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Unter dem blühenden Lindenbaum eines patagonischen Landguts, der die Kulisse von Clementines neunzigstem Geburtstag bildet, treffen zur Jahrtausendwende zwölf Personen aus drei Generationen aufeinander - Sommergäste, von denen jeder seinen Teil der gemeinsamen Geschichte der Auswanderung und Emigration aus einem aus den Fugen geratenen Europa mit sich trägt: die Wiener Jubilarin, ihr Sohn Martin, die Enkel Katha und Gabriel und all die anderen. Sie finden sich nicht bloß mit ungelösten Familienproblemen, sondern auch mit den Geistern der jüngsten Vergangenheit konfrontiert. Das schicksalhafte Gartenfest steigert sich zu einer tragikomischen Klimax trifft unausweichlich ein, unerwartet und wie nebenher. Unverblümt und schwarzhumorig entführt der Austroargentinier Germán Kratochwil in eine gleichermaßen exotische wie allzu vertraute Welt, er bohrt tief in die Vergangenheit und in die Seelen seiner Protagonisten. Eingebettet in die kulinarische und landschaftliche Üppigkeit des scheinbar so bukolischen Andentals entsteht so ein großer europäischer Roman.
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Seitenzahl: 443
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Copyright © 2012 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien Alle Rechte vorbehalten Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien Umschlagabbildung: © Image Source/Corbis Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien ISBN 978-3-7117-5087-7 Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt
Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at
Die Linde ist der Baum der Wohnlichkeit.
Adalbert Stifter, »Nachsommer«
Der Satellit zeigt dir die Peninsula Valdés wie ein Disco-Täschchen, das am patagonischen Festland hängt. Aber hier unten rollst du über eine endlose Landbrücke auf sie zu: Ozean rechts, Ozean links, du kannst dich nicht verfahren. Ein absurder Umweg ist das schon, wenn dein wirkliches Ziel Quemquemtréu heißt – nicht am Meer gelegen, sondern hoch oben in den Kordilleren –, und wenn du auf dem Weg dorthin auch noch ein Meeting mit den Mapuches auf dem Programm hast. Das weißt du alles längst, hast es von Anfang an gewusst, gestand Martin Holberg sich ein; den schweren Wagen lenkte er nur noch mit links, ohne langsamer zu werden. Ja, ein Riesenumweg, und es war sein Fehler, auf Kathas bizarre Wünsche einzugehen: erst einen ganzen Tag whale watching, dann noch das sogenannte Sanktuarium der Lady Di … Ist ihr denn wirklich geholfen, wenn man jedem ihrer Einfälle nachgibt? Sind sie es wert, ein Treffen mit den Indigenen zu verpassen oder gar bei Mamas neunzigster Geburtstagsfeier zu fehlen?
Vorhin, als er noch in der Steppe nach Hinweisen auf die Landbrücke suchte, hatte ihn im Rückspiegel der Sonnenuntergang überrascht. Das schwarze Asphaltband zog ihn immer nur ostwärts, wo es irgendwo im gelben Dunst des vertrockneten Grases verschwamm. Vor der Motorhaube flatterte ein vollgefressener Geier von plattgewalztem Aas hoch. Hinter einem Dornbusch starrten ein paar Guanakos herüber, als hätten sie noch nie ein Auto vorbeijagen sehen. Was ist das nur für eine öde Durchreiselandschaft! Aber nicht zu vermeiden, wenn du deine Ziele erreichen willst. Fragt sich nur: Welche? Und vor allem: Wozu? Das wiederholte er für sich nun schon eine ganze Weile. Was konnte ihm nach elf Stunden Fahrt und in solcher Gegend denn sonst noch einfallen, um das Einschlafen zu verhindern? Ein durchlöchertes Straßenschild, die willkommene Zielscheibe für Besoffene, hatte endlich die Nähe der Península Valdés angekündigt. Doch die Mitteilung, laut in den Wagenfond gerufen, war ohne Antwort geblieben. Nach der Erregung des späten Nachmittags musste Katha eingeschlafen sein.
Sie erreichten den Rand der Steilküste, den Golfo Nuevo. Tief unten, in der weitgespannten Bucht, flimmerte im letzten Sonnenlicht der Südatlantik. Diese breiten, trägen Wellen hatte er vor vierzig Jahren schon einmal durchkreuzt, als Student auf Darwins Spuren, an Deck eines stinkenden Trawlers, der ihn nach Puerto Pirámides brachte. Jetzt musste er hastig herunterschalten: An hohen Sedimentschichten vorüber ging es ein paar Schleifen lang steil hinab, und bald darauf tauchten im Schatten des Abgrunds, wie aus der Erinnerung, die bunten Holzbuden und Katen des Fischerdorfs auf. Bewegungslose Gestalten auf den Veranden, trübes Licht in den Fenstern, Musikfetzen aus einer Kneipe. Der Sandboden verschluckte das Fahrgeräusch des staubigen Mercedes.
Tatsächlich hatte Katha, die Beine an den Leib gezogen, auf dem Rücksitz geschlafen. Erst das Knirschen der Reifen auf dem Schotter vor dem Motel weckte sie jetzt. Der Dieselmotor verstummte; auch die Bilder und Stimmen, die sie am Tag heimgesucht hatten, waren wie abgeschaltet. Und die jähe Stille wirkte belebend. Martin stemmte sich mit seiner Standardfloskel – »Well, here we are!« – aus der Wagentür, richtete sich langsam auf. Aber Kathas junger Körper war schon aus seiner Fötushaltung gefedert und noch vor ihm ins Freie gesprungen. Sie grinsten einander zu und lockerten wie vor dem Jogging ihre Gelenke. Vom Strand her schlug ihnen Algengeruch entgegen. Algen und Fisch.
Dann hörten sie hoch über der Bucht ein Flugzeug. Sie sahen den silbernen Tupfen langsam gegen Osten ziehen, in den dunkelnden Himmel hinein. Eine Propellermaschine. Wie gemächlich diese alte Kiste doch flog! Aber wohin – hinaus in den offenen Ozean? Martin kam es vor, als wollte der Pilot mit seinem Brummton nur die Tiefe der hereinbrechenden Nacht ausloten. Am Empfang gab es Fragen, sie hatten nicht reserviert, es musste der Computer befragt werden. Dr. Martin Holberg? Schließlich bekamen sie das einzige freie Zimmer, eine Art Jugendabsteige mit mehreren Einzelbetten. Na, es war ja gerade mal für eine Übernachtung.
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