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Glitzernde Lichter und luxuriöse Casinos! Doch Dawn ist nicht zum Vergnügen in Las Vegas, sondern auf der Flucht und misstraut jedem – auch dem geheimnisvollen Gray Baron. Dennoch kann sie das heiße Knistern zwischen ihr und dem faszinierenden Anwalt nicht leugnen und lässt sich auf eine leidenschaftliche Nacht mit ihm ein … Ist Dawns Herz in Gefahr?
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Seitenzahl: 263
IMPRESSUM
Schicksalstage in Las Vegas erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2002 by Sandra Myles Originaltitel: „Raising The Stakes “ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Deutsche Erstausgabe 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Rita Koppers
Umschlagsmotive: feedough / Depositphotos
Veröffentlicht im ePub Format in 09/2022
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751515054
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Wie ein Baby im Mutterleib lag Dawn zusammengerollt in dem dunklen Schlafzimmer und lauschte dem aufgeregten Flattern eines Nachtfalters, dessen Flügel gegen die Fliegengittertür schlugen.
Der Nachtfalter war bei Einbruch der Dämmerung aufgetaucht, nachdem Dawn den kleinen Tommy gefüttert und ihn zu Bett gebracht hatte.
„Schlaf schön, mein kleiner Schatz“, hatte sie geflüstert, und der dreijährige Knirps hatte ihr sein strahlendstes Lächeln geschenkt.
Dawns Lächeln verblasste, als sie leise die Tür zuzog und versuchte, das kleine Haus mit Harmans Augen zu betrachten. Hatte sie vergessen, irgendetwas abzustauben? Waren alle Spielzeuge von Tommy weggeräumt?
Sie blieb beim Sofa stehen und strich über den geblümten Überwurf aus Chenille, der die abgewetzte Stelle mit der Sprungfeder verdeckte. Für sie sah alles hübsch und ordentlich aus, aber das hieß noch lange nicht, dass ihr Mann das genauso sah. Vor allem nicht an einem Freitagabend, wenn er seinen wöchentlichen Scheck bekommen und auf dem Heimweg noch irgendwo angehalten hatte, um ein paar Drinks zu nehmen.
Das war nicht immer so. Ab und zu kam er auch gleich nach Hause. Diese Abende waren dann erträglich für sie. Er mochte, dass alles seinen Platz hatte und geordnet war. Als Mann habe er ein Recht darauf, meinte er. Kam er allerdings erst später nach Hause, bis oben voll mit Bier und Schnaps, war es die Hölle …
Dawn atmete tief durch und warf einen kritischen Blick in den kleinen Spiegel neben der Tür. Sah sie müde aus? Harman mochte es nicht, wenn sie erschöpft wirkte. Der Junge ist dran schuld, würde er sagen, wenn sie zu oft gähnte und nicht so strahlend aussah, wie er es wollte. Das Baby würde ihr jegliche Energie rauben. Ein Mal hatte sie den Fehler gemacht, ihm zu widersprechen und ihm erklärt, dass der Junge ihre größte Freude im Leben sei.
„Falsch“, hatte Harman kalt gesagt. „Das bin ich. Vergiss das nie!“
Und sie hatte es nicht vergessen. Doch es war nicht sein eiskalter, drohender Blick, der ihr Angst gemacht hatte, sondern die Art, wie er Tommy hinterher angeschaut hatte. Als hätte dieser sich unbefugt Zutritt zu einer Welt verschafft, die ohne ihn perfekt gewesen war …
Dawn ging weiter in die Küche, nahm den Besen aus dem Schrank und trat auf die kleine Veranda, die unbedingt abgekehrt werden musste. Denn die hohen Eichen, die auf dem Hügel um das Häuschen herumstanden, warfen ab und zu Blätter und Eicheln ab. Harman war das stets ein Dorn im Auge.
„Die muss zweimal am Tag abgefegt werden“, verlangte er.
Also kehrte Dawn sie ab, zweimal am Tag. Manchmal sogar öfter, um sicher zu sein, dass wirklich alles sauber war. Als sie an diesem Abend die Veranda gefegt hatte, hatte sie auch den Nachtfalter entdeckt.
Vor vielen Jahren, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie zum ersten Mal einen Nachtfalter gesehen. Er war durch die geöffnete Tür des Wohnwagens geflattert, in dem sie mit ihrer Mutter lebte.
„Schlag ihn tot!“, schrie ihre Mutter aufgebracht.
Stattdessen fing Dawn den Falter ganz vorsichtig ein und ließ ihn draußen wieder frei.
„Flieg schnell weg“, flüsterte sie, „ganz weit weg.“
Kaum war sie wieder im Wohnwagen, schlug ihre Mutter sie. Aber sie schlug nicht hart zu, da sie mit Schmerztabletten vollgepumpt war. So nannte ihre Mutter das Zeug, das sie immer schluckte.
„Wenn ich dir was sage, hast du zu gehorchen“, schnauzte sie. „Hast du verstanden?“
Und Dawn hatte verstanden. Regeln waren dazu da, um befolgt zu werden.
Plötzlich hielt sie die Luft an. Ein Truck näherte sich. War das vielleicht Harman? So früh schon? Ein gutes Zeichen, denn es würde bedeuten, dass er nicht mehr als ein oder zwei Drinks unterwegs genommen haben konnte.
Doch der Wagen fuhr vorbei, und Dawn atmete erleichtert auf. Noch einmal kehrte sie die Veranda ab, die schon längst sauber war. Anschließend ging sie ins Haus und legte sich aufs Bett, um wenigstens noch ein paar Minuten Ruhe zu finden, ehe Harman kommen würde.
Eine Stunde später hörte sie, wie eine Wagentür zugeschlagen wurde. Schwere Schritte erklangen auf der hölzernen Treppe und der Veranda. Dann ging die Tür auf.
Vielleicht würde es ja nicht so schlimm werden. Früher war er doch auch nett zu ihr gewesen. Er hatte sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle, und hatte ihr angeboten, sie aus dem Wohnwagenpark herauszuholen, weg von ihrer Mutter und deren ständig wechselnden Männern. Dawn hatte das Gefühl gehabt, als wären endlich all ihre Gebete erhört worden.
„Verflucht!“
Dawn vergrub ihr Gesicht in den Kissen. Bitte wach nicht auf, Tommy, dachte sie verzweifelt. Schlaf weiter. Sie wollte nicht, dass er mit seinem Vater, wenn dieser so war, aufeinandertraf. Auch wenn sie sich ziemlich sicher war, dass Harman dem Kleinen nichts antun würde …
Sie hörte, dass er hingefallen war und sich fluchend wieder aufrappelte.
„Verdammter Mist!“, brüllte er. „Was, zum Teufel, ist das denn?“
Oh Gott! Er war über irgendetwas gestolpert. Hatte sie vergessen, den Besen wegzuräumen, oder die Kehrschaufel? Eines von Tommys Spielzeugen …
Das rote Auto.
Das nagelneue rote Plastikauto, das sie heute im Supermarkt gekauft hatte, obwohl es zwei Dollar kostete. Doch sie konnte Tommy diesen Wunsch einfach nicht abschlagen. Voll kindlicher Begeisterung hat er das Spielzeugauto mit seinen großen runden Augen angeschaut. Den ganzen Nachmittag hatte er mit dem Auto gespielt, während sie die Wäsche zusammengelegt hatte. Schließlich war er am Boden neben ihren Füßen erschöpft eingeschlafen, das Auto in seinen Ärmchen. Als sie ihn in sein Bett getragen hatte, war es hinuntergefallen und wohl irgendwohin gerollt, wo sie es dann vergessen hatte.
„Aufstehen!“
Furchterregend ragte mit einem Mal Harman vor ihr auf und hielt ihr das rote Spielzeugauto hin. „Wo ist das her?“
Dawn klammerte sich an die Bettdecke. „Aus Queen City.“
„Da gibt es keine Spielzeugläden, du Flittchen.“
„Ich habe es im Supermarkt gekauft …“ Sie stockte und hielt die Luft an, weil Harman sich über sie beugte und sie seinen Atem roch, der nach Schnaps stank.
„Welcher Kerl hat dieses Ding mitgebracht, um meinen Sohn ruhig zu stellen, während du es mit ihm in meinem Bett treib…?“
„Es war niemand hier. Was soll ich denn mit anderen Männern, Harman. Ich liebe doch nur dich …“
„Du weißt doch gar nicht, was Liebe ist, du billiges Flittchen.“ Er keuchte. „Du bist zu nichts zu gebrauchen, noch nicht mal im Bett …“
Dawn zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. Sie wusste, dass es ihm ganz und gar nicht gefiel, wenn sie nur reglos dalag, während er sie rücksichtslos nahm …
Plötzlich entdeckte sie eine kleine Gestalt in der Tür, in einem hellblauen Pyjama mit aufgedruckten bunten Luftballons.
Sofort sprang sie auf, um Tommy wieder ins Bett zu bringen, doch Harman war schneller. Er versperrte ihr den Weg und hielt sie mit einer Hand fest, ehe er sich zu seinem dreijährigen Sohn umdrehte. „Wer hat dir dieses Auto geschenkt?“, fragte er drohend und hielt den kleinen roten Wagen hoch.
Tommy schaute erst das Auto an, dann ging sein schreckgeweiteter Blick zu seiner Mutter. „Mommy hat es mir geschenkt“, antwortete er mit seinem dünnen Stimmchen.
„Lügner!“ Harman spuckte das Wort förmlich aus. „Du lügst genauso wie deine Mutter, dieses Miststück!“
Er hob die Hand mit dem Auto, mit aller Gewalt schleuderte es auf den Boden und trat mit seinem schweren Stiefel darauf, wieder und immer wieder.
Dawn hörte nicht, wie das kleine Auto zerbarst. Sie nahm nur Tommys Gesicht wahr. Ungläubig starrte der Junge auf den Boden, wo sein geliebtes kleines Auto lag, zertreten von dem schweren Stiefel seines betrunkenen Vaters. Schließlich richtete der Kleine die Augen auf seine Mutter. Tränen schimmerten an seinen Wimpern, während er sie mit unendlich traurigem Blick ansah. Sie wusste, dass für ihn in diesem Moment eine ganze Welt zerbrochen war.
Zwei Tage später hatte Dawn das Monster verlassen, das sie geheiratet hatte. Sie wusste, dass sie nie wieder zu ihm zurückkehren würde.
Vier Jahre später
Graham Baron trat aus dem Terminal des Austin Airports und fragte sich, wie er die ersten siebzehn Jahre seines Lebens in Texas hatte leben können. Er war nun dreiunddreißig Jahre alt und wohnte in New York. Doch jedes Mal, wenn er zurückkehrte, erstaunte ihn die Tatsache, dass er hier geboren war. Wie eine fremde Welt erschien ihm alles. Die Menschen. Die schleppende Art, wie sie sprachen. Die Weite des Landes und des Himmels. Das Wetter.
Oh ja, das Wetter, dachte er, als ihm die heiße Luft entgegenschlug. Dabei war es schon Herbst. Natürlich gab es auch jene, die behaupteten, dass Austin nicht das wirkliche Texas war. Als Hügelland wurde es in den Reiseführern beschrieben, und Hügelland war es auch in der Vorstellung der Menschen im Osten Amerikas.
„Sie kommen tatsächlich aus Texas?“, hörte er immer wieder, wenn die Sprache auf seinen Geburtsort kam.
„Ja“, gab er dann zurück, hakte die Daumen in seine Gürtelschlaufen und imitierte John Wayne mit dessen schleppenden texanischen Akzent.
Es war jedes Mal ein Lacher. Vor allem, wenn man bedachte, dass er weder diesen Akzent hatte noch Cowboystiefel trug und den Mief von Öl, Vieh und Pferden schon vor sechzehn langen Jahren abgeschüttelt hatte.
„Von woher in Texas?“, wurde dann oft nachgefragt. Und wenn Gray antwortete, dass er in Austin geboren war, nickten sie. Ach ja, Austin? Ist das nicht, äh, irgendwie anders? Gibt es da nicht grüne Bäume und hügeliges Land? Ist schon ein Unterschied zum übrigen Land, oder?
Falsch, zum Teufel, dachte Gray, als er seinen Aktenkoffer abstellte, seine Anzugjacke abstreifte, die Krawatte lockerte und die Hemdärmel aufrollte. Ein Mann, der an die himmelhoch aufragende Skyline von Manhattan gewöhnt war, konnte sich mit so einer mickrigen Nachbildung nicht anfreunden, zumal der Central Park mindestens ebenso hügelig war wie die Landschaft um Austin.
Verdammt, seine Stimmung war am Nullpunkt angelangt. Heute Morgen hatte er die Maschine am Flughafen La Guardia bestiegen. Und seither hatte er mehr als ein Mal geflucht, dass er sich überhaupt hatte überreden lassen, den Flug anzutreten. Doch nun war es nicht mehr zu ändern.
Ein Fahrzeug hupte am Standstreifen. Gray schaute hinüber. Am Straßenrand wartete ein grüner Jeep. Das Langhorn der Espada Ranch prangte aufgemalt an der Tür des Wagens. Abel Jones winkte herüber. Gray winkte zurück und marschierte zu ihm.
„Nett von Ihnen, mich abzuholen“, sagte er, als er auf den Beifahrersitz glitt und den Aktenkoffer nach hinten legte.
Abels Blick ruhte eine ganze Weile auf ihm. Dann spuckte der Vormann aus dem Fenster und ordnete sich in den Verkehr ein. „Gehört zum Job“, erwiderte er einsilbig.
So viel zur Unterhaltung. Nicht, dass es Gray etwa überrascht hätte, so viel Ähnlichkeit mit dem Alten in seinem Vormann zu entdecken. Groß, knauserig, scheinbar alterslos, kurz angebunden. Aber das war okay. Auch Gray hatte kein ausgeprägtes Interesse an Konversation. Er lehnte sich zurück und genoss es, wie die Kühle der Klimaanlage seinen Körper umströmte. Während sie den Highway nahmen, der aus der Stadt nach Brazos Springs hinausführte, überlegte er, was sein Onkel, Jonas Baron, im Schilde führen könnte.
Jonas hatte in der vergangenen Nacht angerufen. Der Anruf hatte Gray aus jener Art von Tiefschlaf gerissen, in den man verfällt, wenn man eine Frau warm und zufrieden im Arm hält. Schon seit mehreren Wochen kannte er die Frau. Sie murmelte eine sanfte Beschwerde, als er sich von ihr wegrollte und nach dem Hörer griff. Es war eine automatische Reaktion, die von acht Jahren Tätigkeit als Strafverteidiger herrührte.
Man erhält eine Menge solcher Anrufe mitten in der Nacht, wenn die Klienten nicht gerade das Salz der Erde sind.
„Gray Baron“, meldete er sich heiser.
Die Stimme am Ende der Leitung hatte er lange Zeit nicht mehr gehört. Ein schleppender, texanischer Akzent, überlagert von einem schneidenden Befehlston.
„Graham?“
„Jonas?“ Gray schielte auf die Leuchtziffern seines Weckers, dann saß er aufrecht in den Kissen. „Was ist passiert?“
„Alles okay mit dem Alten, wenn du das meinst. Und mit allen anderen auch, die dir was bedeuten. Also entspann dich wieder.“
„Gray?“, murmelte die Frau neben ihm. „Was gibt’s?“
Genau das versuchte er herauszubekommen. Er griff nach hinten und strich sanft über ihre warme Haut, bevor er mit dem Hörer am Ohr aufstand. Nackt verließ er das Schlafzimmer.
„Was soll das heißen? Alles okay mit denen, die mir wichtig sind?“
„Einfach so ein Spruch, Junge. Keine weitere Analyse nötig.“ Kurze Pause. „Du willst vermutlich wissen, warum ich so spät anrufe.“
„Richtig geraten“, gab Gray trocken zurück.
„Wie spät ist es bei euch eigentlich? Mitternacht?“
„Es ist gleich zwei. Was gibt’s, Jonas?“
Eine zweite Pause. „Ich habe … na ja, ich finde, wir haben dich lang nicht bei uns gehabt.“
Mein Gott, dachte Gray. Sein Onkel war endgültig senil geworden. „Ja“, sagte er bedächtig, „das stimmt.“
„Nicht mehr, seit Samantha diesen Di-mi-troos geheiratet hat“, fügte Jonas hinzu und gab den griechischen Namen seines Schwiegersohns im reinsten Texanisch wieder.
Senil kann man vergessen. Der Alte hat immer noch einen messerscharfen Verstand. „Also?“
„Also …“ Nochmals Stille. Dann ein lautes Räuspern. „Also habe ich mich gefragt, ob du in der Stimmung wärst, für eine Stippvisite herzukommen.“
„Habe ich das richtig verstanden?“, erkundigte sich Gray vorsichtig. „Du rufst hier mitten in der Nacht an, um mich nach Espada einzuladen?“
Der alte Mann gluckste. „Kaufst du mir nicht ab, oder?“
„Nein.“ Mit dem Hörer zwischen Schulter und Ohr tastete sich Gray durch das dunkle Apartment und öffnete den Kühlschrank. Er nahm eine Flasche Mineralwasser heraus, öffnete sie und setzte sie an die Lippen. „Zum Teufel nein“, sagte er.
„Das mag ich so an dir, Junge. Du bist anders als die anderen. Du behandelst mich nicht, als wäre ich Gott persönlich.“
Gray musste lachen. Sein Onkel wusste genau, dass er von ihm nicht gerade geliebt wurde, und Gray hatte auch nie etwas anderes vorgetäuscht. Nie hatte er sich bei Jonas eingeschmeichelt, um an das Geld der Barons zu kommen, im Gegensatz zu seinem eigenen Vater. Wenn Jonas pfiff, kam Leighton angerannt. So war es schon immer gewesen, während Grays gesamter Kindheit. Manchmal wusste er kaum noch, welchen der beiden Männer er mehr verachtete. Seinen Vater, der Jonas die Füße küsste, oder Jonas, weil dieser es genoss. Schließlich hatte er sich nicht mehr darum gekümmert und keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Er hatte beiden die kalte Schulter gezeigt und war seinen eigenen Weg gegangen.
„Nein“, sagte er unverblümt. „Das tue ich sicher nicht.“ Er stellte die Flasche auf den Küchentresen und kehrte ins Schlafzimmer zurück. „Vorschlag, Jonas. Lass uns aufhören mit dem Unsinn, okay? Es ist mitten in der Nacht. Du rufst mich zum ersten Mal überhaupt an. Wenn ich darüber nachdenke, mag es sogar das erste Mal sein, dass du mehr als drei zusammenhängende Worte mit mir gesprochen hast.“
„Oder du mit mir, Junge.“
„Völlig richtig. Also, wie kommst du auf die Idee, ich würde dir abnehmen, dass du nur deshalb anrufst, weil du mich fürs Wochenende einladen willst? Komm zum Punkt! Um was geht’s?“
Wieder war es still am anderen Ende, bis auf Jonas’ rasselnden Atem.
„Du bist so was wie ein Staranwalt drüben in New York, oder?“
War er das? Sicher, er war Partner in einer renommierten Kanzlei. Aber verbrachten Staranwälte ihre Tage damit, den Abschaum der Erde wieder freizubekommen?
„Ich bin Anwalt mit der Zulassung im Staat New York“, antwortete Gray brüsk.
„Nun, es geht um eine rechtliche Angelegenheit, die geregelt werden muss.“
„Eine rechtliche Angelegenheit?“
„Mhm.“
„Warum kommst du damit zu mir? Zunächst einmal bin ich nicht in Texas als Anwalt zugelassen.“
„Du wirst keine Zulassung benötigen. Vielleicht habe ich nicht erwähnt, dass ich nur eine Rechtsberatung brauche.“
„Dafür gibt es genügend Leute um dich herum. Deinen Sohn zum Beispiel.“
„Ja sicher, Travis ist auch Anwalt. Aber er lebt in Kalifornien.“
„So ist es. Und wir waren beide eben der Meinung, dass ich in New York lebe.“
„Ich möchte Travis nicht in die Sache einbeziehen.“
Ob der Alte wusste, was er mit dieser Bemerkung auslöste? Gray unterdrückte seine aufkommende Neugierde.
„Na schön“, meinte er, „aber bei dir werden doch wohl die besten Kanzleien von Austin Schlange stehen.“
„Da magst du verdammt recht haben.“ Ein Hauch von Stolz klang in der Stimme seines Onkels mit. „Die allerbesten.“
„Na siehst du. Dann wäre es doch besser, wenn du dich an sie wendest, statt an mich …“
„Es geht um eine sehr private Sache. Ich möchte, dass du sie übernimmst. Nicht mein Sohn oder eine Schar von Anwälten, die mehr Interesse an meinen Schecks als an dem Namen Baron haben.“
Die Neugierde verstärkte sich, doch Gray ignorierte sie. „Das ist sehr schmeichelhaft“, bedankte er sich höflich, „aber …“
„Blödsinn“, gab Jonas barsch zurück. „Ich will dir nicht schmeicheln, und du würdest einen feuchten Kehricht darauf geben, wenn ich es täte.“
Gray setzte sich auf die Bettkante. Das war die Stärke des alten Mannes. Er konnte mit Menschen umgehen wie ein Geigenvirtuose mit seiner Stradivari, doch Gray hatte nicht die Absicht, sich über den Tisch ziehen zu lassen.
„Da hast du recht“, bestätigte er. „Hör zu, worum es auch gehen mag, ich bin nicht interessiert. Ich stecke mitten in einem Fall.“
„Du könntest den ersten Flug morgen früh nehmen und abends wieder zurück sein.“
„Ich fürchte, das wird nicht gehen. Außerdem …“
„Außerdem würdest du lieber für einen nichtsnutzigen Pferdedieb arbeiten als für mich.“
Das Gute an Jonas war, dass er immer direkt zur Sache kam. Vielleicht die einzige Stärke, die er und sein Onkel gemein hatten, wie Gray sich oft überlegt hatte.
„Ja.“ Er lächelte im Dunkeln. „Das bringt es ungefähr auf den Punkt.“
„Junge, es ist doch nicht meine Schuld, dass dein Vater sein ganzes Leben damit verbracht hat, mir in den Hintern zu kriechen, um Geld von mir zu bekommen.“
Gray erhob sich. „Es ist spät“, sagte er kühl, „und ich hatte einen langen Tag. Gute Nacht, Jonas.“
„Warte!“ Hörbar schnaubte der Alte. „Ich brauche deine Hilfe.“
Jonas Baron brauchte Hilfe? Seine Hilfe? Gray zögerte, das Gespräch zu beenden. „Inwiefern?“
„Du fliegst her nach Espada, dann erkläre ich es dir.“
„Ich habe nicht die Absicht, nach Espada zu fliegen. Erkläre mir das Problem jetzt.“
„Das kann ich nicht.“
„Mein Gott, ich kann es nicht glauben! Du weckst mich mitten in der Nacht, du murmelst wirres Zeug über eine Rechtsberatung und mutest mir zu, alles stehen und liegen zu lassen und sofort nach Texas zu reisen?“
„Jawohl“, erwiderte der Alte in scharfem Ton. Gray bemerkte, dass er seinen jovialen Akzent abgelegt hatte. „Genau das erwarte ich von dir.“
„Hier eine Neuigkeit für dich, Onkel. Ich habe noch nie das getan, was von mir erwartet wurde, und ich werde bestimmt nicht gerade jetzt damit anfangen.“
„Es könnte dich durchaus interessieren.“
„Das bezweifle ich.“
„Gray.“ Ein weiterer rauer Atemzug. „Ich bin ein alter Mann.“
Ach, zur Hölle. Gray setzte sich wieder. „Hör zu“, sagte er, „es stimmt, du und ich, wir sind noch nie miteinander ausgekommen, aber …“
„Wir wären gut miteinander ausgekommen, hätten wir uns in unserem Urteil nicht auf deinen Vater verlassen.“
Erneut musste Gray lachen. Wieder hatte sein Onkel die Sache genau auf den Punkt gebracht. Und vielleicht sogar den Nagel auf den Kopf getroffen. „Da könnte was dran sein. Doch so war es, und wir können es nicht mehr ändern.“ Er schlug einen milderen Ton an. „Jonas, ich wünschte, ich könnte dir beistehen. Aber ich habe wirklich diesen Fall am Hals, und …“
„Ich werde alt, mein Junge. Wirklich alt.“ Jonas räusperte sich. „Und ich habe etwas getan – vor langer Zeit –, das ich wiedergutmachen muss, bevor mein letztes Stündchen schlägt.“
„Teufel noch mal, ich bin kein Beichtvater.“
„Verdammt, hörst du mir überhaupt zu? Ich brauche keinen Waschlappen von Priester, um ihm meine Sünden zu beichten. Was ich brauche, ist ein Mann meines Vertrauens.“
„Und du glaubst, ich sei der Richtige? Warum eigentlich? Wir kennen uns doch kaum.“
„Ein Teil meines Blutes fließt auch in deinen Adern, Junge, auch wenn es dir nicht passt. Mein Bruder war dein Großvater.“
Gray presste zwei Finger gegen die Nasenwurzel. „Jonas, hör zu. Wenn du einen Rat benötigst, kann ich dir jemanden empfehlen. Einer meiner Partner, der für einen Bundesrichter arbeitet …“
„Das hast du doch auch.“
Dass der alte Mann so viel über ihn wusste, erstaunte ihn. Dennoch wollte er sich nicht hineinziehen lassen. In all den Jahren hatte er Abstand gewonnen zu seinem Vater, zu seinem Onkel, zu Texas. Wenn er dann doch einmal zu Hochzeiten oder größeren Familientreffen in die Heimat flog, dann nur wegen seiner Cousins. Darüber hinaus hatte er sich nie als Teil des Baron-Clans gefühlt, und er wollte auch nicht dazugehören.
„Graham?“
„Ja, ich bin noch da.“
„Ich sage es noch einmal, Junge. Ich brauche deine Hilfe.“
„Und ich sage es dir auch noch mal, Onkel. Ich kann dir nicht helfen.“
Der alte Mann schien mit seiner Geduld am Ende. „Verdammt noch mal“, brüllte er, „komm her, und ich schwöre dir, es wird mich weniger Zeit kosten, dir zu erklären, was mein Problem ist, als dich, um mir zu sagen, dass du nicht interessiert bist!“
Gray war klar geworden, dass Jonas vermutlich recht hatte. Außerdem gelang es ihm nicht ganz, diese ungewollte Neugierde zu unterdrücken. Wenige Minuten später willigte er ein. Okay, er würde den ersten Flug morgen früh nehmen.
„Gut“, stimmte sein Onkel zu. „Du nimmst den TransAmerica Flug 1157, Abflug sechs Uhr fünf.“
Im nächsten Moment hatte Jonas aufgelegt, und Gray wurde bewusst, dass der Alte ihn überrumpelt hatte. Zuerst fluchte er, dann lachte er. Schließlich ging er zurück ins Bett, und als die Frau sich in seine Arme kuschelte, liebte er sie. Doch ein Teil von ihm war nicht ganz bei der Sache. Immer noch suchte er nach einer Begründung, warum es seinem Onkel so wichtig war, dass er zu ihm kam.
Um vier Uhr dreißig war er aufgestanden, hatte geduscht, sich angekleidet und seiner schlafenden Geliebten eine Nachricht hinterlassen, die besagte, sie möge sich selbst versorgen, er würde sie in ein, zwei Tagen anrufen. Dann hatte er sich ein Taxi zum Flughafen bestellt.
Und jetzt bin ich tatsächlich da, dachte er, als der Jeep die schmiedeeisernen Eingangstore der Espada Ranch passierte. Obwohl er, wie Jonas gesagt hatte, ein New Yorker Staranwalt war, der sich unter keinen Umständen gegen seinen Willen etwas aufdrängen lassen wollte. Er würde sich die Geschichte seines Onkels anhören, irgendeinen juristischen Hokuspokus veranstalten, um das Gewissen des alten Mannes zu beruhigen, das diesen am Ende seines langen, beeindruckenden Lebens plagte. Und zum Abendessen würde er wieder in New York sein.
Vielleicht könnte diese kleine Flucht aus der täglichen Routine ihm helfen, den Kopf freizubekommen und ihm die Schuldgefühle nehmen, wenn er mal wieder das Rechtssystem beugte, nur um seinen nächsten Klienten vor einem längeren Gefängnisaufenthalt zu bewahren.
In einer Staubwolke kam der Jeep zum Stehen. Gray nickte Abel zu, griff sich den Aktenkoffer und steuerte auf das Haus zu. Er lächelte, als er die Frau seines Onkels entdeckte, die vor der Tür stand. Gray war überrascht, Marta zu sehen. Dabei hatte Jonas so ein gewaltiges Geheimnis um ihr Treffen gemacht.
„Graham“, begrüßte seine Stieftante ihn, „wie schön, dass du da bist.“ Mit einem Lächeln streckte sie ihm die Hände entgegen und umarmte ihn. Sie duftete nach einem teuren Parfüm und sah aus, als ob sie auf dem Weg zur Madison Avenue wäre, um dort zu essen. Auch jetzt war er wieder erstaunt, dass eine Frau wie sie sich in dieser Umgebung wohlfühlte. Er hatte sie gern; er hatte sie schon immer gemocht. Von allen Frauen, die der alte Mann je hatte, war Marta die beste.
„Marta.“ Er küsste sie auf die Wange und legte die Hände in Armeslänge entfernt auf ihre Schultern. „Du siehst umwerfend aus, wie immer.“
„Mit deinen Schmeicheleien wirst du es noch weit bringen“, sagte sie lachend. Sie hängte sich bei ihm ein, schloss die Tür und führte ihn in das elegante Foyer. „Wie schön, dass du dich entschieden hast, Jonas’ Einladung anzunehmen.“
Die Aufforderung des Alten war ebenso wenig eine Einladung gewesen wie die Spanische Inquisition. Doch er behielt den Gedanken für sich.
„Keine Ursache“, entgegnete er höflich. „Und wie ist es dir so ergangen?“
„Oh, mir geht es gut. Alles in Ordnung.“ Ihr Blick verdüsterte sich. „Außer Jonas natürlich.“
Überrascht sah Gray sie an. „Geht es ihm nicht gut?“
„Nein, ganz und gar nicht. Hat er dir nichts davon erzählt?“ Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Natürlich hat er das nicht. Weil er glaubt, so tun zu können, als hätten die Ärzte nicht diagnostiziert …“
„Was haben sie gesagt?“
Marta ließ seinen Arm los und faltete die Hände vor dem Bauch. „Leukämie“, erklärte sie leise.
Zum Teufel! Gray brauchte einen Augenblick, um die Bedeutung ihrer Worte zu begreifen.
„Deshalb will er jetzt auch alles genau geregelt wissen, damit jedes Kind das bekommt, was ihm zusteht.“ Sie lächelte ihn an. „Es wird ihn sicher beruhigen, mit dir als Mitglied der Familie über seinen Letzten Willen sprechen zu können.“
Gray zog die Brauen hoch. Was sollte das alles? Sollte er dem alten Mann Ratschläge geben, wer was bekommen würde?
„Nun“, begann er vorsichtig, als sie vor der geschlossenen Tür zur Bibliothek stehen geblieben waren, „ich tue, was ich kann.“
„Das weiß ich.“ Sie klopfte an die massive Holztür, ehe sie die Klinke herunterdrückte. „Liebling? Graham ist da.“
Marta ließ ihn ein, und Gray betrat die Bibliothek. Leise fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Bedächtig sah er sich um, zunächst konnte er ihre Bemerkung, als sie ihn vor Veränderungen gewarnt hatte, nicht verstehen. Alles war wie immer. Er erinnerte sich noch genau, als Marta seinen Onkel geheiratet hatte. Sie hatte vieles umgestellt. Den Wohnraum, das Speisezimmer, das restliche Haus … aber die Bibliothek – der Schlupfwinkel seines Onkels – blieb unangetastet.
Hier standen die gleichen Sofas und Sessel wie schon in seiner Kindheit. Dieselben leicht abgewetzten Lederkissen, auf Glanz poliert vom Lauf der Jahre. Dieselbe Anrichte aus edlem Mahagoniholz und der riesige Schreibtisch mit dem Schwert der Konquistadoren an der Wand darüber, nach dem die Espada Ranch benannt worden war. Dieselben Gardinen vor den Fenstern, der gleiche alte, wunderbare Seidenteppich am Boden. Und da saß Jonas – in seinem Lieblingssessel am offenen Kamin, ein Glas in der Hand.
Nichts hat sich verändert, rein gar nichts, dachte Gray, bis sein Onkel das Glas abstellte und sich erhob.
Jonas war geschrumpft. Das war Grays erster Gedanke. Der alte Herr hatte sich von früher über einsachtzig auf vielleicht einsfünfundsiebzig verkleinert. Nein, das war falsch. Vielmehr stand er vornüber gebeugt da, die einst starken Schultern rund geworden, den stolzen Rücken gebeugt.
„Graham.“
Als Jonas langsam den Raum durchquerte, war Gray zum zweiten Mal geschockt. Stets war der Gang seines Onkels ein Ebenbild seiner Einstellung gewesen: Seht nur alle her, mir gehört die Welt! Nun schleppte er sich dahin, während seine Stiefel über den Teppich schlurften. Es war der traurige, schmerzliche Klang des Alters und der eines Mannes am Ende seines Lebens.
„Gut, dich hier zu haben, Junge.“
Gray gab sich einen Ruck und ging seinem Onkel bis zur Mitte des Raums entgegen. Sie reichten sich die Hände. Jonas’ Händedruck war immer noch erstaunlich kräftig, doch seine Finger waren knochig und kalt. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte Gray einen Anflug von Mitleid mit ihm.
„Ich bin auch froh, dich zu sehen, Onkel“, sagte er.
Jonas deutete mit dem Kopf zu einer Sesselgruppe. „Nimm Platz. Möchtest du etwas trinken? Ich kann nach Carmen läuten, damit sie uns einen Kaffee bringt.“
„Nein danke. Mit dem Kaffee, den ich im Flugzeug hatte, könnte man ein Schiff versenken.“
„Gut. Ich habe Männer noch nie gemocht, die Kaffee statt Whiskey geschlürft haben.“ Der alte Herr grinste. „Oder trinkst du keinen Bourbon, Neffe? Ich erinnere mich nicht mehr.“
Gray musste lächeln. Jonas erinnerte sich sehr wohl. Es war schon sprichwörtlich in der Familie, dass niemand den Geschmack des alten Herrn teilte. Seine Söhne bevorzugten Wein, Bier und Ale. Grays Getränk war gewöhnlich ein Scotch. Aber der Druck dieser kalten Finger ließ ihn seine Abneigung überdenken.
„Ein kleiner Bourbon wäre jetzt nicht schlecht“, entgegnete er.
Jonas nickte und schleppte sich zur Anrichte. Seine Hände zitterten, als er die Flasche Jack Daniel’s öffnete. Gray nahm sich vor, sich nicht von diesen Zeichen von Krankheit und Alter beeinflussen zu lassen. Er war gekommen, um seinem Onkel zuzuhören, eine Beteiligung abzulehnen, um was auch immer er ihn bitten würde, und dann wieder nach Hause zu fliegen. Und genau diese Absicht bestand weiterhin. Auf keinen Fall war er gekommen, um einen Fehler aus Jonas’ Vergangenheit auszuradieren, einen echten oder einen eingebildeten … es sei denn, Marta behielte recht und er sollte Jonas bei der Festlegung seines Letzten Willens beraten. Ach verdammt, auch das würde er nicht wollen. Er wollte in nichts verwickelt werden.
„Hier bitte“, sagte Jonas.
Gray nahm das Glas, stieß mit dem Onkel an und nippte an dem Whiskey. Doch noch mehr Rituale warteten, dieses Mal in Form einer Schachtel kubanischer Zigarren. Dankend lehnte Gray ab. Der alte Herr nahm sich eine, biss die Spitze ab, spuckte sie in den Kamin und zündete die Zigarre an.
„Sollte weder trinken noch rauchen, aber was soll’s? Ich werde diese Welt sowieso nicht mehr lang beehren.“
„Du wirst uns alle überleben“, meinte Gray höflich.
Es klopfte an der Tür. Jonas öffnete, warf einen kurzen Blick auf das Tablett, das die Haushälterin hereintragen wollte, und winkte sie wieder hinaus.
„Limonade!“ Widerwillig verzog er den Mund. „Und Kuchen. Man könnte meinen, dass wir hier einen Kindergeburtstag feiern.“ Er warf die Tür zu und sah Gray an. „Wo war ich stehen geblieben?“
„Du sagtest, du wolltest reden.“
„Falsch. Ich habe dir erklärt, dass es Blödsinn wäre, auf einen guten Schluck Whiskey und eine gute Zigarre zu verzichten.“ Jonas ließ sich in einen Sessel fallen. „Aber du hast recht, ich habe tatsächlich vor zu reden. Ich vermute, Marta hat dir gesagt, dass ich sterben werde?“
„Äh, nun … sie hat gemeint …“
„Schluss jetzt“, unterbrach Jonas ihn voller Ungeduld, „hör auf, um den heißen Brei herumzureden! Jeder Mensch hat eine gewisse Menge an Zeit, die ihm zur Verfügung steht, und ich habe den größten Teil aufgebraucht. Erinnerst du dich an meine Worte letzte Nacht? Dass ich deine direkte Art mag? Enttäusch mich jetzt nicht, Junge. Ich werde sterben. Daran gibt es nichts zu rütteln. Und soll ich dir was sagen? Es ist in Ordnung so. Ich habe ein langes, ausgefülltes Leben gehabt.“ Er lächelte, zog an der Zigarre und stieß eine Wolke von Rauch aus. „Fünf Frauen, vier kernige Söhne, habe mir diese Ranch gebaut und mehr gute Zeiten gehabt als ein Dutzend anderer Männer.“ Sein Lächeln verblasste, als er sich vorbeugte. „Aber je näher das Ende heranrückt, desto öfter denke ich, dass all die guten Zeiten nicht immer wirklich gut waren, wenn du verstehst, was ich meine.“