Scepter und Hammer - Karl May - E-Book
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Karl May

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Beschreibung

Dieses eBook: "Scepter und Hammer" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Neben der verfallenen Gestalt der alten Wahrsagerin hob sich vor seinem geistigen Auge die Erscheinung der Prinzessin wie ein lichtes, glanzvolles Phänomen ab, dessen Strahlen unter den Lidern hindurch bis hinab in die tiefste Seele dringen. Er hatte die süßen, beglückenden Regungen der Liebe noch nie empfunden; es entging ihm also der Maßstab für die wunderbare Stimmung, in welche er sich seit heute versetzt fühlte, und er ließ, halb sinnend, halb träumend, mehr noch aber empfindend, die Erinnerung an das eigenthümliche Erlebniß ungestört auf sich einwirken." Karl May (1842-1912) war ein deutscher Schriftsteller. Karl May war einer der produktivsten Autoren von Abenteuerromanen.

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Karl May

Scepter und Hammer

e-artnow, 2017 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-273-0170-6
Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel: Die Zigeunerin.
Zweites Kapitel: Belauscht.
Drittes Kapitel: Die Brüder Jesu.
Viertes Kapitel: Im Hause der Irren.
Fünftes Kapitel: An der Grenze.
Sechstes Kapitel: Der Beginn des Kampfes.
Siebentes Kapitel: Schachzüge
Achtes Kapitel: Almah.
Neuntes Kapitel: Der tolle Prinz.
Zehntes Kapitel: Vor Jahren.
Elftes Kapitel. Paroli.
Zwölftes Kapitel: Ein Rückblick.
Dreizehntes Kapitel: Vom Reïs zum Kapudan Pascha.
Vierzehntes Kapitel: Der schwarze Kapitän.
Fünfzehntes Kapitel: Am Vorabend.
Sechzehntes Kapitel: Kampf und Sieg.

Erstes Kapitel: Die Zigeunerin.

Inhaltsverzeichnis

Auf der breiten Chaussee, welche durch das Dorf nach der Residenz führte, schritt ein junger Mann dahin.

Er mochte kaum mehr als zweiundzwanzig Jahre zählen, obgleich über seinem ganzen Wesen der Ausdruck des Charaktervollen, des innerlich und äußerlich Vollendeten lag. Seine hohe, kräftige Gestalt, die elegante Sicherheit seiner Bewegungen, die männlich schönen Züge seines von der Röthe der Gesundheit überhauchten Angesichtes konnten gewiß nur einen angenehmen Eindruck hervorbringen, und selbst das kleine, wohlgepflegte Bärtchen, welches seine vollen Lippen beschattete und in jedem anderen Antlitze stutzerhaft erschienen wäre, schien hier zur Gesammtwirkung unbedingt nothwendig zu sein. Er trug einen feinen, gewiß von einem besseren Tailleur gefertigten Promenadenanzug, und der goldene Zwicker, welcher den Blick seines Auges verschärfte, hatte seinen Sitz sicher nicht durch die schädliche Mode erhalten, durch das Tragen von Augengläsern ein vornehmes oder gelehrtes gewinnen.

Zu beiden Seiten reihte sich, hinter schattigen Vorgärten halb verborgen oder anspruchsvoll bis an die Straße tretend, Villa an Villa. Zwischen zweien derselben lag, frappant von ihrer Architektonik abstoßend, ein kleines einstöckiges, schwarz geräuchertes Häuschen, durch den hohen Schornstein, das über der Thür angebrachte Wetterdach und mehrere umherliegende, der Reparatur harrende Geräthschaften deutlich als Schmiede bezeichnet.

Vor derselben hielt in diesem Augenblicke ein leichter Wagen. Es fehlte ihm der Kutscherbock; er mußte also wohl aus dem Fond gelenkt werden, und dies war heut jedenfalls nicht ganz fehlerlos geschehen, denn es zeigte sich die hintere Achse zerbrochen, und ein reich gallonirter Diener stand zu Häupten des dampfenden Gespannes, äußerst bemüht, dasselbe zu beruhigen. Die Insassen waren ausgestiegen. Es war nur ein Herr und eine Dame. Der Erstere trug Generalsuniform, obgleich er kaum das fünfundzwanzigste Jahr zurückgelegt haben konnte. Er hatte jenes Exterieur an sich, welches man sich nur in den höheren Kreisen anzueignen ruhig:

"Keine Sorge, Durchlaucht! Ich wußte mich mitten in der Gefahr unter dem starken Schutze eines Ritters, dessen ausgezeichneter Rang ja schon genügt, das höchste Vertrauen zu beanspruchen."

Der General verbeugte sich dankend, aber sein Blick ruht unklar und forschend auf ihrem Angesichte. War es Wahrheit, was sie sagte, oder hatte sie sich trotz ihrer Jugend schon jene feine Schärfe angeeignet, welcher es leicht wird, den Verweis nur für die Ahnung auszusprechen? Sie sah ihm so offen in das vornehm blasirte Gesicht, und doch spielte ein Lächeln um ihren kleinen Mund, welches er fast geneigt war ironisch oder gar sarkastisch zu nennen. Er entschloß sich zu einer weiteren Vertheidigung:

"Ein ächter Ritter, auf sich selbst angewiesen, wird stets ohne Furcht und Tadel sein; hat er aber mit den Eigenschaften unvernünftiger und schlecht erzogener Wesen, wie diese beiden Rappen sind, zu rechnen, so kann er allerdings in die höchst fatale Lage kommen, auf Verzeihung rechnen zu müssen."

"Excellenz haben jedenfalls ein kompetenteres Urtheil als mein Stallmeister, welcher allerdings behauptet, daß die Rappen eine ausgezeichnete Schule besitzen. Jedenfalls fürchtete er dieses Urtheil, als er bat, einen anderen Wagen zu nehmen und ihm die Führung desselben zu überlassen. Übrigens war das Intermezzo mehr amüsant als gefährlich, und selbst die Fatalität, den Schmied nicht anwesend zu finden, hat die angenehme Folge, mich auf eine verlängerte Frist auf die Dienste meines edlen Ritters angewiesen zu sehen."

Wieder hatte sein Auge jenen forschenden, beinahe stechenden Blick wie vorhin. Hatten ihre Worte vielleicht den Zweck, ihm die Überlegenheit eines Stallmeisters begreiflich zu machen? Dann war das zarte Frauengebild vor ihm allerdings mehr erwachsen und gereift, als er angenommen hatte. Seine äußern Augenwinkel zeigten einige leichte Fältchen, als er fortfuhr:

"Könnten diese Dienste doch von ewiger Dauer sein, meine gnädige Prinzeß! Aber man wird in Angst um Euer Hoheit sein. Ich muß den Wagen hier zurücklassen und einen anderen requiriren."

Er wandte sich an die Frau des abwesenden Schmiedes, welche, Auskunft ertheilend, bisher unter dem Eingange gestanden hatte.

"Also der Meister kommt erst am Abende zurück?"

"Ja."

"Und Sie haben Niemand, der die sofortige Reparatur ausführen könnte?"

"Nein. Der Lehrjunge, welcher beim Nägelschlagen ist, bringt das nicht fertig."

"So giebt es vielleicht in der Nähe einen anständigen Wagen, den man sich leihen kann?"

"Allerdings. Aber - Grüß Gott, Herr Doktor!" unterbrach sie sich. "Prächtiges Wetter zum Spazieren. Nicht?"

Diese Worte waren an den mittlerweile herangekommenen Fußgänger gerichtet, welcher im Begriffe gestanden hatte, grüßend vorüberzuschreiten, jetzt aber, den Hut ziehend, näher trat. Die Frau streckte ihm halb vertraulich, halb respektvoll die Hand entgegen.

"Der Herr Pathe wollte wohl gar vorübergehen?"

"Um nicht zu stören."

"Stören? Es findet ja das gerade Gegentheil statt! Diese Herrschaften haben die Achse zerbrochen; mein Mann ist nicht da, und drüben der Sommergast, der Engländer, borgt seinen Wagen keinem Menschen als nur dem Herrn Doktor. Da könnte der Herr Pathe helfen, wenn er so gut sein wollte."

"Mein Freund, Lord Halingbrook, ist leider nach der Stadt gefahren; er begegnete mir, und in der Nähe wird es einen Wagen weiter nicht zur Verfügung geben. Doch wenn Herzogliche Hoheit" - er verbeugte sich höflich aber gemessen vor dem Generale - "gestatten, werde ich Dero Wagen in kurzer Zeit gebrauchsfähig herstellen. Hat der Herd Feuer?"

"Ja; der Junge braucht es zum Nägelmachen."

"So mach die Frau Pathe es den Herrschaften bequem. Ich werde sofort an die Arbeit gehen."

Er trat an die Schmiede, zog den Gehrock aus, streifte die Wagens.

"In einer halben Stunde werden Durchlaucht fahren können," lautete seine Entscheidung.

Beide, sowohl der General als auch die Dame, hatten den Vorgang mit sichtlicher Verwunderung verfolgt. War dieser so distinguirt aussehende Mann, welcher den Doktortitel führte, wirklich im Stande, eine zerbrochene Wagenachse zu repariren? Die Schmiedin hatte ihn Pathe genannt; er konnte also von keinem ungewöhnlichen Herkommen sein, und doch war er Freund des Lord Halingbrook, eines stolzen, exklusiven Engländers, welcher als Gesandter seiner Königin Zutritt beim Hofe hatte. Das war ein Räthsel, für welches sich besonders die Dame zu interessiren schien.

Sie beobachtete jede seiner Bewegungen mit Aufmerksamkeit und machte dabei die Bemerkung, daß er eine ungewöhnliche Körperstärke besitzen müsse. Die Pferde waren im Nu aus gespannt, und dann hantirte, hob und schob er an dem Wagen, als ob er ein leichtes Kinderspielzeug in den Händen habe. Dann ertönten aus der Schmiede mächtige Hammerschläge, so daß die Funken durch den Eingang auf die Straße stoben.

Die Schmiedefrau hatte ein Tischchen mit zwei Stühlen, auf welchen die Herrschaften Platz nahmen, vor das Haus gesetzt.

"Wie nennt sich der Herr, welcher sonderbarer Weise Arzt und Schmied zu gleicher Zeit ist?" frug die Dame.

"Arzt? Nein, das ist er nicht, sondern Doktor der Jurisprudenz," antwortete die Gefragte mit sichtlichem Stolze.

"In seinem Alter? Welche Stellung bekleidet er?"

"Keine; er hat das nicht nothwendig und sagt, es hindere ihn am Weiterlernen. Er ist der Sohn vom Hofschmied Brandauer; ich habe mit dem König und dem Lord Halingbrook Pathe bei ihm gestanden."

"Ah, die gewöhnliche Bettelei durch Gevatterbrief, der man leider so oft ausgesetzt ist!" dehnte der General geringschätzig.

Das Gesicht der Schmiedefrau röthete sich ein wenig.

"Darf ich fragen, wer der Herr Offizier ist?"

"Ich bin der Prinz von Raumburg und General. Diese Dame ist die Prinzeß Asta von Süderland, königliche Hoheit."

Er schien mit dieser Vorstellung einen dominirenden Eindruck beabsichtigt zu haben, hatte sich aber geirrt, denn die Frau erschrak nicht im mindesten, sondern wandte sich mit einer allerdings freudig überraschten Miene an die Prinzessin.

"Das ist schön, Hoheit, daß ich Sie einmal sehe! Der Herr Pathe hat uns immer sehr viel Gutes und Löbliches von Ihnen und Ihrem Herrn Vater, dem König, erzählt. Er hat ein gar scharfes Auge für die Politik und wäre wohl auch als Offizier an seinem Platze. Die Majestät verkehrt sehr viel in der Hofschmiede und hat immer verlangt, daß er Dienst nehmen soll; aber er hat niemals gewollt."

"So kennt er mich?"

"Nein; er hat Sie noch nie gesehen; aber den Herrn General hier kennt er."

"So hat er auch von mir gesprochen?" frug dieser mit beinahe wegwerfender Belustigung.

"Sehr oft!"

"Doch auch nur Gutes und Löbliches, wie ich wohl erwarten darf?"

Sie zögerte einen Augenblick; dann antwortete sie:

"Ja, Gutes, denn er hat erzählt, daß der Herzog von Raumburg, Ihr Vater, einst unser König wird, wenn der jetzige stirbt, der keine Kinder hat. Aber sagen muß ich Ihnen doch, daß die Gevatterschaft damals keine Bettelei war. Der König und der Lord haben sich ja beide selbst angeboten, und der Hofschmied hat gehorchen müssen; aber darauf hat er bestanden, daß ich dabei sein müsse, und das ist den hohen Herren auch ganz recht gewesen. Unsere Majestät ist eben ein sehr lieber Herr, der nur das Beste seiner Unterthanen will und Alle seine Kinder nennt. Gott gebe es, daß es später nicht anders wird.!"

Der General schien zu einem scharfen Worte bereit, hielt es aber zurück, da eine fremdartige Erscheinung sich der Schmiede näherte und die Anwesenden grüßte.

Es war eine alte Frau. Sie ging vollständig barfuß, trug einen einzigen Rock von grellrother Farbe, um die Schultern einen gelben, arg beschmutzten Überwurf und hatte ein blaues Tuch turbanartig um den Kopf geschlungen. Ihr Teint war tiefbraun; zahlreiche Runzeln durchfurchten ihr Gesicht, in welchem eine scharfe Nase über einem spitzen Kinne thronte, und ihre Gestalt lag gebeugt auf dem Stocke, auf den sie die beiden Hände stützte. Als Nordländerin hätte man sie über sechzig Jahre alt schätzen hatte.

Sie zeigte bei dem Anblicke des Offiziers nicht die mindeste Verlegenheit. Ihn und die Anderen mit scharfem Auge musternd, grüßte sie mit einer beinahe stolzen Handbewegung und frug:

"Hat der goldige Herr eine kleine Gabe übrig für Zarba, die Zigeunerin?"

Er warf höchst indignirt den Kopf zurück.

"Geh! Ihr und das Betteln seid im Land verboten."

Sie trat ihm um einen Schritt näher und bohrte den scharfen Blick ihres großen, dunklen Auges forschend in sein Gesicht.

"Wie? Der Herr Offizier heißt mich gehen? Gab es nicht eine Zeit, in welcher Zarba, die Vajdzina ihres Stammes, selbst Fürsten willkommen war? Ich kenne Dein Gesicht und Deine kalten Augen, denen nur der Stolz und Hochmuth ein Leben gibt. Du bist der Sohn eines Herzogs und trachtest nach Scepter und Krone. Aber Du hast die Zingaritta von Dir gewiesen, und so wird Dein Aufgang sein wie der Tritt des Elephanten, der Alles zermalmt, Dein Ende aber wie der Tod des Wildes, das im finstern Dickicht stirbt, einsam, verlassen und vom Blute triefend!"

Sie hatte sich gerade emporgerichtet, so hoch ihre Gestalt es erlaubte. Die Rechte auf den Stock gestützt, hielt sie die Linke wie beschwörend in die Höhe. Ihre Augen leuchteten, die Falten ihres Gesichtes hatten sich geglättet, und ihre Worte drangen zischend durch die elfenbeinernen Zähne, welche zwischen den dünnen, zusammengeschrumpften Lippen hervorglänzten. Bei all ihrer jetzigen Häßlichkeit ließ sich vermuthen, daß sie früher wohl ein schönes Mädchen gewesen sei.

Der Prinz war aufgesprungen. Auch sein Auge blitzte. Von Wuth übermannt ergriff er sie beim Arme.

"Weib, Hexe, soll ich Dich zermalmen?"

Auch die Prinzessin hatte sich erhoben. Ihr milder, verwunderter Blick traf sein Auge. Er nahm die Hand von der Zigeunerin und wandte sich zur Schmiedin.

"Schicken Sie sofort Ihren Lehrling nach der Polizei. Diese Landstreicherin wird arretirt!"

In diesem Augenblicke trat Doktor Brandauer aus der Schmiede, den großen Zuschlagehammer in der Hand. Die Zigeunerin sah ihn; ihr Auge schien dreifache Schärfe zu gewinnen, und über ihr erregtes Gesicht glitt ein Zug der Überraschung. Mit zwei raschen Schritten stand sie vor ihm.

"Du bist Max, der Sohn aus der Hofschmiede?"

"Ja," antwortete er verwundert.

"Ich bin Zarba, die Zingaritta."

"Zarba? Ists möglich!" rief er, während die freudigste Überraschung sein offenes Gesicht erhellte. "Endlich, endlich wird unser größter Wunsch erfüllt. Du mußt mit zum Vater!"

"Zarba darf Dir nicht folgen."

"Warum nicht?"

"Sie soll arretirt werden."

"Warum?"

"Weil sie den hohen Herrn in die Zukunft blicken ließ."

"Der Herr General wird Dich nicht arretiren lassen. Du gehst mit mir!"

Diese Worte wurden mit einer Bestimmtheit gesprochen, von welcher sich der Prinz beleidigt fühlte.

"Oho!" meinte er. "Ich habe die Arretur befohlen und werde mir Gehorsam zu verschaffen wissen!"

Den schweren, eisernen Hammer wie federleicht in der Hand schwingend, blickte ihm Brandauer lächelnd in das Angesicht.

"Durchlaucht, ich bitte unterthänigst, diese Frau freizugeben."

"Ich habe keine Veranlassung, meinen Befehl zurückzunehmen."

"Und ich erbat aus Höflichkeit, was ich nicht zu erbitten brauchte. Es hat hier Niemand Veranlassung, Ihren Befehlen Gehorsam zu leisten. Wir gehören weder zur Polizei noch zu Ihrer Dienerschaft, und Zarba steht unter meinem ganz besonderen Schutze. Wollen Sie mich zwingen, sie Ihnen zu entziehen, ohne die Reparatur vollendet zu haben?"

"Wir werden uns eines anderen Wagens bedienen!"

Da trat die Prinzessin zu dem Doktor.

"Herr Doktor, vollenden Sie das Begonnene. Asta von Süderland bittet Sie darum!"

Ein Blitz seines Auges leuchtete an ihr empor.

"Königliche Hoheit, dieser Wunsch ist mir allerdings Befehl. Ich lasse mich von keinem Herrscher kommandiren; aus solchem Munde aber genügt ein Wort, mich zu willfährigsten Ihrer Diener zu machen. Zarba, geh in die Stube, und warte, bis ich fertig bin!" glänzte.

"Das Volk der Brinjaaren und Lampadaaren hat Indien verlassen, weil Bhowannie, die Göttin, es ihm gebot. Es irrt im fremden Lande und hat weder Ruhe noch Rast, bis der Wunderbaum gefunden ist, an welchem es sich versammelt, um die Erde zu beherrschen. Zarba ist eine Tochter ihres Stammes; sie darf nicht ruhen, wenn der Geist sie treibt. Sie muß gehen; aber Du wirst sie wiedersehen, noch ehe die Sonne dreimal untergegangen ist. Gieb mir Deine Hand!"

Sie nahm seine Linke, warf aber kaum einen kurzen Blick in dieselbe. Ihr Auge suchte das Weite und haftete dort mit einem Ausdrucke, als thäten sich ihm die Pforten der Zukunft auf, um ihn die Gestalten späterer Zeiten schauen zu lassen. Dann sah sie ihm fest in das erwartungsvoll lächelnde Angesicht.

"Der Geist ist allwissend, aber das Auge des Menschen ist schwach; doch wenn der Geist es stärkt, dann werden vor ihm Dinge offenbar, die es sonst nicht zu erblicken vermag. Du wirst nicht glauben, was Dir Zarba sagt, und dennoch wird es sich erfüllen. Deine Hand ist stark, den Hammer zu schwingen; sie bedarf dieser Stärke, um später das Scepter zu halten. Scepter und Hammer wird die Losung Deines Lebens sein. Du wirst Liebe säen und Feindschaft ernten; aber Deine Faust wird wie ein Hammer auf die Häupter Deiner Feinde fallen und ihnen die Kronen entreißen, die sie Dir zu rauben trachteten. Ich sehe Dich mit hochgeschwungener Keule mitten unter ihnen; ich sehe sie stürzen und sterben oder um Gnade flehen; ich sehe Dich hoch über ihnen, und an Deiner Seite -"

Sie hielt wie unter dem Eindrucke eines unerwarteten Gesichtes plötzlich inne und ergriff dann mit einer schnellen Bewegung die Hand der Prinzessin, welche in der Nähe stehen geblieben war. Dann fuhr sie in dem vorigen Tone fort:

"Ich sehe Dich hoch über ihnen, und an Deiner Seite den Engel Deines Lebens, den Du gefunden hast, als Du den Hammer hieltest, und der Dir treu bleibt, auch wenn Du das Scepter trägst. Glaube es Zarba nicht, aber sage ihr später, daß sie Dir die Wahrheit verkündete!"

Sie gab die beiden Hände frei, wandte sich um, und war mit größerer Schnelligkeit, als man ihr zugetraut hätte, auf dem schmalen Pfade, welcher zwischen der Schmiede und der nächsten Villa in das Freie führte, verschwunden. -

Zweites Kapitel: Belauscht.

Inhaltsverzeichnis

Es war am Abende desselben Tages. Max Brandauer saß in dem Zimmer der Hofschmiede, welches ihm die Eltern als Studirstube überwiesen hatten, und versuchte, seine Gedanken auf die Lektüre einer militärwissenschaftlichen Abhandlung zu konzentriren. Es gelang ihm nicht, denn immer kehrten dieselben zu der heutigen Begegnung zurück.

Zunächst fesselte die Erscheinung der Zigeunerin seine Aufmerksamkeit. An ihren Namen knüpften sich Thatsachen und Erinnerungen, welche auf die ersten Tage seiner Kindheit, seines Lebens zurückführten. Er hatte sie als fünfjähriger Knabe ein einziges Mal gesehen; damals hatte sie in der Zeit des Nachsommers gestanden und eine immerhin noch anziehende Persönlichkeit gebildet. Sie war plötzlich verschwunden, ebenso schnell und unerwartet, wie sie gekommen war. Dann hatten die Eltern ihrer geharrt eine ganze Reihe von Jahren, und nun heut war sie wieder erschienen, ob nur für den einen Augenblick, ob für längere Zeit, ob aus oberflächlichen, gewöhnlichen Gründen oder zur Lösung der Räthsel, die mit ihrem früheren Auftreten verbunden waren - wer konnte das wissen?

Er hatte den Eltern von der Begegnung erzählt und von der Mutter einen linden Verweis erhalten, daß er sie wieder aus den Augen gelassen hatte. Der Vater aber war ruhig geblieben in der festen Überzeugung: "Sie kommt sicher, wenn sie es wirklich gewesen ist!"

Neben der verfallenen Gestalt der alten Wahrsagerin hob sich vor seinem geistigen Auge die Erscheinung der Prinzessin wie ein lichtes, glanzvolles Phänomen ab, dessen Strahlen unter den Lidern hindurch bis hinab in die tiefste Seele dringen. Er hatte die süßen, beglückenden Regungen der Liebe noch nie empfunden; es entging ihm also der Maßstab für die wunderbare Stimmung, in welche er sich seit heute versetzt fühlte, und er ließ, halb sinnend, halb träumend, mehr noch aber empfindend, die Erinnerung an das eigenthümliche Erlebniß ungestört auf sich einwirken. schmauchen.

Unweit von ihnen hockten die zwei Lehrjungen auf umgestürzten Wagenrädern, in der löblichen Absicht, von dieser Unterhaltung so viel wie möglich wegzuschnappen hätte.

"Ja," meinte Thomas, der Obergeselle, "der junge Herr ist nun wieder da, und nun giept es zuweilen doch eine Plaisir, pei der man mitmachen darf. Alle Tage eine Fechtübung mit Rappier, Floret, Hieper und Stoßdegen, am Apend eine Wasserfahrt oder -"

"Oder ein Glas Doppelwachholder mit Ambalema," fiel ihm der Zweite in die Rede.

"Ja, das ist am Den!" stimmte der Dritte bei.

Die drei Gesellen waren nämlich durchweg Originale. Alle drei hatten gedient, Thomas bei der Reiterei, Baldrian bei den Grenadieren und Heinrich bei der Artillerie; Jeder von ihnen hatte Seidenmüller.

Dabei hatte Jeder von ihnen, wie man zu sagen pflegt, seine zweifeln.

Thomas schien die Unterbrechung seiner Rede nicht belobigen zu wollen; er stieß heftig einen Mund voll Rauch in die Luft und meinte:

"Haltet den Schnapel, Ihr Kerls! Was geht Euch mein Doppelwachholder an oder gar meine Lieplingscigarre? Ampalema ist nun einmal das beste Deckplatt, was es giept, das ist nicht apzustreiten. Hapamos, Capalleros, Londres, Patavia, Puros, Alles, Alles ist nichts gegen die ächte Ampalema. Der Herr Meister raucht nur solche, und da ist es unsere Schuldigkeit, ganz dasselpe auch zu thun. Üprigens hapt Ihr mich nicht irre zu machen, wenn ich vom jungen Herrn erzähle. Heut Apend soll ich ein Stück den Fluß hinaprudern, und Ihr könnt es gar nicht glaupen, wie gern ich das thue. Da liegt er still im Kahne, hat die Augen zu und sagt kein Wort; aper ich weiß, daß er gerade da am meisten sinnt und studirt. Und wenn wir dann zurückkommen und er gipt mir die Hand und sagt: "Heut war's wieder schön; Hap Dank, mein lieper Thomas!" so könnte ich ihn umarmen, wenn er dazu nicht gar zu gelehrt und vornehm wäre. Er hat so etwas an sich, was ich nicht pei dem rechten Namen nennen kann, was einem das Herz raupt und doch gewaltig in Respekt versetzt. Ich hape einmal ein Theaterstück gesehen, das hieß "der verwischte Prinz," und -"

"Der verwunschene Prinz," wagte hier Fritz, der eine Lehrjunge, zu verbessern.

"So kommt es Dir allemal vor, als ob er der Schuster sei und Du der Prinz," unterbrach ihn Heinrich.

"Du sollst mich nicht in meiner schönsten Rede unterprechen; ich weiß sonst zuletzt gar nicht mehr, wo ich wieder anzufangen hape!"

Baldrian.

"Also, dieser Prinz, der ein Schuster war -"

"Thomas!" rief in diesem Augenblicke Max durch das geöffnete Fenster herab.

Der alte Unteroffizier erhob sich in kerzengerade Stellung.

"Zu Pefehl, Herr Doktor!"

"Bist Du fertig?"

"Allemal!"

Er strich das Haar glatt, schob die Mütze zurecht und knüpfte den Rock zu. Dann reichte er dem Lehrjungen die Pfeife hin.

"Da Fritz; trage sie hinauf in meine Kammer, weißt's schon, an welchen Nagel! Im Herrendienst ist das Tapakrauchen ordonnanzwidrig."

Nach einigen Minuten kam der Doktor herab.

"Wir gehen durch den Garten, Thomas; wir kommen da näher."

verrathen.

"Herr Doktor!"

"Was?"

"Erlaupen Sie mir eine Seitenschwenkung! Dort sitzen die peiden Hallunken und peißen mir die Pfeifenspitze entzwei."

Er schlich sich näher und hatte bald die beiden Missethäter bei den Haaren.

"Was macht Ihr da mit meiner Pfeife, Ihr Schlingels! Ist das hier etwa meine Kammer, he? Da und da, hapt Ihr eine Ohrfeige als Apschlagsgeld; die Hauptsumme kommt nach, wenn ich wieder zu Hause pin. Jetzt hape ich keine Zeit, denn zu so etwas gehört die richtige Muse und Gemüthlichkeit!"

Er steckte die Pfeife zu sich und eilte dem Doktor nach.

Dieser hatte bereits den Fluß erreicht, welcher in der Nähe des Gartens vorüberfloß. Am Ufer hing eine Gondel, welche dem Schmied gehörte. Sie stiegen ein und stießen ab. Die Fahrt ging stromabwärts. Thomas brauchte nicht zu rudern, und Max saß am Steuer, um den Kahn treiben zu lassen. Das Dunkel des Abends senkte sich nieder, und am Firmamente traten Tausende von Sternen hervor, welche die sich zur Ruhe rüstende Erde mit magischem Lichte bestrahlten. Sie fuhren am Palaste des Herzogs von Raumburg vorüber und erreichten dann das Palais, welches zur Aufnahme hoher Gäste erbaut war. Gegenwärtig bewohnte es der Erbprinz von Süderland, dem benachbarten Königreiche, mit Gemahlin und Schwester, welche die Residenz mit einem Besuche beehrten, dem man eine geheime, diplomatische Mission unterschob. Das prachtvolle Gebäude lag etwas vom Ufer zurück in einem Garten, welcher an den Fluß stieß und sich längs desselben zu einem wohlgepflegten Parke verbreiterte. Ein kleiner Landeplatz lag dem Gartenthor gegenüber; Max legte eine Strecke oberhalb desselben an.

"Bleib hier halten, Thomas, bis ich wiederkomme!"

"Der Zutritt ist hier verpoten, Herr Doktor!"

"Ich weiß es."

Trotz dieser Antwort aber stieg er aus und stand nach einem raschen Sprunge über das eiserne Staket hinweg im Garten. Es trieb ihn keine bestimmte Absicht an diesen Ort, und wäre er gefragt worden, so hätte er über sein Thun nicht die mindeste Rechenschaft zu geben vermocht. Das Menschenherz ist der unbegreiflichste Motor unserer Handlungen und verträgt keine Kontrole, als nur die eigene.

Er näherte sich dem Hause, von welchem nur wenige Fenster erleuchtet waren. Er beobachtete eines nach dem andern, doch kein Schatten wollte ihm die Anwesenheit Derjenigen zeigen, deren Bild ihn magnetisch herbeigezogen hatte. Da ließen sich Schritte im Kiese des Ganges vernehmen; er trat hinter ein Bosket. Zwei Damen nahten, in eifriges Gespräch vertieft. Sie waren Beide hell gekleidet, und ihre Gestalten hoben sich von dem dunklen Grunde des Gartens ab.

"So laß uns gegen diese Politik konspiriren, meine gute Asta," meinte die eine. "Du sollst ihr nicht zum Opfer fallen, denn dieser Prinz, er ist auch mir unsympathisch."

Mehr konnte er nicht vernehmen; aber er wußte nun, ohne darnach getrachtet zu haben, welcher Grund die königlichen Gäste herbeigeführt hatte. So lange er die Damen mit den Augen verfolgen konnte, blieb er stehen; dann kehrte er auf demselben Wege, den er gekommen war, zum Kahne zurück.

"Weiter hinunter?" frug Thomas.

"Ja."

Wieder begann die Wasserfahrt. Max saß still und träumte. Er sah wohl kaum irgend eine Parthie der beiden Ufer, welche im lichten Sternenscheine hüben und drüben lagen; er sah nur die lichte Gestalt, die an der Seite der fremden Kronprinzessin an ihm vorübergegangen war. Was hatte er mit ihr? Sie war die Tochter eines Königs und er der Sohn eines einfachen Schmiedes. Aber eine solche Reflexion gab es nicht in ihm. Er war ihr gefolgt wie dem Sterne, von welchem das Auge nicht lassen kann, obgleich er Billionen von Meilen hoch über der Erde steht.

So waren sie eine ziemliche Strecke abwärts gelangt, ehe er wieder umkehren ließ und mit zu dem Ruder griff; diese Arbeit that ihm wohl, es war, als wolle er das, was in ihm vorging, durch äußere Anstrengung zur Klärung bringen, und so flog der Kahn, von vier kräftigen Händen getrieben, mit genügender Schnelligkeit wieder stromaufwärts.

Sie hatten eben den Palast des Herzogs von Raumburg passirt, hätte.

"Dort kommt ein Engländer, Herr Doktor. Das ist einer vom Ruderklupp in seiner Nußschale. Wo mag der noch hinwollen?"

Es war einer jener kleinen Wellenstecher, welche mit Paddelruder fortbewegt werden und, wenn der Mann darin sitzt, kaum zwei Zoll Bordhöhe haben. Er kam vom andern Ufer herüber und konnte die beiden Männer, welche im Schatten der dichtbelaubten Bäume ruderten, nicht leicht bemerken.

"Ein eigenthümlicher Kerl," meinte Thomas, als ein zufälliger Lichtstrahl von drüben herüber auf das kleine Fahrzeug fiel. "Der sieht ja fast wie ein Türke aus: ein gelper Kaftan und ein plauer Turpan!"

Jetzt blickte Max genau hin. Seine Vermuthung bestätigte sich, es war die Zigeunerin, welche sich ein Boot vom Ruderklubb losgekettet hatte und jedenfalls auf einer geheimnißvollen Parthie begriffen war.

"Laß sie vorüber!"

"Zu Pefehl, Herr Doktor!" meinte Thomas, ein wenig befremdet über das "sie".

"So. Wir müssen unbemerkt folgen. Umgelenkt!"

Der verfolgte Kahn fuhr an dem Palaste vorüber und landete eine Strecke unterhalb desselben im Ufergesträuch, welches an den Garten stieß. Max befand sich mit seiner Gondel noch oberhalb des Gebäudes. Er legte das Steuer nach links herüber und landete auch.

"Thomas, willst Du ein Abenteuer mitmachen?"

"Ein Apenteuer? Ich pin allemal dapei!"

"Die dort im Kahne saß, ist kein Mann, sondern eine Frau."

"Eine Frau? Potz Tausend; was hat die hier zu suchen? Es muß doch pereits elf Uhr vorüper sein!"

"Es ist eine Zigeunerin. Sie will jedenfalls in das herzogliche Palais, und zwar heimlich, daher landet sie weiter unten."

"Dann muß sie durch den Garten."

"Allerdings. Wir müssen ihr zuvorkommen."

"Zu Pefehl, Herr Doktor! Ich pinde den Kahn hier an den Paum. So; da hängt er fest."

"Dann vorwärts; schnell!"

Sie eilten nach der hintern Front des Palastes und an derselben hinab bis zum Garten, der mit einer durchbrochenen Mauer umgeben war, die dem Übersteigen kein großes Hinderniß bot. Sie gelangten ohne Anstrengung hinüber. An dieser Seite des Gebäudes befand sich am erhöhten Parterre eine Veranda, welche sich zu einer in den Garten herabführenden Treppe öffnete. Hierher mußte die Zigeunerin kommen, wenn sie wirklich die Absicht hatte, welche Max vermuthete. Er steckte sich mit Thomas hinter ein dichtes Ziergesträuch und wartete.

Nach einiger Zeit kam eine Gestalt vorsichtig längs der im Dunkel liegenden Rasenrabatte herbeigeschlichen, blieb eine Minute lang lauschend stehen und huschte dann zur Treppe. Sie stieg aber dieselbe nicht hinauf, sondern bückte sich an der Seite derselben nieder und verschwand. Die Treppe schien die vordere Decke eines Kellers oder Gewölbes zu bilden, zu dessen Erleuchtung an den beiden Stützwänden je ein rundes Fenster angebracht war. Nach einigen Augenblicken leuchtete im Innern ein Lichtschein auf.

"Ich folge ihr. Bleibe zurück und halte Wache!"

"Sie hat den Rahmen aufgewirpelt und ist hinuntergestiegen. Ich hape Ihnen nichts zu befehlen, Herr Doktor, aper es ist vielleicht pesser, wenn Sie dapleipen. So eine Zigeunerin ist voll Teufelsspuk und Zauperei, was für keinen Menschen gut und heilsam ist. Vielleicht will sie gar einprechen und nachher - - ja da hapen wirs; da ist er schon hinein und hinunter, und wenn das die Hexe merkt, so kann es eine saupere Geschichte gepen!"

Wirklich war das Fenster aus der Öffnung entfernt, die so groß war, daß ein Mensch bequem einzusteigen vermochte. Max hatte den Boden, welcher in kaum halber Manneshöhe unter ihr lag, leicht erreicht. In einiger Entfernung vor ihm schimmerte das Licht. Er entledigte sich so schnell wie möglich seiner Stiefel und folgte. Zarba bewegte sich so langsam vorwärts, daß es keiner Anstrengung bedurfte, ihr so nahe zu kommen, daß er sich hart außerhalb des Scheines befand, welchen das von ihr getragene Licht verbreitete. Er konnte beinahe ihren Athem hören, während sie nicht die geringste Ahnung hatte, daß sie auf diesem geheimnißvollen Gange belauscht wurde.

Die Wölbung, in welcher sie sich befanden, war doch kein Keller, sondern sie bildete einen schmalen, niedrigen Gang, welcher in gerader Richtung bis auf die Mitte des Gebäudes führte und dort auf eine aufwärtsgehende Treppe mündete. Zarba stieg empor; stand.

Ohne wieder zu schließen, glitt sie langsam vorwärts. Max trat näher. Vor ihm lag ein ringsum mit hohen Bücherrepositorien besetztes Bibliothekzimmer, aus welchem eine schwere, grünstoffene PortiŠre in den nächsten Raum führte. Der geheime Eingang war durch eines der Büchergestelle, welches auf irgend eine Weise seine Beweglichkeit erhalten hatte, maskirt. Vom Plafond herab hing ein sechsarmiger Leuchter, dessen Lichter das Zimmer erhellten. In der Mitte des Letzteren stand eine lange Tafel, von oben bis unten mit Büchern und allerlei Skripturen belegt.

Zarba war an die PortiŠre getreten, deren beide Theile sie vorsichtig auseinanderzog, um einen Blick hindurchzuwerfen. Dann verschwand sie hinter derselben. Max wartete eine Weile; dann glitt auch er hinzu. Ohne den Stoff bemerkbar zu bewegen, machte er sich eine kleine Öffnung und blickte hindurch.

Vor ihm lag ein im höchsten Komfort ausgestattetes und von einer kostbaren Ampel erleuchtetes Arbeitszimmer. Die Zigeunerin hatte gemächlich auf einem Sammetfauteuil Platz genommen und eine kurze Thonpfeife hervorgezogen, welche sie aus einer Düte mit Tabak stopfte und dann in Brand steckte. Sie rauchte mit einem Behagen, als befinde sie sich in ihrem Eigenthume, und es hatte allen Anschein, als ob sie sich nicht sogleich wieder erheben werde.

Was hatte das Alles zu bedeuten? Wie kam die fremde, verachtete Bettlerin dazu, in dieser Weise die geheimen Räume des Herzogs zu kennen und aufzusuchen? Max nahm sich jetzt nicht die Zeit, sich diese und ähnliche Fragen vorzulegen; er mußte vor allen Dingen die Situation ausnützen. Er glitt zurück, um den Eingang zu untersuchen, und bemerkte zu seiner Beruhigung, daß derselbe von innen durch einen hinter den Büchern angebrachten Riegel, welcher mit dem äußeren Drücker in Verbindung stand, geöffnet werden konnte.

Jetzt fiel sein Blick auf die Büchertafel. Gerade vor ihm lag neben einigen eng mit Ziffern beschriebenen Papieren ein Blatt, welches die Aufschrift "Schlüssel" führte. Sollte es den Schlüssel für die geheime diplomatische Korrespondenz des Herzogs enthalten? Dieser war als entschiedener Gegner des gegenwärtigen Systems bekannt und stand mit den verschiedenen Höfen in direkter Beziehung. Es waren sogar schon öfters Gerüchte aufgetaucht von einer ebenso verborgenen wie kräftigen Agitation für die Abdankung des jetzigen Herrschers. Der Herzog war Generalissimus der Armee - hundert Gedanken durchzuckten den Doktor; er trat nochmals zur PortiŠre; die Zigeunerin saß noch in derselben ungenirten Haltung da und schmauchte ihren Stummel - schnell saß er auf einem Stuhle, zog sein Notizbuch und notirte Ziffer um Ziffer, Buchstaben um Buchstaben und Zeichen um Zeichen von dem wichtigen Blatte.

Eben war er damit fertig, als drüben ein halblauter Ausruf ertönte. Schnell trat er zur PortiŠre und blickte hindurch. Der Herzog war eingetreten und hatte den nächtlichen, geheimnißvollen Besuch bemerkt.

"Donner und Doria; wer ist das?!"

Die Zigeunerin machte nicht die geringste Miene, sich zu erheben. Sie that noch einen kräftigen Zug aus ihrer Pfeife und antwortete dann:

"Donner und Doria; er kennt Zarba, sein Weib nicht mehr!"

"Zarba!" rief er, sichtlich erschrocken und den Riegel vor die Thür schiebend. "Du lebst noch! Was willst Du? Hast Du vergessen, daß der Tod darauf ruht, wenn Du mein Haus betrittst?"

"Der Körper der Zingaritta ist gealtert, aber ihr Geist ist stark. Sie hat nichts vergessen, doch fürchtet sie Dich nicht. Sie lebt noch und wird nur dann sterben, wen Bhowannie es will. Wo hast Du meinen Sohn?"

"Er ist längst gestorben."

Jetzt erhob sie sich.

"Lügner!"

Er lächelte überlegen.

"Weib, nimm Dich in Acht, daß ich Dich nicht vernichte!"

"Mann, hüte Dich vor Zarba, der Zigeunerin! Als sie die Schönste war unter den Töchtern der Brinjaaren, hast Du sie bethört. Sie verließ ihr Volk, um bei Dir zu wohnen; aber Deine Schwüre waren Meineid, Deine Küsse Gift und Deine Liebe und Treue Betrug. Du raubtest mir den Sohn, Deinen und meinen Kind?"

"Gestorben."

"Gestorben? Ja, todt, mehr als todt! Sein Körper lebt, aber seit sechs Jahren mordest Du seinen Geist, dessen Stärke Allem widersteht. Wo ist mein Kind, mein Sohn? Im Irrenhause, von Dir eingekerkert und unter die Wahnsinnigen gesteckt, weil er weiß, daß ein Herzog sein Vater ist. Gieb ihn heraus!"

"Du selbst bist wahnsinnig!"

Sie trat von ihm zurück und sah ihm lange in das finstere Angesicht; dann ließ sie sich langsam auf das Knie nieder.

"Du hast das Herz eines Mädchens kennen gelernt, welches sein Volk, seinen Stamm, seinen Glauben, seine Eltern und Schwestern und Alles, Alles hingab, weil Du es wolltest; aber Du kennst nicht das Herz einer Mutter; es ist das Herz einer Löwin, welche den zerreißt, der ihr Junges rauben will. Denke zurück an unser Glück und sieh Zarba, wie sie jetzt vor Dir kniet! Sie fleht zu Dir um" - - -

"Halt!" unterbrach er sie streng, "kein Bühnenspiel! Dein Sohn ist todt für Dich. Du wirst ihn niemals wiedersehen!"

Sie erhob sich.

"Noch einmal bittet Zarba: Gieb ihn mir zurück!"

"Niemals!"

"So wird die Zingaritta Dich zu zwingen wissen! Sie wird vor allen Thüren erzählen und auf allen Gassen ausrufen, daß Du der Vater ihres Kindes bist!"

"Pah! Das wird zu verhindern sein."

"Meinst Du?" Ihre Züge nahmen jetzt einen Ausdruck des Hasses und der Entschlossenheit an, der doch den Hohn, welcher um seine Lippen spielte, verschwinden machte. "Meinst Du, Zarba fürchte sich vor Dir und Deiner Macht, Herzog von Raumburg? Du bist in ihre Hand gegeben wie der Fuchs in die Tatze der Löwin, und ein einziges Wort von ihr bringt Dich in Tod und Verderben!"

"Ah? Sprich dieses Wort!" gebot er, ungläubig und verächtlich lächelnd.

Sie trat ihm näher und raunte ihm zu:

"Es heißt: Prinzenraub!"

Er fuhr zurück.

"Landstreicherin, Du bist wahrhaftig wahnsinnig!"

"So höre weiter!"

Sie näherte sich ihm von Neuem und zischte ihm Worte entgegen, welche Max nicht verstehen konnte, weil sie leise gesprochen waren. Der Herzog war mit einem Male leichenblaß geworden; er vermochte nicht zu antworten.

"Nun? Du trachtest nach Thron und Krone; die Hand der Landstreicherin kann Dir Beides geben und Beides nehmen. Soll sie ihren Sohn wiederhaben?"

Er trat an das Fenster und starrte lange hinaus. Endlich drehte er sich zu ihr um.

"Hast Du bisher geschwiegen?"

"Ja."

"Schwöre es mir!"

"Ich schwöre es bei Bhowannie."

"So sollst Du Deinen Sohn sehen!"

"Nur sehen?"

"Und mitnehmen dürfen."

"Wann?"

"Wann Du willst."

"Morgen! Ich kenne das Haus, in welchem er wohnt."

"Gut. Ich werde Dir einen Befehl für den Direktor schreiben."

Er setzte sich und füllte ein herbeigezogenes und bereits mit Unterschrift und Siegel versehenes Blanket aus.

"Hier. Auf Vorzeigen dieser Schrift erhältst Du Einlaß in die Anstalt."

Ihr Auge ruht scharf auf ihm.

"Du wirst mich nicht betrügen?"

"Nein."

"So lebe wohl! Ich komme niemals wieder!"

Die Antwort des Herzogs konnte Max nicht vernehmen; er mußte sich zurückziehen. Doch wohin? In den Gang durfte er sich noch nicht wagen, da ihn die dort bewandertere Zigeunerin sicher eingeholt hätte; es blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich unter der Tafel zu verbergen, deren weit herabhängende Decke ihm sicheren Schutz gewährte.

Bibliothekzimmer.

"Lebe wohl für immer," sprach der Herzog, "und bedenke, daß meine Macht so weit reicht, als Euch Eure Füße tragen!"

Sie entfernte sich durch die geheime Thür, während er in sein Arbeitszimmer zurückkehrte.

Lange hörte Max ihn in demselben auf- und abgehen; dann erklang das leise Kritzeln einer Feder. Schon überlegte der Doktor, ob er sich auf alle Gefahr hin entfernen oder ruhig versteckt halten solle, bis der Herzog schlafen gegangen sei, als dieser sich erhob und heraus in die Bibliothek trat. Er schritt zur verborgenen Thür, öffnete dieselbe und stieg die Treppe hinab.

Jedenfalls wollte er sich überzeugen, ob die Zigeunerin das Fenster unten wieder verschlossen habe. Max vermuthete, was der Herzog soeben geschrieben habe; er hatte jetzt Gelegenheit, sich zu überzeugen, ob seine Ahnung richtig sei. Er eilte in das Arbeitszimmer, trat an den Schreibtisch und warf einen Blick auf das dort liegende und bereits vollendete Schriftstück. Es enthielt den Befehl an den Direktor der Landesirrenanstalt, die Zigeunerin Zarba als unheilbar wahnsinnig zu installiren, sobald sie erscheine, sich auf keinerlei Verhör mit ihr einzulassen und bei etwaiger Widersetzlichkeit die schärfsten Zwangsmaßregeln in Anwendung zu bringen. Eine eingehendere Instruktion sollte umgehend folgen.

"Schurke!" konnte sich der Doktor nicht enthalten auszurufen; dann kehrte er in sein Versteck zurück.

Er erreichte es gerade noch rechtzeitig, denn schon im nächsten Augenblicke trat der Herzog wieder ein und begab sich in das Nebenzimmer. Bald darauf wurde der Geruch von Siegellack bemerkbar, dann rückte ein Sessel, und die Außenthür zum Arbeitskabinet erklang. Der hohe, fürstliche "Schurke" hatte dasselbe jedenfalls verlassen, um den Befehl einem Kourier zu übergeben, da es nothwendig war, der Zigeunerin zuvorzukommen.

Jetzt durfte Max seinen unbequemen Platz verlassen. Er öffnete das Bücherfach, verschloß es hinter sich und tastete sich die Treppe hinab. Er hatte ein eigenthümliches und gefährliches Abenteuer bestanden und stand, unten im Gang angelangt, unwillkürlich tief aufathmend still.

"Zarba, Du sollst gerettet werden," gelobte er sich; "Du und Dein unglücklicher Sohn. Gott hat mich hinter Dir hergeführt; er ist der Schutz der Gerechten!"

Er fand das Fenster geschlossen; die Wirbel befanden sich an der Außenseite desselben, doch war eine Scheibe zerbrochen, so daß er hindurchlangen und öffnen konnte. Als er hinausgestiegen war und den Verschluß wieder bewerkstelligt hatte, trat Thomas auf ihn zu.

"Gott sei Dank, Herr Doktor, daß Sie mit heiler Haut wieder pei mir sind! Die Hexe ist schon längst wieder heraus. Was hat es denn da drin gegepen?"

"Das sollst Du später erfahren. Bis dahin aber erzählst Du keinem Menschen, was heut geschehen ist!"

"Keinem Einzigen; ich gepe gleich einen Eid darauf! Nicht einmal der guten Parpara Seidenmüller, die doch sonst Alles wissen muß!" - - -

Drittes Kapitel: Die Brüder Jesu.

Inhaltsverzeichnis

Es war an demselben Abende. Der nach der Hauptstadt gehende Schnellzug mußte bald kommen, und die Reisenden im Wartezimmer erster und zweiter Klasse machten sich allmählich zum Aufbruche fertig.

An einem der entfernt stehenden Tische saßen zwei Männer, deren Äußeres nicht kontrastirender gedacht werden konnte. Der Eine, welcher die Uniform eines Obersten der Infanterie trug, war mit beinahe herkulischen Gliedmaßen begabt und überragte den andern, welcher außerordentlich klein und schwächlich gebaut war, beinahe um das Doppelte. Seine Gesichtszüge waren, wenn nicht roh, so doch außerordentlich eckig und kantig geschnitten und zeigten jene intensive Röthe, welche die Folge einer wohlbesetzten Tafel und eines ebenso gut gefüllten Kellers zu sein pflegt. Wenn es zugegeben werden muß, daß es Physiognomien gibt, welche zu einem zoologischen Vergleiche auffordern, so mußte man zugestehen, daß dieses Gesicht an denjenigen Wiederkäuer erinnerte, welcher in den Savannen der westlichen Hemisphäre wild gejagt und in Spanien zu aufregenden Kämpfen benutzt wird. Gewalt und Eigenwille waren deutlich in demselben ausgeprägt, und stier, wie die Augen blickten, mußte auch der Charakter sein, der wohl durch keine klärende und läuternde Schule gegangen war. Der Offizier machte bemühte.

"Also ein self-man sind Sie, Herr Oberst," meinte der Kleine, "der Alles, was er ist und hat, sich selbst verdankt. Dann ist Ihr Weg voller Dornen gewesen und wird es später wohl noch mehr sein. Gerade in Ihrer Branche ist die Konnexion der Hauptfaktor des Vorwärtsschreitens."

"Der Teufel soll mich holen, wenn dies nicht wahr ist! Konnexion, Protektion und noch so manche andere "ion" bringt manchen Laffen in die Höhe, der nichts vorzustellen vermag, als einen betreßten und bebrouillonten Taugenichts. Nur gut, daß es auch gewisse "ions" gibt, bei denen diese Schlingels spurlos verschwinden, weil da nur der gebraucht werden kann, der einen ganzen Mann abgibt!"

"Und diese "ions," welche sind es?"

Der Offizier blickte sich vorsichtig um und flüsterte:

"Dieselben, welche auch Sie meinen: Rebellion, Revolution. Lassen Sie es nur so bald wie möglich losgehen; ich bin mit Leib und Seele dabei und werde die mir angewiesene Stelle zur vollsten Zufriedenheit ausfüllen."

"So schnell, wie Sie wünschen, geht es allerdings nicht. Ein so großes und gefährliches Werk bedarf der sorgsamsten und umfassendsten Vorbereitungen."

"Pah! Ich bin vorbereitet und meine Jungens machen alle mit. Der Teufel soll mich holen, wenn ein einziger zurückbleibt!"

"Sind Sie dessen sicher?"

"Sicher? Welche Frage! Ich bin Oberst, und mein Regiment hat mir zu gehorchen."

"Gewiß, in den gegenwärtigen regulären Verhältnissen. Ob es Ihnen aber auch dann gehorcht, wenn diese Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden, das ist eine Frage, welche nicht so leicht beantwortet werden kann."

"Dann bin ich erst recht meiner Sache sicher."

"Auch Ihres Offizierskorps?"

"Vollständig. Es besteht aus lauter Männern, die, dem Bürgerstande entsprossen, in der Hefe stecken bleiben müssen, weil Ihnen die Vetter im Kriegsministerium fehlen. Gebt mir und Ihnen eine Gelegenheit zum Avancement, und der Teufel soll mich holen, wenn wir nicht unsere Schuldigkeit thun! Gibt es ja Einen oder den Andern, dessen man nicht vollständig sicher ist, so bekommt er Urlaub, die beste Methode, quere Köpfe einstweilen auf die Seite zu bringen. Ich bin hier Oberstkommandirender, habe ein Regiment Infanterie, eine Kompanie Schützen und zwei Feldbatterien zu befehligen und werde mit ihnen zur rechten Zeit am Platze sein so gewiß, als ich hier sitze und auf das Gelingen des Unternehmens mit Ihnen anstoße."

Kleine:

"Und die Bevölkerung Ihres Kreises?"

"Ist mit der jetzigen Regierung höchst unzufrieden. Wir befinden uns hier im bevölkertsten Fabrikdistrikte des Landes; Handel und Gewerbe stocken nicht blos, sondern liegen ganz und vollständig darnieder; der Arbeiter hungert mit seiner Familie; die Sozialdemokratie erhebt ihr Haupt und heult um Rache und Hülfe überall, am kleinsten Orte tagen Meetings und Versammlungen, in denen der Kreuzzug gegen die Aristokratie, gegen die besitzenden Klassen gepredigt wird. Was wollen Sie? Ich höre schon den muthigen Schritt der Arbeiterbataillone, welcher alles Widerstrebende zertreten und zermalmen wird. Die Schaaren der Turner, die Vereine der Bürgergarden, sie bedürfen nur der brauchbaren Waffe, um nach der Residenz geführt zu werden. Das findet!"

"Dazu bedarf es einer tüchtigen Vorbereitung des Landes, mit welcher wir leider noch nicht genugsam vorgeschritten sind. Wir dürfen unser Exempel nicht mit Hoffnungen machen, die uns betrügen können, sondern müssen mit Thatsachen arbeiten, deren wir sicher sind. Über Ihren Kreis, Herr Oberst, bin ich vollständig beruhigt; ich glaube Ihren Versicherungen und werde dem geheimen Komité einen befriedigenden Bericht abstatten. Mit dem Augenblicke des Losschlagens dürfen Sie die Generalsepauletten anlegen, und Ihre weiteren Chancen haben Sie dann in der eigenen Hand. Sie sind einer von den wenigen Stabsoffizieren, denen wir unbedingtes Vertrauen schenken, und ich bin zugehen."

Er erhob sich, reichte ihm die Hand und verließ das Wartezimmer. Draußen war der Train bereits vorgefahren. Er verlangte nach erster Klasse und erhielt ein Coupé angewiesen, in welchem bereits ein Herr saß, welcher allem Anscheine nach dasselbe schon längere Zeit innegehabt hatte.

Es begann zu dämmern, doch konnte man sich gegenseitig noch ganz genau erkennen.

Der Fremde trug durchweg einen graukarrirten Anzug; seinen Kopf bedeckte ein breitrandiger Panamahut, und auf der Spitze seiner Adlernase balancirte in verwogener Stellung ein blauglasiges Pincenez, welches mit dem feinen Teint des Angesichtes scharf kontrastirte. Die feinen Bockstiefeletten und die fleischfarbenen Gummihandschuhe zeigten ebenso wie der wohlgepflegte Backenbart und die schwergoldene Uhrkette, daß er gewohnt sei, auf seine äußere Erscheinung die möglichste Sorgsamkeit zu verwenden. Man mußte auf den ersten Blick den Engländer in ihm erkennen.

"Guten Abend!" grüßte der Schwarze.

"Good evening!" antwortete der Graue und drehte den Kopf langsam dem Eingestiegenen zu.

Kaum hatte er ihn erblickt, so ergriff er den blauen Zwicker und ließ ihn von der Nasenspitze nach der gehörigen Stelle zurückretiriren. Der Blick, welchen er jetzt scharf durch die blauen Gläser warf, war erstaunt, verächtlich und feindselig zugleich. Hatte er in dem kleinen Manne eine ihm verhaßte Persönlichkeit erkannt?

"Sie reisen auch nach der Residenz, Sir?" frug dieser, als er es sich bequem gemacht hatte.

Der Gefragte zog statt der Antwort ein goldenes Etui hervor, entnahm demselben eine Cigarette und steckte sie in Brand.

"Ich freue mich, bis dahin Gesellschaft zu finden. Eine Reise ohne Unterhaltung gehört zu den größten Unannehmlichkeiten, welche ich kenne."

Der Graue ließ das Fenster nieder, wandte sich gleichmüthig von seinem Gegenüber ab und blickte hinaus auf die in optischer Täuschung vorüberfliegende Landschaft."

Hier meine Karte, Sir! Darf ich wissen, mit wem mich der glückliche Zufall zusammenführt?"

Auf der kleinen Karte war in feinen Zügen "Aloys Penentrier, Rentier" zu lesen. Der Engländer hielt es nicht der Mühe werth, einen Blick darauf zu werfen, sondern behielt beharrlich seine Stellung bei.

"Sie scheinen mehr nachdenklich als unterhaltend gestimmt zu sein, Sir. Oder soll ich vielleicht in der Nichtbeachtung meiner Karte eine absichtliche Beleidigung erkennen?"

Der Graue steckte jetzt den Kopf ganz zum Fenster hinaus; das bleiche Gesicht des Kleinen röthete sich. Er legte die Hand auf den Arm des Engländers und frug:

"Wollen Sie die Güte haben, zu hören, was ich sage?"

Der Engländer zog unter dieser Berührung den Kopf zurück. Die Lorgnette war ihm unter dieser raschen Bewegung wieder vor auf die Nasenspitze gerutscht.

"Very well, uoll' Sie flieg' aus das Uagen hinaus in das Luft? Uas uag' Sie, anzugreif meinen Person!"

"Ich frage nur, ob Sie die Absicht haben, mich zu beleidigen?"

"Stand off, bleib' Sie mir von das Leib! Uas frag ich nach Ihr' Kart', Ihr Personage und Ihr Beleidigung! Halt' Sie das Mund; ich uill hab' Ruhe!"

Diese Worte waren in einem Tone gesprochen, welcher dem Kleinen ganz wider Willen imponirte. Er zog sich in seine Ecke zurück, murmelte etwas von "Unverschämtheit" und "Spleen", warf noch einen giftigen Blick auf den Grauen und schloß dann die Augen.

Die Reise wurde schweigend fortgesetzt. An jeder bedeutenderen Station blickte der Schwarze aus dem Wagen und nahm dann jedesmal von einer Person, welche den Zug erwartet haben mußte, ein Couvert in Empfang, welches er öffnete, um den Inhalt zu überfliegen. Dieser Umstand fiel dem Engländer auf, doch ließ er sich nicht das Mindeste davon merken. Nach der jedesmaligen Lektüre, die durch das im Coupé brennende Licht ermöglicht wurde, legte der Kleine das Schriftstück neben sich auf den Sitz. So lagen acht bis neun dieser Skripturen neben ihm, als man die letzte Station an der Residenz erreichte. Auch hier bog er sich durch das Fenster, um ein Couvert in Empfang zu nehmen und mit dem Überbringer desselben einige Worte zu wechseln. Der Engländer benutzte diesen Augenblick; mit einer blitzschnellen Bewegung hatte er eins der Papiere ergriffen und in seiner Tasche verborgen.

Wagen.

Der Graue stieg schnell hinter ihm aus. Ein Diener, welcher zweiter Klasse gefahren war, wartete bereits auf ihn, und neben demselben stand Doktor Brandauer, welcher, von seiner Kahnfahrt zurückgekehrt, sich nach dem Bahnhofe begeben hatte, um den Sohn des Lord Halingbrook zu empfangen.

"Emery!"

"Max!"

Sie begrüßten einander durch eine herzliche Umarmung, welche sich aber Emery schnell zu lösen beeilte.

"Have care! Siehst Du dort den kleinen schwarz gekleideten Menschen mit dem Gepäckschein in der Hand?"

Er konnte jetzt sehr gut deutsch sprechen. Hatte er sich vorhin nur verstellt?

"Du meinst den, welcher mit dem Kofferträger verhandelt?"

"Yes, denselben."

"Was ist mit ihm?"

"Komm! Wir müssen ihm folgen; wir müssen sehen, wo er wohnt!"

"Warum?"

"Später! Unterwegs sollst Du es erfahren."

"Der Wagen wartet draußen auf Dich."

"Können ihn nicht gebrauchen. Go on, vorwärts!"

Er warf dem Diener einen kurzen Befehl hin, nahm den Freund unter den Arm und folgte mit ihm dem Schwarzen, welcher nach dem Ausgange schritt und dort einen Fiaker nahm.

In der Nähe hielt eine Equipage mit dem Peerswappen der Familie Halingbrook. Sie schritten an ihm vorüber und nahmen eine Droschke.

"Dem Fiaker dort nach, aber ohne daß es bemerkt wird!" befahl Emery beim Einsteigen.

Dann nahmen sie Platz.

Der Weg ging durch mehrere Straßen und über einige Plätze der Stadt. Während der Fahrt konnte Emery seine Mittheilung machen. Max sagte sich, daß der kleine Mann eine sehr beachtenswerte Persönlichkeit sein müsse, da der junge Lord nach einer langen und beschwerlichen Reise nicht zur Wohnung fuhr, sondern diesen Unbekannten sofort vom Bahnhofe weg verfolgte.

"Du kennst ihn?" frug er.

"Yes, und zwar sehr. Er ist ein Jesuit, eines der hervorragendsten Mitglieder dieser Brüderschaft."

"Ah!"

"Er hat in Freiburg, wo ich ihm begegnete und von ihm sprechen hörte, ohne daß er mich bemerkte, seine Erziehung genossen und gilt als der feinste Schlaukopf der ganzen Kongregation. Später sah ich ihn in Paris, Brüssel, London und Washington, und überall war mit seinem Erscheinen ein Streich verbunden, welchen die heiligen Väter der Regierung spielten. Heut nun fuhr er mit mir in demselben Coupé, und zwar unter Umständen, welche mich schließen lassen, daß er nicht nur hier bereits heimisch ist, sondern an einer Aufgabe arbeitet, welche jedenfalls eine den Interessen des Thrones feindliche ist."

"Den Jesuiten ist der Aufenthalt im Lande streng untersagt."

"All right! Nehmen wir diesen Umstand, die Politik des Herzogs von Raumburg, die Gerüchte, welche mit immer größerer Deutlichkeit ihre Stimme erheben und die im Auslande besser gekannt werden als von Euch selbst, und dazu die Anwesenheit dieses Menschen, welcher an jeder Station schriftliche Berichte entgegennimmt, so ergibt sich jedenfalls die Nothwendigkeit, wenigstens seine Wohnung kennen zu lernen."

"Und ihm auch noch etwas näher auf die Finger zu sehen. Ich weiß sehr genau, daß der Herzog die Aufnahme der Jesuiten eifrig befürwortet."

"Behold! Ich schätze sehr, daß er mit diesem Ungeziefer in Verbindung steht. Vater und ich sind in Folge unserer hiesigen Besitzungen Unterthanen Seiner Majestät, und so habe ich die Verpflichtung, das Thun und Treiben solchen Gezüchtes nicht unbeachtet zu lassen. Woher kennst Du diese Befürwortung?"

"Der König selbst hat gegen uns davon gesprochen."

"Well. Der Hofschmied erfährt mehr als mancher Rath und Minister. Du hast bessere Chancen als Mancher, dessen Stammbaum bis in die antediluvianische Zeit hinaufreicht, und ich begreife nicht, daß Du - - - have care, er hält! Wem gehört dieses Boarding-house?"

"Wahrhaftig, er hält bei unserer guten Barbara Seidenmüller! auffallen."

"Fair! So fahre ich nach Hause. Hier hast Du ein Schreiben, welches ich ihm weggekapert habe. Ich konnte es bisher nicht lesen, und da Du ihm folgst, ist es Dir vielleicht nöthiger als mir."

"Kennst Du seinen wahren Namen? Ich nehme natürlich an, daß er hier einen falschen trägt."

"Pater Valerius, deuce take it, der Teufel hole ihn! Er hatte zwar die Güte, mir seine Karte zu präsentiren, doch hatte ich nicht Lust, mich mit derselben zu beschmutzen. Good night!"

"Gute Nacht!"

Die Droschke lenkte um, und Max trat in die Gaststube der ehrsamen Wittfrau und Kartoffelhändlerin Barbara Seidenmüller.

Der erste Gast, welcher ihm in die Augen fiel, war Baldrian, der Exgrenadier. Als dieser ihn bemerkte, erhob er sich respektvoll von seinem Stuhle. Der Doktor trat zu ihm.

"Bist Du schon lange hier?"

Der Gefragte nickte bejahend.

"Das ist am den. werde gleich gehen!"

"Willst Du mir einen Gefallen thun?"

Ein zweites Nicken erfolgte.

"Auch das ist am den!"

"Es muß hier ein Fremder logiren, der an seiner kleinen, schwächlichen Gestalt und seiner schwarzen Kleidung leicht zu erkennen ist."

"Sogar dieses ist am den. Ist bereits vier Wochen hier."

"Du kennst ihn?"

Ein energisches Nicken diente als Antwort.

"So stelle Dich einmal gegenüber in das Dunkle, wo Du nicht gesehen wirst. Wenn er das Haus verläßt, benachrichtigst Du mich schleunigst. Du hast doch gute Augen?"

"Das ist am den!"

Er trank sein Bier aus und verließ das Lokal.

Jetzt bemerkte die Wirthin den neuen Gast und kam sofort auf ihn zugeschritten. Sie war eine korpulente, noch junge Frau, und ihr geröthetes Gesicht glänzte vor Freude, als sie ihm die Hand entgegenstreckte.

"Willkommen, tausendmal willkommen, Herr Doktor! Ich habe Sie wohl ein Jahr lang nicht zu sehen bekommen. Wo sind wir denn überall herumgelaufen?"

"In Italien, Frankreich, England, Holland und so weiter."

"Herrjesses, muß das fürchterlich sein! Da lobe ich mir meinen "blauen Adler"; von ihm komme ich nicht weg, so lange ich lebe. Daheim ist daheim! Ich soll doch ein Fläschchen vom Besten bringen?"

"Ja. ich brauche zunächst einen guten Schluck und sodann Sie selbst."

"Mich?"

"Allerdings. Ich muß eine Erkundigung einziehen, womöglich unter vier Augen."

"Unter vier Augen? So kommen Sie heraus in das leere Hinterstübchen, wo wir vollständig ungestört sind, Herr Doktor!"

"Ich muß hier bleiben, da ich jeden Augenblick einen Boten erwarte, der mich dann nicht sehen würde. Bringen Sie mir den Wein hier an den Tisch zunächst der Thür!"

Die Wirthin beeilte sich, diesem Gebote Folge zu leisten und befahl dem Kellner, auf die übrigen Gäste Achtung zu haben.

"Sie haben seit vier Wochen einen fremden Herrn im Logis," begann Max, als sie bei ihm Platz genommen hatte, "dessen Namen und Charakter ich gerne wissen möchte, ohne daß er etwas über meine Erkundigung erfährt."

"Welchen meinen Sie?"

"Er ist klein und hager, bleich und bartlos und trägt sich schwarz gekleidet. Irre ich mich nicht, so ist er vor wenigen Augenblicken von einer Reise zurückgekehrt."

"Ach, Sie meinen den Herrn in Nummer eins bis vier!"

"Er hat vier PiŠcen inne? Dann muß er wohl situirt sein."

"Allerdings; er ist Rentier, zahlt außerordentlich prompt und nobel und hat einen französischen Namen, den ich vielleicht nicht richtig aussprechen kann. Geschrieben wird er Aloys Penentrier."

"Verreist er oft?"

"Er ist sehr wenig daheim und oft mehrere Tage nicht hier."

"Korrespondirt er viel?"

"Wenn er zu Hause ist, schließt er sich gewöhnlich ein. Was er da thut und ob er schreibt, weiß ich nicht; wenn er es thut, so muß er sich seine Briefe selbst besorgen, aber er erhält deren täglich mehrere."

Poststempel."

"Aus Paris, Petersburg, London, meist aber aus dem Inlande."

"Mit wem verkehrt er?"

"Kann ich nicht sagen. Er empfängt allerdings öfter Besuch von Herren, die ich aber leider nicht kenne."

"Welcher Klasse gehören sie an?"

"Allem Vermuthen nach nicht der unteren. Einige hatten, obgleich sie in Civil gingen, etwas entschieden Militärisches. Andere sahen mir aus wie Geistliche, so fromm und salbungsvoll traten sie auf. Zwei oder drei Male war auch ein Diener des Herzogs von Raumburg hier. Er trug zwar auch Civil, aber ich kannte ihn doch."

"Geht er viel aus?"

"Nur des Abends."

"Wann kehrt er da zurück?"

"Sehr spät! ich bemerke dies, trotzdem ich ihm einen Hausschlüssel zur Verfügung stellen mußte. Auch heut scheint er gehen zu wollen; er hat ein Abendbrod bestellt und um Beschleunigung gebeten."

"Ist ihm bereits servirt worden?"

"Ja; kalte Küche. Er ißt sehr schnell und wird wohl nun fertig sein."

Sie hatte recht, denn eben öffnete sich die Thür und die lange Gestalt Baldrians schob sich in möglichster Eile herein.

"Ist er fort?" frug Max.

"Ja, das ist am den."

"Wohin? Rechts in die Straße?"

"Nein, das ist nicht am den, sondern links."

"So trinke Du meinen Wein, Baldrian. Gute Nacht!"

Er legte ein Geldstück auf den Tisch und ging.

"Ein guter Herr, nicht wahr, Baldrian?" frug die Wirthin.

Der vormalige Grenadier konnte blos nicken. Er hatte das Weinglas bereits an den Mund gesetzt und that einen Zug, der es bis auf die Nagelprobe leerte.

"Hast wohl draußen aufpassen müssen?"

Er nickte und schenkte sich ein zweites Glas ein.

"Auf den kleinen Rentier?"

Das Glas wieder am Munde, ließ er sich zu einem abermaligen Nicken herbei; dann goß er sich den bei ihm so seltenen Trank in den Mund.

"Was muß er denn mit ihm haben?"

Wieder einschenkend zuckte er die Achsel. Die kleine, propre Wittfrau hatte ihm sein Herz geraubt, aber daß sie ihn jetzt in seinem Genusse störte, wollte ihm nicht im Geringsten gefallen.

"Du weißt es nicht, Baldrian?"

Er schüttelte den Kopf und führte das Glas zum dritten Male zum Munde.

"Schmeckt der Wein?"

Er trank, machte die Augen zu und nickte dabei mit einem so verklärten Gesichte, als trinke er den Nektar der griechischen Götter.

"Das glaube ich; es ist meine beste Sorte. Aber da hat er mir zuviel hergelegt. Was thue ich? Gebe ich Dir heraus oder - ja, ich werde mir den Überschuß merken, bis er wiederkommt."

Baldrian hatte sich den Rest eingeschenkt und stand schon im Begriffe, das Glas zu erheben; jetzt aber ließ er es wieder sinken.

"Donnerwetter, das ist ja gar nicht am den!"

"Du meinst, das Geld sei Dein?"

Er nickte trinkend, setzte das Glas auf den Tisch, strich das zurückgegebene Geld ein und stülpte sich die Mütze auf den Kopf.

"Gute Nacht, Bärbel!"

"Gute Nacht, Baldrian!"

Mit stolzen Schritten ging er nach Hause. Nicht jeder, der heut dasselbe that, hatte eine Flasche vom Besten aus Frau Barbara Seidenmüllers Weinkeller getrunken. -

Als der Doktor aus der Thür des Gasthauses trat, konnte er die Gestalt des sich entfernenden Rentiers gerade noch im Scheine einer Laterne erkennen. In kurzer Zeit hatte er ihn soweit erreicht, daß er ihn fest im Auge behalten konnte.

Der Kleine ging schnellen Schrittes mitten auf der Straße; er aber hielt sich hart an der einen Häuserreihe, in deren Schatten er nicht so leicht bemerkt werden konnte. Sie befanden sich in einem der äußeren Viertel der Residenz und näherten sich immer mehr den äußersten Häusern desselben. Als diese erreicht waren und nun auch der Lampenschimmer aufhörte, zog sich die Landstraße eine Strecke weit längs des Flußes hin, um dann an den sich allmählich erhebenden Bergen langsam emporzusteigen.

Dort oben, in etwa drei Viertelstunden Entfernung von der durchstöbert. zuvorzukommen!" hatte. mündete.

Die angewandte Vorsicht, mit welcher er seine Schritte möglichst vernehmen.

"Woher?" frug der Posten mit halblauter Stimme.

Antwort.

"Wohin?"

"Zum Siege."

"Wodurch?"

"Durch die Lehre Loyola's."

"Der Bruder kann passiren!"

Der kleine Rentier schritt an dem Posten vorüber. Max folgte ihm. konnte.

Er ließ das Seil wieder hinuntergleiten und bog sich vor, um einen Blick in die Tiefe zu werfen. Er mußte dies so vorsichtig wie möglich thun, da man sonst seinen Kopf trotz der nächtlichen Dunkelheit von unten hätte bemerken können. Der Brunnen war vor langer Zeit in Folge eines Unglücksfalles bis zur Hälfte seiner Höhe ausgeschüttet worden, besaß aber dessenungeachtet eine Tiefe von immer noch beinahe sechzig Fuß. Ein schneller, blitzartiger Lichtschein flammte unten auf; dann blieb die Tiefe in stetes Dunkel gehüllt, bis er seine Beobachtung aufgeben mußte, da ihm ein Geräusch das Nahen eines Kommenden verrieth.

Er zog sich hinter einen nahen Mauervorsprung zurück und beobachtete nach und nach vierzehn Gestalten, welche in den Brunnen stiegen.

Es drängte ihn, zu wissen, was diese geheimnißvollen Männer mit ihrer Zusammenkunft bezweckten; aber es war unmöglich, ihnen zu folgen. Er konnte sie nur von außen beobachten und mußte die Untersuchung des Brunnens bis auf eine Tagesstunde verschieben.

Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Es dauerte fast zwei Stunden, ehe er den ersten wieder Emporsteigenden bemerkte. Es war der Rentier, welchem hart auf dem Fuße zwei Andere folgten.

"Ihr wißt, weshalb ich mit Euch vorangestiegen bin?" frug der Erstere.

"Ja," antwortete der Eine. ausgeschieden."

"Auf welchem Wege?"

"Auf dem gewöhnlichen. Geht an Euren Platz! Man kommt."

Die beiden Männer verschwanden hinter dem Gemäuer. Dem Brunnen entstiegen nach und nach die elf Übrigen. Der Letzte von ihnen löste das Seil vom Felsen und nahm es zu sich.

"Der Herr behüte unseren Ausgang und Eingang!" grüßte der Rentier.

"Jetzt und in Ewigkeit, Amen!" antworteten die Anderen, worauf sie sich entfernten.

Ein Einziger war geblieben. Der Rentier hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt.

"Bruder Ambrosius, ich habe noch mit Dir zu sprechen!"

Der Angeredete hatte schon wie die Übrigen im Begriffe gestanden, zu gehen. Er wandte sich wieder zurück.

"Trotz des Verdachtes, welcher heut gegen Dich ausgesprochen wurde," meinte der Rentier, "besitzest Du mein vollständiges Vertrauen. Ich habe Dich dem Pater Provinzial empfohlen und einen Auftrag für Dich bekommen, welcher Dir beweisen wird, wie sehr ich in schwierigen Fällen auf Deine Befähigung rechne. Bist Du bereit, ihn zu hören?"

"Ich werde hören und gehorchen."

"So komm! Ich werde Dich einweihen in das tiefste Geheimniß, welches die Erde trägt, und ich bin überzeugt, daß kein Wort davon über Deine Lippen kommen wird."

Er entfernte sich mit ihm in derselben Richtung, welche die beiden Anderen eingeschlagen hatten.

Max hatte jedes Wort vernommen. Dem Manne drohte jedenfalls eine Gefahr. Welcher Art konnte dieselbe sein? War er der Hülfe würdig? Und wie sollte diese Hilfe geleistet werden, da Max die Art und Weise der Gefahr nicht kannte? Er mußte sich sagen, daß er die dringendste Veranlassung habe, seine Anwesenheit nicht zu verrathen, und beschloß, sich ruhig abwartend zu verhalten.

Nach einer Weile war es ihm, als vernehme er einen leisen, unterdrückten Ruf. War es ein Hülferuf? Er lauschte eine Weile in die stille Nacht hinein, doch blieb jetzt alles ruhig. Erst nach fehlte.