerk der Rache werden.
Seine Finger glitten zärtlich über die Waffe, die ihm ein Gefühl der Allmacht gab. Keiner war unverwundbar. Keiner! So arrogant und frech er auch herumlief unter den Menschen.
Er lachte auf. Der Spott würde jedem im Mund stecken bleiben, wenn ihn die Kugel traf oder wenn er ahnte, dass sie ihn einmal treffen konnte. Betrüger, die etwas auf dem Kerbholz hatten, sollten mit der Angst leben, wenn sie erst wussten, dass er da war! Und vielleicht würden sie ihm beistehen, die alten Kameraden aus seiner Fallschirmjägerzeit, wenn sie seine Absicht begriffen und nicht nur das Töten, sondern die Auslese sahen.
Ja, das Werk der Auslese musste getan werden! Und dieses Werk duldete keine Vergebung.
Er goss einen Whisky in ein Wasserglas und trank den Inhalt in einem Zug aus. Ich werde Richter sein und Henker, dachte er befriedigt. Jede Tat wird ein Blitz sein, ein tödlicher Blitz.
Er trank einen zweiten Whisky.
Auf der Couch sitzend, genoss er die Wirkung des scharfen Getränks. Ein Gefühl der Befreiung erfüllte ihn, ein unendlich großartiges Gefühl.
Er musste töten.
Er wollte töten.
Er würde töten.
Schließlich griff er zu dem Ordner, der die Zeitungsausschnitte enthielt, die er sorgsam sammelte, die endlose Spur des Bösen.
Schicken Sie 25,- DM für die Verpackung
Rolf Teufel aus Leipzig bekam einen Brief:
Sie haben 5000 Mark, einen Golf GTI, einen Brillantring oder eine wertvolle Armbanduhr gewonnen!
Der Haken: Er sollte erst mal 25 Mark nach Holland schicken. Lediglich für Versand und Verpackung. Wie verpackt man einen Golf? Herr Teufel schickte das Geld und mit ihm Zehntausende.
Er fluchte und las weiter, immer wieder von Neuem fassungslos über die Dummheit der Menschen: In sechs Wochen bekommen Sie 30 000 Mark! Sabine Lindemann aus Gohlis zahlte 108 Mark, weil ihr in einem Kettenbrief versprochen worden war: Innerhalb von vier bis sechs Wochen zahlen Ihnen wildfremde Menschen je 30 Mark, macht insgesamt 30 000 Mark!
Kopfschüttelnd las er weiter.
Wöchentlich kommen verzweifelte Sparer zur Verbraucherzentrale, die auf Geldhaie reingefallen sind. Wie Gundula Schmalz aus Schönefeld. Ein Mann im eleganten Anzug kam zu ihr, sagte, er habe sichere Aktien. Sie legte zweitausend Mark an. Alles futsch.
Seine Lippen wurden immer schmaler, als er weiterlas, obwohl er den Inhalt der Mappe kannte.
Er las von einem gewissen Streibele aus Frankfurt am Main, der Mädchen aus Sachsen mit angeblichen Karrieren als Fotomodell anlockte und sie wie Sklavinnen in den Orient verkaufte.
Einen nach dem anderen, dachte er grimmig. Ich weiß nur nicht, mit wem ich beginnen soll. Jeder von denen hat es verdient. Müsste der erste sein.
Jeder!
Wieder streichelte er die Waffe.
Was für ein Gefühl, was für ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Die Justiz würde den Mann aus Frankfurt am Main nicht packen können - aber er.
Und das Urteil, das dieser Mann verdient hatte, lautete: Tod!
„Es ist furchtbar“, sagte Karin.
„Was ist furchtbar?“, fragte er und sah, dass sie die Illustrierte kopfschüttelnd weglegte.
„Da lebt ein Ehepaar mit zwei behinderten Mädchen, die in Rollstühlen sitzen, in einem Haus mit Garten. Sie bekamen es von der Wohnungsverwaltung wegen dieser Mädchen.“
„Und?“, brummte er.
„Nun will der ehemalige Besitzer, ein Herr Haffner, das Haus wiederhaben. Droht, lässt den Vater zusammenschlagen.“
„Die müssen nicht raus“, knurrte er.
„Aber bald“, erwiderte seine Frau. „Er ruft die Familie nachts an, um ein Uhr, um zwei Uhr und droht: Sie sollten freiwillig gehen, sonst würden sie es bitter bereuen. Sehr bitter.“
„Psychoterror.“ Seine Stimme klang böse.
„Und keiner kann da helfen“, sagte sie mutlos. „Dieser Mann kann schalten und walten wie er will.“
Doch, dachte er wütend, einer kann helfen: ich.
„Mm“, machte er und sah zu ihr hin.
Müde winkte Karin ab. „Das Leben ist eine Hölle.“
Er erwiderte nichts, aber er wusste bereits, dass er diesen Mann auf seine Liste setzen würde, nicht ganz an die Spitze, nein, aber zumindest unter die ersten zehn. Sein Tod würde eine Warnung sein, Menschen nicht aus ihren Wohnungen zu vertreiben.
„Wenn der Kerl stirbt“, sagte er, „kann er nicht auf Eigenbedarf klagen.“
„Warum soll er sterben?“, erwiderte Karin müde. „Er sieht gesund und kräftig aus. Sieh doch! Die Mädchen werden raus müssen aus dem Haus, von dem aus sie in den Garten rollen können. Sie müssen wieder in eine enge kleine Wohnung in einem Neubau und können von dort aus dem Fenster sehen.“
Sie seufzte auf. „Unrecht regiert die Welt.“
Er blickte Karin an. Sie ist fertig, dachte er, sie ist verbraucht und seelisch schon tot, ich aber bin nicht verbraucht, ich werde handeln. Ich werde dann kommen, wenn man mich nicht erwartet, ich werde es in den alten Bundesländern tun und in den neuen.
Horstmann stand auf und ging in den Korridor. Dann öffnete er die Wohnungstür, um zum Briefkasten im Parterre zu gehen.
Im Kasten lag ein Brief, adressiert an Horst Horstmann.
Herzlichen Glückwunsch!
Die Wahl ist auf Sie gefallen, und Sie erhalten mit Sicherheit einen der unten beschriebenen Artikel:
(1) 5 000 DM in bar oder per Scheck
(2) Herren- oder Damen-Quarzarmbanduhr
(3) VW-Golf GTI Modell 1995
(4) Einen Ring mit einem gefassten Diamanten und passenden Ohrringen
(5) Farbfernseher - Bildschirm 39 cm - Stereo.
Die Registriernummer auf der Karte entscheidet über Ihr Geschenk.
Er lachte auf, obwohl ihn eine rasende Wut erfüllte, und las weiter:
Sie müssen nur die beiliegende Karte mit der Registriernummer innerhalb von 13 Tagen zurücksenden, um Ihren Gewinn zu erhalten!
Das Geschenk ist umsonst für Sie!
Sie müssen lediglich die Kosten für Bearbeitung und Versand tragen: insgesamt nur DM 23,-
Schicken Sie die ordnungsgemäß ausgefüllte Karte in einem Briefumschlag zusammen mit 23,- DM zurück an I.M.C. Europa Distribution Center, Rue Delambre 3, 1503 HK, Marseille
PS. Handeln Sie schnell, denn Ihr Geschenk wartet nur 13 Tage auf Sie! Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Und wie schnell ich handeln werde! dachte Horstmann grimmig. Übermorgen bin ich bei euch, und dann erwische ich einen oder zwei von euch, wenn ihr das Schließfach leert. Diese Verbrecherbande, die auf Dummenfang geht! Keiner kennt mein Motiv, keiner wird mich sehen, es wird ein perfekter Mord werden, oder es werden zwei perfekte Morde.
Nein, es ist kein Mord!
Es ist eine Bestrafung, bei der der Rechtsweg ausgeschlossen ist.
Ihr Hunde, dachte er. Wie viele werdet ihr wohl reinlegen? Immer wieder.
Aber ich komme.
Evelyn Zinner hörte das Telefon klingeln. Sie schreckte hoch und blickte auf die Uhr, die auf dem Nachttisch stand. Es war kurz nach zwei, tiefe Nacht. Sie warf das Deckbett zurück, schlüpfte in die Hausschuhe und lief auf den Flur, zu dem kleinen schmalen Tischchen mit dem Telefon.
Schläfrig und benommen hob sie den Hörer ab.
„Zinner.“
Ein glucksendes Lachen war am anderen Ende der Leitung zu hören und dann die Stimme, die sie bereits kannte, die metallisch klingende Stimme Haffners, der ihr Grundstück wollte und das Haus, in dem er einmal gelebt hatte, ehe er, lange vor der Wende, über Ungarn den einstigen Staat DDR verlassen hatte.
„Raus aus meinem Haus. Räumt es freiwillig! Es hat keinen Zweck, wenn ihr euch weigert. Ich habe den längeren Arm, ihr Stasischweine.“
Evelyn Zinner kniff die Augen zusammen, und ihre Hand schloss sich fester um den Hörer.
„Wir sind keine Stasischweine“, erwiderte sie. Ihre Stimme hatte einen bittenden Klang. „Wir haben es Ihnen doch bereits mehrmals erklärt. Das Haus erhielten wir zur Miete, weil wir zwei Töchter haben, die wegen Gelenkdeformation in Rollstühlen sitzen. Sie wissen das doch! Wir können den Mädchen in diesem Haus das Leben leichter machen. Hier geht das, was man in einer Neubauwohnung nicht machen kann, Haltegriffe, schiefe Ebenen anstelle von Treppen. Warum wollen Sie das nicht verstehen? Warum quälen Sie uns immer wieder? Sie wissen doch, wie spät es ist, Herr Haffner!“
„Und ob“, grunzte Haffner. „Und ich rufe immer wieder an! Bis ihr fertig seid und auszieht. Es ist mein Besitz!“
Evelyn Zinner zitterte am ganzen Körper, als sie diese Worte durch das Telefon vernahm. Tränen füllten langsam ihre Augen. „Sie haben doch wieder ein Haus“, sagte sie kläglich. „Sie haben es uns doch selbst gesagt. Warum wollen Sie uns dann verjagen?“
„Ich will mein Grundstück und mein Haus. Ich mache euch fertig, wenn ihr nicht verschwindet.“
„Aber, Herr Haffner!“
„Haut ab!“
„Wir hätten gar keine Wohnung, selbst wenn wir gehen wollten. Wo sollen wir denn hin?“
„Dann sucht euch was! Als ich getürmt bin, musste ich mir auch was suchen. Also haut ab. Ich komme bald wieder vorbei!“
Evelyn Zinner schluchzte auf.
„Tun Sie das bitte nicht, Herr Haffner.“
Wieder das glucksende Lachen.
„Und ob, Frau Zinner.“
Evelyn dachte erschrocken an den „Besuch“ Haffners, der ihrem Mann den Arm auf den Rücken gedreht und ihn getreten hatte. Blutergüsse und Prellungen waren das Resultat gewesen. „Ich komme schon in mein Haus, wenn es sein muss“, hatte Haffner damals gebrüllt. „Und wenn’s mit der Axt ist!“ Kathrin und Annett hatten weinend in ihren Rollstühlen gesessen.
„Hat’s Ihnen die Sprache verschlagen, Frau Zinner? Denken Sie ja nicht, weil so ein paar üble Journalisten über mich geschrieben haben, können Sie nun die große Lippe riskieren.“
„Ich riskiere doch keine große Lippe, Herr Haffner. Wir möchten uns im Guten mit ihnen einigen.“
„Dann verschwindet! Haut endlich ab. Packt eure Sachen in einen Möbelwagen.“
„Sie sind angetrunken, Herr Haffner.“
„Das könnte Ihnen so passen. Ich bin nicht angetrunken, ich bin wütend. Und ich mache euch fertig. Mir hat noch keiner widerstanden, ihr Stasischweine.“
„Bitte, Herr Haffner, wir haben mit dieser Institution nie etwas zu tun gehabt! Wie oft müssen wir das Ihnen denn noch sagen! Wir bekamen das Haus wegen unserer kranken Töchter.“
„Sie wiederholen sich, Frau Zinner. Mit der Klage auf Eigenbedarf krieg ich Sie sowieso raus. Die Zeit läuft für mich!“
Nun schluchzte Evelyn Zinner auf. Ihr Mann war hinzugekommen und nahm ihr den Hörer aus der Hand.
„Herr Haffner, wir sind berufstätige Menschen. Und wir haben zwei kranke Töchter. Wir müssen sehr früh aufstehen. Meinen Sie, dass meine Frau noch einmal schlafen kann?“
Haffner lachte auf.
„Das soll sie auch nicht. Ihr sollt immer an mich denken. Zu jeder Zeit. Tag und Nacht. Immer. Bis ihr endlich auszieht. Das Recht, Zinner, ist auf meiner Seite!“
„Das Recht der Raubritter, meinen Sie wohl!“
„Werden Sie nicht unverschämt, Sie Stasiratte.“
„Für diese Firma hat nicht jeder gearbeitet!“
„Aber jeder zweite. Und nun seid ihr alle Helden gewesen. Warum sind Sie nicht aus diesem Scheißstaat getürmt?“
„Weil wir zwei Mädchen im Rollstuhl haben, Herr Haffner!“
„Schieben sie nicht immer Ihre Gören vor!“
„Töchter, Haffner, Töchter!“
„Saubande“, sagte Haffner und legte auf.
Zinner blickte seine Frau an, die, schweigend an ihn gelehnt, zu ihm aufsah.
„Was soll das nur noch werden?“
Zinner streichelte seine Frau, und seine Lippen wandelten über ihre Stirn, ihre Wangen, minutenlang.
„Er ist ein Teufel“, hauchte Evelyn Zinner. „Ein wahrhaftiger Teufel. Wer weiß, was er noch anstellen wird?“
Zinner schwieg. Ein Gefühl der Hilflosigkeit erfüllte ihn, denn wehrlos standen sie Haffner gegenüber. Wenn sie wirklich das Haus aufgeben mussten, wäre es furchtbar für die Mädchen, die den bequemen Weg in den Garten und dessen für sie erreichbare Schönheit längst gewohnt waren. Wieder die Enge einer Neubauwohnung in einer Trabantenstadt, vielleicht Grünau, dem Brooklyn von Leipzig. Wenn es überhaupt eine Neubauwohnung sein würde, bei der Situation ringsherum.
Schweigend lagen sie im Dunkeln nebeneinander, Hand in Hand. Zinner konnte nicht sehen, dass seine Frau weinte. Sie tat es lautlos und mit klopfendem Herzen, und er wusste auch nichts von einem Mann, der Horstmann hieß und im Auto nach Marseille jagte und auf dessen Todesliste auch der Name Haffner stand.
Er fuhr noch den ganzen Tag, ehe er Marseille erreichte. Die Autobahn endete endlich vor einem gewaltigen Triumphbogen. Es war ungewöhnlich heiß, und der Schweiß lief ihm über die Stirn und in die Augen, als er einen Parkplatz suchte, doch noch ehe er ihn fand, begann das Gewitter, heftig, aber kurz. Als er ausstieg, dampften die Steine. Das Gewitter und die Hitze hatten nun ein Treibhaus geschaffen.
An einem Zeitungskiosk kaufte er einen Stadtplan, ging zurück zum Auto und suchte die Straße, die er am Stadtrand fand. Dann fuhr er weiter auf einer Hochstraße aus Stahlbeton, durch die alten Viertel von Marseille, den Hafen mit seinen Kais und Lagerhäusern, weiter und weiter, bis zum Rand der Stadt.
Es war bereits Abend. Tief unter ihm lag die Stadt, die dampfte und qualmte und quirlte. Im Dämmerlicht blitzten mehr und mehr Lichter auf. Dunkle Wolken fegte der Wind, der vom Meer herüberwehte, über die Stadt, zerriss sie zu Fetzen.
Ich werde die Straße vor Anbruch der Dunkelheit nicht mehr finden, dachte er. Er hatte nun endlich den Stadtrand erreicht, das Gewimmel winziger, ärmlicher Häuser zwischen Berghängen und Wänden aus Felsen, die Marseille von zwei Seiten einfassten - Hütten über Hütten, in den Berg geschachtelt, ein beunruhigendes Gewirr.
Der Stadtplan schien nicht alle Straßen zu enthalten, wahrscheinlich wuchs die Stadt immer noch weiter, wobei sie alle Dörfer um sich herum mit verschlang.
An Bauplätzen fuhr er vorbei, dann wieder an kleinen, selbst gemauerten Häusern und Bungalows, an modernen Wohnsiedlungen mit Schulen, Kaufhallen und Garagen. Es folgten ärmliche Hütten aus Wellblech, dann ein Wasserwerk und Ruinen eines ehemaligen Dorfes. Dunkelhäutige Männer lungerten herum, Algerier würden es wohl sein, Kabylen oder Tunesier.
Und überall standen Autos.
Autos, Autos, Autos ...
Viele waren nur noch Wracks. Die Autoleichen standen zwischen den Häusern, hinter Lauben, verrosteten unter Brückenbögen, in Gemüsegärten und am Rande der Gehwege.
Das erinnerte ihn an zu Hause, das Land in dem die neue Freiheit herrschte, auf den Straßen und an den Straßenrändern. Auch bei ihm die ehemals gehegten und nun nicht mal mehr den Verschrottungspreis werten Fahrzeuge, ausgebrannt und demontiert, rostend am Straßenrand.
Er lachte geringschätzig auf. Mit einer müden Bewegung strich er sich über die Augen. Ich habe mich rettungslos verfahren, dachte er.
Er hielt am Rand der Straße an einem großen Schrottplatz, auf dem dunkelhäutige Kinder spielten. Sein Finger suchte auf dem Stadtplan, fand schließlich die gesuchte Straße.
Doch wo stand er im Augenblick? Er klappte die Karte wieder zu und lehnte sich zurück.
Die Dämmerung wich mehr und mehr der Dunkelheit, längst hatten die Menschen in den Straßen und engen stickigen Gassen die letzten Einkäufe für das Abendbrot in Netzen und Taschen verstaut.
Müdigkeit überfiel ihn. Es wird besser sein, wenn ich im Auto schlafe, überlegte er, und mich nicht in einem Hotel oder einer Pension eintrage. Aber Marseille war eine unsichere Stadt, und es war sicher nicht ungefährlich, in einem Auto zu übernachten. Doch dann lächelte er über seine Bedenken, denn in seinem Handschuhfach lag die Pistole, geladen und gesichert, bereit zum tödlichen Schuss.
Nur Minuten später fand er die gesuchte Straße und die Hausnummer, ein sechsstöckiges Bürohaus.
Also hier drin wird das Schließfach sein, dachte er grimmig. Er parkte den Wagen in einer Seitenstraße und schlief im Auto ein.
Ich werde einen Tag verstreichen lassen, überlegte er beim Erwachen, mich erst einmal umsehen. Er fuhr zur Nordseite des alten Hafens, saß in einem kleinen Café und grübelte. Seine Augen schweiften zu der über der Bucht ansteigenden Stadt, schweiften über den Hafen und hoch zum Berg mit der gewaltigen vergoldeten Marienstatue auf dem Turm der Notre-Dame-de-la-Garde, die Marseille bewachte, den Hafen, die Straßen, die Banken, die Schiffe, die Docks. Der scharfe Mistral hatte die Wolken vom Himmel gefegt, der glasklar war und blau. Doch Horstmann konnte sich an der Aussicht nicht erfreuen.
Als er das Café verließ, stieß er auf lärmende Touristen, die zum Quai des Belges wandelten, wo die weißen Fährschiffe lagen, bereit zur Fahrt nach dem Château d’If, der Felseninsel, mit dem Gefängnis, in dem der Graf von Monte Christo viele Jahre seines Lebens verbracht haben sollte.
Menschen rempelten ihn an, lachten, riefen sich Worte zu oder schlenderten zu den Bistros und Cafeterias, die am lang gestreckten Hafenbecken des Vieux Port standen und vollgestopft waren mit Besuchern.
Immer dichter wurde das Getümmel der Menschen. Am Rand der Straßen boten fliegende Händler ihre Waren an.
Bei einem Schwarzen kaufte er eine Tüte voll Erdnüsse und steckte sie in die Tasche seiner Lederjacke.
Versunken in Gedanken blieb er vor einem Händler stehen, der auf einem Teppich saß und Ebenholzfiguren anbot. Doch als der Händler ihm übereifrig seine Figuren anbot, wandte er sich ab.
Die Kolonne der Autos, die sich auf der Straße an ihm vorbei schlängelten, riss nicht ab, und er hatte Mühe, die Straße zu überqueren.
Und wieder stand ein Afrikaner vor ihm, der Schmuck verkaufte. Horstmann winkte widerwillig ab, blickte finster in das Gesicht des lächelnden Schwarzen, der ihn seine weißen, makellosen Zähne sehen ließ.
Ich muss es doch heute tun, dachte er, wenn ich es weiter vor mir herschiebe, tue ich es nie. Aber einer muss es tun, einer muss ein paar dieser Sauhunde in die Hölle schicken.
Er stand vor einer Schule, Kinder liefen herum, lachten, aßen, rauften. Kinder jeden Alters, jeder Größe, jeden Aussehens, blonde, dunkle.
Die Erdnüsse schmeckten ihm nicht, und so warf er die Tüte in einen Papierkorb neben einer Telefonzelle. Dann kaute er unentschlossen an seinen Nägeln.
Er beobachtete ein Auto, das auf ein anderes auffuhr, und zwei Männer standen sich schimpfend und drohend gegenüber, Brust an Brust, nun von einer Traube von Menschen umgeben. Auf einem Motorrad jagte ein Polizist heran, trennte die Streitenden, zückte einen Schreibblock.
Vom nahen Kirchturm schlug es genau zehn in diesem Augenblick.
Ich werde jetzt zu dem Haus fahren, nahm er sich vor, ich werde warten, bis das Schließfach geleert wird und schieße dem Kerl dann im Auto, wenn er wegfahren will, einfach in den Kopf.
Aber er brauchte lange, bis er die Straße wiederfand, und er hatte drei Staus zu überstehen, die endlos dauerten.
Er parkte seinen Wagen einige Straßen weiter. Ehe er aus dem Auto stieg, schob er die Waffe in das Schulterhalfter. Das Haus, in dessen Vorraum die Schließfächer hingen, betrat er um Viertel nach zwölf. Er fand die Nummer 1505 tatsächlich.
Sie werden kommen, dachte er und ging bis zum Ende des langen Ganges, wo er aus dem Fenster sah und wartete.
Eine Stunde verging, eine zweite. Menschen betraten den Gang, gingen zielgerichtet in ihre Büros oder nach draußen.
Dann aber, es war genau vierzehn Uhr zehn, stand ein Mann vor dem Schließfach und öffnete es. Er war schlank und groß, trug ein dunkelblaues Sakko und eine helle Hose, und mit zufriedenem Lächeln schob er Briefe über Briefe in seine dunkle Aktentasche.
Niemand war auf dem Gang.
Er war allein mit dem Mann.
Schon stand er hinter ihm. „Schwein“, zischte er voller Hass und zog die Waffe. „Hunderttausend Idioten fallen auf euch rein. Jeder schickt euch Geld, und ihr löst euch dann in Luft auf.“
„Was wollen Sie?“, fragte der Mann erschrocken und wandte sich um.
„Dich! Ich pumpe dich voll Blei. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen, genau wie bei euch auch!“
„Sie sind wahnsinnig“, flüsterte der Mann. In seinen Augen stand die Angst. Hilfe suchend glitt sein Blick über den Gang.
„Vielleicht.“ Horstmann entsicherte die Waffe. „Mit so einem wie mir habt ihr nicht gerechnet, was?“, fragte er höhnisch. „Es sind nicht alles Schafe. Es gibt auch Wölfe.“
Der Mann hielt ihm die Tasche mit den Briefen entgegen. „Wir können doch teilen!“ Seine Stimme bebte.
Als Antwort drückte Horstmann zweimal ab. Die Kugeln trafen den anderen in die Brust.
Und jede Kugel war tödlich.
Er aß in einem Lokal im Hafenviertel, in dem an den Wänden Anker hingen, Netze und gläserne Kugeln.
Die Luft war völlig verraucht, auf manchen Tischen rollten die Würfel. Eine Kellnerin trug ein Tablett mit Speisen, von denen starker Knoblauchduft aufstieg. Hinter der hufeisenförmigen Theke stand der Wirt, ein massiger Mann mit einem gewaltigen Schnauzbart, dessen Gesicht ohne Mienenspiel war.
Das war leicht, dachte er, sehr leicht.
Ein Gefühl der Zufriedenheit erfüllte ihn. Er hatte sich überwunden, nun würde er es immer wieder tun können, und all die üblen Hunde, die kein Gericht Deutschlands würde verurteilen können für ihre Taten, konnte er selbst richten. Sein Urteil stand fest und es lautete: Tod! Und er vollstreckte es auch.
Zufrieden zahlte er bei der Kellnerin. Dann verließ er die Kneipe.
Über dem Hafenviertel kreisten kreischend hungrige Möwen, stießen herab, wenn sie Beute sahen, flogen wieder auf.
So würde auch er auf die Beute herabstoßen und wieder auffliegen, um dann von Neuem zuzustoßen.
Immer wieder.
Es war vier Uhr morgens, als er erwachte. Er schlug das Deckbett zurück, trat zum Fenster und blickte hinaus.
Noch lag die Dunkelheit über der Stadt, nur selten erhellten Scheinwerfer von Autos sekundenlang die Straße. Hin und wieder war ein erleuchtetes Fenster zu sehen. Auf dem Gehweg lief mit hastigen Schritten ein Mann.
Unruhe erfüllte ihn, und er legte seine Stirn an die morgenkalte Scheibe des Fensterglases. Er hörte den schrillen Warnruf einer Straßenbahn, der einem verschlafenen Fußgänger galt.
Ich will den nächsten haben, dachte er. Töten, hatte er einmal gelesen, kann zu einer Sucht werden. Aber ich töte nicht aus Lust, beschwichtigte er sich, ich merze nur das Böse aus, jeder von denen, die ich beseitige, hat den Tod verdient. Und ich habe es gelernt, und so werde ich es auch tun. Wie damals, bei den Fallschirmjägern. Mit diesen Kameraden zusammen sollte ich es tun ...
Eine unvergessene Szene stieg vor ihm auf in seiner Erinnerung.
Sie hockten unter Laubbäumen versteckt, die Gesichter geschwärzt, auf dem Kopf das grüne Barett. Nichts, was den kommenden Einsatz behindern konnte, blieb am Mann, nur die Maschinenpistole und das Kampfmesser. Vor ihnen lag die Sturmbahn, und sie warteten auf das Handzeichen von Heidersbach, dem Leutnant und Führer ihres Zuges. Die braunen Augen im kantigen schmalen Gesicht des Vierundzwanzigjährigen musterten seine Männer. Dann kam das Handzeichen, und er war der erste, der aufsprang, lief tief gebückt durch hohes Gras, warf sich nieder, beobachtete, hastete weiter. Ihm folgten die anderen mit kurzen Sätzen. Aßbach, der Freund, den sie „Asche“ nannten, war dabei. Sie erreichten den schützenden Wald, verharrten, wartend, bis die Gruppe wieder beisammen war. Dann stand ein Maschendrahtzaun vor ihnen, hoch wie ein großer Mann. Er schwang sich über die Hürde, hetzte weiter, Aßbachs Keuchen hinter sich. Eine Wand aus Baumstämmen verstellte ihnen nun den Weg. Ein Posten lief dahinter. Als dessen Schritte verklungen waren, legten Aßbach und er die Maschinenpistolen ab, kletterten lautlos über die Barriere. Als der Posten zurückkam, schnellte Aßbach auf ihn zu, riss ihn nieder, verschloss mit der Hand seinen Mund.
Dann eine Schlucht, fünf Meter tief, mit darübergespannten Tauen. Er hangelte sich eine Strickleiter hinauf, die herabhing von einem Baumstamm, der hoch über die Schlucht aufragte. Sich um den Stamm herumschlängelnd, packte er das Tau, und in Bauchlage zog er sich vorwärts. Weiter ging es durch Unterholz, einer hinter dem anderen, die ganze Gruppe. Kein Ast durfte krachen, kein Laub rascheln. Lautlosigkeit war das Gesetz, und jeder, der im Ernstfall ihren Weg kreuzte, würde sterben müssen, ob Uniformierter oder Zivilist. Denn das lautlose Töten hatten sie gelernt, das Töten mit der Handkante, mit dem Messer. Es war ihr Beruf.
Sie balancierten über einen Balken, der glattgewaschen war vom Regen. Vor ihnen lag nun der Kriechgang, das schwerste Hindernis, eine Kanalröhre aus hintereinander in die Erde gegrabenen verschlissenen Autoreifen. Zwanzig Meter lang und im Winkel angelegt, nicht mehr als ein halber Meter Durchmesser. Hier hieß es Beine anziehen und strecken, die Arme längs am Körper, die Maschinenpistole zwischen die Oberschenkel gepresst. Zentimeter um Zentimeter im endlosen Dunkel stickiger, abgestandener Luft. Beim ersten Mal war das hier wahrhaftes Grauen gewesen. Erde klebte ihm im Mund, Spinnweben im Gesicht. Erhörte den schweren Atem des Freundes hinter sich. Dieser Kanal war eine Hölle, aber er stählte den Willen, machte hart.
Dann endlich Licht und Luft! Bäume und Himmel! Die Lungen füllten sich, doch es gab kein Verharren. Sie hasteten zum nächsten Element: Abfahrt an einem Stahlseil, vierzig Meter steil abwärts. Nur eine Hand hielt den Griff der Rolle, doch diese Hand war geübt und selbst hart geworden durch die Schläge auf Holz und Stein. Als er auf den Sandhaufen aufprallte, presste er die Waffe an seine Brust. Neben ihm schlug Aßbach auf, und sie hasteten weiter zu einem tiefen Graben, der mit einem Schwungseil überwunden werden musste. Er verpasste den richtigen Moment, schlug hart auf und prallte zurück. Erst beim zweiten Mal gelang es. Wie Feuer brannte der Schmerz in Finger und Handballen, keuchend und erschöpft lag er im Gras. Aßbach lag neben ihm ...
Man müsste es mit Aßbach zusammen tun, dachte er, als er ins Bad ging, auch er würde ein gnadenloser Rächer sein. Aber wer wusste, was in all den Jahren aus ihm geworden war. Ein Spießer vielleicht? Ein Feigling, der sich duckte?
Er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und blickte in den Spiegel. Die Tropfen perlten über seine Wangen. Es ist das Gesicht eines Killers, überlegte er, aber man sieht es dem Gesicht nicht an. Er griff zum Handtuch und trocknete sich sorgfältig ab. Seine Hand zitterte nicht, als er sie prüfend betrachtete. So, wie andere Wildschweine jagten, jagte er Betrüger.
Später trank er in der Küche ein Glas voll Whisky und ging nach unten, hinüber zum Zeitungskiosk, um sich eine Bild zu kaufen. Er blätterte sie durch, nachdem er Kaffee getrunken hatte. Auf Seite drei stand tatsächlich ein Bericht über den Tod eines Deutschen in Marseille, der etliche Leute in den neuen Bundesländern betrogen hatte, indem er ihnen auf einer Karte ein Auto versprach, wenn sie ihm zwanzig Mark schicken würden. Aber nun hatte ihm jemand das Handwerk gelegt, doch die Polizei tappte im Dunklen, nahm aber an, dass es einer der Betrogenen oder einer aus dem Kreis der Mitbetrüger war. Der Verfasser des Artikels stand offensichtlich auf der Seite der betrogenen Menschen.
Er lachte laut auf. Diese Zeilen taten ihm gut, und eine warme Welle durchspülte seinen Körper. Befriedigt lehnte er sich zurück und gab sich diesem Gefühl ganz hin. Der erste, der für sein Unrecht büßen musste, und er war der Vollstrecker gewesen. Auf ihn würden sie nie kommen, niemand würde je in ihm den Täter auch nur vermuten. Voll von diesem Hochgefühl nahm er die Zeitung wieder auf und las weiter. Gleich darauf wurde er wieder wütend, denn er las von einem Sachbearbeiter bei der Treuhand, der an Firmen aus den alten Bundesländern riesige Landflächen verkauft habe, für nur eine Mark pro Quadratmeter. Ein Spottpreis also. Der Sachbearbeiter selbst, so mutmaßte der Schreiber, sei mit Sicherheit dabei sehr reich geworden.
„Rote Socke“, fauchte er grollend, und seine Augen waren schmal geworden. Er beschloss, den Mann auf seine Liste zu setzen, im oberen Bereich.
Später saß er im Wohnzimmer und überlegte. An all die Betrügereien, die begangen wurden, würde er herankommen, das wusste er, denn die Zeitungen präsentierten sie ihm wie auf einem silbernen Tablett, die Tageszeitungen und auch die Illustrierten, ja sie nannten oft sogar die Namen der Übeltäter. Doch er benötigte ihre Adressen, wenn er sie bestrafen wollte, er musste wissen, wo sie wohnten, damit er sie auch aufspüren konnte. Hier aber lag das Problem. Er hatte die Waffe und auch die Munition, aber nicht die Adressen dieser Halsabschneider. Und Betroffene, die unter den Taten dieser Betrüger zu leiden hatten, würde er nicht befragen können, da sie sich dann mit Sicherheit an ihn erinnern würden, falls die Polizei der Sache nachging.
Was konnte er tun?
Bittere Wut erfüllte ihn, dass es ihm nicht gelingen sollte weiterzumachen, jetzt, da er dazu bereit war, alles einzusetzen auf dem Weg der Rache, auch die so gehüteten Ersparnisse aus der Zeit der Ex-DDR, eingetauscht nach dem Fall der Mauer.
Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte, tief inhalierend. Sie dürfen mir nicht entgehen, überlegte er. Gereizt zerdrückte er die Zigarette im Aschenbecher.
Reglos saß er und starrte auf den Bücherschrank. Sein Blick wanderte von den Büchern mit den Lederrücken zu den Taschenbüchern und weiter zu den Krimis, die er so sehr mochte. Und unvermittelt stutzte er, als er die Bücher von Chandler erblickte.
Das war die Lösung! Eine Detektei! Sie würde die Namen und Adressen dieser Ganoven ermitteln können. Aber dann würden die Männer aus der Detektei seinen Namen kennen.
Er rieb sich gedankenvoll sein Kinn und holte tief Luft, dann griff er zu der Schachtel auf dem Tisch und brannte sich erneut eine Zigarette an. Ohne sich dessen bewusst zu sein, begann er mit sich zu reden.
„Du gibst einfach einen falschen Namen an und zeigst deinen Ausweis nicht.“
„Aber sie werden ihn sicher sehen wollen? Sie fürchten um ihr Honorar.“
„Das beste wird sein, eine hohe Anzahlung zu machen.“
„Ja, aber sie werden sich an mein Aussehen erinnern!“
„Mm, in jedem Groschenroman steht, dass sich die Leute verkleiden. Das könnte man auch tun. Eine Brille, ein Hut und ein Schnauzer unter der Nase machen da schon viel aus.“
„Ob das gut geht?“
„Sicher. Besser ist auf jeden Fall eine Detektei in einer anderen Stadt.“
Befreit lehnte er sich nach hinten und nahm einen tiefen Zug. Das funktioniert! dachte er. Das funktioniert sicher! Solange ich nicht durch einen anonymen Brief an die Zeitungen die Verantwortung für die Taten übernehme, werden sie mir nicht auf die Schliche kommen können!
Er erhob sich, um zum Bücherschrank zu gehen. Dort zog er die „Tote am See“ heraus und blätterte in dem Buch. Dieser Marlowe fand jeden Übeltäter, er war ein wirklich guter Detektiv, und sicher würden auch die Männer einer Detektei die Leute, deren Namen er aus den Zeitungen erfuhr, mit Leichtigkeit aufspüren können. Sorgfältig stellte er das Buch wieder an seinen Platz zurück und saß dann mit geschlossenen Augen im Sessel.
Der nächste, der sterben würde, hieß Streibele, der Zuhälter.
Aber ihm würde es gefährlich werden, denn Zuhälter hatten immer Freunde, waren organisiert. In Dresden hatten sie sogar den Führer der Rechtsradikalen erschossen. Aber der Gedanke reizte ihn auch, denn er würde auf gewaltbereite Gegner treffen. Und er wusste, dass hier ganz besondere Vorsicht nötig war.
Es war früher Vormittag.
Horstmann hatte länger geschlafen als gewöhnlich, als er an diesem Tag das Haus verließ, um zum Zeitungskiosk zu gehen.
Frau Zech traf er auf der Treppe seines Hauses, als er, die Bild unter den Arm geklemmt, zurückkehrte.
Viel wusste er nicht von Frau Zech, nur, dass sie drei Kinder hatte, von ihrem Mann nach der Wende verlassen worden war und keinen Unterhalt erhielt. Offensichtlich war von ihrem Mann die neue Freiheit sehr frei ausgelegt worden. Aber vielen Frauen ging es ja ebenso. Nun arbeitete sie im Lager bei einem Bauunternehmer aus München, der eine Firma in Leipzig gegründet hatte, Centri - Wohn- und Gewerbebau.
Obwohl Frau Zech erst Anfang vierzig war, wirkte sie, wohl auch durch ihre Körperfülle, wesentlich älter. Aber sie besaß ein gütiges Gesicht, und etwas wie eine leichte Melancholie umgab sie.
Heute sah er sie mit verweinten, rot geränderten Augen.
„Nanu, Frau Zech, was ist denn passiert? Hat einer ihrer Jungs Mist gebaut?“, fragte er, da er nicht einfach an ihr vorbeigehen wollte, nur mit einem nickenden Gruß wie gewöhnlich, obwohl er keine Lust auf ein Gespräch verspürte.
„Denken Sie nur, Herr Horstmann“, schluchzte Frau Zech, „da schuftet man Tag für Tag und kriegt seit Monaten keinen Lohn. Ich bin am Ende. Wenn ich die Jungs nicht hätte, würde ich den Strick nehmen, aber der Henri ist ja erst zehn.“ Und die Tränen liefen über ihr Gesicht.
Horstmann runzelte die Stirn. „Aber er muss Ihnen doch Lohn zahlen, sein Geschäft läuft doch?“
Frau Zech winkte resigniert ab. „Alle warten sie auf ihr Geld. Wir in der Firma, die Handwerker, die für ihn arbeiten, die Speditionen, die Telekom. Aber auch alle gucken in die Röhre. Dieser feine Herr aus München zahlt einfach nicht. Er zieht uns alle über den Tisch.“
Hilfe suchend blickte sie Horstmann an. „Da sollte es sogar einen Prozess geben gegen den Schweinehund, und was passiert, Herr Horstmann? Da kommt irgend so ein Arzt und erklärt, die Schuldfähigkeit dieses ehrenwerten Herrn Fechner müsse erst untersucht werden. Und der Prozess platzt. Denken Sie nur, Herr Horstmann. Er platzt!“
Mit einem Taschentuch rieb sie sich die Tränen von den Wangen.
Frauentränen mochte Horstmann nicht, sie machten ihn weich und wehrlos.
Schluchzend fuhr sie fort: „Hunderttausende soll er auf ein Privatkonto gebracht haben. In der Schweiz. Und mit Drogengrundstoffen soll er auch gehandelt haben. Nun sitzt er in seiner feinen Wohnung, dreht Däumchen und lacht uns alle aus. Und keine Macht der Welt kann ihm was anhaben. Keine. Das Gesetz schützt ihn sogar noch.“
Horstmann kaute auf seiner Unterlippe. „Mm“, machte er.
Und er dachte: Einer kann ihn bestrafen, so, dass sein ganzes Geldscheffeln umsonst war.
„Wo wohnt denn dieser feine Herr?“, fragte er lauernd.
„In der Lindenthaler Straße.“
„Das ist ja bei uns in der Nähe“, sagte Horstmann.
Frau Zech begann wieder zu weinen. „So einen Abzocker trifft es nie. Deutsches Recht ist eine Lachnummer.“
Nachdenklich glitt sein Blick über die schluchzende Frau. „Ja“, sagte er gepresst.
Dieses Schwein müsste einfach verschwinden, dachte er, als ob er sich abgesetzt hat. Die Polizei kann suchen, bis sie schwarz wird.
„Es ist schon schlimm“, sagte er und legte seine Hand beruhigend auf die Schulter der weinenden Frau. „Aber jeder trägt heute sein Kreuz, Frau Zech.“
Am schwersten ist es für Frauen ohne Mann, dachte er. Wie sollen die klarkommen in der Zeit heute. Wenig Geld, und das Leben wird ständig teurer.
Ich werde ihn richten, schoss es ihm durch den Kopf. Ich - Satans tötende Faust.
Am nächsten Tag schlief er bis um zehn. Leichte Kopfschmerzen quälten ihn, als er in das Bad ging, um sich kalt zu duschen. Dann seifte er sich den Hals ein, zog die Klinge vom Kinn herab bis zum Hals, beobachtete im Spiegel sein Gesicht, das ihm nicht anders schien als sonst, und nach dem Abspülen cremte er die Haut sorgfältig ein.
Karin erwartete ihn bereits in der Küche. „Du bist heute wieder spät dran“, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Mm“, knurrte er.
Dann aß er zwei Scheiben Weißbrot mit Schinken und ein weiches Ei. Karin hatte die Bild bereits geholt, sie lag neben seinem Teller. Karin selbst las nur die Leipziger Volkszeitung. Diese Zeitung war ihm zu dick, die Bild war leichter zu lesen, und man erfuhr auch alles über Leipzig. Kauend blätterte er die Zeitung durch.
Drei Schlagzeilen fielen ihm auf der Seite drei auf: Altenheim - Skandal nur Spitze des Eisbergs
In weiteren drei Heimen wurde geplündert
Wehe, wenn du alt wirst in Leipzig
Bedächtig trank er seinen Kaffee, als er den Text las: