Schamland - Stefan Selke - E-Book

Schamland E-Book

Stefan Selke

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Beschreibung

In einer einzigartigen Mischung aus Sozialreportage und messerscharfer Gesellschaftsanalyse nimmt Stefan Selke uns mit in die unbekannte Welt der Armen. Er zeichnet das Leben jener Menschen, die einst in der Mitte der Gesellschaft lebten und sich verzweifelt bemühen, ein Stück Normalität zu bewahren.

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Stefan Selke

Die Armut mitten unter uns

Econ

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ISBN 978-3-8437-0539-4

© der deutschsprachigen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

eBook: LVD GmbH, Berlin

»Sie (die Armen) fühlen, dass die Wohltätigkeit eine lächerlich ungenügende Art der Rückerstattung ist oder eine gefühlvolle Spende, die gewöhnlich von einem unverschämten Versuch seitens des Gefühlvollen begleitet ist, in ihr Privatleben einzugreifen. War­­um sollten sie (die Armen) für die Brosamen dankbar sein, die vom Tische des reichen Mannes fallen? Sie sollten mit an der Tafel sitzen und fangen an, es zu wissen.« (Oscar Wilde)

Prolog

Ich erinnere mich noch sehr genau an den Abend, an dem ich zusammen mit meiner damaligen Freundin zum Abschlussball unseres Tanzkurses unterwegs war. Auf dem Weg durch die Stadt sah ich zum ersten Mal in Deutschland einen Mann, der in einer Mülltonne nach Essbarem suchte. Den Abschluss­ball ließ ich platzen. Meiner Freundin aber war mehr nach Tanzen zumute als nach Gesellschaftskritik. Der Preis für meine Empörung bestand darin, als Single nach Hause zu gehen. Jetzt, viele Jahre später, nutze ich die Möglichkeit, mit diesem Buch erneut meiner Empörung Ausdruck zu verleihen. Tanzen kann ich leider noch immer nicht richtig.

Seit 2006 beschäftige ich mich intensiv mit dem, was mich damals, knapp volljährig, so verstörte. Mit der Frage, wie Armut im Reichtum möglich ist. Mein Interesse für diesen Skandal bekam eine für mich unerwartete Aktualität, als ich selbst prekär beschäftigt und von Arbeitslosigkeit bedroht war und darüber nachdachte, wie es weitergehen könnte. Ich beschloss, ein Jahr lang bei einer Lebensmittelausgabe zu hospitieren und exemplarisch eine dieser boomenden Hilfsorganisationen aus der Innenperspektive zu erkunden. Nach und nach wurde ich zu einem kritischen Beobachter des Systems der Lebensmitteltafeln, Suppenküchen und ähnlicher Angebote. Sie werden in diesem Buch zusammenfassend Armuts-, Almosen- oder Hartz-IV-Ökonomie genannt und versinnbildlichen die Armut mitten unter uns.

Was zufällig begann, ist inzwischen fester Bestandteil meiner Forschungs- und Lehrtätigkeit. Zwischenzeitlich wurden einige meiner Thesen von Journalisten und von den Tafeln selbst aufgegriffen – wenn ich gut gelaunt bin, werte ich dies als Erfolg. Ich könnte mit dieser Rolle zufrieden sein. Nicht zufrieden bin ich hingegen nach wie vor mit der Gesellschaft, in der ich lebe. Dieses Buch schrieb ich aus Protest, als mir klarwurde, dass 2013 die Tafeln in Deutschland ihr 20-jähriges Bestehen feiern werden. Ich fragte mich, wie das wohl aussehen würde. Vielleicht wie im Herbst 2012, als ich zur 13-Jahr-Feier der Wiener Tafel in Österreich eingeladen wurde. Der Mode­rator wünschte allen Gästen »gute Unterhaltung bei einem höchst spannenden Thema«. Einen Abend lang standen die Themen ›Motivation älterer Ehrenamtlicher‹ und ›Tafelarbeit als Sinnstiftung‹ im Mittelpunkt. Ein Sozialforscher nannte die Wiener Tafel »vorbildlich«. Der Gründer der Wiener Tafel war begeistert vom Zuspruch anwesender Tafelhelfer. Kein Wort aber zu den Ursachen von Armut inmitten von Reichtum.

War dies ein Vorgeschmack darauf, wie die feierliche Stimmung in Deutschland unter Tafelmenschen, Tafelsponsoren und tafelnahen Politikern aussehen könnte? Für viele, auch für die uninformierte Öffentlichkeit, wird das 20-jährige Bestehen der Tafeln in Deutschland ein Grund zum Feiern sein. Den zu erwartenden Jubel, die eingeübten positiven Selbst­darstellungen der Tafeln sowie die pathetische Rhetorik der Politik möchte ich jedoch nicht unwidersprochen hinnehmen. Vielmehr ist es an der Zeit, dem Selbstlob eine fundiertere ­Perspektive entgegenzusetzen. Denn trotz zwischenzeitlich ­geschärfter sozialwissenschaftlicher Instrumente lässt sich die Public-Relations-Watte, in die die Tafelbewegung gepackt ist, noch immer schlecht durchdringen. Ich habe wenig Lust, mich dem arrangierten Schulterklopfen anzuschließen – lieber möchte ich eine öffentliche Debatte darüber anstoßen, wie es sich aus der Sicht Armutsbetroffener anfühlt, seit vielen Jahren Teil dieses Systems zu sein. Und darüber, wie durch Tafeln und ähnliche Angebote die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich fortgeschrieben wird.

Dafür gibt es aus meiner Sicht gute Gründe. Die seit fast ­einer Generation mitten in Deutschland existierenden Tafeln werfen ernsthafte moralische Fragen auf, bei denen es im Kern um die existentielle Verletzbarkeit des Menschen geht. Um Rechte, die Bürgern dieses Landes (sowie in den deutschsprachigen Nachbarländern Schweiz und Österreich, wo Tafeln nach vergleichbaren Prinzipien betrieben werden) zunehmend aberkannt werden. Zentrale Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Verantwortung, Nachhaltigkeit sowie einem zivilisierten Menschenbild stehen auf dem Prüfstand.

Daher verfolgt dieses Buch das Ziel, einen Ausweg aus dem eher technokratischen Verständnis des Sozialen zu suchen. Wenn die Zivilgesellschaft die Versäumnisse des Sozialstaats kompensieren muss und sich Daseinsfürsorge vermehrt in privaten Almosensystemen erschöpft, wird zivilgesellschaft­liches Engagement nicht nur genutzt, sondern ausgenutzt. Mit diesem Buch ist daher eine Warnung verbunden. Es soll aber auch den Blick dafür schärfen, was es bedeutet, von der eigenen Gesellschaft aussortiert und an den unteren Rand gedrängt zu werden, dorthin, wo das eigene Leben als fremdbestimmt erfahren wird.

Das Material dafür liefern zahlreiche persönliche Begegnungen und Gespräche mit Nutzern von Tafeln und anderen existenzunterstützender Einrichtungen, die ich in den letzten Jahren bundesweit besucht habe. Daraus entstand eine detaillierte Analyse der Lebensrealität armutsbetroffener Menschen. Dieses Buch zeigt, dass der Preis für die dabei sichtbar werdende, weichgespülte Auffassung von Sozialpolitik hoch ist. Denn diese neigt immer mehr dazu, soziale Verantwortung an Freiwillige auszulagern und die Symptombehandlung von Armutsphänomenen an Agenturen wie Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern zu delegieren. Hilfeleistungen werden hier nicht angeboten, weil die Empfänger ein Recht dazu haben – sondern aus karitativen Motiven, die einer eigenen Logik folgen, nicht aber die Bedürfnisse der Betroffenen im Blick haben. Da sich für die vielen Anbieter der Eigennutz der Hilfe immer wieder in den Vordergrund schiebt, bleiben die Hilfesuchenden oft genug auf der Strecke. In der Folge verwandelt sich unser Land in ein Schamland, in dem die Gewinner sich gegenseitig applaudieren, die Verlierer aber beschämt werden.

Während zahlreicher Podiumsdiskussionen und öffent­licher Veranstaltungen, zu denen ich als Experte zum Thema ›Tafeln und Armut‹ seit 2007 eingeladen wurde, fiel mir immer öfter auf, dass sich dort sehr selten diejenigen befanden, um die es eigentlich geht: die Armen. Mir gefiel überhaupt nicht, wie über eine gesellschaftliche Realität geredet wurde, von der die meisten der Anwesenden nur wenig Ahnung hatten. Das Wissen über die Armut stammte in aller Regel nur aus den Medien, die ihrerseits nur eine Oberfläche zu sehen bekamen. Armut ist Teil von Lebenswelten, zu denen man gerne auf sicherer Distanz bleibt. Immer offensichtlicher wurde, dass gerne über von Armut betroffene Menschen gesprochen wurde, nicht aber mit ihnen. In anderen Worten: Mir wurde immer klarer, dass in der Debatte über die Sinnhaftigkeit privater Hilfsformen (die ich zum Teil selbst mit angestoßen hatte) sowie über ›richtige‹ oder ›falsche‹ Strategien der Armutsbekämpfung eine zentrale Perspektive fehlte.

Diese Leerstelle störte mich im Laufe der Zeit so sehr, dass ich beschloss, die Perspektive der Armutsbetroffenen in diesem Buch konsequent in den Mittelpunkt zu stellen. Im öffentlichen Diskurs schoben sich – unmerklich, aber doch verlässlich – meist die ehrenamtlichen Helfer in den Vordergrund. Menschen, die versuchen, mit viel Engagement eine Arbeit zu leisten, die bis vor kurzem noch der Sozialstaat übernommen hatte. Die Helfer sind dabei mit der moralischen Pose aus­gestattet, immer das Richtige zu tun; sie werden angetrieben vom Gefühl ihrer eigenen Wichtigkeit und sind vor Kritik durch ihre Lobby und das Lob aus der Politik weitgehend geschützt.

Gerade deswegen erscheint mir ein Perspektivwechsel dringend notwendig. Es ist an der Zeit, dass über den weniger bekannten Teil der Gesellschaft gesprochen wird. Es geht um die Gedankenwelt und Lebenswirklichkeit derjenigen Menschen, die arm sind inmitten unseres gemeinsamen Wohlstands. Ich wünsche mir, dass bedürftige Menschen nicht als Kulisse einer Bewegung missbraucht werden, die sich selbst immer ungehemmter selbst feiert. Diese Menschen sind keine Komparsen in einem Stück, das die tugendhaften Helfer in den Himmel lobt. Sie sind vielmehr die eigentlichen Hauptdarsteller.

Deshalb dieses Buch. Es ist verbunden mit der Hoffnung, dass das Bühnenstück von der »sozial gerechten Gesellschaft« in Zukunft unter einer vernünftigeren Regie aufgeführt wird als bisher. Von verantwortungsbewussten Menschen, die bereit sind, eine Perspektive einzunehmen, die Betroffene ernst nimmt, anstatt ihnen die eigene Sichtweise bevormundend auszureden. Wird dieser Perspektivwechsel vollzogen, dann wird eine neue gesellschaftliche Realität sichtbar, die für Millionen von Menschen Alltag ist. Denn der Staat trägt die Verantwortung für eine angemessene und menschenwürdige Versorgung der Armen, die ja auch Bürger mitten unter uns sind. Niemand sollte deren Wunsch, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, als »spätrömische Dekadenz« diskreditieren, wie Guido Westerwelle es 2010 prominent tat.1 Stattdessen geht es in diesem Buch darum, in Zeiten grassierender Markttyrannei das Soziale im Interesse der Humanität zu verteidigen.

Für einen »Öffentlichen Soziologen« ist das eine Gratwanderung. Soziologie öffentlich und für die Öffentlichkeit zu betreiben, ist in letzter Zeit unmodern geworden. Kern meiner Öffentlichen Soziologie ist der Drang, mich in Debatten einzumischen und darin eine Haltung zu zeigen. Meine Sozio­logie ist eine wütende Wissenschaft. Sie ist nicht neutral, sondern interessegeleitet. Sie nimmt Anteil an den Sorgen der Menschen. Ich betreibe normativ engagierte Gesellschaftsforschung, die hoffentlich an manchen Stellen die Kraft hat, die herrschende Sprachlosigkeit zu beenden, weil sie die Sprache der Gesprächspartner ernst nimmt. Die Nationale Armutskonferenz2 forderte in einem Positionspapier, dass Armen eine Stimme gegeben werden müsse. In diesem Buch kommen sie zu Wort. Da mein Ziel darin besteht, Soziologie öffent­lich zu vermitteln, verzichte ich gerne auf die polierte Optik unnötiger Fachbegriffe. Ich versuche damit, den Beschränkungen komplizierter Sprachspiele zu entkommen, die Wissenschaftlichkeit lediglich suggerieren. Damit möchte ich vor allem dazu beitragen, die Enttäuschten und Ungeschützten wieder in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses zu rücken.

Ich vertrete dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die hier dargestellten Szenen und Skizzen sind winzige Mosaiksteine, die sich aber zu einem großen Bild der Gesellschaft zusammenfügen lassen. Damit folge ich einem vielfach an mich herangetragenen Auftrag. »Das System muss wissen, dass es beobachtet wird« – diesen Satz schrieb mir ein Journalist, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. In ähnlicher Weise gab mir ein Tafelnutzer zum Abschied nach einem Gespräch folgende Bitte mit auf den Weg: »Ich wünsche mir, dass Sie ganz genau hingucken.« Nicht mehr länger wegschauen, genau hingucken, um Zusammenhänge zu erkennen, Interessen aufzudecken und Gesellschaft zu verändern – darum geht es. Ich teile meine Beobachtungen mit Ihnen, um Lust darauf zu machen, selbst nachzudenken. Ich wünsche mir, dass Sie als Lesende Ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen können. Denn Denken ist Widerstand gegen Informationen. Der Inhalt dieses Buches kann und soll kritisiert, aber auch als ­Gesellschaftsdiagnose ernsthaft geprüft werden.

Letztlich geht es darum, eine um sich greifende Blindheit für die soziale Misere zu vermeiden. Gerne zitiere ich die einzige Folge der TV-Serie Die Simpsons, die ich je gesehen habe: Homer Simpson verursacht eine Massenkarambolage auf dem Highway. Er schaut in den Rückspiegel und sieht, wie sich die nachfolgenden Autos ineinander verkeilen. Seine Reaktion ­darauf kann als Sinnbild für die zweifelhafte Gnade der kollektiven Selbsttäuschung verstanden werden. Homer sieht die Autowracks und dreht daraufhin den Rückspiegel ein wenig zur Seite. Im Spiegel erscheint nun ein friedlich grasendes Reh auf einer wunderschönen Lichtung. Genau dies darf nicht passieren. Soziale Verantwortung zu übernehmen bedeutet, den Rückspiegel der eigenen Wahrnehmung nicht dauernd so zu verdrehen, dass darin nur das sichtbar wird, was gerade erwünscht ist.

Dieses Buch ist ein exemplarischer Blick in den unverstellten Rückspiegel der eigenen Gesellschaft. Es zeigt die Hin­terbühne eines reichen Landes und vermeidet dabei den be­ruhigenden Blick auf die liebliche Lichtung. Diesem Blick standzuhalten heißt nicht, in depressive Empörung zu verfallen. Vielmehr geht es darum, den Aufbruch in eine bessere Zukunft vorzubereiten. Denn eine Gesellschaft muss sich ­daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Neben der gesellschaftlichen Analyse stehen in den Kapiteln »Trostbrot« und »Der Chor der Tafelnutzer« die O-Töne von Armutsbetroffenen im Zentrum. Sie summieren sich hoffentlich zu einen hilfreichen Zeitdokument, das dazu beitragen kann, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen – auch wenn dieser bei zukünftigen Diskussionen gehörig wackeln wird.

Wien, im Januar 2013

IArmut mitten unter uns

Die neue soziale Frage

In der Doku-Fiktion Aufstand der Jungen wird mit »anschaulich inszenierter Trostlosigkeit« gezeigt, wie ein reiches Land aussehen könnte, in dem das Solidaritätsprinzip endgültig zu den Akten gelegt wurde.1 Der Film porträtiert eine Gesellschaft, deren Regelsystem brüchig geworden ist und in der Menschen für weniger als 2,50 Euro pro Stunde arbeiten. Obwohl immer mehr Bürger unter die Armutsgrenze rutschen und um ihr Überleben kämpfen, schreitet der Staat nicht ein. Erste Stadtteile gelten als rechtsfreie Zonen, in denen dieje­nigen abtauchen, die sich »dem Würgegriff der Behörden und Gläubiger« entziehen müssen. Mitten in Berlin existiert ein derartiger Stadtteil, von allen nur »Höllenberg« genannt. Niemand dort zahlt Steuern. Die Polizei unternimmt nichts gegen Verbrechen. In dieser Gesellschaft akzeptieren die meisten, denen es noch besser geht, die durch Armut und Ausgrenzung gekennzeichnete Parallelwelt. Die Menschen in »Höllenberg« misstrauen dem »Establishment« und glauben nicht mehr an ihre Bürgerrechte. Stattdessen gründen sie Selbsthilfevereine und Nachbarschaftshilfen. Gleichzeitig gibt es dort öffentliche Armenküchen. Auf einem der Transporter, die Lebensmittel nach Höllenberg bringen, steht das Wort »Tafel« – in Farbe und Schriftart erinnert es deutlich an den Bundesverband Deutsche Tafel e. V. Als in Höllenberg Krawalle losbrechen, spricht man von den schwersten sozialen Unruhen seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Der Nachrichtensprecher kommentiert: »Deutschland zahlt nun den Preis für die verschleppten Sozialreformen.«

Es ist ein düsteres Bild, das in diesem Film von der Zukunft gezeichnet wird. Aber es enthält Elemente, die wir schon jetzt wahrnehmen können, wenn wir mit offenen Augen auf un­sere Gesellschaft blicken. Die Tafeln sind eines dieser Elemente.

In diesem Buch wird vor allem die Frage beantwortet, wie es sich anfühlt, inmitten von Reichtum arm zu sein. Armut im Reichtum ist ein Skandal. Damit ist auch eine Anklage verbunden. Durch rechtzeitige Reformen hätte das Problem entschärft werden können. Da dies aber nicht passiert ist, ­nähern wir uns der im Film gezeigten Negativfiktion Stück für Stück an. Denn Deutschland hat sich verändert. Es wird zu einem Schamland.

Für die meisten meiner Gesprächspartner, die ich im Verlauf meiner Recherchen zwischen 2009 und 2012 getroffen habe, war nicht die eigene Armut der Skandal, sondern die Tatsache, inmitten von so viel (sichtbarem und unsichtbarem) Reichtum arm zu sein. Dieses Gefälle führte zu Reaktionen, die sich nicht auf Sozialneid reduzieren lassen, sondern vielmehr das Ausmaß der allgegenwärtigen Beschämung und Verachtung verdeutlichen. Wenn zum Beispiel ein ehemaliger Handwerker, der von seiner geringen Erwerbsunfähigkeitsrente lebt, protestiert: »Die Reichen, die kriegen den Hals nicht voll. Die kriegen immer mehr. Während wir mit dem ­Minimum auskommen müssen.« Mir geht es hierbei nicht darum, wie objektiv solche Aussagen sind, sondern um die Frage, warum immer mehr Menschen in diesem Land das Gefühl haben, nicht mehr Teil der Gesellschaft zu sein.

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