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Richard Bertram wollte nur wie gewöhnlich nach seinem alten Nachbarn sehen, als sein Blick – völlig unerwartet – auf die junge Frau fällt, die wie ein Engel der Barmherzigkeit die karge Wohnung der Armut mit ihrer Anwesenheit erhellt und sein sonst so feines weißes Gesicht purpurrot erstrahlen lässt. Das Bild der hübschen Anna, denn so heißt die junge Dame, hat sich seitdem so tief und unauslöschlich seinem Herzen eingeprägt, dass Richard schon bald einer verzehrenden Leidenschaft für die Angebetete verfällt – einer Leidenschaft, die jedoch aus Sicht des gutherzigen jungen Mannes nur unerfüllt bleiben kann, denn Anna Hubertus ist nicht nur die Verlobte eines anderen, sondern auch die Tochter eines reichen Fabrikanten. Richard hingegen ist arm wie eine Kirchenmaus, und als die wirtschaftliche Not durch die Revolutionswirren des Jahres 1848 in der alten Kaiserstadt Wien schier unerträglich wird, entschließt er sich aus tiefster Verzweiflung und Sorge um seine kranke Mutter zu einem fatalen Schritt. Doch das Schicksal macht dem jungen Mann einen dicken Strich durch die Rechnung; denn anstatt ihn seinen traurigen Plan verwirklichen zu lassen, stößt es ihm die Tür zu einem schier unglaublichen Abenteuer auf, an dessen Ende ihn entweder der Tod oder die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches erwartet. Die 'Schicksalspirouetten': Eine Berg- und Talfahrt der Emotionen – voller Spannung, Verzweiflung, Hoffnung und Liebe! ***Als Epilog zu den 'Schicksalspirouetten' enthält diese Ausgabe zusätzlich die Novelle 'Thekla oder Die Flucht in die Türkei'. „In Dumas’scher Manier schrieb sensationell, hochromantisch, auf Effekt und Nervenkitzel rechnend, der talentvolle und fruchtbare Romanschriftsteller August Schrader, eigentlich Simmel – geboren 01. Oktober 1815 zu Wegeleben bei Halberstadt und gestorben 16. Juni 1878 in Leipzig.“ (Dr. Adolph Kohut in: „Berühmte israelitische Männer und Frauen in der Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 2“)
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Seitenzahl: 837
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SCHICKSALS-
PIROUETTEN
Modernisierte Neufassung
eines vierteiligen Romans
von
August Schrader
Gesamtausgabe
Quality Books
2021
Quality Books
Klassiker in neuem Glanz
Textquellen:
Das Staatsgefängniß (Erster bis Vierter Theil)
August Schrader
Erstdruck: 1849, Leipzig, Verlag von Christian Ernst Kollmann
Thekla, oder die Flucht nach der Türkei
August Schrader
Erstdruck: 1851, Leipzig, Verlag von Christian Ernst Kollmann
Sprachlich modernisierte Neufassungen: Marcus Galle
Umschlaggestaltung: Maisa Galle
© 2021 by Quality Books, Hameln
1. Auflage: März 2021
ISBN 978-3-946469-27-8
E-Mail: [email protected]
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Anschrift
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Schicksalspirouetten
Ein Historienthriller aus der alten Kaiserstadt Wien
Erster Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Zweiter Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
Dritter Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Vierter Teil
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Thekla oder Die Flucht in die Türkei
(Epilog zu den 'Schicksalspirouetten')
1.
2.
3.
4.
5.
In eigener Sache
Impressum (Anschrift)
SCHICKSALS-
PIROUETTEN
________________________
Ein Historienthriller
aus der alten Kaiserstadt Wien
ERSTER TEIL
1.
Es war im Mai des Jahres 1848. Noch durchbebten die Schwingungen der Märzrevolution die Länder und rüttelten gewaltig an den Staatsgebäuden, in deren Schoß die Freiheiten der Völker gefesselt lagen. Furcht und Besorgnis für die Zukunft füllten die Brust der bisher vom Glück Gesegneten; Freude und Hoffnung aber zogen in die Gemüter derer, die durch den eisernen Zwang der Verhältnisse vom Glück geschieden und nur willenlose Werkzeuge derselben waren.
In den Straßen der großen und prächtigen Residenz, wo vor wenigen Monaten das blutige Banner des Aufruhrs geflattert hatte, war es lebendiger denn je; der gesunkene Handel und Verkehr begann sich von Neuem tatkräftig zu heben; frei durften sich die Gedanken zu Worten gestalten, und wie von einem drückenden Alb befreit, jubelte alles der jungen Freiheit entgegen, von der man sich Glück und Heil für alle Zeiten versprach. In den Räumen, wo sonst mit eiserner Strenge Gesetze diktiert wurden, tagten jetzt die Vertreter des Volkes, die der Monarch, den vorgeschrittenen Geist seiner Länder erkennend, berufen hatte, eine freie, den Bedürfnissen der Zeit entsprechende Verfassung zu beraten.
Ein enges Gässchen der äußeren Vorstadt schien von der allgemeinen Regung ausgeschlossen zu sein; nur wenige Menschen, ärmlich gekleidet, sah man darin umhergehen; die halb geöffneten Türen der drei und vier Stock hohen alten Holzgebäude, von ihren Besitzern zum Zwecke der Spekulation eingerichtet, ließen in finstere, kellerähnliche Räume blicken und verschlangen die Eintretenden wie ein schwarzes Grab. In den unteren Regionen dieser winkligen Straße milderte kein Lüftchen die zur Hitze gesteigerte Wärme des heiteren Maitages; als ob auch die Schönheiten des jungen Jahres keinen Zutritt zu dem Aufenthalt der Armut haben sollten, wehte hier eine schwüle, drückende Luft, die durch den Qualm, der hier und da aus einer Tür oder einem Fenster quoll, fast unerträglich wurde. Nur bleichen Gesichtern begegnete man, denen Not und Elend ihren Stempel aufgedrückt hatten.
Wir treten ein in einen dieser schwarzen Schlünde. Eine kalte, dumpfe Kellerluft wird nach einigen Schritten fühlbar; rechts und links berührt die tappende Hand feuchte, schmutzige Wände, der Fuß strauchelt auf dem schlecht gepflasterten Boden und nur mit größter Vorsicht gelangt man nach einigen Minuten an eine steile Treppe, die sich durch ein altes, gebrechliches Geländer in der Finsternis bemerkbar macht. Wirft man nun einen Blick zurück, so zeigt sich der Eingang wie ein kleines, rundes Kerkerfenster, das matt von der scheidenden Abendsonne beschienen wird. Es gehört mehr als Überwindung dazu, den Weg fortzusetzen. Nachdem man zwölf bis fünfzehn Stufen in stockfinsterer Nacht erstiegen hat, gelangt man in eine Art Vorsaal, der durch eine kleine Öffnung in der Mauer nur so schwach erhellt ist, dass man die Fortsetzung der Treppe kaum erkennen kann. Wir ersteigen auch diese, eine dritte und vierte und treten dann auf einen kleinen Boden, der durch ein Dachfenster völlig erhellt wird. Der Treppe gegenüber befindet sich eine kleine Tür, etwas weiter rechts eine zweite. Neben dieser öffnet sich der rußige Eingang einer kleinen Küche, aus deren schwarzem Innern man einige auf dem Herd glimmende Kohlen gewahrt. Alles ist still, kein Geräusch, das die Bewohner dieses Raumes ankündigt, lässt sich vernehmen.
Öffnen wir die erste Tür; ein Schlüssel befindet sich in dem Schloss derselben.
Ein kleines, armseliges Stübchen nimmt den Eintretenden auf. Das niedrige Dachfenster ist geöffnet und gestattet der in dieser Höhe reinen Morgenluft freien Eingang. Eine Monatsrose, auf dem schmalen Fensterbrett aufgestellt, wird leicht von dem Luftzug bewegt und ein Strauß Veilchen, der in einem mit Wasser gefüllten Becher daneben steht, verbreitet einen lieblichen Geruch. Ein reinliches Bett, drei Stühle und ein Tisch, der so neben dem Fenster aufgestellt ist, dass er das volle Licht empfängt, bilden das ganze Mobiliar. Das Dachstübchen ist sauber ausgefegt, der Staub von dem kleinen Blechofen und den harten Holzstühlen sorgfältig entfernt, kurz, alles deutet an, dass hier am frühen Morgen eine sorgliche Hand gewaltet hatte.
Wer ist der Bewohner?, wird der Leser fragen.
Der Bewohner sitzt am Tisch und schreibt. Er ist ein Greis, dessen kahler, glänzender Scheitel nur noch von einem Kranz schneeweißer Locken umgeben ist, der mit zitternder Hand die Feder auf dem Papier führt und in großen Buchstaben seine Gedanken verkörpert. Das Alter scheint weniger den Geist als den Körper desselben geschwächt zu haben, denn man sieht ihm deutlich an, wie nur die bebende Hand und nicht der zögernde Erguss seiner Gedanken die Langsamkeit der Arbeit herbeiführt. Auch nicht einen Augenblick rastet die Feder, emsig fährt sie knirschend über das dicke, gelbe Papier, das in ganzen Bogen vor ihm auf dem Tisch liegt.
Die Glocke der nahen Pfarrkirche verkündete die zehnte Morgenstunde; hell erklangen die Töne zu dem kleinen Fenster herein. Der Greis legte die Feder nieder, schob das beschriebene Papier sorgfältig zusammen und verschloss es in dem Kasten seines Arbeitstisches. Den Schlüssel verbarg er in einer Seitentasche seines langen grauen Rockes; dann erhob er sich und durchmaß in kurzen Schritten, die Hände auf den Rücken gelegt, sein Zimmer. Öfter blieb er am Fenster stehen und gab sein bleiches, von einem langen, weißen Bart umflossenes Gesicht der frischen Morgenluft preis.
Es mochten wohl zehn Minuten vergangen sein, als die Promenade durch ein leises Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. Der Greis blieb in der Mitte des Zimmers stehen und rief mit zitternder Stimme: »Herein!« Die Tür öffnete sich und eine Frau trat ein.
»Wohin, Frau Bertram?«, sprach der alte Mann erstaunt. »Sie haben sich ja herausgeputzt, als ob Sie einen Ball besuchen wollten?«
Und mit Recht konnte der Anblick dieser Frau Erstaunen erregen. Sie mochte schon einige Jahre über die Vierzig hinaus sein, aber noch war ihr bleiches Gesicht schön zu nennen. Ein großes blaues Augenpaar, von feinen schwarzen Wimpern umgeben und starken geschweiften Brauen beschattet, bildete einen schönen Kontrast zu den langen schwarzen Haaren, die, fantastisch geordnet und mit großen, künstlichen Blumen geschmückt, das Haupt umwallten. Ein weißes, etwas schmutziges und altmodisches Kleid, hier und da mit bunten Schleifen geschmückt, umfloss die schlanken, aber abgemagerten Glieder, und ein bunter, ebenfalls veralteter Fächer vollendete das Bizarre ihrer Erscheinung. Der seltsame und unheimliche Glanz, der aus den Augen strömte, gab indes Aufschluss über die arme Frau; er zeigte deutlich an, dass sie eine von jenen unglücklichen Geschöpfen war, denen der Schöpfer den Gebrauch ihres Verstandes versagt hatte. Es gab jedoch auch lichte Augenblicke in dem Leben dieser Armen, und jeder, der sie dann kennenlernte, wurde doppelt mit Schmerz und Jammer erfüllt, wenn er sie wieder in diesem trostlosen Zustand erblickte.
»O ja, Herr Wilibald, ich gehe auf einen Ball«, entgegnete die Frau, indem sie vor den kleinen Spiegel trat, der die Wand des Zimmers schmückte, und sich selbstgefällig betrachtete. Ein Lächeln umspielte dabei den Mund der armen Frau, das den Greis mit Entsetzen erfüllte.
»Liebe Frau«, fuhr der Greis fort, als ob er zu einem Kind spräche, das man durch freundliches Zureden von einem gefassten Vorsatz abzulenken gedenkt, »liebe Frau, es ist noch nicht Mittag, und Sie wollen schon auf einen Ball gehen? Bleiben Sie zu Hause, bis es Zeit dazu ist.«
»Ich muss früh dort sein«, sprach Frau Bertram, »denn auch er wird früh kommen! Wissen Sie, dass ich mich recht freue, den schönen Mann in seiner glänzenden Uniform zu sehen? Er war lange, lange fort – doch heute kommt er auf den Ball. O ich habe schon oft mit ihm getanzt!«
»Soll ich denn allein bleiben, liebe Nachbarin? Wer wird mir zu Hilfe kommen, wenn ich wieder krank werde? Warten Sie doch nur, bis Ihr Sohn Richard zurückkehrt.«
Der Ausdruck des Gesichts der armen Wahnsinnigen änderte sich bei diesen Worten; der ungewisse Blick des Auges richtete sich starr auf den Greis, der ängstlich einen Schritt zurückwich und sich zitternd an seinen Arbeitstisch lehnte. Obgleich er den Zustand seiner Nachbarin kannte, so war es doch heute das erste Mal, dass er sie so erblickte. Regungslos verharrte die Frau einige Minuten in ihrer Stellung; ihr schwacher Geist schien sich mit Mühe von dem einmal erfassten Gegenstand abzuwenden, um zu einem anderen, Schmerz und Wut erregenden überzugehen. Endlich begann sie in abgebrochenen Worten, während Tränen den Blick umflorten:
»Meinen Sohn Richard … sagen Sie? Ganz recht, ich habe einen Sohn … aber sein Vater ist tot … der arme junge Mann hat keinen Vater mehr … jener vornehme Herr hat ihn ermordet … sehen Sie, wie sein Degen blitzt? … Dort liegt mein Gatte in seinem Blut … sieh Richard … sieh … dein Vater ist tot … und ich trage die Schuld an seinem Tod … ja, ich … nur ich allein! O mein Gott, mein Gott!«
Die Erinnerung an ihren Sohn hatte die Fesseln gesprengt, die den Geist der Armen umschlungen hielten; die Mutterliebe lichtete die Nacht des Wahnsinns und machte ihre allmächtige Kraft geltend. Laut schluchzend sank sie zu Boden, stützte ihren Kopf auf den neben ihr stehenden Stuhl und weinte still vor sich hin. Der Greis schüttelte schmerzlich bewegt sein kahles Haupt, indem er eine Träne im Auge zerdrückte; dann ging er, als ob er die Aufwallung seines Blutes verhindern wollte, einige Male im Zimmer auf und ab, während der Schmerz der Frau sich in Tränen ergoss.
»O mein Gott«, unterbrach Frau Bertram nach einigen Minuten das Schweigen, »o mein Gott, gibt es denn keine Wiedervergeltung hier auf der Erde? Sind die Gesetze und ihre Strafen nur für die Armut gemacht? Jaja«, fügte sie schmerzlich hinzu, »auch die Vorsehung scheint die Großen dieser Erde zu bevorzugen, während sich bei den Kleinen das Vergehen furchtbar rächt, selbst wenn der Arm der weltlichen Gerechtigkeit sie nicht ereilt!«
»Frau Bertram! Frau Bertram!«, rief der Greis warnend. »Was lässt Sie glauben …?«
»Ja, ja«, rief die Frau, indem sie sich rasch erhob, »ich habe ihn wiedergesehen!«
»Wen?«, fragte Herr Wilibald.
»Den Mörder meines Gatten!«
»Sie irren sich, liebe Nachbarin, oder ein Traum hat Ihnen sein Bild vorgeführt.«
»Ich rede nicht im Irrsinn, mein alter Freund, nur wenn der Schmerz zu groß wird, wenn Not und Entbehrung den höchsten Gipfel erreichen, wenn ich sehen muss, wie mein armer Sohn seine Jugend in Elend vertrauert – dann umzieht ein blutiger Schleier meinen Blick und ich sehe nichts mehr von der Gegenwart, nur die Vergangenheit steigt vor meinem inneren Auge empor und mahnt mich, dass ich eine Unglückliche, eine Verbrecherin bin. Doch still, still, mein Sohn kommt! Hören Sie ihn nicht?«
»Mut, Mut, Frau Bertram, es wird vielleicht noch alles gut. Beruhigen Sie sich, gehen Sie in Ihr Zimmer zurück und denken Sie nicht mehr an die Vergangenheit. Wo ist Ihr Sohn?«
»Er ist schon früh ausgegangen, um Brot zu holen, denn wir haben gestern und heute noch nichts gegessen. Ich fürchte, er kommt mit leeren Händen zurück und wir müssen heute wieder fasten. Armer Richard!«
Ein heftiges Schluchzen folgte diesen Worten und ein Tränenstrom entstürzte den Augen der armen Mutter. Plötzlich aber erhob sie sich, aus den Blicken strahlte wieder jener unheimliche Glanz und der Schmerz verwandelte sich in Wut.
»Bösewicht! Bösewicht«, rief sie mit kreischender Stimme, »du trägst die Schuld an unserm Elend, du hast mit frecher Hand mein Glück zertrümmert! Du fährst in prächtigen Karossen, während ich mit meinem Sohn darbe! … Gestern kam ich bei einem Palast vorbei … da stand ein glänzender Wagen … ein Mann in Generalsuniform trat heraus und stieg ein … er war es, es war Ferdinand … ja, ja, ich erkannte ihn gleich wieder; doch er erkannte mich nicht, die arme Frau in dem zerlumpten Mantel war dem großen Herrn fremd. … Er stieg ein und der Wagen rollte dahin … ach, er war immer noch schön … schön wie damals … als er mir mein Glück und meinen Gatten raubte! … Heute ist Ball im Palast, wie ich einen Bedienten sagen hörte … ich komme, Ferdinand, um mit dir zu tanzen … ach, die prächtige Musik … wie sie durch den glänzenden Saal rauscht! La, la, la, la! Komm Ferdinand, komm!«
»O mein Gott«, rief der Greis mit emporgehobenen Händen, »Sie sind krank, Frau Bertram! Ich werde Sie in Ihr Zimmer bringen, legen Sie sich zu Bett; sobald Richard zurückkehrt, wollen wir beraten, was zu tun ist, um Ihnen Pflege zu verschaffen. Ach, dass ich selbst so arm bin! Kommen Sie!«
In diesem Augenblick ließ sich ein Klopfen an der Tür vernehmen.
»Richard kommt!«, rief der alte Mann und öffnete hastig die Tür.
Zwei Damen traten ein. Die ältere von ihnen, eine Matrone im vorgerückten Alter, einfach, aber sehr anständig gekleidet, reichte dem Greis freundlich lächelnd die Hand und grüßte in herzlichen Worten; die andere, ein blühend schönes, junges Mädchen von achtzehn bis neunzehn Jahren, in einem eleganten weißen Sommeranzug, war kaum eingetreten, als sie auch schon auf Frau Bertram zueilte und sich mit ihr teilnehmend beschäftigte.
»Himmel«, rief sie erschrocken, »die arme Frau schüttelt ein heftiger Fieberfrost; man schicke nach einem Arzt! Und dieser Aufzug – was ist hier vorgegangen?«
Der Greis winkte mit der Hand und gab durch Zeichen zu verstehen, dass er später Aufschluss erteilen würde.
»Ich bin krank, sehr krank!«, stammelte Frau Bertram. »Wo ist mein Sohn? Ich muss wieder zu Bett!«
Die unglückliche Frau schwankte zur Tür, um das Zimmer zu verlassen; da hörte man im Vorsaal die Stimme eines jungen Mannes rufen:
»Mutter! Mutter! Wo ist meine Mutter?«
»Richard«, rief die Mutter, indem sie das Zimmer verließ, »bist du endlich da? Führe mich, denn ich bin krank.«
Am Arm des zurückgekehrten Sohnes, der sie an der Tür empfing, kehrte Frau Bertram in ihr Zimmer zurück. Tief bewegt standen der Greis und die beiden Damen da, als sich die Tür geschlossen hatte. Die jüngere von ihnen war ans Fenster getreten und trocknete mit einem weißen Batisttuch ihre Augen.
»Herr Wilibald«, begann die ältere Dame nach einer Pause, »Sie haben schon das Bett verlassen; fühlen Sie sich auch ganz wohl? Ich fürchte, dass der Auftritt mit jener armen Frau nachteilige Folgen für Ihre Gesundheit herbeiführen kann. Sie scheinen bewegt zu sein?«
»Ach«, sprach der Greis, »wie soll ich Ihnen Ihre Freundlichkeit, Ihre Großmut danken! Doch fürchten Sie nichts, ich bin, obwohl noch schwach, seit einigen Tagen völlig genesen. Frau Bertram, meine Nachbarin, hat mich so gut gepflegt, dass meine Krankheit nicht von langer Dauer war. Wie es scheint, werde ich jetzt meine Krankenwärterin pflegen müssen, denn ihr altes Übel, das sie seit einem Jahr verlassen hatte, ist zurückgekehrt. Die Kleider und die Blumen im Haar werden ihnen deutlich genug gesagt haben …«
»Arme Frau!«, flüsterte das junge Mädchen leise vor sich hin.
»Kennt man den Grund ihrer Geisteskrankheit?«
»Vielleicht ist er in der Armut zu suchen, in der sie lebt«, fügte die junge Dame hinzu. »Wenn dies der Fall ist, wollen wir helfen!«
»Ach nein«, entgegnete Wilibald, »die Krankheit hat einen andern Grund; die unglückliche Lage ist nur eine Folge dieser Krankheit, für die es, wie mir scheint, keine Arznei gibt; nur Gott allein vermag hier zu helfen!«
»Wer ist denn diese arme Frau? Wissen Sie etwas von ihrem Schicksal, Herr Wilibald, o so teilen Sie es uns mit; vielleicht ist dennoch Hilfe möglich!«
»Nehmen Sie Platz, meine Damen«, sprach der Greis, indem er die Holzstühle heranrückte, »ich werde Ihnen mitteilen, was mir die arme Frau selbst erzählt hat.
Es ist nun fast ein Jahr her«, begann der Greis, »dass ich diese Wohnung bezog. Frau Bertram und ihr Sohn bewohnten bereits das kleine Zimmer neben dem meinigen. Dass nichts leichter und inniger verbrüdert als das Unglück, ist eine Wahrheit, die sich auch hier bestätigte, denn schon nach einigen Wochen waren wir alte Bekannte; es verging kein Tag, der uns nicht beisammen sah, es genoss keiner eine frohe Stunde, die der andere nicht teilte. Richard, mit einem schönen Talent für die Dichtkunst begabt, fand damals bei einem hiesigen Buchhändler Beschäftigung, deren Ertrag ihn und seine Mutter vor Entbehrung schützte, und ich muss bekennen, dass auch mich der Hunger verschonte, wenn meine guten Nachbarn zu essen hatten. Nach einigen Monaten warf mich eine heftige Krankheit darnieder, und hatte ich in gesunden Tagen eine Stütze an Frau Bertram und ihrem Sohn gehabt, so fand ich sie in den Tagen des Unglücks doppelt in ihnen. Am Tag saß die Mutter an meinem Bett und nachts der Sohn, mit seinen Arbeiten beschäftigt. So verfloss der Herbst und ein Teil des Winters. Da erhob die Revolution ihr blutiges Haupt, alle Gewerbe stockten und auch Richard teilte das Los vieler Tausende – er hatte keine Arbeit mehr. An Ersparnisse war nicht zu denken gewesen, denn was die beiden Gesunden sich abgedarbt hatten, wurde von meiner Krankheit verschlungen.
Mit dem Elend machte sich auch die Geisteskrankheit der armen Frau Betram wieder bemerkbar, die bis dahin still und in sich verschlossen gelebt hatte. Teilnehmend befragte ich sie nach ihrem Schicksal, als ich sie eines Tages in Tränen aufgelöst in ihrem Zimmer fand, und ich erfuhr Folgendes: Frau Bertram ist die Tochter eines Kaufmanns in P., den die Welt für reicher hielt, als er wirklich war. Ein achtbarer Beamteter, mit einem anständigen Gehalt, bewarb sich um das junge Mädchen, und nur dem Drang der Eltern und nicht dem des Herzens folgend, reichte sie dem Mann, fast gegen ihre Neigung, am Altar die Hand. Kaum ein Jahr nach ihrer Verheiratung erklärte sich der Grund, aus dem der Vater sein Kind zu dieser Ehe gezwungen hatte: Er fallierte und hatte zuvor noch die Zukunft seines einzigen Kindes sichern wollen. Die Mutter brachte Gram und Kummer in die Grube und den Vater die Hartherzigkeit seiner Gläubiger in das Schuldgefängnis, wo auch er bald darauf starb. Jetzt stand die Tochter allein in der Welt, gekettet an einen Mann, den sie nicht liebte, der denselben trockenen Geschäftsgang in seinem Hauswesen eingeführt hatte wie in seinem Büro. Dieser eingefleischte Bürokrat behandelte seine Gattin, in deren Mitgift er sich gewaltig getäuscht hatte, nicht anders als seinen Schreiber; das geringste Versehen im Gang des Haushalts zog der armen jungen Frau eine demütigende Behandlung zu. Obgleich der Himmel ihre Ehe mit einem Knaben segnete, änderte sich dennoch das kalte, herzlose Betragen des Vaters nicht; die junge Mutter, immer mehr das Unglück ihrer Lage erkennend und fühlend, saß weinend an der Wiege des kleinen Richard, des einzigen Wesens, an dem ihr Herz mit Liebe hing. In dieser Zeit war es, als Herr Bertram von P. versetzt wurde, das heißt, er bekam eine einträglichere Stelle im Polizeibüro der Residenz. Er reiste ab, ließ aber Frau und Kind in P. zurück, um an dem Ort seines neuen Aufenthalts alles zu ihrem Empfang vorzubereiten. Es verging eine geraume Zeit, ehe die junge Frau Nachricht von ihrem Gatten empfing, und selbst als der angekommene Brief ihr ankündigte, dass der Tag der Abreise noch nicht festgesetzt werden könne, fühlte sich Madam Bertram über diese neue Vernachlässigung nicht gekränkt, wie sich wohl denken lässt, denn sie konnte ungestört für die Pflege ihres Kindes leben. Das Verhältnis unter den beiden Gatten konnte ihren näheren Bekannten kein Geheimnis bleiben, und ein junger Mann, Ferdinand von B., der die hübsche junge Frau schon längst mit neidischen Augen betrachtet hatte, benutzte dieses Verhältnis und die Abwesenheit des Herrn Bertram, um sich ihr bemerkbar zu machen. An Gelegenheit dazu fehlte es ihm nicht, da er ein Bekannter des abwesenden Gatten war und dessen Haus schon oft betreten hatte. Anfangs waren die Aufmerksamkeiten Ferdinands der jungen Frau nicht unangenehm, später, als sie Vergleiche zwischen ihm und ihrem groben Gatten anstellte, sah sie ihn gern, bis sich endlich die Liebe, die ihr bis jetzt fremd gewesen war, ihres Herzens bemächtigte. Je weniger sich Herr Bertram um seine Frau kümmerte, desto mehr tat es Ferdinand; er schwor ihr, sie von dem Tyrannen zu befreien und neue Ehebande mit ihr zu knüpfen. Herr Ferdinand war ein schöner Mann und seine Schwüre fanden Gehör. Es verflossen wohl zwei Jahre, und Madam Bertram, die nur noch von Ferdinand abhing, der ihr vorgespiegelt hatte, die Scheidung mit ihrem Gatten sei bereits beantragt und würde demnächst erfolgen, wurde abermals durch einen Knaben erfreut. Kaum war sie genesen, als eines Tages plötzlich ihr Gemahl, der Kunde von dem Vorfall erhalten hatte, in ihr Zimmer trat und Ferdinand von B. antraf. Nach einem kurzen Wortwechsel zog Herr Bertram zwei Degen unter seinem Mantel hervor; der Kampf begann im Zimmer der jungen Frau, und noch ehe diese dazwischentreten konnte, lag ihr Gatte in seinem Blut. Des Gegners Klinge hatte ihm das Herz durchstoßen. Noch denselben Abend fuhr ein Reisewagen aus dem Tor. Die junge Witwe mit ihren beiden Kindern und Ferdinand saßen darin. Das Ziel der Reise war Triest. Hier schied Ferdinand von seiner Geliebten, nachdem er ihr ein bedeutendes Kapital in Banknoten überreicht hatte, mit dem Versprechen, bald zurückzukehren. Das beträchtliche Kapital erweckte zuerst den Verdacht der jungen Frau. Wie konnte ein einfacher Mann, der auf eine Staatsanstellung hoffte, – dies hatte Ferdinand ihr gegenüber erwähnt – über eine solche Summe disponieren? Und warum gab er ihr im Augenblick des Scheidens diese Summe? Um ihre Existenz auf Wochen, selbst auf Monate zu fristen, wäre der zwanzigste Teil hinreichend gewesen. Unter banger Erwartung verging die Zeit; der versprochene Tag von Ferdinands Ankunft erschien, der Ersehnte aber blieb aus. So vergingen fünf Jahre und eine stille Schwermut hatte sich der Verlassenen bemächtigt; sie hörte weder von den Folgen des unglücklichen Duells noch von dessen Urheber. Ein einfaches, sparsames Leben hatte nur einen geringen Teil ihres Kapitals in Anspruch genommen; mit dem übrigen verließ sie Triest und zog in die Residenz, teils, um ihren Kindern eine gute Erziehung geben zu lassen, teils, weil sie hoffte, hier etwas von ihrem treulosen Verführer zu erfahren. Nachdem auch hier wieder zwei Jahre verflossen waren, gab sie alle Hoffnung auf, den Vater ihres zweiten Sohnes, der zu einem hübschen, munteren Knaben von sieben Jahren herangewachsen war, jemals wiederzusehen. Richard zählte neun Jahre und besuchte bereits die unteren Klassen eines Gymnasiums. An einem schönen Herbsttag ging Frau Bertram, ihren jüngsten Sohn an der Hand, durch eine der Hauptstraßen der Residenz. Plötzlich fährt ein offener, prachtvoller Wagen, in dem ein hoher Stabsoffizier saß, an ihr vorbei. Sie blickt hin und stürzt mit dem Ausruf: ›Ferdinand‹ den Pferden in die Zügel, um ihren Lauf zu hemmen. Der Kutscher hält an, die unglückliche Frau aber, von einem Stoß der Deichsel getroffen, lag ohnmächtig am Boden. In einem kleinen Krämerladen, der sich in der Nähe befand, schlug sie nach einer Viertelstunde wieder die Augen auf; die prächtige Karosse und ihr Sohn aber waren verschwunden. Aus einem Taschenbuch, das sie bei sich trug, erfuhr man ihre Wohnung, wohin sie mitleidige Menschen in einem Wagen schaffen ließen. Der Verlust des Knaben und die durch den Wagen erlittene Verletzung raubten der armen Mutter den Gebrauch ihres Verstandes; eine alte Dienerin leitete das Hauswesen und Richard blieb der Obhut seiner Lehrer überlassen. Das Kapital wurde mit jedem Jahr geringer und war gänzlich zusammengeschmolzen, ehe der junge Mann seine Studien auf der Universität beendet hatte; er musste abgehen, um durch Arbeiten seine Mutter, deren Geisteskrankheit die Zeit gemildert zu haben schien, zu ernähren. Diese Wohnung, in der Hunger und Elend ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben, ist das Resultat seines Mühens, Verzweiflung der Lohn seiner treuen Arbeit.«
Der Greis schwieg einen Augenblick und trocknete eine Träne, die ihm über die bleiche, gefurchte Wange rann. Die jüngere der beiden Damen vermochte kaum ihre Fassung zu behaupten; ihr Taschentuch am Mund, hatte sie sich still weinend abgewendet.
»Aber wovon lebten die beiden armen Leute, als es an Arbeit fehlte?«, fragte die ältere Dame.
»Wovon sie lebten?«, antwortete der alte Wilibald verlegen. »Je nun, sie mussten zufrieden sein – ich teilte mit ihnen, was ich Ihrer Großmut verdanke. Ja, meine lieben, guten Damen, Ihre Spenden haben drei Menschen erhalten! War es nicht meine Pflicht, mit denen zu teilen, die so lange mit mir geteilt haben? Nicht wahr, Sie sind mir deshalb nicht böse?«
»O ja«, antwortete das junge Mädchen eifrig, »ich bin Ihnen recht böse, Herr Wilibald. Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass Ihren Nachbarn auch Hilfe nottut? Sie wissen ja, dass wir einem Verein angehören, der sich die Unterstützung Hilfsbedürftiger zur Pflicht gemacht hat.«
»Beruhigen Sie sich, liebe Anna«, sprach die Ältere, »es ist immer noch Zeit, den Leuten zu helfen; ich werde sie in unsere Liste aufnehmen.«
Bei diesen Worten zog sie ein Taschenbuch hervor und trug den Namen der Frau Bertram ein. Der Greis wandte sich ab und trocknete seine Stirn. Anna folgte ihm und drückte ihm eine Börse in die Hand.
»Nehmen Sie, Vater Wilibald«, flüsterte sie, »es ist für Sie, für die arme Frau und ihren Sohn!« Der Alte zögerte, die Börse zu nehmen.
»O so nehmen Sie doch«, bat sie unter Tränen; »wenn der junge Mann Arbeit erhalten hat, können Sie es mir zurückzahlen, ich leihe es Ihnen! Aber sagen Sie nicht, dass das Geld von mir kommt. Hören Sie, er darf es nicht erfahren!«
»O Gott«, rief Wilibald, »ich muss ja wohl, um uns vor Hunger zu schützen! Der Zustand, in dem Sie meine unglückliche Nachbarin trafen, ist eine Folge unserer traurigen Lage; sie hält sich für die Mörderin des Vaters ihres Sohnes und glaubt, wenn er noch lebte, würde das Los ihres Richard ein anderes gewesen sein. Ich sehe sie heute ebenfalls zum ersten Mal in diesem Zustand. Nun, Gott und gute Menschen werden ja helfen!«
»Und nun leben Sie wohl«, sprach die Matrone; »wir haben diesen Vormittag noch einige Besuche abzustatten. Anstatt einmal, werden wir jetzt zweimal in der Woche zu Ihnen kommen. Adieu, Herr Wilibald!«
»Ich komme morgen zurück«, flüsterte Anna dem Greis ins Ohr, »um von Ihnen zu erfahren, wie es der armen Frau geht. Lassen Sie es an nichts fehlen. Adieu, Herr Wilibald!«
Zehn Minuten später trat Herr Wilibald in Frau Bertrams Zimmer und legte lächelnd eine Handvoll Silbergeld auf den Tisch.
»Herr Wilibald!«, rief ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren, als er bemerkte, was der Greis getan hatte.
»Wo ist Ihre Mutter, Richard?«, fragte dieser.
»Ich brachte sie in die Kammer auf ihr Bett, wo sie erschöpft eingeschlummert ist.«
»Gut, in einer Stunde komme ich wieder!«
»Herr Nachbar, ein Wort …!«
»Still, dass Ihre Mutter nicht erwacht! Sorgen Sie für die arme Frau und für mich, denn ich werde das Mittagessen bei Ihnen einnehmen, mein junger Freund.«
Mit den letzten Worten hatte der Alte das Zimmer wieder verlassen. Zehn Minuten später trat der junge Mann aus der finsteren Haustür auf die Straße, um die nötigen Einkäufe zu besorgen. Herr Wilibald hatte seine Tür verschlossen und sich wieder zur Arbeit an den Tisch gesetzt.
2.
Auf einem großen Platz der inneren Stadt erhob sich ein schönes, drei Stock hohes Haus, über dessen Haupteingang die Firma »Hubertus et Comp.« in mächtigen Buchstaben zu lesen war. Schon früh, wenn der Morgen dämmerte, öffneten sich dessen schwere Flügeltüren, um zahlreichen Arbeitern den Zutritt in den Hof zu gestatten, der die weitläufigen Fabrikgebäude des Herrn Hubertus umfasste. Einem Garten gleich war dieser freundliche Hof zu schauen, denn Beete mit duftenden Blumen und Gesträuchen, und Alleen von Schatten spendenden Linden- und Kastanienbäumen bildeten für den aus der grauen Häusermasse der Straßen Eintretenden einen lieblichen Kontrast, sodass er sich auf dem Lande wähnte. Diese Illusion wurde indes gestört, wenn man die Blicke zu der dem Haus entgegengesetzten Seite schweifen ließ, denn eine dunkle, von starken Strebepfeilern gestützte Steinmasse, riesengroß über die heiteren Fabrikgebäude emporragend, bot einen unerquicklichen Anblick dar. Es war das Staatsgefängnis, eine aus dem Mittelalter herstammende Burg, in der man Verbrecher, und namentlich politische, während ihrer Untersuchung in Haft hielt. Wie ein drohendes Gespenst lag das alte graue Gemäuer da, und wenn auch die an den kleinen ovalen Fensteröffnungen angebrachten Holzkästen, die den Gefangenen den Anblick der freien Luft entziehen sollten, seinen Zweck nicht sogleich verraten hätten, so erfüllte es den Beschauer dennoch mit einem unheimlichen Gefühl, dessen sich selbst der nicht erwehren konnte, der den Anblick nicht zum ersten Mal hatte. Auf den Gartenwegen gewahrte man jedoch nichts von diesem Grab lebender Menschen, wenn in der schönen Jahreszeit die Bäume und hohen Gesträuche ihr grünes Blätterdach ausspannten, und wohl mancher hat den Garten betreten, ohne die grausige Nachbarschaft auch nur geahnt zu haben.
Die Kontore und Lager des Fabrikherrn befanden sich im Erdgeschoss des geräumigen Vordergebäudes, das erste Stockwerk enthielt dessen Wohnzimmer und im zweiten befanden sich außer einigen Gästezimmern die der Domestiken.
Die Firma des Herrn Hubertus war eine der geachtetsten in der ganzen Stadt; mehr als hundert Arbeiter fanden unter seinem Dach fortwährende Beschäftigung und Lebensunterhalt, und seine Seidenfabrikate waren beliebt, weil sie gut und solide gearbeitet waren. Obgleich die Firma noch einen Kompagnon andeutete, so war Hubertus doch deren alleiniger Inhaber; er hatte sie beibehalten, wie er sie von seinem Vater geerbt hatte. Auch an ihm war die verhängnisvolle Zeit nicht erfolglos vorübergegangen; die allgemeine Stagnation des Handels und der Geschäfte, durch die Revolution aller Länder erzeugt, hatte ihn, den Kaufmann von echtem Schrot und Korn, veranlasst, Einschränkungen in seinem Geschäft vorzunehmen und teils die jüngeren Arbeiter zu entlassen, teils Kürzungen des Gehaltes eintreten zu lassen; Maßnahmen, die den ohnehin strengen Herrn bei seinen Arbeitern nicht beliebter machten, denn sie nahmen an, dass er von dem in guten Zeiten durch ihren Schweiß aufgehäuften Vermögen in der vorübergehenden schlechten nichts opfern wolle und dass nur der Geiz, nicht aber die Not der Zeit ihn zu diesem Schritt veranlasst habe. Diese Meinung war indes eine irrige; schon seit einigen Jahren hatte Hubertus durch Fallissements ausländischer Häuser nicht unbedeutende Verluste erlitten; die leidige Konkurrenz in neuester Zeit hatte ihn zur Herabsetzung der Fabrikpreise getrieben, und wenn er nicht schon längst zu einer Einschränkung seines Geschäftes geschritten war, so hatte ihn nur der Stolz, die Firma seines Vaters in dem bisherigen Glanz fortbestehen zu lassen, davon abgehalten.
Herr Hubertus war Witwer; seine Gattin ruhte schon seit fünf Jahren im Grab. In seiner Tochter Anna, einer blühenden Jungfrau von achtzehn Jahren, war ihm indes das Ebenbild seiner geliebten Hausfrau geblieben; auf sie hatte er alle seine Liebe übertragen, bei ihr fand er Trost und Erholung, wenn die stets welkende Blüte seines Geschäfts ihn missmutig gestimmt hatte, und nur sie war dann imstande, die Wolken von seiner Stirn zu verscheuchen und ihm Mut und Hoffnung auf die Zukunft einzuflößen.
Anna war in einer der ersten Pensionsanstalten der Hauptstadt erzogen worden; zwar ausgerüstet mit den nötigen Kenntnissen und Manieren, um sich in den Zirkeln der großen Welt bewegen zu können, hatte sie dennoch die schlichte und gerade Denkart einer einfachen Bürgerstochter bewahrt, und obwohl ihr liebenswürdiger Charakter durch die moderne Erziehung einen leichten Anstrich von romantischer Schwärmerei erhalten hatte, waren ihre religiösen Empfindungen dennoch rein und unverfälscht geblieben; ihre guten Vorsätze und Handlungen entsprangen stets ihrem unverfälschten Herzen; Koketterie, diesen mächtigen Hebel an Geist und Herz verbildeter junger Damen, kannte sie nicht. Ein köstlicher Maimorgen hatte sich zur Erde niedergesenkt. Rosen und Veilchen wetteiferten, den kleinen Park des Herrn Hubertus mit lieblichen Gerüchen zu füllen, und ein leichter angenehmer Morgenwind durchsäuselte das junge frische Grün an Gesträuchen und Bäumen. Die Fenster der den Park umgebenden Fabrikgebäude waren geöffnet und ein ununterbrochenes monotones Rauschen, das sich mit dem Flüstern des Morgenwindes mischte, gab Kunde von der Regsamkeit der Arbeiter. Die Fabrikuhr zeigte die zehnte Stunde an, als Anna, ein leichtes elegantes Strohhütchen auf dem Haupt, in einem weißen Kleid, mit einem kurzen schwarzseidenen Mantel darüber, aus dem Tor des Hauptgebäudes trat und leicht wie ein Reh durch die reinlichen Wege des Gartens hüpfte. Bei einem Rosenstock, dessen Knospen die Frühsonne halb erschlossen hatte, blieb sie stehen und bewunderte einige Minuten die Fülle der jungen Blumen, die mit der Zahl der Blätter wetteiferten; dann schlug sie den leichten Mantel zurück, trat einen Schritt in das Beet hinein und pflückte, ohne die zarte Hand von der engen Hülle des weißen Handschuhes zu befreien, einige der duftenden Blumen. Darauf trat sie in den Weg zurück, formte die Rosen durch einen silbernen Ring zu einem Strauß und schickte sich an, den Garten wieder zu verlassen. In diesem Augenblick trat ein junger Mann aus einem Seitengang und vereitelte durch einen freundlichen Gruß die Absicht des jungen Mädchens. Anna blieb stehen und dankte dem Grüßenden mit einem heiteren, doch ruhigen Lächeln, wobei sie ihm die Hand entgegenstreckte.
Der junge Mann war einfach, aber sorgfältig gekleidet, fast mit jener Ängstlichkeit, die den jungen Leuten eigen zu sein pflegt, wenn ihnen besonders daran liegt, jemandem zu gefallen. Sein Gesicht war zwar bleich, aber ohne ihm ein krankes Aussehen zu geben; sein dunkelblaues Auge, von schwarzen Wimpern und starken dunklen Brauen beschattet, zeugte von Geist und Charakter, und die Regelmäßigkeit seiner Züge verlieh ihm ein Interesse, das mancher blühende Jüngling umsonst zu erstreben sucht. Drei- bis vierundzwanzig Jahre schienen bereits an seinem Haupt vorübergegangen zu sein.
»Wie, Anna«, sprach der junge Mann in einem vertraulichen, doch ehrerbietigen Ton, »so früh wollen Sie schon ausgehen?«
»Ich kann es, dem Himmel sei Dank«, antwortete Anna und ließ ihre Hand in der des Fragers ruhen, »ich kann es, denn mein Vater bedarf jetzt schon meiner Sorge nicht mehr. Die zurückgekehrte Gesundheit des Körpers hat einen so wohltätigen Einfluss auf den sonst so verschlossenen Charakter des Greises ausgeübt, dass er schon vor einer Viertelstunde einen Spaziergang aufs Land unternommen hat, wozu er, wie Sie wissen, bis jetzt nicht zu bewegen war. Ich wollte ihn begleiten, allein er lehnte es ab und forderte mich auf, da die Reihe an mir sei, mich den Damen unsres Vereins anzuschließen und die Wohnungen der Armen zu besuchen, die durch den Druck der Zeit dem Elend preisgegeben sind.«
»Anna«, rief der junge Mann mit Empfindung und drückte die kleine Hand an seine Lippen, »Sie können diesen köstlichen Maitag nicht besser beginnen als durch Handlungen der Wohltätigkeit! Ich weiß, Ihrem schönen Herzen ist es fremd, mit dem Wohltätigkeitssinn zu kokettieren; Sie trachten nicht danach, wie so viele andere Damen unserer Residenz, durch Spenden an die Armut Aufmerksamkeit erregen zu wollen und nur unter Beachtung einer gewissen Förmlichkeit den Leidenden beizustehen, einer Förmlichkeit, die alles Mitgefühl in der Brust erkalten lässt und in eine Mode verwandelt – aber weil ich Ihr Herz kenne, fürchte ich, dass der Anblick des Jammers, den so viele Tausende unserer Mitbrüder jetzt erdulden, Sie schmerzlich berühren und in Ihnen Gefühle erwecken muss – ach, Anna, und ich habe Ihnen so viel zu sagen!«
»Fürchten Sie das nicht«, sprach Anna mit einem zauberischen Lächeln, »das Bewusstsein, Gutes getan zu haben, ist kein drückendes Gefühl. Nur wenn ich daran denke, dass ich nicht allen helfen kann, treten mir die Tränen in die Augen, und ich muss bekennen, dass ich nur mit Bitterkeit an die Urheber all dieses Elends denke. Glauben Sie mir, lieber Franz, wäre ich eine Kaiserin, es sollte anders um die armen Leute stehen; anstatt vor dem Ausbruch der Verzweiflung fliehen zu müssen, sollte mich alles freudigen Auges als Mutter begrüßen; die Dankbarkeit sollte meine Schutzwache sein und die Liebe meiner armen Untertanen die glatten Worte verdrängen, die jene herzlosen Damen flüstern, die, alle Weiblichkeit verleugnend, nur ehrgeizigen Plänen nachhängen, das Gewimmer der Armut verspottend. Darum lassen Sie mich, lieber Franz, ich kehre bald zurück und dann …«
»Nur einige Augenblicke«, rief der junge Mann dringend und ergriff abermals die Hand des jungen Mädchens, »später habe ich keine Zeit, da die Arbeiter heute ihren Lohn ausgezahlt bekommen.«
»So bleibt uns morgen und übermorgen noch Zeit!«
»Anna«, sprach Franz mit einem bitteren Lächeln, »soll auch ich an Ihren Wohltätigkeitssinn appellieren? Bin ich von Ihrer Milde ausgeschlossen?«
»Franz, Sie lästern!«, rief das junge Mädchen schelmisch drohend, und eine Röte der Verlegenheit überzog ihr liebliches Gesicht, die mit dem frischen Purpur der Rosen zu wetteifern schien. Beide standen einen Augenblick verlegen da, dann sprach Anna in einem Ton, der deutlich die Reue verriet, dass sie dem jungen Mann nicht gleich Gehör geschenkt hatte:
»So reden Sie, lieber Franz, ich werde ein wenig rascher gehen, um die versäumte Zeit aufzuholen. Was haben Sie mir zu sagen?«
Franz ergriff sanft ihren Arm und zog sie hinter den Rosenstrauch zurück, der die Aussicht auf die Fabrikgebäude verdeckte; Anna, die Blicke auf ihren Rosenstrauß geheftet, folgte ohne Widerstreben, obgleich der Ausdruck ihres Gesichts deutlich anzeigte, dass sie die Unterredung lieber vermieden hätte.
»Wollen Sie mich einige Minuten ruhig anhören, liebe Anna?«, fragte Franz, indem er beide Hände der Jungfrau ergriff.
»Reden Sie, lieber Freund, ich bin bereit zu hören!«
Mit einem tiefen Seufzer schien sich Franz zu sammeln, dann begann er:
»Anna, noch ehe das Grün dieser Bäume schwindet, soll ich Sie zum Altar führen!«
»Ich weiß es«, flüsterte Anna, und senkte abermals ihre Blicke auf den Blumenstrauß zurück.
»Mein Glück«, fuhr der junge Mann mit Leidenschaft fort, »ist so groß, dass ich kaum daran zu denken wage, und wenn ich daran denke, schätze ich mich dessen für so unwert, dass ich es nur für einen schönen Traum halte. O mein Gott – ich Ihr Gatte, der arme Kommis der Gatte eines Engels! Ach, Anna, Sie wissen nicht, dass ich Sie schon so lange liebe, wie ich Sie kenne! Und das ist schon eine sehr lange Zeit, denn als Ihr Vater mich in sein Haus aufnahm, waren Sie noch ein Kind, und ich, der ich es ebenfalls noch war, zitterte bei Ihrem Anblick, wie ich in diesem Augenblick bei dem Gedanken an mein unbeschreibliches Glück zittere. Ich liebte Sie schweigend, hoffnungslos, denn wie konnte ich mir einbilden, dass ich mich je bis zu Ihnen erheben würde oder dass Sie zu mir herabsteigen würden? Da bewirkte der Wille Ihres Vaters dieses Wunder, das mir im Reich der Unmöglichkeit gelegen hatte, und ich glaubte vor Freude und übergroßem Glück den Verstand zu verlieren. Und dennoch ist meine Freude nicht ganz rein und vollkommen, denn seit dem Tag, an dem unsere Verbindung festgesetzt wurde, sind Sie nicht mehr dieselbe, Sie sind traurig und nachdenklich, und dies macht mir wieder Kummer. Anna, seien Sie offen, betrübt Sie diese Heirat? O bekennen Sie mir den Grund Ihrer Veränderung, welcher es auch sei, ich werde Ihnen darum nicht böse sein! Ich weiß, Anna, Ihre Erziehung ist von der meinigen sehr verschieden; Sie sind in der ersten Pensionsanstalt der Residenz gebildet worden und besitzen alle jene Kenntnisse, die erforderlich sind, um in den größten Zirkeln zu glänzen, während ich, ein einfacher Buchhalter, mich nur unter meinen Registern und Fabrikarbeitern zu bewegen weiß – Sie müssen mich sehr unwissend und roh finden; darum reden Sie jetzt offen wie eine Schwester zu dem Bruder: Können Sie mich lieben, Anna?«
»Franz«, sprach Anna mit einem milden Lächeln, das von der Güte ihres Herzens zeugte, »warum sollte ich Sie nicht lieben? Sind Sie nicht der Gefährte meiner Jugend? Sind Sie nicht meines Vaters bester, treuester Freund, dessen Sorge und Tätigkeit ihn bereits zweimal vom drohenden Untergang rettete? Konnten Sie vermöge ihrer Talente, die auch andere zu schätzen wussten, nicht schon öfter vorteilhaftere Stellungen erhalten, und haben Sie nicht stets alle Anerbietungen ausgeschlagen und sind bei uns geblieben? Ich müsste ja eine undankbare Tochter sein, wenn ich bei solchen Beweisen von Aufopferung und Liebe unempfindlich bliebe!«
Des jungen Mannes Lippen umspielte ein trübseliges Lächeln, denn er hatte das Ausweichende in Annas Antwort nur zu gut verstanden; der heitere, gefühlvolle Ton, in dem ihm diese Antwort erteilt worden war, konnte ihn nicht täuschen. »Anna«, sprach er mit unterdrückten Tränen, indem er sich zur Seite wandte und ein Blatt von dem Rosenstrauch brach, »Ihre Worte beweisen abermals, wie gut Sie sind, und lehren mich den Schatz kennen, den Ihr künftiger Gemahl in Ihnen besitzen wird; aber Ihre Hand als Lohn für die Dienste anzunehmen, die ich so glücklich war, Ihrem Vater leisten zu können, wird mich nichts in der Welt vermögen. Dass ich ihn nicht verlassen habe, als man mir vorteilhaftere Angebote machte, rechnen Sie mir zum Verdienst an? Nein, Anna, auch ohne die Aussicht auf den Besitz Ihrer Hand wäre ich geblieben, denn bin ich nicht eines seiner Kinder? Habe ich, die arme verlassene Waise, in Ihrem Haus nicht die liebende Familie wiedergefunden, die ich in meiner frühen Jugend schon verloren habe? Nicht Ihr Vater hat meiner, sondern ich Ihres Vaters bedurft, nicht er ist der Verpflichtete, sondern ich! Und, Anna, was das Wichtigste ist, nicht Dankbarkeit und Freundschaft bilden das Glück der Ehe – ich selbst würde der unglücklichste aller Männer sein, wenn ich meine Liebe nur durch das Gefühl der Dankbarkeit und Freundschaft erwidert sähe. Nein, Anna, rechnen Sie mir nicht zum Verdienst an, was Notwendigkeit und Dankbarkeit mir zu tun geboten haben; weder Sie noch Ihr Vater sind mir zu irgendeinem Opfer verpflichtet.«
Die letzten Worte hatte Franz so leidenschaftlich gesprochen, dass Anna, wie zum Scherz erschreckend, einen Schritt zurückgewichen war. Der junge Mann bemerkte das Zurückweichen nicht, denn um die Glut seines Gesichts zu verbergen, hatte er sich wieder zu dem armen Rosenstrauch gewendet und brach mit einer wahren Hast Blatt um Blatt und Knospe um Knospe ab, die er anschließend auf den Weg warf. Anna hatte einige Augenblicke Zeit, sich zu fassen; ruhig, mit der ihr eigentümlichen Milde, trat sie ihm wieder näher, ergriff seine Hand und sprach in einem Ton, der Franz das Herz durchschnitt:
»Was wollen Sie denn für eine Antwort von mir, lieber Franz? In meinem Institut, das ich erst seit einiger Zeit verlassen habe, hatte ich nie Gelegenheit, über solche Dinge zu reden; die Sprache der Liebe ist mir noch fremd, ich höre sie heute zum ersten Mal; aber ich muss auch bekennen, dass mich diese Sprache durch ihre Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit erschreckt. Ist es nicht gleichviel, unter welchem Titel Sie mir lieb und wert sind? Ich kenne alle Pflichten einer christlichen Hausfrau und versichere Ihnen, dass ich sie mit großer Freude erfüllen werde. Was verlangen Sie mehr von mir?«
»O mein Gott, können Sie mir verzeihen?«, rief Franz, indem er sich den Schweiß von der hohen Stirn trocknete und bei dieser Gelegenheit auch den Tränenschleier entfernte, der sich über seinen Augen gebildet hatte. »Ach, meine Fragen müssen Sie wohl erschreckt haben und ich erscheine Ihnen als ein unzurechnungsfähiger Mensch. Es ist ja klar, Anna«, fuhr er schmerzlich lächelnd fort, »wie können Sie mich anders lieben, als es jetzt der Fall ist; später wird es vielleicht anders sein. Ach«, rief er freudig, »die Hauptsache ist, dass Sie außer mir keinem andern so zugetan sind; ich kann deshalb ruhig sein, nicht wahr? Wo auch sollten Sie einen andern jungen Mann kennengelernt haben?«
»Herr Franz!«, sprach Anna mit vorwurfsvollem Ton und wendete sich schmollend halb zur Seite. »Kann ich nun gehen?«
»Hören Sie mich noch einen Augenblick an: Jetzt, da ich weiß, woran ich bin, will ich Ihnen einen Plan mitteilen, den ich im Laufe dieses Sommers noch ausführen werde.«
»Einen Plan?«, fragte das junge Mädchen verwundert.
»Ja, einen schönen Plan.«
Franz stockte einen Augenblick, als ob ihm die Mitteilung dieses Planes wieder leidtun würde oder er sich dessen schämte.
»Nun«, fragte Anna neugierig, indem sie sich ihm wieder zuwandte.
»Anna«, begann der Kommis endlich mit halber Stimme, als ob er fürchtete, von einer dritten Person gehört zu werden, »damit sie sich vor der Welt, und vorzüglich vor Ihren Freundinnen, Ihres Mannes nicht zu schämen brauchen, habe ich beschlossen, mich in all den Wissenschaften auszubilden, die Sie in der Pensionsanstalt erlernt haben und die mir bis jetzt fremd geblieben sind – zum Beispiel Geschichte, Zeichnen, Musik; es ist zwar ein wenig spät, aber Sie werden mich anfeuern und meine Studien leiten. Wollen Sie das?«
»Gern, mein Freund«, antwortete das junge Mädchen fast gerührt; »nur fürchte ich, dass Sie Ihre Lehrerin in kurzer Zeit überflügelt haben werden, denn ich kenne Ihre Ausdauer und Ihren empfänglichen Geist. Doch«, fügte sie sanft hinzu, »nicht des Zweckes wegen, den Sie vorhin nannten, wollen wir uns beschäftigen, sondern der Unterhaltung und des Vergnügens wegen. Meine kleine Bibliothek steht Ihnen zur Verfügung, sooft Sie es wünschen; hören Sie, sooft Sie es wünschen.«
Die Fabrikuhr deutete durch zwei halbe Schläge an, dass eine halbe Stunde vergangen war.
»Mein Gott«, rief Anna überrascht, »schon halb elf Uhr? Nun, kann ich jetzt gehen?«
»Ach, Verzeihung«, rief der glückliche Franz, »dass ich Sie so lange mit meinem lästigen Geschwätz aufgehalten habe. Auf Wiedersehen, auf recht baldiges Wiedersehen!«
»Der Kommis küsste die niedliche Hand der Jungfrau, dann ging er durch den Weg, den er gekommen war, in sein Kontor zurück.
Anna verließ, wie es schien, sinnend das Haus, bestieg einen Fiaker, der auf dem Platz hielt, und fuhr in das Innere der Stadt.
3.
Der alte Wilibald saß wieder an seinem Arbeitstisch; es schien jedoch, als ob heute die Arbeit nicht recht vonstattengehen wollte. Bald sah er durch das geöffnete Fenster in den klaren Morgenhimmel hinaus, sann einige Minuten nach und änderte kopfschüttelnd das soeben Geschriebene, bald stand er ungeduldig auf, durchschritt langsam das kleine Dachstübchen und legte ein Stück Zeug oder ein bestaubtes Buch zur Seite, denn die ärmliche Wohnung war nicht, wie gestern, gesäubert und geordnet, sondern die elenden Gegenstände lagen und standen bunt durcheinander, das Bett war, wie er es am frühen Morgen verlassen hatte, und Tisch und Stühle waren grau mit Staub überzogen.
»Mein Gott«, flüsterte der Greis, indem er sich umsah, »wie sieht heute Morgen mein Zimmer aus! Wenn Frau Bertram, meine Nachbarin, fehlt, fehlt mir alles.«
Dann begann er eifrig aufzuräumen und zu ordnen, säuberte mit einem Tuch, das er aus seinem grauen Rock zog, seinen Tisch und das schmale Fensterbrett vom Staub und tränkte die Blumen aus einem irdenen Krug mit frischem Wasser. Dann setzte er sich wieder an die Arbeit. Wohl eine Viertelstunde mochte er geschrieben haben, als er plötzlich die Feder niederlegte und sein greises Haupt in die hohle Hand stützte.
»Revolution«, sprach er dumpf vor sich hin, »Revolution! Ja, wenn alle das Wort recht verständen! Kein Staat kann bestehen, wenn zügellose Freiheit oder Gesetzlosigkeit an der Tagesordnung sind; die Leidenschaften der Menschen würden die Sicherheit der Personen und des Eigentums aufheben und der Stärkere, wie im rohen Naturzustand, den Schwächeren überall unterdrücken. Eine Nation würde mit sich selbst in den Kriegszustand übergehen und sich zuletzt aufreiben. Dies macht den Stand der Bürger in der Revolution gefährlich; der Pöbel, von keinen Gesetzen in Schranken gehalten, äußert die Wirkungen seiner rohen Natur; wer ihm als Feind angegeben oder von ihm selbst dafür gehalten wird, dessen Kopf trägt er zuerst auf Piken durch die Straßen, bis er zuletzt das Herz der Schuldigen wie der verleumdeten Unschuldigen in Stücke zerreißt. Die zusammengerottete Pöbelmasse, von einem Bluthund in Marats Manier aufgehetzt oder von einem Tyrannen wie Robespierre geleitet, schreibt der Nation Gesetze vor, fordert die tugendhaftesten und edelsten Männer als Schlachtopfer und nur revolutionäre Despotie vermag sie zu zügeln. Selten sind die Menschen sich in Grundsätzen gleich, noch seltener haben sie dieselben Vorstellungen oder gleiche Meinungen. Hierdurch werden gewöhnlich, selbst unter den Vernünftigsten, Faktionen erzeugt, die den Bösen den Sieg über die bessere Partei, die unter sich uneinig ist, erleichtert, und in der Regel ist die Zahl der Guten kleiner als jene der Schlechten. Ehe nun die Nation nicht alle Perioden der Erfahrung durchlaufen hat, tritt sie nicht auf, Ordnung und Gesetz zu erhalten und die Besseren unter sich zu unterstützen; die Frevel einer revolutionären Regierung müssen die Nation erst aus dem Schlaf wecken, denn den Pöbel ausgenommen, der nichts zu verlieren hat, ist die andere Hälfte der Nation träge, aus Besorgnis, den Pöbel zu reizen, oder aus Furcht, sich selbst zu verderben. Revolutionen müssen auf Revolutionen folgen, eine die andere stürzen, bis sich zuletzt das Ganze zu einer konstitutiven Verfassung melioriert, die Revolutionen unmöglich macht. Eine revolutionäre Regierung ist eine Despotie, weil kein Gesetz sie beschränkt, weil alles dem Willen einer kleinen Anzahl von Männern untergeordnet ist. Und leider fehlt es keiner Nation an ehr- und herrschsüchtigen Menschen, welche die Gewalt, die ihnen das Zutrauen des empörten Volkes in die Hände gibt, missbrauchen. Und wer kann uns bürgen, dass eine vernünftige Konstitution, auf die Bedürfnisse der Nation ausgelegt, dem Unwesen des revolutionären Despotismus bald ein Ende macht? Ich verstehe das Wort ›Revolution‹, ich kenne deren Schrecken und sehe sie voraus; aber – ich kenne auch den Despotismus der Großen dieser Erde, ich kenne die Qualen einer vierundzwanzigjährigen Gefangenschaft, zu der mich die Willkür niederträchtiger Minister verdammt hat, weil ich die Wahrheit geschrieben und pfäffische Gräueltaten ans Licht gezogen habe. Mein ganzes Lebensglück hat die Hand eines Menschen zerstört, der mit frecher Willkür das Ruder des Staates lenkte, weil er allein die Herzlosigkeit dazu besaß, weil er allein das Netz zu weben vermochte, das man um Millionen von Menschen spann, um sie in körperlicher und geistiger Knechtschaft schmachten zu lassen. Ich war einer der Kühnen, die dieses Netz zerreißen wollten, und darum, weil ich der Regung meines Geistes folgte, wurde ich eingekerkert und moralisch gemordet. Das Volk hat diesen Elenden zwar gerichtet, die Revolution des März hat Gutes geboren, jener ist schimpflich aus dem Vaterland gejagt worden und mich hat die Großmut des Landesvaters, die er ausübte, um das empörte Volk zu beruhigen, wieder in Freiheit gesetzt: aber als ein markloser, abgezehrter Greis stehe ich da; die Kraft meines Lebens liegt im Staatsgefängnis begraben; nicht einmal so viel ist mir geblieben, dass ich die elende Maschine meines Körpers den kurzen Weg fortschleppen kann, den sie noch bis zum Grab zu machen hat – ich muss von dem Mitleid anderer leben! O hätte ich nie das Licht der Freiheit erblickt, hätte mich doch mein Kerker, der mir wenigstens Nahrung gewährte, ohne sie erbetteln zu müssen, begraben!«
Der Greis sank mit dem Kopf auf den elenden Holztisch und lag mehrere Minuten da, als ob er still weinte; dann aber erhob er sich wieder und rief:
»Nein, ich muss! Zwar ist die Hand abgehauen, die das nichtswürdige Netz webte, aber noch sind die Fäden desselben nicht zerrissen, noch gibt es der geschickten Schurken genug, die das Loch wieder ausbessern, das der erste Freiheitssturm hineingerissen hat. Ich will tausendmal lieber die jähen Schläge einer Revolution als das langsam schleichende Gift einer sogenannten gesetzlichen Regierung. Die Nachwelt wird auf dem Ruin unserer Zeit, auf den Trümmern unseres Glückes, auf den gehäuften Leiden erduldeten Despotismus, genannt Freiheit, eine glücklichere Periode wahrer Freiheit erbauen und dankbar die Früchte von dem Baum genießen, den ich jetzt pflanzen helfen will! Auf, Alter, kämpfe und räche dich!«
Die Feder fuhr wieder über das Papier; die Zweifel, die die Arbeit des Greises unterbrochen zu haben schienen, waren durch dieses Selbstgespräch beseitigt und sein Geist erstarkt und ermutigt, denn es bildete sich Zeile um Zeile, sodass schon nach kurzer Zeit die Seite des grauen Papiers vollgeschrieben war. Als er das Blatt wenden wollte, wurde leise an die Tür geklopft. Ohne zu antworten, ergriff Vater Wilibald rasch sein Manuskript, legte es in den Kasten seines Tisches, verschloss denselben und steckte den Schlüssel in die Tasche; dann ging er zur Tür, schob einen kleinen Riegel zurück und öffnete.
»Guten Morgen, Herr Wilibald«, sprach freundlich, aber nur halblaut, eine angenehme, weibliche Stimme.
»Ach, mein liebes Fräulein!«, rief der Greis überrascht; »treten Sie doch bitte ein.«
Der Greis öffnete so weit wie möglich die kleine Tür und Anna Hubertus, erhitzt vom Steigen der finsteren Treppen, trat mit hochroten Wangen ein.
Die Verlegenheit des alten Mannes, dass er die schöne junge Dame in seinem ungeordneten Zimmer empfangen musste, war in der Tat komisch. Mit großer Emsigkeit schob er alles beiseite, was ihm nicht am rechten Platz zu stehen schien, doch stets brachte er dann den Gegenstand dahin, wo er am wenigsten an seinem Platz war – kurz, er musste zuletzt selbst darüber lächeln und Annas freundlicher Aufforderung, sich ruhig zu verhalten, genügen. Anna war indes zum Fenster getreten, hatte den halb verwelkten Veilchenstrauß aus dem kleinen Becher entfernt und dafür die Rosen hineingestellt, die sie am Morgen im Garten ihres Vaters gepflückt hatte.
»O mein Gott«, rief Herr Wilibald, »wie Sie für mich alten Mann sorgen! Gleich einem lieblichen Engel, der dem Paradies entstiegen ist, schmücken Sie den Aufenthalt der Armut mit den Kindern des Frühlings! Ihre Blumen sind das einzige Zeichen, das mich an den köstlichen Mai erinnert, denn aus meinen Fenstern sehe ich nichts als die grauen, verwitterten Dächer und den lieben freien Himmel; alles andere muss ich entbehren.«
»Warum unternehmen Sie nicht einen Spaziergang?«, fragte Anna, indem sie sich auf einem Stuhl niederließ; »die Luft ist heute warm und rein, sie wird Sie erquicken.«
»Ausgehen? Ich?«, antwortete der Greis lächelnd. »Meine alten Füße würden mich nicht weit tragen, und dann bedenken Sie einmal die steilen, hohen Treppen! Ich werde diese Wohnung wohl erst dann verlassen, wenn man mich hinausträgt! So Gott will, liegt dieser Zeitpunkt nicht mehr fern.«
»Beruhigen Sie sich«, tröstete das junge Mädchen teilnehmend, »die Zukunft wird sich besser gestalten, als Sie glauben.«
»Ich hoffe nichts mehr von der Zukunft, mein liebes Kind, denn ein Greis in meinen Jahren hat keine Zukunft mehr. Und wollen Sie die kurze Frist, die ich noch zu leben habe, Zukunft nennen, so muss ich Ihnen offen bekennen, dass ich auch davon nichts erwarte als körperliches und geistiges Elend. Ich habe mit der Welt abgeschlossen, weder Furcht noch Hoffnung finden ein Plätzchen in meiner Brust. Die einzige Freude bereiten Sie mir durch Ihre menschenfreundlichen Besuche; doch auch diese ist nicht ungetrübt, denn wenn ich bedenke, mit welchen Unannehmlichkeiten und Überwindungen Sie zu kämpfen haben …«
»Sprechen wir nicht davon«, fuhr Anna rasch fort; »wenn ich Sie heiter antreffe, ist mein Wunsch erfüllt.«
»Gott lohne es Ihnen mit einer herrlichen, glücklichen Zukunft!«, rief Wilibald, indem er seine verschlungenen Hände gen Himmel richtete. »Doch eine Frage erlauben Sie mir, mein liebes Fräulein: Ich weiß bis jetzt nicht, welchen Namen ich in mein Gebet einschließen soll, wenn ich abends und morgens an meinen wohltätigen Engel denke – o nennen Sie mir Ihren Namen!«
»Nennen Sie mich Anna«, sprach das junge Mädchen errötend, »doch nicht nur abends und morgens, ich wünsche, dass Sie mich immer so nennen.«
»Sie machen mich glücklich durch diese Erlaubnis, denn mein Herz hat sich schon daran gewöhnt, Sie als meine Tochter zu betrachten – pflegen Sie mich doch wie einen Vater; darum lassen Sie mich dankbar sein und Sie wie eine Tochter lieben!«
Der Erguss der Dankbarkeit des Greises hatte die arme Anna, die so gern eine solche Unterhaltung vermieden hätte, in die peinlichste Verlegenheit gesetzt. Vergebens sann sie darauf, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand hinzuleiten; sie konnte aber in ihrer Verwirrung keinen finden und musste sich begnügen, ihr flammendes Gesicht mit dem Taschentuch zu verdecken. Der alte Wilibald hatte sich erschöpft auf dem Stuhl vor seinem Arbeitstisch niedergelassen.
»Wie geht es Ihrer armen kranken Nachbarin?«, rief Anna plötzlich, die froh war, ein anderes Gesprächsthema gefunden zu haben.
»Frau Bertram ist noch immer leidend«, antwortete Wilibald, »die Aufregung von gestern hat sie so erschüttert, dass sie das Zimmer noch nicht verlassen kann.«
»Wer pflegt denn die arme Frau?«
»Wer sie pflegt? Ihr Sohn, und in dessen Abwesenheit – ich!«
»Sie, Herr Wilibald, der der Pflege selbst bedarf?«
»Ich muss wohl, wenn Richard gezwungen ist, nach Arbeit auszugehen.«
»Nehmen Sie«, sprach Anna und legte eine kleine Börse auf den Tisch, »hier sind Mittel, um einen Arzt zu beschaffen.«
»Anna, Anna!«, rief der Greis, »Sie tun des Guten zu viel – erst gestern waren Sie so großmütig und heute …«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Richard, Frau Bertrams Sohn, trat ein; als er jedoch den Besuch erblickte, verbeugte er sich, wie es schien, bestürzt und wollte sich wieder entfernen.
»Bleiben Sie, Richard«, sprach Wilibald, indem er aufstand, »denn ich möchte Sie unserer gemeinschaftlichen Schützerin vorstellen; Sie kommen gerade zur rechten Zeit!«
Anna winkte dem Greis; dieser aber, vom Gefühl der Dankbarkeit durchdrungen, achtete nicht darauf, ergriff die Hand Richards und sprach:
»Richard Bertram, ein Schriftsteller mit einem schönen Talent begabt. Leider liegt es jetzt unter der Last politischer Ereignisse begraben; ich hege indes die feste Hoffnung, dass es sich bald eine schöne Geltung verschaffen wird.«
»Mein Herr«, antwortete Anna, ihre Fassung nur mit Mühe behauptend, »als eine Verehrerin der Dichtkunst schätze ich mich glücklich, einen ihrer Jünger kennenzulernen; erlauben Sie mir, dass ich Ihnen die ausgesprochene Hoffnung des Herrn Wilibald als meinen herzlichsten Wunsch zu erkennen gebe.«
Richard vermochte nur: »Mein Fräulein« zu stammeln und sich tief, wie vor einer Königin, zu verbeugen. Sein Anzug war, obwohl ärmlich, dennoch sauber und ganz geeignet, die schlanke, kräftige Gestalt in einem vorteilhaften Licht erscheinen zu lassen. Das feine weiße Gesicht des jungen Mannes war in diesem Augenblick mit einer Purpurröte übergossen, die von einer ungewöhnlichen Bewegung seines Innern zeugte; sein langes braunes Haar hing in natürlichen Locken auf die Schultern herab, und das große blaue Auge haftete wie angewurzelt auf dem Boden. Die Gegenwart des jungen Mädchens, das Richard zwar schon gesehen, aber nicht gesprochen hatte, schien ihn außergewöhnlich zu berühren, denn er war seiner so wenig Herr, dass er die Regeln des Anstandes und eine passende Antwort auf Annas freundliche Anrede völlig vergaß.
Obgleich Anna bei dem Anblick des jungen Mannes nicht minder verwirrt war, so hatte sie doch zu viel Takt, um sich ganz von dem Eindruck bemeistern zu lassen. Ein seltsames Gefühl, dessen Ursprung sie im ersten Augenblick in dem Mitleid suchte, das sie für den armen, jungen Mann empfand, hatte sich ihrer Brust bemächtigt, denn dass es mehr sei, konnte sie nicht glauben, da sie ihn erst einige Male flüchtig gesehen hatte. Annas Mitleid war zu groß mit dem verlegenen Richard, als dass sie ihn länger in dieser peinlichen Lage lassen konnte; mit dem artigen Ton einer gebildeten Dame unterbrach sie die eingetretene Stille, noch ehe es Herr Wilibald vermochte, der schon Miene dazu machte.
»Mein Herr«, sprach sie, »in einigen Tagen ist der Geburtstag meines Vaters. Ich gedenke ihn dieses Jahr festlicher zu begehen als sonst, da er seit kurzer Zeit von einer schweren Krankheit genesen ist: Würden Sie mir wohl zu diesem Zweck ein passendes Gedicht liefern?«
»O wie gern!«, stammelte Richard und sein Auge blickte ermutigt empor; doch wie von dem Strahl einer mächtigen Sonne geblendet, schlug er die Blicke wieder zu Boden, denn er hatte in Annas liebliche Augen geschaut, die voll unaussprechlicher Milde und Empfindung auf ihn gerichtet waren. Auch das junge Mädchen, wie von einem elektrischen Schlag getroffen, bebte zurück – weshalb, wusste sie sich nicht zu erklären; sie fühlte nur, dass ihr ganzes Gesicht wie Feuer brannte und dass ihr Blut heftiger in den Adern pulsierte als sonst.
Auch diesmal trat die Zeit als Vermittlerin auf, denn die Uhr der nahen Pfarrkirche kündigte die Mittagsstunde an.
»Zwölf Uhr«, lispelte sie, »ich muss eilen! Kann ich mir vielleicht übermorgen das Gedicht von Herrn Wilibald holen oder abholen lassen?«
»Es wird bereit sein«, antwortete Richard, indem er sich tief verneigte.
»So leben Sie wohl, Herr Wilibald!«
Anna reichte dem Greis die Hand, grüßte den immer noch bestürzten Richard durch eine anmutige Verbeugung und verschwand wie eine Fee durch die kleine Tür. Als Wilibald wieder öffnete, um ihr das Geleit zu geben, hörte man ihren leichten Fußtritt schon auf den unteren Stufen der Treppe.
»Wer ist die junge Dame?«, rief Richard, als der alte Mann ins Zimmer zurückkehrte. Verwundert über den Ton blickte dieser den hastig Fragenden an.
»Ich weiß es nicht, lieber Richard.«
»Wie, Sie wissen es nicht?«
»Nein, alles, was ich weiß, ist, dass sie Anna heißt.«