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Was wir schon jetzt über mögliche Zukünfte lernen können und wie wir uns darauf vorbereiten sollten Immer wieder erprobt die Menschheit das Leben in »idealen« Welten. Dazu zählten bislang etwa anarchistische Reformkommunen, eine spirituelle Weltbürger:innen-Stadt in Indien, hocheffiziente Smart Cities oder geplante Unterwasserstädte, aber auch Kolonien auf Mond und Mars. Das Wunschland findet sich immer wieder zwischen sozialen und technologischen Utopien und hat das Potenzial, die Welt zu verändern. Der Soziologe Stefan Selke zeigt anhand zahlreicher Inneneinsichten in real-utopische Projekte, welche gesellschaftlichen Transformationen es bislang gab und welche künftig zu erwarten sind. Techno-Propheten basteln Exit-Strategien für unseren kaputten Planeten: Schwimmende Mikronationen in internationalen Gewässern, Roboterstaaten mit eigener Gesetzgebung oder von Künstlicher Intelligenz gesteuerte Projekte zeugen vom Wettstreit zwischen sozialen und technologischen Innovationen. Stefan Selke liefert einen hoch spannenden Werkstattbericht aus dem Labor der Menschheit. Zugleich schaut er in den Rückspiegel und zeigt, was wir von bereits erprobten utopischen Projekten lernen können. Er fordert einen radikalen Perspektivwechsel für kooperative planetarische Gestaltungsstrategien – einen utopischen »New Deal«.
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Wunschland
Stefan Selke studierte Luft- und Raumfahrttechnik und Soziologie. Als Professor für »Gesellschaftlichen Wandel« an der Hochschule Furtwangen ist er am Puls der Zeit. Der disziplinäre Grenzgänger ist als Redner, Blogger sowie Gesprächspartner der Medien auch außerhalb der Wissenschaft präsent. 2021 wurde Selke mit dem Wolfgang-Heilmann-Preis der Integrata-Stiftung zum Thema »Visionen für eine bessere Welt: Humane Utopien als Gestaltungrahmen für die nach-Corona-Gesellschaft« ausgezeichnet.
Stefan Selke
Von irdischen Utopien zu Weltraumkolonien. Eine Reise in die Zukunft unserer Gesellschaft
Ullstein
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Umschlaggestaltung: semper smile mit einer Abbildung von Shutterstock / Pavel ChagochkinAutorenfoto: © privatE-Book Konvertierung powered by pepyrus.comISBN: 978-3-8437-2750-1
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Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog: Mit dem Astronauten im Aufzug
Wenn Mars die Antwort ist, wie lautet die Frage?
Sehnsucht brennt von innen her – Neugier auf Utopien
Neue Habitate zwischen Reißbrett und Praxis – Planung der Utopie
Magie der Ankunft – Neubeginn einer Utopie
Experimente im Menschheitslabor – Alltag trotz Utopie
Die Schattenseiten der Erfolge – Zweifel an der Utopie
Der Blick in den Rückspiegel – Lernen aus Utopien
Poesie der Hoffnung – Ausblick auf neue Utopien
Epilog: Der Turm der Utopie hat wieder geöffnet
Danksagung
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog: Mit dem Astronauten im Aufzug
Dieses Buch ist allen gewidmet, deren Odyssee noch bevorsteht. Mögen sie an ihrem Sehnsuchtsort ankommen.
»So fassten sie den Plan, sich auf eine unberührte Welt zurückzuziehen, abseits von allem, um dort noch einmal von vorne zu beginnen. Sie wollten eine neue Welt erschließen und darauf eine neue Gesellschaft errichten, die von dem Wissen der Vergangenheit profitieren, aber zugleich so beschaffen sein sollte, dass die Fehler der alten vermieden würden.«
Andreas Eschbach: Eines Menschen Flügel
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, einen Astronauten im Aufzug zu treffen? Immerhin lieferte mir folgende Begegnung die zündende Idee für dieses Buch: Im Fahrstuhl zur Abflugebene des internationalen Flugplatzes von Houston in Texas stand mir ein Mann gegenüber, dessen Poloshirt das Logo der amerikanischen Weltraumbehörde NASA zierte. Ich selbst trug ein T-Shirt, das ich ein paar Tage zuvor in der Ausstellung The Future Starts Here1 in London gekauft hatte. Darauf war in Sperrschrift zu lesen: IF MARS IS THE ANSWER, WHAT IS THE QUESTION? Etwas am Poloshirt des Mannes mit Schnurrbart und mexikanischem Aussehen irritierte mich, während er still in der gegenüberliegenden Ecke stand. Mein Blick fiel auf den Schriftzug »STS 128« unterhalb des NASA-Logos. STS steht für »Space Transport System«, besser bekannt als »Space Shuttle«, die ehemalige US-amerikanische Weltraumfähre. Auf das Logo deutend, fragte ich den Mann scherzhaft, ob er denn im Shuttle mitgeflogen sei. »Ja«, antwortete er trocken, »in der Discovery.« Ich staunte. Dieser unscheinbare Mann war tatsächlich Astronaut! Die »Discovery« war eines der Raumschiffe der NASA, benannt nach dem Segelschiff, mit dem James Cook 1778 Hawaii entdeckte. Auch wenn sich seither die Grenzen immer weiter ausgedehnt haben, sind Menschen noch immer auf der Suche nach der letzten, der ultimativen Grenze.
Belustigt las mir der Astronaut den Spruch auf meinem T-Shirt vor. Was folgte, klang wie eine Art Predigt im Schnellduchlauf: »Wir werden das Weltall besiedeln. Ein neues Zeitalter wird beginnen.« Sicher, im All wurden bislang unzählige wissenschaftliche Experimente durchgeführt. Doch eignet sich das All tatsächlich auch als neuer Lebensraum? Als könne er meine Gedanken lesen, wischte der Astronaut jeden Zweifel fort. »Auf Mond und Mars werden wir unter kontrollierten Bedingungen beobachten, wie Gesellschaft entsteht.« Auf der Stelle neugierig geworden, hörte ich gebannt zu. Fast hätte ich ihm geglaubt. Gleichwohl regte sich Widerstand. Menschen lassen sich nicht unter »kontrollierten Bedingungen« beobachten, dachte der Soziologe in mir. Menschen lassen sich nicht herumschubsen wie Moleküle, sie sind kein formbares Material. Soziale Systeme funktionieren anders als technische. »Waren Sie wirklich im Weltall?«, fragte ich, nur um sicherzugehen. »Haben Sie die Frage zur Antwort?«, kam es selbstbewusst zurück.
Eine passende Frage fiel mir in diesem Moment nicht ein. Dafür erinnerte ich mich grob an eine Aussage von Kurt Tucholsky (die ich später wortgetreu nachschlug): »Da leben die Leute in ihren Vierzimmerwohnungen«, sinnierte der Schriftsteller bereits 1928, »aber ›eigentlich‹ sind sie ganz etwas anderes, (…) eigentlich sind wir überhaupt ganz anders, als man glauben könnte, wenn man uns so leben sieht. (…) Es ist ein schöner und gefährlicher (…) Traum, die Realität zu ignorieren, und im Wunschland zu leben, wo es nichts kostet und wo alles glatt und hemmungsfrei zugeht. So fliehen sie – und bleiben auf derselben Stelle.«2
Die Suche nach dem Wunschland – ich fing an zu grübeln! Vielleicht lag darin eine Antwort auf die Frage des Astronauten? Vielleicht ist die Menschheit – sind wir alle – ständig auf der Suche nach einem imaginären Wunschland? Diese Frage ließ sich noch weiterdenken: Wie wäre es, in einer perfekten Welt zu leben? Egal, ob in fernen Siedlungen auf dem Mars, in extravaganten Unterwasserstädten, hocheffizienten Smart Cities oder anarchistischen Reformkommunen. Und überhaupt: Gelang es Menschen auf ihrer Reise durch Raum und Zeit nur ein einziges Mal, eine ideale Welt zu erschaffen und dort gemeinsam zufrieden zu leben?
Abflugebene. Die Aufzugtür öffnete sich, der Astronaut trat hinaus ins Freie. Für einen kurzen Moment drehte er sich noch einmal um. »Denken Sie über die Frage nach!«, rief er mir zu. Worte, die wie ein Auftrag klangen. Dieses Buch ist das Ergebnis meiner Odyssee als wissenschaftlicher Grenzgänger.
Spätestens im Sommer 2021 wurde uns deutlich vor Augen geführt, wie vielschichtig die Sehnsucht nach einer zeitgenössischen Version von Utopia sein kann. Zwei Weltraummilliardäre – Richard Branson und Jeff Bezos – lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den ersten privaten Weltraumflug. Einem weiteren Weltraummilliardär, Elon Musk, gelang es, vier Zivilisten in einer automatisch gesteuerten Kapsel in eine fast 600 Kilometer hohe Umlaufbahn und sicher zurück zur Erde zu bringen. Inzwischen erforschten chinesische Sonden die Rückseite des Mondes, und die chinesische Raumfahrtagentur begann mit dem Bau einer eigenen Raumstation. Vordergründig mag das alles nach aufgeblasenen Ego-Projekten und groß angelegten nationalen Technikoffensiven aussehen. Doch auf der Hinterbühne wird tatsächlich gerade unsere Zukunft neu verhandelt. Diese Projekte markieren als weitere Meilensteine die Odyssee der Menschheit, an deren Ende die Kultur einer neuen Zivilisation stehen wird. Hierbei gilt folgende Grundregel: Nicht moderne Technologien sind die Mangelware des 21. Jahrhunderts, sondern Antworten auf Sinnfragen. Wer möchten wir sein? Was ist uns wichtig? Und wann werden wir endlich lernen, mit einer Stimme zu sprechen, wenn es um die Zukunft der Menschheit zwischen erzwungenem Überlebenskampf und freiwilliger zivilisatorischer Transformation geht?
So stehen wir also am Beginn einer aufregenden kollektiven Reise. Erst wenn immer mehr Menschen utopische Lebensformen ausprobieren, wenn immer mehr Lebensräume auf und unter Wasser erschlossen und Weltraumflüge nach und nach demokratisiert werden, wird die Chance steigen, gerade noch rechtzeitig einen distanzierten Blick auf uns einzunehmen. Dieser neue archimedische Punkt ist aber dringend notwendig, um richtungweisende und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen zu können. Pioniere real-utopischer Projekte verwandelten die Welt durch mehrere Jahhrhunderte hindurch in ein Labor, in dem Zukunft immer wieder getestet wurde. Astronauten und Kosmonauten überschritten die vorläufig letzte Grenze. Zusammen könnten sie uns helfen, den Blick für neues Terrain zu schärfen – für ein Wunschland, das Vertrautes infrage stellt und den hochwillkommenen Neustart einer planetarischen Gesellschaft möglich macht.
Genau darum geht es in diesem Buch.
Jede neue Welt beginnt mit riskanten Gedanken. Bislang brachte keine Branche mehr Utopielust hervor als die Raumfahrt, nirgends ist die Suche nach dem Wunschland aufregender: Sehnsuchtsvolles Streben, unermüdliche Experimente, gelegentliches Scheitern, aber auch kollektives Lernen – das ist der Spannungsbogen, der bisher den Aufbruch ins All prägte. Vor allem eine Mission verkörpert diese Eigenschaften in Reinform.
Apollo 13 ist die aufregendste Beinahe-Katastrophe der Raumfahrt. Auf dem Weg zur dritten Mondlandung bestanden die Astronauten Jim Lovell, Fred Haise und Jack Swigert das ultimative Abenteuer. Am dritten Tag ihrer Mission im Frühjahr 1970 explodierte 328.000 Kilometer von der Erde entfernt ein Tank mit Flüssigsauerstoff im hinteren Versorgungsteil des Raumschiffs. Die Kommandokapsel verfügte lediglich über Strom und Sauerstoff für eine weitere Viertelstunde. Der Ausfall der lebenserhaltenden Systeme war unmittelbar existenzbedrohend. Jack Swigerts coole Durchsage an Mission Control – »Houston, we have a problem« – wurde zum ikonischen Funkspruch. Mit viel Improvisation überlebten die Astronauten. Sie umrundeten den Mond in dem Teil des Raumschiffes, das eigentlich für die Mondlandung vorgesehen war, sie streckten die vorhandenen Vorräte an Sauerstoff, bastelten einen Adapter und hielten sich so weitere 90 Stunden am Leben. Die ganze Welt verfolgte das Drama. Der amerikanische Präsident Richard Nixon telefonierte vorsorglich mit den Partnerinnen der Astronauten. Millionen sahen live dabei zu, wie die Kapsel schließlich am Fallschirm im Pazifik landete. Nur 45 Minuten später betraten die drei Astronauten erleichert den roten Teppich auf einem Flugzeugträger. Der Name ihres Raumschiffs: »Odyssey«.
Mit Apollo 13 hatte die NASA bewiesen, dass sie komplexe Probleme in den Griff bekommt. »Die Mission war nicht im eigentlichen Sinne erfolgreich«, erinnert sich der ehemalige Kommandant Jim Lovell 2020 anlässlich des 50. Jahrestags dieses besonderen Weltraumfluges, »aber sie zeigte, wie Menschen, die gemeinsam an einer Sache arbeiten, ein komplettes Desaster in etwas Positives umdrehen können.«3 Genau diese Denkart veranlasste Menschen immer wieder dazu, utopische Experimente zu starten und auf das Beste zu hoffen. Wer auch immer sich in Zukunft für eine bessere Welt engagieren wird, in dieser Mentalität findet sich eine der Grundlagen für Erfolg. Raumfahrt kann als Paradebeispiel für Utopielust dienen, denn dahinter verbirgt sich weit mehr als bloß ein technologisches Megaprojekt. Vielmehr ist Raumfahrt eine kulturelle Aufgabe, weil der Aufbruch ins All dazu zwingt, die richtigen Fragen über unsere Zukunft zu stellen.
Bislang hielten sich knapp 600 Menschen im All auf. Einer von ihnen ist José Moreno Hernández, der Astronaut, den ich in Houston im Aufzug traf. Seine Geschichte steht exemplarisch für die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Als Kind von Wanderarbeitern pendelte Hernández jahrelang zwischen Mexiko und den USA, erst spät lernte er Englisch. Als er mit zehn Jahren den beiden Apollo-17-Astronauten beim bislang letzten Mondspaziergang zusah – zwei Jahre nach der Explosion auf der »Odyssey« –, beschloss er, später selbst Astronaut zu werden. Hernández verfolgte sein Ziel mit Ausdauer, erst mit seiner zwölften Bewerbung berief ihn die NASA 2003 als Missionsspezialist für den 37. Flug der Weltraumfähre »Discovery«. Sechs Jahre später war es endlich so weit: Hernández flog ins All.
Bemannte Raumfahrt war zu dieser Zeit schon recht hemdsärmelig geworden, etwas zwischen Paketdienst im Orbit und Wissenschaft mit Aussicht. Für Hernández blieb die Mission »STS-128« der einzige Raumflug. Genau 13 Tage, 20 Stunden und 54 Minuten durfte er im All verbringen. Damit rangiert er irgendwo zwischen den mutigen Pionieren, die kurze Abstecher in die Erdumlaufbahn machten, damit aber in die Geschichtsbücher eingingen, und den Langzeit-WG-Bewohnern der internationalen Raumstation ISS. Inzwischen ist Hernández Präsident und CEO von zwei Beratungsunternehmen, spezialisiert auf kosteneffiziente Weltraumtechnologien, PT Strategies4 und Tierra Luna Engineering.5 Damit ist er Teil einer Bewegung, die sich »New Space« nennt und die Privatisierung der Weltraumfahrt vorantreibt.6 New Space wird von privaten Investoren und Weltraummilliardären wie Richard Branson, Jeff Bezos und Elon Musk angeführt, die entweder von Weltraumhotels im Orbit, Massentourismus im All oder gar von Marssiedlungen träumen. Die neuen Weltraum-Gurus wollen nicht weniger als eine Zivilisationswende. Seit Branson und Bezos 2021 sogar persönlich in den Weltraum flogen, kennt die Begeisterung kaum noch Grenzen. Symbolik und Timing passen. Endlich gibt es wieder authentische Vorbilder und große Pläne. Millionen junger Menschen begeistern sich für eine Zukunft im All. Weltweit verfolgen Space-Enthusiasten die Vorbereitungen weiterer Missionen. Freiwillige treten an, um in Isolationsexperimenten Fernreisen zum Mars zu simulieren. Start-ups konkurrieren um Erfindungen, Zuwendungen und Investoren.
Alle zusammen sind sie Teil einer kollektiven Heldenreise, bei der es weniger darum geht, dass Einzelne ihr Ziel erreichen, sondern im Idealfall die ganze Menschheit. Auch wenn Raumfahrt von privilegierten Nationen und Personen betrieben wird, geht es am Ende doch immer darum, das Leben auf dem »Raumschiff Erde« zu verbessern. Letztlich sind wir daher alle – direkt oder indirekt – Teil eines groß angelegten Zivilisationsexperiments, dessen Ausgang noch ungewiss ist. Denn Missionen, die sich auf die Suche nach besseren Welten begeben, zeichnen sich durch ein wiederkehrendes Muster aus. Was als planvolle Suche nach dem Wunschland beginnt, endet allzu oft in einer »Quest« (von altfranzösisch: »queste«), einer »Irrfahrt«.7 Genau in diesem Sinne lässt sich die Menschheit als Gemeinschaft von Sinnsuchenden verstehen, die sich auf einer ständigen Pilgerfahrt zur Vollkommenheit befindet.
Auf der Suche nach dem neuen Leben wird die Reiseroute durch Wünsche und Erwartungen, Erfolge und Enttäuschungen sowie immer wieder durch die Hoffnung auf Neubeginn bestimmt. Denn so einfach ist es ja nicht, eine bessere Welt zu schaffen. »Auswandern und irgendwo einen Klub oder einen Minimalstaat auftun, der nach dem utopischen Rezept lebt«, so der wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus umstrittene Philosoph Hans Freyer hellsichtig, mache allein noch keinen Zivilisationswandel. Selbst utopisch grundierte Idealvorstellungen lösen sich nur selten vom Bekannten. Fast immer bestimmt die Herkunft der Utopisten auch die Vorstellung vom Wunschland. Wer also zukünftig von Weltraumkolonien, Marsstädten oder Unterwassersiedlungen träumt, muss nicht nur geografische oder technologische Grenzen überwinden, sondern zunächst einmal kulturelle und biografische Barrieren.
Leider gelingt das nur äußerst selten. Es ist auffallend, dass bislang so gut wie alle historischen Realexperimente mit gelebten Utopien »kläglich gescheitert« sind, so Freyer.8 Aus dem permanenten Zerfall utopischer Experimente leitet der Philosoph eine fundamentale Kritik an Utopien ab. Etwas mehr Entspannung wäre allerdings angebracht. Denn selbst in jämmerlichen Komödien und furchtbaren konzeptionellen Missgebilden real-utopischer Experimente lässt sich noch ein produktiver Beitrag zur Zukunft der Menschheit erkennen, wenn ihnen das Gift der Schwärmerei entzogen wird.
Bislang besteht die Odyssee der Menschheit aus vielen Etappen. Wer historische, konzeptionelle und geografische Perspektiven miteinander verbindet, erkennt nach und nach das faszinierende Bild zentraler Menschheitsexperimente und deren Langzeitfolgen. In diesem Buch geht es darum, diese Traditionslinie anhand ausgewählter Projekte nachzuzeichnen, bei denen sich Träume und innere Bilder in konkrete Orte und greifbare Lebensmodelle verwandelten. Zum Glück gibt es reichlich Anschauungsmaterial zu derartigen utopischen Versuchsanordnungen. Utopische Orte wurden und werden zu Lande, zu Wasser, unter Wasser sowie im Weltall geplant. Da ist die Lebensreformkolonie »Monte Verità« bei Ascona, um 1900 gegründet von Henri Oedenkoven und Ida Hofmann; Henry Fords Stadtstaat »Fordlândia« mitten im Amazonasbecken, eine ideale Company-Town, die in den 1930er-Jahren nach US-amerikanischem Vorbild errichtet wurde; »Levittown«, nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet von Abraham, Alfred und Bill Levitt – märchenhafter Prototyp amerikanischer Vorstädte; die spirituelle Weltuniversität und kosmopolitische Experimentalanordnung »Auroville« in Indien, die zeitgleich zum Space Age in den 1960er-Jahren entstand; oder »Celebration«, eine von Walt Disney ersonnene und schließlich in den 1990er-Jahren verwirklichte Zukunftsstadt.
Wer verstehen möchte, wie Utopien praktisch werden und was dabei alles passieren kann, kommt an diesen Fallbeispielen nicht vorbei. Aber wie genau hat sich die Erkenntnismelodie seit den ersten Versuchen geändert? Was könnten wir inzwischen alles besser machen? Diese Frage ist deshalb so zentral, weil selbst futuristische Utopien auf frühe Entwürfe zurückgreifen – allerdings ohne deren Schattenseiten anzuerkennen. Gegenwärtig entstehen Bunkerstädte als Rückzugsorte für die post-apokalyptische Gemeinschaft der Superreichen. Libertäre Vordenker wie Peter Thiel planen in Form von »Seasteads« schwimmende Mikronationen in internationalen Gewässern. Techno-Utopien wie »Neom« (Saudi-Arabien) oder das »Venus Project« (USA) verdeutlichen, wie die Suche nach besseren Welten zunehmend auch die Verschmelzung menschlicher und künstlicher Intelligenz erforderlich macht. Unterwasserstädte wie »Ocean Spiral City« (Japan), erst recht aber die von Elon Musk projektierte Weltraumkolonie »Mars City« verschieben möglicherweise die Selbstverständlichkeiten unserer Zivilisation.
Auf der Suche nach dem neuen Wunschland rüstet sich die Menschheit dafür, ihr angestammtes Terrain auszuweiten, neue Habitate zu erschließen und teils wilde soziale Experimente zuzulassen. Hierbei gilt die goldene Regel, dass Zivilisationsmüden – meist priviligierten Menschen aus westlichen Kulturen – keine Mühe zu groß ist. Die Besiedlung des Mars wird kein Wochenendausflug sein. Unterwasserstädte sind keine Bastler- und Baumarktprojekte. Schwimmende Staaten benötigen komplexe Lösungen für rechtliche, ökologische und ökonomische Herausforderungen. Sind wir alle bereit für diese Zukunft? Oder werden es am Ende doch wieder nur Eliten und Auserwählte sein, die profitieren?
Immer wieder fühlten sich Menschen von ihrer zeitgenössischen Mehrheitsgesellschaft, von kapitalistischen Unterdrückern, politisch Unfähigen oder kulturell Unterbelichteten entfremdet. Utopische Projekte sind daher wiederkehrende und greifbare Versuche, die damit verbundenen Störungen zu beheben. Es sind explorative Versuchsanordnungen, zeit- und ortsgebundene Reservate des Möglichkeitssinns. Soziale Experimente mit dem Potenzial, die Welt zu verändern. Die Magie des Wunschlands besteht darin, dabei immer wieder an den eigenen Ansprüchen zu scheitern und dennoch weiterzumachen. Warum wollen Menschen immer nur das Beste, erschaffen dann aber Chaos und Leid? Genau diesem Kreislauf spüren die im Buch versammelten Fallgeschichten nach – von der Sehnsucht nach dem Besseren über die Planung und Ankunft im Wunschland, die vielfältigen Experimente im Labor des Alltags bis hin zu Zweifeln oder gar Konflikten, dem finalen Scheitern sowie neu aufkeimender Hoffnung auf Neubeginn.
In utopischen Projekten verstecken sich Dramen. Zusammengenommen stehen sie für die Suche nach einer verborgenen Reset-Taste, für die Idee des Neubeginns. Und so bilden die Geschichten dieses Buches das ganze Spektrum zwischen »Optimismus der Vorstellungskraft« und »Pessismus des Intellekts« ab.9
Utopisten sind Menschen, die die Realität als ungemütlich empfinden und sich an der Möglichkeit berauschen, die Probleme der Zeit abzustreifen und fortan im Wunschland zu leben. Diese Sehnsucht nach idealen Welten ist uralt. Einige dieser Utopien gehören zum literarischen Fundament westlicher Gesellschaftskonzepte, wie etwa »Civitas Veri« (Stadt der Wahrheit) von Bartolomeu del Bene (1515–1595), »Civitas Solis« (Der Sonnenstaat) von Tommaso Campanella (1568–1639) oder »Nova Atlantis« von Francis Bacon (1561–1626). Sie alle bezeugen die Idee des Neustarts. In der philosophischen Komödie »Die beste aller Welten« von Steven Lukes reist Professor Caritat gar durch die Geschichte der Utopien, weil er ergründen möchte, für welche es sich zu kämpfen lohnt.10 Auch der zeitgenössische Science-Fiction-Roman »Weißer Mars« von Brian W. Aldiss und Roger Penrose (Letzterer seit 2020 Nobelpreisträger für Physik) erzählt eine utopische Explorationsgeschichte: Eine Katastrophe schneidet 6000 Siedler und Wissenschaftler von der Erde ab, sie stranden auf dem Mars. Rettung ist unmöglich. Ihre einzige Chance besteht darin, eine neue Gesellschaft auf dem roten Planeten aufzubauen. Und so beschäftigen sich die Überlebenden ganz praktisch mit den Idealen einer gerechten Gesellschaft.11 Unterm Strich gleichen sich die meisten dieser Fiktionen. Jede Utopie »will eine geschlossene, in sich stimmige, überzeugende und (…) lebensfähige Welt sein«, so der Philosoph Hans Freyer.12 Allerdings geht es in diesem Buch nicht um Literatur, sondern um gelebte Utopien. Im Mittelpunkt stehen projekthafte Experimente oder »reale Utopien«, wie der Soziologe Erik Olin Wright sie nennt.13
Vielleicht ist gerade die Raumfahrt die realste aller Utopien? Satelliten bestimmen schon jetzt unsere Datenströme und damit unser Leben. In Zukunft werden Weltraumexplorationen zudem neue Kulturtechniken hervorbringen. Vor allem aber halten sie den Wunsch nach Neubeginn lebendig. Erinnern wir uns an den Astronauten im Aufzug. Wenn »Mars« die Antwort ist, dann passt dazu eigentlich nur eine Ausgangsfrage: Wie wäre es, wenn wir noch mal ganz von vorne anfangen könnten? Utopisten sehen auch in der lebensfeindlichen Umwelt auf dem roten Planeten die einzigartige Chance, Gesellschaft neu zu erfinden. Doch selbst auf der Erde – im Hier und Jetzt – stellt sich immer wieder die Frage, ob es Alternativen zum ewigen Durchwursteln gibt. Können wir es nicht besser? Wie wäre es eigentlich, in einer idealen Welt zu leben? Einer ohne verwirrende Komplexität, dafür mit klaren Regeln, die das allgegenwärtige Durcheinander bändigen? Gegenentwürfe zu einer als Enttäuschung erlebten Gegenwart ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. »Die Welt neu und besser erfinden. Nichts Geringeres«: Im europäischen Schmelztiegel der 1920er-Jahre repräsentierte dieser revolutionär angehauchte Leitspruch (aufgeschnappt in der in dieser Zeit spielenden TV-Serie »Babylon Berlin«) das fundamentale Bedürfnis nach Neuanfang. Doch während die einen bloß vom Schlaraffenland träumen, brechen andere tatsächlich auf. Um ihr Wunschland zu erreichen, nutzten sie, was die jeweilige Epoche hergab, also Pferde, Segelschiffe oder Flugzeuge. Und nun eben auch Raumschiffe. Tatsächlich sind jedoch die technischen Transportmittel viel weniger interessant als die Motivgeschichten, die hinter jedem einzelnen Aufbruch stehen. Allesamt angetrieben von etwas, das die Philosophin Hannah Arendt »Natalität« nannte: die Fähigkeit, Neues oder sogar Unvorhergesehenes zu erschaffen.
Trotz aller Bemühungen blieb das wirklich perfekte Wunschland bislang unentdeckt. Und so wird sich unsere Odyssee immer weiter fortsetzen. Auf der Suche nach der idealen Welt oder zumindest nach neuen Lebensräumen dringen Menschen bis heute immer wieder ins Unbekannte vor, besetzen Territorien, gründen Kolonien. Es sind Neuanfänge, die das Potenzial haben, alte Fehler gleich mit zu überwinden. Wohl deshalb sind die Geschichten der utopischen Experimente in diesem Buch voller Träume, Visionen, Experimente und Neuanfänge. Aber eben auch immer neu aufkeimender Hoffnung. Genau diese Fortsetzungsgeschichte steht im Mittelpunkt des Buches.
Der Schritt vom Vertrauten ins Unbekannte ist der Treibstoff aller Utopien. Wer dabei an den Grenzposten zur Utopie patroulliert, lernt, demütig zu staunen. Kurz nach dem Ausstieg zum ersten Außenbordeinsatz aus seiner Voskhod-Kapsel 1965 funkte der humorbegabte Kosmonaut Alexej Leonow die Meldung zur Bodenstation, dass die Erde tatsächlich absolut rund sei. Nur durch ein dünnes Kabel mit dem Mutterschiff verbunden, schwebte er für zwölf Minuten schwerelos im All. »Du kannst es kaum fassen«, jubilierte Leonow 500 Kilometer über dem Erdboden, »nur hier draußen können wir die Erhabenheit spüren von allem, was uns umgibt.«14 Kurze Zeit später kämpfte er wegen einer Panne ums Überleben und gelangte nur durch Nervenstärke wieder zurück ins Raumschiff. Genau ein Jahrzehnt nach diesem Erlebnis war Leonow an Bord der sowjetischen Sojus-19-Kapsel, die an ein amerikanisches Apollo-Raumschiff ankoppelte: Es war das allererste Mal in der Geschichte der bemannten Raumfahrt, dass Menschen aus der damaligen Sowjetunion und den USA im All jenseits aller irdischen Differenzen erfolgreich zusammenarbeiteten. Noch dazu mitten im Kalten Krieg. »Zwischen Astronauten haben niemals Grenzen existiert«, erinnert sich Leonow. »Der Tag, an dem auch Politiker dies begreifen, wird unseren Planeten für immer verändern.«15
Wer aus einem Raumschiff blickt, sieht keine Grenzen. Auch deshalb entwickeln viele Astronauten eine Vorliebe für »Earthgazing«, das schauende Bestaunen der Erde aus dem All. Gleichzeitig macht die Abwesenheit von Grenzen sprachlos. Leider gab es bislang keinen Dichter im All, der dazu fähig gewesen wäre, das Erlebte in angemessene Worte zu kleiden. Der Apollo-11-Astronaut Michael Collins merkte einmal an, dass die beste Mannschaft für eine Raumfahrtmission aus »einem Philosophen, einem Priester und einem Poeten« bestehen würde. »Unglücklicherweise«, so fügte er hinzu, »hätten sie sich beim Versuch, das Raumschiff zu fliegen, selbst umgebracht.«16 Dennoch wirkt es fast so, als würde gerade diese wertvolle Sprachlosigkeit die Astronauten und Kosmonauten zu inoffiziellen Botschaftern der Vereinten Nationen machen, denn ihre Plädoyers sind eindeutig: »Wir beten, dass die gesamte Menschheit sich eine grenzenlose Welt vorstellen kann«, so etwa William McCool, Pilot der Space-Shuttle-Mission »STS-107«, nachdem er und seine Crew am 29. Januar 2003 mit John Lennons Song »Imagine« geweckt worden waren.17 Am ersten Tag im All, erklärte der saudi-arabische Astronaut Prinz Sultan Bin Salman al-Saud, habe das Team noch auf die einzelnen Länder gezeigt, dann auf die Kontinente später nur noch auf den Planeten Erde. »Von hier oben sehen alle Schwierigkeiten, nicht nur die im Nahen Osten, seltsam aus, weil die Grenzlinien einfach verschwinden.«18 Und auch Politiker, die mit dem Space Shuttle ins All flogen, staunten über die Grenzenlosigkeit. »Man kommt mit großer Sicherheit zu der Einsicht, dass es dort unten nicht wirklich politische Grenzen gibt«, erklärte der republikanische Senator Edwin Garn. »Man sieht den Planeten plötzlich als ›eine Welt‹ an.«19 Und der demokratische Kongressabgeordnete Bill Nelson schlug nach seinem Ausflug ein ›Gipfeltreffen‹ internationaler Spitzenpolitiker im Weltall vor: »Es hätte einen positiven Effekt auf ihre Entscheidungsfindung.«20
Seit wir die Erde aus der Weltraumperspektive kennen, werden Grenzen immer absurder. Ländergrenzen zu überwinden und mit ihnen die Machstsysteme, die sie symbolisieren, kann also eine starke Motivation für Utopien darstellen. »Länder und Grenzen sind nicht nur Blödsinn, sie sind eine Sauerei«, so der argentinische Essayist Martín Capparós, der sich mit seinem Werk für mehr globale Gerechtigkeit einsetzt. Sie sind ein Mechanismus, der dafür sorgt, dass es Ungleichheit gibt und dass diese Ungleichheit immer wieder gerechtfertigt wird. ›Wir‹ und die ›Anderen‹ heißt dieses Spiel seit Beginn der Menschheit. »Es gibt nichts Traurigeres, Resignierteres, als sich die Welt als eine Ansammlung von Ländern vorzustellen«, findet daher Capparós. »Es gibt keinerlei Grund anzunehmen, dass sie wirklich die Form sind, in der die Welt organisiert sein muss.«21 Auch Joel Friedman, mein Guide im Cradle of Aviation Museum in Long Island bei New York, erklärt mir eine ähnliche Vision einer besseren Welt. »Ich hoffe sehr, dass bald wieder Menschen zum Mond fliegen. Diesmal sollten es aber nicht nur Angehörige einer einzigen Nation sein«, so Friedman. »Es sollte keinen Kampf der Systeme mehr geben, sondern eine Kooperation auf globaler Ebene. Wir brauchen nicht unbedingt eine ›Weltgesellschaft‹. Was wir brauchen, ist eine weltweite Gemeinschaft von Enthusiasten. Nichts verbindet mehr als eine Idee, die alle verstehen, und etwas, nach dem sich alle sehnen.«22
In der Tat kann die Aussicht auf eine grenzenlose Zukunft euphorisieren. »Die uralten Träume von Fortschritt, Wandel, größerer menschlicher Freiheit sind für mich die ergreifendsten überhaupt«, schreibt der amerikanische Raumfahrtpionier Gerard O’Neill in seinem Klassiker »The High Frontier« über Kolonien im Weltraum. »Und die deprimierendste Aussicht für eine auf einen Planeten beschränkte Menschheit ist die, dass viele dieser Träume für immer unerfüllt bleiben werden.«23 O’Neill veröffentlichte bereits 1974 den Beitrag »The Colonization of Space« und gründete wenig später das »Space Studies Institute«, das bis heute daran arbeitet, dauerhafte Kolonien im Weltall zu ermöglichen. Auch wenn Träume dieser Größenordnung noch unerfüllt blieben, nehmen die Optionen für menschliches Dasein stetig zu. Einerseits werden neue geografische Lebensräume – über und unter Wasser, unter der Erde und vor allem im All – erschlossen. Andererseits versprechen diese Projekte längst überfällige Gegenentwürfe zur Standardwelt und eine sinnvolle Alternative zur ewigen »transzendentalen Obdachlosigkeit«24 des Menschen, die der Philosoph Georg Lukács kritisierte. Kurz: Die Arbeit an Utopien verschafft endlich Sinn.
Weltraum-Utopien repräsentieren ultimatives Grenzland und werden zugleich mit Argumenten beworben, die gegenwärtig auch in der »Fridays for Future«-Bewegung zirkulieren. »Das All wird als Eigentum der Menschheit betrachtet«, so der australische Umweltethiker Nikki Coleman. »Es gehört uns allen auf diesem Planeten, also auch den folgenden Generationen. Alles, was dort passiert, ähnelt dem, was auf der Erde passiert.«25 Die neuen Utopien mögen zeitlich und geografisch weit entfernt sein, dennoch faszinieren sie immer mehr Menschen. Darunter gerade solche, die im Sommer 1969 noch zu jung waren, um die erste Mondlandung live mitzuerleben. Er fühle sich um diese Erfahrung regelrecht »betrogen«, erklärt der ESA-Weltraumexperte Markus Landgraf, der auch Vorsitzender der deutschen Mars Society war.26 Der Wunsch, »neue Welten zu erkunden, erzeugt immer wieder Gänsehautgefühl«, stellt der ESA-Astronaut Thomas Reiter fest.27 Und der Internet-Milliardär Elon Musk erlaubte sich nur vordergründig einen Scherz, als er mit seiner Falcon-9-Rakete ein rotes Tesla-Cabriolet in den Weltraum schoss. Im Auto, das seitdem durch das Weltall schwebt, sitzt die Attrappe eines Astronauten mit dem Namen »Starman«. Solange die Batterie Strom lieferte, hallte der Bowie-Klassiker »Space Oddity« in Endlosschleife durch das All (wenngleich dort nichts zu hören ist). Im Navigationsdisplay des Wagens erschien der Spruch ›Don’t panic!‹. Inzwischen ist wegen der hohen Strahlung im All wohl nur noch ein Gerippe des Autos übrig. Schräger Humor oder plumpe PR? Vielleicht eher grenzenlose Neugier. Gerade so wie bei Homers Odysseus, dem es darum ging, »zu streben, zu suchen, zu finden und nicht zu ruhen«, wie der Schriftsteller Alberto Manguel in seiner »Geschichte der Neugier« schreibt.28 Ein unabschließbarer Prozess, denn an jedem Ziel beginnt eine neue Sinnsuche, und »so leben wir in einem Zustand des ewigen Fragens und mitreißenden Unbehagens«.
Fest steht, dass sich im 21. Jahrhundert keine neuen Kontinente mehr entdecken lassen. Doch die Begeisterung für das Unbekannte kennt viele Metamorphosen. Im Kennedy Space Center in Florida hat sich die NASA darauf spezialisiert, das Utopische zum Event zu machen. »Wie immer werden es wenige Mutige sein, die aufbrechen«, erzählt ein Film über zukünftige Marskolonien. Doch liegt es wirklich in der DNA der Menschheit, wieder und wieder zu neuen Welten aufzubrechen? »Die Entwicklungsmöglichkeiten sind dabei so grenzenlos wie das Universum selbst«, behauptet die NASA. »It’s not enough!« – anhand dieser Formel werden die Zuschauer dramaturgisch durch die Menschheitsgeschichte getrieben: Wer sind wir? Woher kommen wir? Sind wir allein? Aber wo genau beginnt das neue Leben? Wo endet unsere kosmische Wanderschaft?
Jedenfalls nicht in der Tristesse der Gegenwart, sondern stets in einer noch unerschlossenen Welt. Deshalb erzähle ich von Pionieren, Sinnsuchenden, Träumern, Eigenbrötlern und Kolonisten. Deren Ideen wirken auf den ersten Blick sehr verschieden. Doch sie alle überwanden ihre Panik vor dem Neuen und machten sich auf den Weg ins Unbekannte, um geografische, technologische, soziale und kulturelle Grenzen zu überwinden. Jede reale Form des Wunschlandes – Lebensreformkolonie, Modell- und Idealstadt, spirituelle und intentionale Gemeinschaft, post-apokalyptisches Reservat für Eliten oder gar post-nationaler Ersatzstaat – begann als Fantasie eines Utopisten. Um uns als Mensch in der Welt zu behaupten, sind also nicht nur Heldentum und Neugier zentrale Überlebenstechniken. Sondern zuallererst: unsere Einbildungskraft.
Vor einem Neuanfang steht immer eine Suche: Wer mehr zu gewinnen als zu verlieren hat, macht sich auf. In seinem Roman »Drop City« beschreibt T. C. Boyle, wie eine Hippie-Kommune von Kalifornien nach Alaska aufbricht, um ihr eigenes Wunschland zu finden. »Die Leute versuchten, sich diesen neuen Traum anzueignen, diesen Traum des neuen Anfangs, etwas ganz von vorn und aus dem Nichts aufzubauen«, lässt Boyle einen der Hippies erklären.29 So gut wie alle utopischen Planer gingen bei ihrem Traum davon aus, dass sich Äußeres und Inneres zwangsläufig gegenseitig bedingen: Umwelt, Architektur, Habitat außen – soziales Verhalten, Rituale und Gemeinschaftskultur innen. In gelebten Utopien geht es daher um die materielle Verbindung zur Umwelt sowie die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit: Hardware und Software einer Utopie beeinflussen sich gegenseitig. Leider wird diese Wechselwirkung bei der Planung »smarter« Welten allzu häufig übersehen. Gleichwohl lässt sich Zukunft nur unzureichend mit Computerprogrammen simulieren. Gesellschaft lässt sich nur praktisch realisieren – als ständige Reproduktion sozialer Beziehungen. Gerade deshalb gibt es immer wieder neue Optionen. »Es gehört zur Kultur des Menschen, sich zu fragen, wo er noch leben kann – außer an dem Ort, an dem er schon ist«, erklärt die ESA-Astronautin Insa Thiele-Eich. »Es ist die Neugier, unser Entdeckergeist, der uns ins All treibt.«30
In der Tat macht die Idee von Weltraumkolonien auf besonders anschauliche Weise den menschlichen Willen deutlich, wirklich überall leben zu können. »Es gibt keinen Zweifel, der Weltraum ist eine fabelhafte Grenze«, so der Astronaut Scott Carpenter. »Wir werden ein paar der Geheimnisse lüften.«31 Pläne – ob für Unterwasserstädte, Inselhabitate oder Marskolonien – sind zunächst emotional stark aufgeladene Metaphern. Ihr Sinn besteht darin, Raum für essenzielle Fragen zu eröffnen: Wo ist unser Ort im Kosmos? Wie sieht dort gutes Leben aus? Wie können Menschen dauerhaft in Frieden zusammenleben? Wer diese und weitere Fragen zur Zukunft unserer Zivilisation zulässt, macht sich zum demütigen Lernenden. Der Wert utopischer Projekte liegt also gerade nicht darin, abschließende oder eindeutige Antworten zu liefern, sondern an Fragen zu erinnern, die wir gern verdrängen. Es ist erstaunlich, wie deutlich vielen Pionieren diese Fragen vor Augen standen. Warum lassen sich Menschen auf ein Experiment ein, wo es doch so viele Orte auf diesem Planeten gibt, an denen das Leben bequemer wäre? Ohne Ausnahme waren die realen Utopisten Menschen, die sich nicht länger mit dem Offensichtlichen abspeisen lassen wollten. »Wir alle waren Besucher mit Fragen«, erinnert sich einer der Pioniere des utopischen Lebenslabors »Auroville« in Indien. »Und viele der Fragen sind noch immer unbeantwortet.«32 Das könnte sich nun langsam, aber sicher ändern. Denn die Zeit drängt, die nächste Generation erwartet nicht nur Sinnstiftung, sondern auch konkretes Handeln im Sinne des Planeten.
Utopische Projekte zeichnen sich durch ihren experimentellen Charakter aus. Die Kolonie »Monte Verità«, von Lebensreformern um die Jahrhundertwende in Ascona gegründet, gilt als das erste »kosmopolitische Reformlabor« der westlichen Welt. Henry Ford erkor in den 1930er-Jahren seine Arbeiterstadt »Fordlândia« im Amazonasgebiet sogar zum »Meta-Labor der Zivilisation«. Die spirituelle Utopie »Auroville«, die in den 1960er-Jahren in Südindien entstand, wurde von Anfang an als subtropische »Weltuniversität« geplant. »Es ist ein unglaubliches Privileg«, so einer der Pioniere »Aurovilles«, »Teil dieses herzzerreißenden sublimen Experiments für die Menschheit zu sein.«33 Walt Disneys Modellstadt »Celebration« aus den 1990er-Jahren sollte hingegen ein modernes »Living Lab« werden, um das aufziehende Digitalzeitalter zu erproben. Sobald Menschen in der schnelllebigen Zeit eine Atempause einlegen, die ein wenig von den Zumutungen des Alltags befreit, fangen sie innerhalb kürzester Zeit an, über Utopien nachzudenken. Oder sie gleich umzusetzen. Nicht jedes Projekt, das dabei herauskommt, ist ein verallgemeinerungswürdiges Modell für besseres Zusammenleben. Aber aus allen Experimenten lässt sich etwas lernen – und dieses Buch will zeigen, welche dieser Facetten taugen, um zeitgemäße Utopien zu entwickeln, ohne immer wieder die gleichen Fehler zu begehen.
Experimentelle Utopien waren und sind sogenannte Reallabore. Während der Corona-Pandemie waren wir plötzlich alle Probanden eines ungeplanten Experiments. Noch dazu eines, dessen Ausgang (bislang) unerträglich offen ist. In dieser Hinsicht unterscheiden sich gesellschaftliche Reallabore radikal von der naturwissenschaftlichen Vorstellung eines Labors. Während Experimente in Laboren kontrolliert oder keimfrei ablaufen – es also keinerlei äußere Störfaktoren geben darf –, ist Gesellschaft nur als ein »Labor ohne Wände« denkbar, weder keimfrei noch kontrollierbar. Störendes, Spannungen, Konflikte und Unglücke gehören zwingend mit zur Versuchsanordnung. Mehr noch: Erst Scheitern sorgt für Lernprozesse. Deshalb sind die realen Utopien, die dieses Buch vorstellt, temporäre Versuchsanordnungen, die gesellschaftliches Leben unter direkter Beobachtung zeigen. Die Vielfalt dieser Experimente ist beeindruckend – sie fanden und finden an verschiedenen Orten auf der Erde statt, in schwimmenden Habitaten, in Unterwassserstädten und sogar im All.
Offene Labore funktionieren nach dem immer gleichen Prinzip: Menschen erkennen ein gemeinsames Problem. Also verhandeln sie Zielvorstellungen und Standpunkte, sie erleben Interessenkonflikte und ringen um tragfähige Lösungen. Der Kern dieses groß angelegten Experiments liegt jedoch stets im Tun: Es gilt, abstrakte wissenschaftliche, politische, zivilgesellschaftliche oder auch private Idealvorstellungen so lange in praktisches Handeln zu übersetzen, bis sich ein möglicher Lösungsweg für das identitätsstiftende Problem herauskristallisiert. In offenen Laboren laufen Zukunftstests so ab, als »würde eine Bühne lebendig«, schreibt der französische Philosoph Bruno Latour, »und versuchte, am dramatischen Geschehen mitzuwirken«.34 Auf diese Weise erlauben die »Labore ohne Wände« konkrete Rückschlüsse auf den Zustand unserer Zivilisation.
Wer größer denkt, sieht die Menschheit insgesamt als eine einzigartige Versuchsanordnung an. Doch zunächst: Was soll das sein, die Menschheit? Menschheit ist ein historisch relativ junges Konzept. Wer Menschheit sagt, stellt sich die Welt meist als Einheit vor. Vor nicht allzu langer Zeit blickten Menschen nicht auf die Welt, sondern lediglich bis zum nächsten Dorf und nannten das alles Heimat. Trotz Horizonterweiterung und Hochtechnologien blieb »die Menschheit« eine unbekannte Größe. Gerade wenn es aber um zukünftige Utopien geht, braucht es einen Standpunkt. Entwickeln hier westliche Eliten und Privilegierte ihre technologischen Spielzeuge, oder entstehen soziale Innovationen, die allen – oder zumindest möglichst vielen – Menschen zu einem besseren Leben verhelfen? Und was könnte die erste (kleine) Gruppe für den (großen) Rest tun? Viel wird davon abhängen, wie wir uns selbst sehen. Der britische Autor David Goodhart hat eine einfache, aber hilfreiche Unterscheidung vorgeschlagen: Auf der einen Seite die Gruppe der »somewhere-people«, die nach wie vor ihr festes Zuhause für sich in Anspruch nehmen, auf der anderen die der »anywhere-people«, die prinzipiell überall zu Hause sein können. Ein menschheitsübergreifendes »Wir-Gefühl« wird erst dann entstehen, wenn mehr Menschen eine planetarische »anywhere«-Haltung einnehmen, ohne gleichzeitig ihren biografischen »somewhere«-Anteil zu verleugnen.
Das Zeitalter der Aufklärung mit seiner »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« im Paris des Revolutionsjahrs 1789 war eine zentrale Etappe auf dem Weg zum Selbst-Bewusstsein von Menschheit als einer großen Familie. Fast ließe sich sagen: die Idee der Verschmelzung von »somewhere« und »anywhere«. Allerdings macht allein der Blick auf die weltweit unterschiedlich interpretierten Menschenrechte deutlich, wie schwierig es ist, sich eine soziale Einheit und Gleichheit wirklich aller auf diesem Planeten vorzustellen. Noch dazu als Gruppe, die auch nur annähernd Interessen, Werte oder Zukunftsvorstellungen teilt.
Gleichwohl ist die Idee einer »Menschheit« zu Recht die Grundierung von Utopien, weil daran automatisch Fragen nach einer kollektiven Zukunft geknüpft sind. Erst die möglichen Extreme möglicher Zukünfte (im Plural!) zeigen, worauf es bei einer Menschheit ankommt. »Entweder wir verlassen die Erde, oder wir verschwinden«, prognostiziert in diesem Zusammenhang der theoretische Physiker Michio Kaku. »Es gibt keinen anderen Weg. Das ist die Geschichte des Lebens.«35 Ein Untergangsszenario ist für ihn ein Naturgesetz, egal ob ein alles vernichtender Meteoriteneinschlag, eine Pandemie oder eine Naturkatastrophe schuld sein werden. Die Menschheit hat inzwischen allemal bewiesen, dass sie das atomare Potenzial besitzt, die vorherrschende Weltordnung und damit auch gleich sich selbst zu zerstören. Also Flucht ins All? »Die Dinosaurier sind ausgestorben«, so jedenfalls der Science-Fiction-Autor Larry Niven augenzwinkernd, »weil sie kein Raumfahrtprogramm hatten.«36 Wie viele andere Apologeten von Fluchtutopien folgert er daraus, dass es nun an der Zeit sei, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und zur abenteuerlichen nächsten Etappe unserer Odyssee aufzubrechen: bloß weg hier. »In gewisser Weise ist die Sehnsucht nach Exploration in unseren Genen«, behauptet auch der Physiker Kaku, »sie ist fest mit unserer Seele verdrahtet.«37
In Sachen Exploration gibt es derzeit nur eine Richtung. »Eine Marssiedlung, wie klein auch immer«, führt der Raumfahrtjournalist Florian Nebel aus, »stellt einen Überlebensraum für die Menschheit außerhalb der Erde dar.«38 Aber ob mit einem winzigen Habitat auf dem Mars »die Menschheit« zu retten ist? Richtig ist, dass der Mars der Planet sein wird, der in rund sieben Millarden Jahren die Explosion unserer Sonne überdauern wird, der erste Ort also, »an dem Menschen dem Ende der Erde entkommen können«, argumentiert Nebel. Immer geht es um die Frage, ob Weltraumfahrt auf ein eskapistisches »Hilfsprogramm zum Aufbau einer neuen Welt«39 reduziert wird oder ob der damit verbundene Perspektivwechsel dazu anregt, unseren Heimatplaneten in seiner Einzigartigkeit wertzuschätzen. Für Kritiker wie den Wissenschaftler James Lovelock ist die Vorstellung eines Ersatzplaneten hingegen eine »perverse« Vorstellung, solange die Menschheit den wirklichen Zustand der Erde ignoriert. »Die Hoffnung, irgendeine Oase auf dem Mars zu finden, rechtfertigt die enormen Ausgaben nicht«,40 kritisiert Lovelock, der mit seiner »Gaia-Hypothese« dafür plädiert, die Erde als eigenständige Manifestation von Leben zu verstehen. Und daher auch so zu behandeln.
Welche Utopie auch immer in den Mars projiziert wird: Niemals wird er ein Ersatz für den irdischen Lebensraum sein. Schon gar nicht für alle Bewohner unseres Planeten. Der ESA-Astronaut Thomas Reiter bringt es auf den Punkt: »Es gibt keinen Planeten B.«41 Die beliebte Chiffre »Planet B« ist daher doppeldeutig. Sie wird gleichermaßen als Titel eines Podcasts über den möglichen Neuanfang unserer Zivilisation42 verwendet als auch als Protestaufdruck auf T-Shirts. Während die einen auf möglichen Ersatz für die Erde hoffen, plädieren die anderen dafür, genau diese Erde zu schützen. In welchem Zusammenhang auch vom »Planeten B« die Rede ist, immer wird damit die Notwendigkeit unterstrichen, sich jenseits aller definitorischen Schwierigkeiten eine Menschheit als Kollektivakteurin vorzustellen, die gemeinsam die Zukunft ändern kann – oder vielmehr muss, weil es nur einen einzigen Planeten gibt. Vielleicht liegt darin der eigentliche Sinn der Idee vom Ersatzplaneten. Denn wir werden erst dann beginnen, uns als Teil einer planetarischen Gemeinschaft zu verstehen, wenn wir aufhören, unseren ersten und einzigen Planeten aufzufressen. Erst dann müsste niemand mehr fliehen. »Menschheit« ist damit für mich letztlich nur ein anderer Begriff für das Bekenntnis, möglichst kooperativ für eine bessere Welt einzutreten. Oder es zumindest zu versuchen. Wenn das so ist, stellt sich die Frage: Wo könnte das utopische Wunschland für diese Menschheit liegen?
Für den Soziologen Karl Mannheim taucht das Utopische genau dort auf, wo sich das eigene Bewusstsein nicht mehr mit dem Sein in Deckung bringen lässt, wo also die bestehenden Ordnungen gesprengt, umgewälzt oder transzendiert werden.43 Meist passiert dies nur in Gedanken, doch hin und wieder werden konkrete Projekte realisiert. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede dabei zu erkennen sind, zeichnen die Fallbeispiele in diesem Buch nach. Für Mannheim liegt hier auch die Unterscheidung zwischen Ideologie und Utopie. Die reale Utopie entsteht im konkreten Handeln, sie ist mehr Prozess als endgültige Zielvorstellung. »Dass aus Zuständen neue Gedanken, aus den Gedanken neue Zustände werden«, so Mannheim, »ist die Arbeit der Menschen.« Reale Utopien bringen also harte Arbeit zwischen Traum und Trivialität mit sich. Dazwischen könnte das Wunschland entstehen. Die im Buch vorgestellten Projekte umfassen Utopien der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Hightech-Habitate wie Siedlungen unter Wasser oder in der lebensfeindlichen Umwelt auf dem Mars sollten erst dann ernsthaft in Angriff genommen werden, wenn wir verstanden haben, welche Arbeit jenseits des Technologischen für den Erfolg derartiger Missionen notwendig ist.
Bislang steckten hinter utopischen Welten meist planende Patriarchen. Männer schwangen sich zum allmächtigen Entscheider auf, zum Taktgeber im Alltag. Greifen Mächtige durch eigensinnige Regelwerke in das Leben von Mitmenschen ein, werden allerdings nicht Utopien, sondern Sozialtechniken real, die selten Spaß machen. Oft benennen die Patriarchen ihre Realutopien auch gleich nach sich selbst. So wie die Modellstadt »Saltaire« – 1851 vom Baumwollfabrikanten Titus Salt in Yorkshire gegründet. Bis heute gilt »Saltaire« als Prototyp sogenannter Company-Towns, paternalistischer Arbeiterstädte. Auf dem Höhepunkt der Industrialisierung sorgte sich der Großindustrielle Salt um das Wohl seiner Leute. Zahlreiche Sozialreformer setzten sich für bessere Bildung und gesündere Lebensverhältnisse ein, um die Folgen der Industrialisierung abzumildern. Während sich Karl Marx um das Immaterielle kümmerte, war Salt der Mann der Stunde für das Materielle. Also drückte der selbst ernannte Utopist die Reset-Taste und entschloss sich, gleich eine ganze Stadt mit Schule, Bibliothek, Waschküche und Kirche zu errichten. »Saltaire« sollte mitten im viktorianischen Zeitalter eine soziale Utopie sein und zeigen, wie besseres Leben für alle aussehen könnte: ein Reformgedanke übersetzt in belebte Architektur. »Die Modellstadt sollte das Alte und das Neue verbinden«, so der Lokalhistoriker Jack Reynolds. »Es ging darum, den Paternalismus vergangener Zeiten in das Umfeld der Industriegesellschaft zu übersetzen.«44 Doch wie unter einer Lupe zeigt das Beispiel »Saltaire« auch, wie schnell Utopien in Dystopien kippen können. »Auch in ihrer Freizeit wurden die Arbeiter sozial kontrolliert und diszipliniert«, so ein weiterer Historiker, Gary Firth. »Das öffentliche Verhalten unterlag einer Reihe strenger Regeln, die überwacht wurden. Wer abwich, wurde bestraft.«45
Die Rolle von Titus Salt übernahmen im Laufe der Zeit immer wieder andere. Die Reformgedanken und Reformarchitekturen wandelten sich. Von anarchistischen Aussteigerkolonien über Modell- und Planstädte bis hin zu Hightech-Habitaten über oder unter Wasser findet sich so gut wie jede Experimentalanordnung. Wenngleich die Projekte äußerlich unterschiedlich wirken mögen, lassen sie sich doch auf einer gemeinsamen Traditionslinie anordnen. Mit allen Projekten war und ist die Idee der Modellhaftigkeit verbunden. Dabei ist es eher nebensächlich, dass sich die äußere Form des Wunschlandes wandelt: Statt von sauberen Arbeiterstädten wird im 21. Jahrhundert eben von sicheren Marskolonien geträumt.
Weil jedoch erneut meist männliche Träumer, Visionäre und Utopisten stellvertretend für alle anderen festlegen, was richtig und falsch ist, schleicht sich in jedes einzelne dieser utopischen Projekte zugleich eine dystopische Komponente ein. Erleuchtete Besserwisser nehmen für sich in Anspruch, den Weg in die Zukunft zu ebnen. »Es ist erstaunlich, wie gut diese Projekte funktionieren, wenn ein Guru da ist, der vorgibt, was richtig und falsch ist und was zu tun ist«, erzählt ein Bewohner von »Auroville«. »Bis man erwacht und merkt, dass der Guru doch nicht allmächtig ist.«46 Damit repräsentieren utopische Projekte dialektische Versuchsanordnungen zwischen Entlastung und Entmündigung. Wird dabei die Ideologie der Effizienz zu stark in den Mittelpunkt gerückt, wie bei den Techno-Utopien »Neom« in Saudi-Arabien oder beim »Venus Project« in Florida, mündet selbst utopischer Alltag in Entfremdung – genauso wie im Zeitalter der Industrialisierung, nur hübscher verpackt. »Wenn wir aber wirklich eine neue Welt bauen wollen«, warnt der Journalist Bob Holmes in einem Beitrag über den »Reboot« unserer Zivilisation im 21. Jahrhundert, »dann sollten wir aufpassen, diese Welt nicht zu effizient zu machen.«47
Ist die Suche nach dem Wunschland deshalb sogar gefährlich? Das hängt davon ab, mit welcher Haltung die Reise ins Unbekannte angetreten wird. Der Glaube an ein perfektes Leben, so der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer, ist »höchst destruktiv und langfristig zum Scheitern verurteilt«.48 Denn erst wenn Utopien gelebt und nicht nur geträumt werden, kommt es zum Perspektivwechsel. Aus diesem Grund stehen real-utopische Projekte und Experimentalanordnungen im Mittelpunkt dieses Buches. Immer dann, wenn Menschen die Zukunft selbst in die Hand nehmen, entstehen spannende Geschichten von Aufstieg und Fall der Menschheit – und der Odyssee dazwischen.
Trotz aller Gefahren funktioniert der Traum von der Utopie noch immer. In einer Art Tauschakt bieten perfekt anmutende Idealwelten vermeintlich jene Orientierung, die in einer als chaotisch empfundenen Welt vermisst wird. Fallen gewohnte Konventionen und Ordnungsbezüge weg – wie zum Beispiel während der Corona-Pandemie –, wirft das viele aus der Bahn. Doch die Eintrittskarte in den trügerischen Garten der Sicherheit hat ihren Preis: die Aufgabe der eigenen Persönlichkeit. So kann es passieren, dass sich große utopische Ideen ungeplant in Schreckensgespenster verwandeln und Visionen zu Gefängnissen werden. Wo Regeln allmächtig sind, entstehen Apparaturen der Kontrolle, Mechanismen der Ausbeutung und Werkzeuge der Entfremdung.
Um sinnvolle Aussagen über unsere Zukunft treffen zu können, sollten wir daher nicht nur über die Machbarkeit smarter Technologien nachdenken, sondern auch über die versteckten kulturellen Kosten idealer Welten. Utopien, die lediglich auf aufsehenserregende Bauwerke oder digitale Infrastrukturen reduziert werden, stehen am Ende ärmlich da. Der Mensch ist dort im Weg und nicht im Mittelpunkt. Vielen zeitgenössischen Utopien liegt zudem ein Menschenbild zugrunde, das noch nicht einmal im Ansatz realistisch ist. Menschen funktionieren nicht wie Maschinen, rational und effizient. Was Menschen einzigartig macht, ist vor allem ihre Irrationalität, wie der Wiener Philosoph Franz Wuketits in seiner kurzen Geschichte der Unvernunft betont.49 Leben ist mehr als Zellteilung und pünktliches Erscheinen am Arbeitsplatz. »Im Laufe meines Lebens habe ich gemerkt, dass viele dieser Projekte auf den ersten Blick schön aussehen«, erinnert sich auch ein Bewohner »Aurovilles«, »aber dann wird es in der Realität wieder von den üblichen Egoismen bestimmt. Trotz großspuriger Visionen kommt schließlich das Kleingeistige an die Oberfläche.«50 Utopien wie »Neom«, »Venus Project«, »Seastads« oder »Ocean Spiral City« setzen fast ausschließlich auf hochtechnologische Lösungen. Paradoxerweise verhindert die Flucht ins Technische gerade diejenigen kulturellen Innovationen, die das Leben wirklich verbessern könnten.
Diese Diagnose ist nicht neu. Bereits in den 1970er-Jahren bestand der verhängnisvollste Effekt des digitalen Wandels darin, den Menschen »alle Überlegungen in Richtung auf eine wesentliche Veränderung aus dem Kopf zu schlagen«, so der hellsichtige Computerpionier Joseph Weizenbaum.51 Mit Computern ließ sich zwar die Effizienz ist vielen Lebensbereichen steigern. Was dabei verloren ging, war allerdings die Fähigkeit, zu definieren, was überhaupt ein gutes und sinnhaftes Leben jenseits der Effizienzillusion ist – eine Frage, die gegenwärtig im Kontext Künstlicher Intelligenz erneut an Relevanz gewinnt. Der Konsens über eine sinnhafte Welt sollte die Voraussetzung für Technologieentwicklung sein, nicht umgekehrt.52 Auch wenn viele Apologeten des Digitalen das Gegenteil behaupten: Mehr Technik und mehr Daten führen nicht automatisch zu einem besseren Leben. Wer so denkt, braucht letztendlich keine Utopien. Die Art von Utopielust, für die dieses Buch wirbt, resultiert auch aus der Demaskierung zeitgenössischer Komforttechnologien, denn mit ihnen sind die Illusionen eines effizienten und kontrollierbaren Lebens verbunden. Was auch immer uns als Zukunft verkauft wird – von Politikern, Wissenschaftlern oder esoterisch angehauchten Trendforschern –, ist meist wenig mehr als die oberflächliche Variation bereits bekannter Trivialitäten. Zukunft wird zur substanzlosen Show, Gesellschaft zum Spektakel.
Das war nicht immer so. Das Space-Age der 1960er-Jahre gilt als vorläufiger Höhepunkt unserer Odyssee. Neil Armstrong, der Apollo-11-Astronaut und »First Man« auf dem Mond, wusste nur zu gut, dass sich die Grenzen der Zivilisation zukünftig noch weiter ausdehnen würden. Der erste Funkspruch vom Mond zur Erde – »The Eagle has landed« – markierte nicht nur die Magie der Ankunft auf dem Erdtrabanten, zugleich wurde damit eine neue Version der Zukunft erfunden. Die Astronauten der 1960er-Jahre waren nur deshalb bereit, beim Ritt auf umgebauten Massenvernichtungswaffen das eigene Leben zu riskieren, weil sie leidenschaftlich an diese Vision glaubten. Konkret daran, dass ihre Reise zum Mond lediglich der erste Schritt auf einer langen Reise der Menschheit in Richtung eines neuen Wunschlandes sein würde. Leider verschwand der Traum im Dickicht der überbordenen Bürokratie von Raumfahrtbehörden und zwischen den Zielkonflikten pragmatischer Politik. Spätestens nach den beiden Katastrophen mit den Space Shuttles »Challenger« und »Columbia«, bei denen jeweils alle sieben Menschen an Bord ums Leben kamen, versteckten sich Weltraumutopien verschämt hinter Trauer und Vorsicht.
Inzwischen ist Weltraum allerdings wieder in. Auch in der Werbung: Der Autohersteller BMW ist mit seinem Modell X3 »On a Mission. Exploring Mars«.53 Ford probt den »Neuanfang« und setzt eines seiner Modelle mit einem Astronauten in Szene. Und die Gattung des Weltraumsongs reicht von »Space Oddity« (David Bowie) und »Walking on the Moon« (Police) bis hin zu »O Astronauta« (Vinícius de Moraes) oder dem Quatschlied »Ich liebte ein Mädchen auf dem Mars« (Ingo Insterburg).
Trotzdem hinterließ die Traditionslinie utopischer Weltraumprojekte überraschenderweise weniger Spuren in unserem kollektiven Bewusstsein als die ersten eigenen Erfahrungen mit einem Commodore 64 oder dem Textverarbeitungsprogramm WORD. Inmitten einer Komfortzivilisation wurde aus Utopielust letztlich Utopiemüdigkeit. Anstatt wirklich Neues zu wagen, werden mit großem Aufwand permanent Standardwelten reproduziert. Allerdings ist die Verlängerung der Gegenwart noch lange kein Zukunftsversprechen. Utopien werden auf kleinräumige Verbesserungen wie Einparkhilfen, Gesundheits-Apps oder Smart Housing reduziert. Statt technologischer Gadgets braucht es zukünftig jedoch eher Innovationen, die dabei helfen, die soziale, kulturelle und ethische »Software« unserer Zivilisation neu zu »programmieren«. Voraussetzung dafür wäre ein Verständnis, dass es Zusammenhänge gibt, die größer sind als wir selbst. Es geht »um den Zweifel an der eigenen Weltsicht und den andauernden Versuch, sich innerhalb des Nicht-Wissens zu verorten«, appelliert der Journalist Georg Diez.54
Um den Weg ins Wunschland zu finden, braucht es eine kollektive Lernkurve der Menschheit. Ohne Rückblick auf die großen Etappen der bisherigen Odyssee bleibt jede zukünftige Planung reines Blendwerk. Wer hingegen die Lektionen real-utopischer Experimente verinnerlicht, erhält kognitives Rüstzeug für zukünftige Neuanfänge. Erst auf den Denkmälern des Scheiterns lässt sich das Neue errichten. Untergegangene Wunschwelten verdeutlichen, wie der menschliche Faktor zum Tragen kommt, der immer wieder gern vergessen wird. Doch wo sollen eigentlich die neuen Träume herkommen? Träumer haben zu Unrecht einen schlechten Ruf. Die Suche nach einem radikalen Neuanfang, einem Reboot oder Reset, wird vor diesem Hintergrund zu schnell in die Nähe von Geistesgestörtheit gerückt. Dennoch ist gerade der utopische Traum der Schlüssel zum Neuen, eine Möglichkeit der Neujustierung und eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Wahrheit. Als zentrale Kulturtechnik der Vorausschau sind Träume in Gefahr. Gleichzeitig werden Träumer dringender denn je gebraucht. Jedenfalls ist es eine Illusion, dass Gesellschaft eine umbaufähige Einheit darstellt, wie sich das Technokraten in ihrem mechanistischen Denken wünschen. Es reicht nicht aus, nur an ein paar Rädchen zu drehen. Um die Zukunft grundlegend zu ändern, braucht es stattdessen den Eingriff in die Tiefenstruktur unserer kulturellen Matrix – genau deshalb sind neue Utopien so sinnvoll, denn sie verändern Zielvorstellungen, Werte und Handlungsoptionen gleichermaßen.
Die utopische Komponente sollte kein Privileg von wenigen Träumern bleiben, sondern Allgemeingut werden, an Schulen gelehrt, in der Politik hoch verehrt. Im Dezember 2005 gründete der Astronaut José Hernández – der Astronaut, den ich im Aufzug traf – die »José Hernández Reaching for the Stars Foundation«, eine Stiftung, die Stipendien an begabte Nachwuchswissenschaftler vergibt – das ist eine vorbildliche Art, utopisches Denken zu fördern. Der Amazon-Gründer und Weltraum-Guru Jeff Bezos zog mit »Kids for Futures« nach. Immerhin zwei ältere Männer, die erkannt haben, wem die Zukunft gehört.
Unter Utopisten hat die Technik der Rückschau eine lange Tradition, z. B. in der Novelle »Looking Backward« von Edward Bellamy. »Wir werden vom All aus die Erde hüten«, brachte auch der NASA-Raumfahrtexperte Jesco von Puttkamer diese Haltung auf den Punkt.55 Spätestens die Corona-Pandemie machte deutlich, dass es tatsächlich keinerlei EXIT-Möglichkeiten gibt. »Wir haben keine Ausweichmöglichkeit«, glaubt auch die ESA-Astronautin Insa Thiele-Eich. »Selbst wenn ein paar Menschen irgendwann auf den Mond ziehen können, ist das noch lange keine Lösung für die ganze Menschheit.«56
Mit dem Ziel, das zukünftige Wunschland besser zu verstehen, plädiere ich in diesem Buch daher für den Blick zurück. Im Rückspiegel erscheint jedoch nicht die Vergangenheit, sondern vielmehr die immer schon vorhandene imaginäre Rückseite unserer gemeinsam geteilten Wirklichkeit. Im Rückspiegel wartet die Utopie als potenzielle Wirklichkeit. Wir sind dabei, die Welt umzukleiden. Wenn dabei ein paar althergebrachte Grenzen eingerissen werden, wäre es nicht wirklich schade darum. Riecht es dabei ein wenig brenzlig, dann ist das bloß das Parfüm der Utopie.
In der »Space Expo« der Europäischen Raumfahrtagentur ESA im niederländischen Städtchen Noordwijk beobachtete ich einen kleinen Jungen, der auf dem Fußboden kniete und fasziniert in einen Fernseher im Retrolook starrte. Dort flimmerten Bilder aus den 1960er-Jahren: riesige Raketen auf einer Rampe, donnernde Startszenen, Filmsequenzen aus dem All, die geglückte Rückkehr zur Erde, winkende Astronauten inmitten von Konfetti-Paraden. Völlig in diese Welt versunken, vergaß der Junge alles um sich herum. Sehnsucht brennt immer von innen her. Solange es Kinder gibt, die sich von solchen Bildern derart berühren lassen, besteht Hoffnung, dass das Neue in die Welt kommt, auch wenn es nicht einfach ist, es zu finden. Das Wunderland »ist auf keiner Karte verzeichnet«, wie Herman Melville in »Moby Dick« schreibt, »die wahren Orte sind das nie«.57 Wunderland ist vielmehr ein »Ort, den wir durchwandern müssen, wenn wir durchs Leben wandern«.58
Der steinige Weg in eine bessere Welt beginnt mit Sehnsucht. Aber nur der Zweifel an bestehenden Ordnungen resultiert in zukunftsgerichteten Fragen: Wie könnte es stattdessen sein? Deshalb braucht es Menschen, die zumindest versuchen herauszufinden, wo sich das Wunschland befinden könnte, die dabei einer inneren Stimme folgen und nicht warten, bis irgendein Gott, Guru oder Vorgesetzter sie zu sich ruft. Menschen, die losziehen und sich auf den Weg zu ihrem erträumten Sehnsuchtsort machen. Das Dilemma der Pioniere besteht darin, dass es keine verlässlichen Karten gibt, die ihnen den Weg weisen.
Das »Collegium Maius« in Krakau ist eine der ersten Universitäten Europas, eine Trutzburg des Wissens. Der berühmteste ortsansässige Gelehrte war Nikolaus Kopernikus (1473–1543), dem wir eine radikal neue Perspektive auf unsere Welt verdanken. Kopernikus war von zutiefst philosophischen Fragen getrieben: Wo sind wir? Wer sind wir? Fragen, die auch nach 500 Jahren nichts an Relevanz verloren haben. Fragen, die auch Google Maps nicht abschließend beantworten wird. Kopernikus fand heraus, dass sich der Mensch nicht im Zentrum des Universums befindet und die Erde um die Sonne kreist. Auf das geozentrische folgte das heliozentrische Weltbild. Zwischen den vielen Exponaten im »Collegium« – heute ein Museum – findet sich ein Foto des Planeten Erde, aufgenommen aus dem Weltall. Es ist signiert von Neil Armstrong, der 1969 als erster Mensch den Mond betrat. Kurz nach diesem historischen Moment reiste Armstrong nach Krakau, auch um Kopernikus die Ehre zu erweisen. Mit dieser Geste verband er nicht nur Krakau mit Houston, sondern zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er zog eine symbolische Verbindungslinie zwischen allen Pionieren, Träumern und Visionären. Es dauerte lange, bis nicht nur Einzelgänger den Weg zur Wahrheit beschritten. Noch im Jahr 1600, am frühen Morgen des 17. Februar, wurde der abtrünnige Dominikanermönch Giordano Bruno nach acht Jahren Verhör und Einzelhaft lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Trotzig hatte er die Theorie vertreten, dass die Erde sich um die Sonne bewegt. 1616 erklärten die Theologen der Inquisition die Schriften von Galileo Galilei als töricht. Mit seiner Neugier hatte der Universalgelehrte Vertrautes infrage gestellt, doch die Zweifel seiner Umwelt waren stärker. »Bald wird die Menschheit Bescheid wissen über ihre Wohnstätte, den Himmelskörper, auf dem sie haust. Was in den alten Büchern steht, das genügt ihr nicht mehr«, lässt Bertolt Brecht den Gelehrten Galilei sagen. »Denn wo der Glaube tausend Jahre gesessen hat, eben da sitzt jetzt der Zweifel. (…) Dadurch ist eine Zugluft entstanden, welche sogar den Fürsten und Prälaten die goldbestickten Röcke lüftet.«59
Es ist diese Fähigkeit zum Zweifel, sich das Neue überhaupt erst vorstellen zu können, die Forscher mit Utopisten verbindet. Aus Tagträumen können so großartige wissenschaftliche Konzepte, aber auch neue Zivilisationsentwürfe entstehen. Als Robert Goddard, ein genialer Raketenpionier, unter einem Kirschbaum in Worcester (Massachusetts) saß, hatte er bereits Anfang des 20. Jahrhunderts eine Vision vom Leben auf dem Planeten Mars. Unmittelbar danach dachte er sich ein Vehikel aus, das Menschen dorthin bringen würde, und nutzte den Rest seines Lebens, um die technischen Grundlagen dieser Utopie zu erarbeiten.60 Goddard war jedoch nicht der Einzige, der vom Mars träumte. Der Erfinder Konstantin Ziolkowski entwickelte sogar einen Masterplan für die Besiedlung des Weltraums und der Kolonialisierung des Mars. »Die Erde ist unsere Wiege«, so der Grundgedanke seiner kosmischen Philosophie, »aber wir können nicht ewig in dieser Wiege bleiben.«61 Detailliert stellte er sich daraufhin vor, wie es wäre, den Mond oder einen Asteroiden zu betreten, Raumstationen oder Raumstädte zu bauen oder sogar in Richtung Mars aufzubrechen.
Seine Inspirationen bezog Ziolkowski vom Raumfahrtphilosophen Nikolai Fyodorov, der Mitte des 19. Jahrhunderts als leitender Katalogverwalter der Moskauer Bibliothek kurze Wege zu inspirierenden Quellen hatte. Schon Fyodorov rückte den Horizont der Menschheit neu zurecht, indem er die Vision einer kollektiven Anstrengung sowie eines großen Ziels der Menschheit erdachte. »Die natürliche Heimat menschlicher Wesen ist nicht die Erde«, so der Utopist Fyodorov, »vielmehr sind sie Organismen, deren Ökosystem der gesamte Kosmos ist.«62 Weil sich an dieser Ur-Sehnsucht bis heute wenig geändert hat, müssen wir uns endlich der Herausforderung stellen, dieses »große Ziel« gemeinsam zu definieren und praktisch umzusetzen. Raketenformeln helfen hierbei nur bedingt. Vielmehr wird es darauf ankommen, die Sehnsucht nach dem Unbekannten zu fördern.
Am 26. November 2011 startete eine Rakete von Cape Canaveral in Florida zu einer Marsmission. Mit an Bord war ein kleines autonomes Fahrzeug, der Mars-Rover, der auf dem roten Planeten nach Leben suchen sollte. In einem landesweiten Wettbewerb wurde der Name dieses Rovers von einem Gremium der NASA unter 9000 Einsendungen ausgewählt. Gewonnen hat der Vorschlag einer Schülerin, schließlich wurde der Rover »Curiosity« (Neugier) getauft. »Neugier ist eine ewige Flamme, die in den Köpfen aller brennt«, schrieb sie in ihrem Essay. »Sie lässt mich morgens aus dem Bett steigen und mich fragen, welche Überraschungen das Leben an diesem Tag für mich bereithält. Ohne Neugier, diese mächtige Kraft, wären wir nicht das, was wir heute sind. Neugier ist Leidenschaft, die uns durch unseren Alltag treibt.«63 Am 6. August 2012 landete »Curiosity« schließlich auf dem roten Planeten. Die für das Landemanöver ausgesuchte Ebene trägt den Namen »Aiolos«, benannt nach dem König der Winde, dessen Reich auch schon Odysseus durchquerte.
Neugier »wirkt wie eine umgekehrte Gravitationskraft«,64 so der Schriftsteller Alberto Manguel. Sie ließ Pioniere schon immer abheben und den Sprung ins Neue wagen. Allerdings kommt Neugier in zwei verschiedenen Ausprägungen vor: Als vanitas, also Größenwahn. Und als umiltà, Bescheidenheit. Utopische Projekte befinden sich meist in einem Schwebezustand zwischen beiden Extremen. Seit Jahrhunderten inspirieren sich theoretische Utopie-Entwürfe und jene Menschen gegenseitig, die letztendlich zur Tat schreiten, um Utopien zumindest eine Zeit lang praktisch zu erproben. Bereits um 1600 riet etwa der englische Naturphilosoph Nicholas Hill dazu, auf der Insel Lundy eine utopische Kolonie zu errichten – auch wenn er nicht wirklich gehört wurde. Als Ur-Modell utopischer Gemeinschaften gelten daher die frühen Siedlungen der Puritaner in der »Neuen Welt« Nordamerikas. Im 17. Jahrhundert schufen sie sich eine Art Freistaat für alle, die vor der katholischen Abgötterei geflohen waren, und flücheten sich in eine neue Ideologie: Ab 1663 stand in Massachusetts aufgrund puritanischer Lebensregeln Zeitvergeudung sogar per Gesetz unter Strafe. Neuengland galt fortan vielen als Wunschland, in dem »der Herr einen neuen Himmel und eine neue Erde, neue Kirchen und ein neues Reich schaffen« werde, so der zeitgenössische Chronist Edward Johnson.65