Schmetterlingsseelen - Christina Gerber - E-Book

Schmetterlingsseelen E-Book

Christina Gerber

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Beschreibung

Was passiert, wenn man sich zu jemandem hingezogen fühlt, der nicht der eigene Ehepartner ist? Ist es falsch, einer anderen Person seelisch nahe zu sein, wenn man verheiratet ist? Linas Leben scheint perfekt zu sein - und auf den ersten Blick sind alle Jugendträume wahr geworden. Sie führt eine stabile Ehe, engagiert sich in der Kirchengemeinde und kümmert sich hingebungsvoll um ihre Kinder. Doch dann begegnet sie dem verschlossenen Musiker Joshua - und fühlt eine tiefe Verbindung zu ihm, die sie sich rational nicht erklären kann. Als Joshua den Kontakt radikal abbricht, reißt es Lina den Boden unter den Füßen weg; nichts fühlt sich mehr sinnvoll an. Hin- und hergerissen zwischen Pflichterfüllung und dem sehnlichen Rufen ihres Herzens flüchtet Lina mit ihrer Familie für ein Jahr ins Ausland. Kurze Zeit später scheint sich die Geschichte mit Joshua auf fatale Weise zu wiederholen und Lina erkennt schmerzlich, dass es unmöglich ist, vor sich selbst davonzulaufen. In 'Schmetterlingsseelen' begibt sich Lina auf eine Reise der Selbsterkenntnis und des Erwachens und gerät dabei in einen Wachstumsprozess ihrer selbst, der sich eines Tages nicht mehr aufhalten lässt. Werden ihre Entscheidungen ihre Familie zerstören oder wird sie ihr eigenes Glück finden können?

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Schmetterlingsseelen

Christina Gerber

 

 

 

 

Copyright © 2022 by Christina Gerberchristina-maria-gerber.deLektorat & Layout: Bettina Kyrala Belitz – bettinabelitz.deBuchcover-Design: Laura Newman – lauranewman.deDas Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische und sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.Dies ist ein fiktives Werk. Charaktere und Handlungen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie Ereignissen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.ImpressumChristina GerberUnterer Schorn 11, 91301 Forchheim

 

Geschichten

»Du legst den Finger in die Wunde,ganz leicht.

Nur eine Geschichte, deine eigene?Wer weiß.

Es finden sich viele wieder, in der Geschichte.Überrascht?

Du hast sie ertappt, du fängst sie auf.Unbemerkt.

Sie beginnen zu denken, halten innein ihrem Leben.

Manche ändern die Richtung, nur einen Tag lang.Immerhin.

Darum machst du weiter, erzählst eine neueGeschichte.«

 

(Christina Gerber)

 

 

Prolog

 

Ich stieg einen Berg hinauf, allein, suchte die Ruhe. Ich setzte mich auf einen Felsen, kantig und rau, irgendwo zwischen Himmel und Erde. Die Zeit stand still. Und dort, in diesem schwerelosen Raum, umgeben von nichts Geringerem als dem Universum, begann ein Dialog. Ein Gespräch zweier ganz besonderer Weggenossen, die ich bereits mein Leben lang kannte, aber noch nie in ihrer Einzigartigkeit wahrgenommen hatte. Mein Herz und mein Verstand hatten sich viel zu erzählen. Überrascht lehnte ich mich zurück und lauschte.

 

Ich bin Lina und dies ist mein Bericht. Ein Bericht über ein Leben, das zu einem bestimmten Zeitpunkt besonders wurde. Ich habe die Geschehnisse notiert, aufgeschrieben, analysiert, verworfen, angezweifelt – nur, um im nächsten Moment wieder und wieder auf dieselben Dinge zu stoßen, die ich zuvor so gerne ignoriert hatte.

So verließ mich schlussendlich die Kraft, mich gegen diesen mächtigen Strom des Lebens zu stellen, mich ihm stets erneut mit all meiner Kraft entgegenzuwerfen, nur weil er in meinen von überlieferten Normen geprägten Alltag nicht hineinpasste. Ich hatte Angst vor der Wucht meiner Gefühle, der mich umgebenden Energien und all jener Schwingungen, die mein Verstand nicht begreifen konnte, deren unglaubliche Stärke ich bereits ahnte, mich jedoch standhaft weigerte, ihnen einen Patz in meinem Leben zu geben. Aber gegen den Plan meiner Seele hatte ich keine Chance. So gab ich schließlich auf und machte mich auf den Weg.

Folgendes möchte ich hier deutlich hervorheben: Es ist nicht so, dass ich mir die Vorkommnisse der vergangenen drei Jahre an irgendeiner Stelle bewusst so ausgesucht habe, wie sie geschehen sind. Ganz im Gegenteil: Wie oft habe ich den Werdegang verflucht, war verzweifelt und wollte einfach nur aussteigen und mein »altes« beschauliches, ruhiges und unaufgeregtes Leben zurückhaben.

Davon unabhängig war es jedoch so, dass ich in Wahrheit nicht ein einziges Mal die Wahl hatte, irgendetwas anders machen zu können oder meinem Weg zu entkommen – egal, in wie vielen Illusionen darüber ich mich selbst gefangen hielt. Jeder Versuch endete lediglich in der Verzögerung des gesamten Prozesses meiner Befreiung. So gab ich eines Tages den aussichtslosen Kampf, den ich hauptsächlich gegen mich selbst führte, auf, und fasste den Beschluss, mitzuarbeiten.

Der Weg war steinig und ihn zu gehen, war hart und schwer, kräftezehrend und frustrierend – und das sieht man mir inzwischen auch an. Man sieht die Anstrengung, die Trauer und die Verzweiflung, die hinter mir liegen – die Zeit hat Spuren hinterlassen. Aber ich trage die Zeichen dieses Weges mit einem gewissen Stolz, denn sie zeigen mir, wie weit ich gekommen bin und welch grundlegende Veränderung meines Lebens ich bewirkt habe.

Worte reichen nicht aus, um die Emotionen, die mich auf dieser Reise erfassten, umspülten, überwältigten und heimsuchten, auch nur annähernd auszudrücken oder zu beschreiben.

 

Doch am Ende habe ich mein Licht gefunden, mein inneres Leuchten zurückerhalten – auch das sieht man mir an. Und es ist befreiend und wunderschön, es zu sehen.

Ich weiß, dieses Licht wartet auch in Dir. Komm mit mir auf die Reise, um es zu sehen.

 

 

 

 

 

Teil 1

 

»Seelen-Gruß«

Irgendwann im Herbst

 

»Sing!« Dieser Blick. Er umfing mich ganz und gar, ließ mir den Atem stocken und mich auf meinem Stuhl erstarren. Ich erwiderte ihn, unfähig, etwas zu tun, geschweige denn, etwas Sinnvolles zu entgegnen. Singen? War er nun völlig verrückt geworden?

Wir befanden uns mitten in unserem Konzert, der Saal war brechend voll, das Zwischenspiel der Klarinette klang gerade durch die Luft.

»Was?«, zischte ich geistreich zurück. »Sing mal das nächste Lied, ich hab die Melodie vergessen!« Da waren sie wieder, diese Lachfältchen um seine Haselnussaugen.

Ich kann doch nicht singen!, dachte ich schockiert, brachte es jedoch nicht fertig, Joshua zu widersprechen. Abwartend musterte er mich, um seinen Mund zuckte es verräterisch.

»Du siehst gut aus heute«, schoss es mir völlig unpassend durch den Kopf, während ich realisierte, dass ich keine Zeit mehr hatte, mit ihm zu diskutieren. Um Fassung bemüht, begann ich leise und möglichst souverän die gewünschte Melodie zu summen. Tapfer hielt ich seinem Blick stand.

»Ach ja, passt schon«, kam seine ernüchternde Antwort und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ich die Prüfung nicht bestanden hatte.

Unser Konzert schritt fort, seine Soli ein einziger Genuss. Verzaubert beobachtete ich seine feingliedrigen Hände, die über die Saiten seiner Gitarre tanzten. Das warme Licht der Kerzen fing sich in seinen seidigen braunen Haaren. Heute sang er ohne Mikrofon, nichts konnte die Reinheit seiner Stimme stören. Ja, ich war nur aus diesem einen Grund zu dieser Band gekommen: Ihn singen zu hören. So oft und so nah wie möglich.

 

Meine Gedanken schweiften zur Generalprobe am Tag zuvor zurück. Nach dem allgemeinen Aufbau waren wir nur noch zu dritt gewesen. Joshua, ich und der Pianist. Wir alle hatten keine Eile gehabt, nach Hause zu gehen, die Sonne hatte strahlend durch die weit geöffneten Türen geschienen, der leere Raum seine wunder‐ volle Akustik in seiner ganzen Pracht entfaltet.

Joshua hatte von der Empore herab gesungen und in meiner Wahrnehmung hatte er es nur für mich getan. Verträumt hatte ich in der ersten Kirchenbank gesessen und war von seiner warmen Stimme vollständig eingehüllt worden. Ewig hätte ich dortbleiben können, doch wie üblich hatte er nach seiner Extraeinlage einfach seine Gitarre zusammengepackt und die Kirche ohne ein weiteres Wort oder einen Blick zurück verlassen.

Kaum war er gegangen, begann ich zu frieren. Resigniert hatte ich unserem Pianisten geholfen, die Noten und das Keyboard zu verstauen, meine Gedanken waren kreisend an Joshua gefesselt. Gleichzeitig ärgerte ich mich maßlos über meine emotionale Abhängigkeit ihm gegenüber. Vor einigen Wochen hatte er unvermittelt damit begonnen, mir Nachrichten per Handy zu schicken, zunächst nur, um Termine und andere organisatorische Dinge abzustimmen.

Doch langsam, ganz leise, schlichen sich auch andere Töne ein. Ein flapsiger Spruch hier, ein aufmunternder Satz dort, kleine persönliche Bemerkungen, bei denen es mir warm ums Herz wurde.

Ja, er hatte sich verraten, er dachte auch außerhalb unserer Bandproben an mich, so wie ich an ihn. Doch ich wurde immer unfreier. Mein erster und letzter Blick des Tages galt meinem Handy, immer hoffnungsvoll, oft enttäuscht. Inzwischen schrieb ich ihm täglich und verfluchte mich dafür, konnte aber dem Drang nicht widerstehen, ihm wenigstens einen kurzen Satz zu entlocken, ein Zeichen, dass ich an seinem Tag teilnahm.

»… drei, vier!«

Erschrocken fuhr mein Kopf zum Klavier herum und meine Hände stimmten glücklicherweise automatisch in den Takt ein, sodass die tiefen Basstöne meiner Trommel die Musik wie geplant begleiteten. Ich zwang mich zur Konzentration – nur noch dieses Lied, danach die Zugabe und dann hatten wir es geschafft.

Beifall brandete auf und ich spürte Joshuas Blicke auf mir ruhen. Zufrieden lächelten wir uns an, verbunden im Erfolg unserer langen Probennächte und des Zaubers der Musik.

Eine Bewegung zu meiner Rechten lenkte mich ab und ich sah direkt in die Augen seiner Frau. Mit dem Kleinsten seiner vier Kinder auf dem Arm musterte sie uns nachdenklich, ohne ein Wort, aber ihre Blicke sprachen Bände. Ich nickte ihr freundlich zu, doch mein Herz klopfte zum Zerspringen. Ertappt wandte ich mich zur Seite und begann geschäftig damit, Noten und Mikrofone zusammenzupacken.

 

Erst spät an diesem Abend kam ich nach Hause und schlich vorsichtig ins Bad, um meinen Mann und die Kinder nicht zu wecken. Gedankenverloren stand ich vor dem großen Spiegel und betrachtete mich eingehend.

»Was machst du da?« fragte ich mich vorwurfsvoll. »Du hörst sofort damit auf. Wir machen zusammen Musik und damit Ende. Sei vernünftig.«

Ich straffte meine Schultern und spürte, wie mir die Entscheidung guttat. Ich entließ mich selbst aus meinen Fesseln, wollte wieder unabhängig sein in meinen Gedanken und Taten. Vielleicht war die probenfreie Zeit, die nun vor uns lag, hilfreich, ich brauchte räumlichen Abstand. Erst in einem halben Jahr würden wir wieder ein Konzert spielen, bis dahin hatten wir zwei Monate lang Winterpause.

Ich ignorierte das wehmütige Gefühl in meiner Brust und die Frustration angesichts der anstehenden Durststrecke. Ich war es wirklich leid, mich zu Joshuas Marionette zu machen. »Sei vernünftig!« sagte ich noch einmal leise zu meinem Spiegelbild und löschte das Licht. Auf dem Weg ins Schlafzimmer schloss ich mein Handy noch an das Ladekabel an.

Im Dunkeln leuchtete mir eine ungelesene Nachricht entgegen. »Ich möchte dich singen hören. Nächste Woche Probe bei mir.«

Ich verdrehte die Augen und schrieb entschlossen zurück: »Gerne.«

 

 

Eins

 

Wenn ich zurückblicke, scheint es, als hätte das Wort »Normalität« mit dicken, fetten Buchstaben auf meinem irdischen Geburtsplan gestanden.

Ich stamme aus einem kleinen Nest, einem jener unpersönlichen, am Reißbrett entworfenen Wohngebiete am Rande einer mittelgroßen Kleinstadt im Süden der Republik, wie es sie an unzähligen Orten dieses Landes gibt. Meine Eltern bewerkstelligten es mit viel Herzblut, Arbeitseinsatz und findigen Ideen, uns ein warmes Zuhause außerhalb der trabantenähnlichen Reihenhäuser zu bauen – jedoch trotzdem sicher eingebettet in die dörflich anmutende Nachbarschaft mit all ihren Vorzügen und Schattenseiten.

Als Kind der 70er Jahre wuchs ich behütet auf. Ich war eine Nachzüglerin, mit meiner älteren Schwester verband mich seit je‐ her eine innige Zuneigung.

Unsere Hausgemeinschaft wurde durch meine Oma, die Mutter meiner Mutter, vervollständigt. Ich nannte sie schon als Kind liebevoll »Großmutter«, sah sie doch haargenau so aus, wie ich mir all jene Großmütter aus den Kindergeschichten und Märchen jener Tage stets vorstellte. Bei ihr hatte ich Raum – nicht nur in ihrem kleinen Wohnzimmer mit der angrenzenden winzigen Küche, sondern vor allem in ihrem Herzen.

Nie konnte ich in ihren Augen etwas falsch machen, jeden einzelnen meiner Einfälle und all meine sprudelnden Ideen quittierte sie mit einem wohlwollenden Lächeln. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren, in denen sie bei uns lebte, kam ein böses Wort über ihre Lippen – was sich gegenüber den übrigen Hausbewohnern durchaus anders verhielt.

In ihrem Refugium im Souterrain konnte ich meine Fantasie sprühen lassen. Im Gegenzug eröffneten sich für mich hier fremde und spannende Welten. Andächtig lauschte ich ihren Geschichten aus früheren Zeiten, in welchen sie ihre eigenen Erlebnisse in dramatischen und aufwühlenden Worten erzählte. Ich wurde nie müde, davon zu hören, und oft bat ich sie schon am folgenden Tag, mir ein und dieselbe Geschichte noch einmal zu erzählen. Eine besondere Aura umgab sie während dieser Erzählungen, leicht geheimnisvoll, mystisch, als ob sie selbst in eine verborgene Welt ihrer Gedanken abtauchen würde. Vor meinem inneren Auge sehe ich sie noch heute an ihrem kleinen Esstisch mit der hellen Leinentischdecke sitzen, die Hände im Schoß verschränkt und den Blick sinnend aus dem Fenster gerichtet. Auf diese Weise bewahrt sie sich auch in der Realität ihren Status der Großmutter aus meinen Märchen.

 

Erst viele Jahre nach ihrem Tod berichtete mir meine Mutter, dass Großmutter tatsächlich eine besondere Gabe, einen intensiven Zugang zur spirituellen Welt besessen und als Medium gearbeitet hatte. Meiner Mutter waren ihre Berichte von Engelwesen, die durch dunkle Flure wanderten, stets unheimlich gewesen und daher ließen wir dieses Thema recht schnell wieder fallen. Dennoch beschlich mich ein leises Bedauern, dass ich selbst nie auf dieses Thema zu sprechen gekommen war, als meine Großmutter noch lebte.

Mai – »Das Ende«

 

Du schreibst nicht mehr. Ich komme damit nicht klar. Immer noch nicht, nach Monaten der Qual. Ich grübele täglich, was in dir passiert ist, meine Gedanken kreisen rastlos und ich erkenne den Grund nicht. Du fehlst mir immer noch so sehr. Warum? Ich finde es nicht heraus. Ja, ich wollte dich aus deinem Schneckenhaus hervorlocken – dass es mir so gut glücken würde, hatte ich jedoch nicht erwartet. Dass du mich jedoch ebenso aus meinem Schneckenhaus hervorlocken würdest, kam unerwartet – es war mir nicht bewusst gewesen, wie sehr ich mich darin vermauert hatte.

 

»Du bist doch die Prinzessin von la Ruina?«

Ein solch einfacher Satz von dir und solch eine große Bedeutung für mich. Du hattest mir zugehört wie kein anderer in meiner Umgebung. Du hattest verstanden, wer ich wirklich bin, noch präziser hättest du meine mystische und verträumte Veranlagung nicht auf den Punkt bringen können – und natürlich gefiel mir das. Ich war neugierig, welches Lied du für mich aussuchen würdest, ich forderte dich heraus. Dass du mich so sehr erkennen würdest, hatte ich nicht kommen sehen. Der Song von John Kilzer, den du mir schließlich geschickt hast, war eine Offenbarung. »… sie kann die Sterne vom Himmel reden und sie tanzt wie eine Prinzessin durch die Ruinen …«

Dieser Text traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel und richtete gnadenlos den Scheinwerfer auf mich, auf mein Innerstes, auf meine Seele.

 

Doch was sind deine vielen Nachrichten und schönen Worte von damals noch wert? Bin ich doch nur ein Opfer einer Masche? Mit wie vielen Frauen vor mir hast du es ebenso gemacht?

Trotz der vielen Verwicklungen, die danach geschehen sind, hast du mir immer wieder versichert: »Ich will zurück zu einer normalen Kommunikation mit dir.«

Deine Worte schenkten mir Hoffnung, doch unser Kontakt ist immer noch kühl und distanziert und meine Selbstzweifel und Fragen lassen mir keine Ruhe. Willst du nicht mehr anders mit mir sprechen? Darfst du nicht? Hast du mich vergessen? Bin ich dir nichts mehr wert? Willst du dich selbst schützen?

 

Ich trauere, ja tatsächlich.

Um verpasste Gelegenheiten, unsere Geschichte nicht vollständig an die Wand zu fahren, um meiner selbst willen, die nun wieder alleine ist mit ihren Gedanken, sie nur alleine fliegen lassen kann. Wie einsam bin ich auf dieser Spur!

Du warst es wohl nicht, der mir als Begleiter für all meine kreativen Facetten zur Seite gestellt worden war und das will ich immer noch nicht wahrhaben. Ich möchte niemand anderen, ich fühlte mich so wohl mit dir als mein Gegenüber.

Ja, wir hatten einen guten Draht zueinander und dennoch konnten wir so viele Themen nicht besprechen. Unsere gemeinsame Arbeit hätte wahrhaftig bereichernd werden können, so effektiv und kreativ – und die Verwirklichung unserer Ideen hätte nicht nur uns gedient. Nun liegt alles brach, zerstört am Boden. Es gibt nicht viele von Deiner Sorte … Werde ich denn jemals meinen Seelenverwandten finden und er mich so erkennen wie ich ihn oder wird meine Sehnsucht danach auf ewig ungestillt bleiben?

 

Ich streife durch unseren Ort, suche dich. Natürlich treffe ich dich nicht. Wir haben uns wirklich oft gesehen in unserer »guten« Zeit, ich habe es genossen. Und ich konnte sicher sein, dass du es ebenfalls möglich machen wolltest, mir zu begegnen. Ich vermisse deinen Support, deine uneingeschränkte Unterstützung.

»Klar, kein Problem. Machen wir. Ich bin da.

Mach dir keine Sorgen.«

Das war mein Lieblingssatz von dir, er vermittelte mir die Sicherheit, dass du an meiner Seite bist. Nun muss ich mit der Leere zurechtkommen, die du hinterlassen hast – an manchen Tagen erdrückt mich dieses Gefühl geradezu, ich kann mich kaum beruhigen.

Mit großer Anstrengung muss ich auch all die Erinnerungen an uns tilgen. So vieles aus meiner täglichen Routine braucht nun eine andere, neutrale Bedeutung – ohne dich. Ich versuche verzweifelt, die unzähligen Lieder aus meinem Kopf und meinem Herzen zu verbannen, die mich an dich denken lassen und bei denen es mich in den Fingern juckt, doch wieder zu meinem Handy zu greifen und dir einfach eine Nachricht zu schicken. So vertraut, so selbstverständlich. So wenig achtsam.

 

»Das Problem sind nicht die Herzchen-Emojis, die wir uns schicken. Das Problem ist die Vertrautheit, die dahintersteht.«

Ja, du hast recht – und genau diese Vertrautheit ist es, die unsere Ehepartner irritiert. Unser Draht ist nicht weg, nur weil wir uns nicht mehr schreiben. Nonverbal halten wir uns noch gefangen. Ich kann das Bedauern in deinen Augen sehen, wenn wir uns bei den Bandproben und zu unseren Auftritten treffen und ich sehe auch, dass du weißt, dass es mir genauso ergeht. Doch auch diese winzige Verbindung, die uns noch bleibt, wird nicht überleben.

 

Es kostet mich unglaublich viel Überwindung, meiner ganzen Umgebung Normalität vorzugaukeln. Ich bin eine, die immer lacht – auch wenn ich innerlich weine. Und noch immer suche ich nach Gründen, dich anzuschreiben, so wie das ganze letzte Jahr schon. Bis vor dem großen Knall hat es gut funktioniert. Jetzt schreibe ich dir zwar noch immer, doch du antwortest nicht.

Ich verlebe meine Tage zwischen Hoffen und Enttäuschung. Wieso quäle ich mich so? Ich kann es einfach nicht glauben, dass ich es nicht geschafft habe, dich in meinem Leben zu behalten. Bisher war ich es von mir gewohnt, auch die größten Wogen wieder glätten zu können – bei dir jedoch hatte ich keine Chance dazu.

Ich kenne dich inzwischen zu gut, du wirst die Situation nicht mehr ändern.

Ein Gespräch? Es würde vermutlich auch nicht helfen. Egal, in welche Richtung ich schaue, es gibt nur die Stille als letzten Ausweg. Ich muss mich daran gewöhnen, obwohl sich jede Faser in mir dagegen sträubt.

Also trauere ich immer noch. Um unseren verwickelten Draht, der sich ohne Knoten nicht reparieren lässt und der mit Knoten kein Draht mehr ist.

Dir kann ich das alles nicht mitteilen, auch wenn es mir wahrscheinlich Erleichterung verschaffen würde. Du warst so wütend, als ich es das letzte Mal versucht hatte. Warum? Das habe ich immer noch nicht verstanden. Ich hatte alles auf eine Karte gesetzt und schrieb dir mitten in der Nacht, um dir ganz offen zu sagen, dass ich traurig über unsere Situation sei und wir beide etwas Besseres verdient hätten. Deine Antwort erreichte mich am folgenden Morgen:

»Bevor ich mein Psychoprogramm mit dir überstrapaziere, frag dich mal selbst: Hast du mich nur benutzt, um dein Ego zufriedenzustellen?«

Das war gemein, und es verletzte mich sehr – denn das hatte ich sicher nicht getan. Warum warst du so aufgebracht? Du hättest es eigentlich besser wissen müssen. Du bist mir wichtig – als Mensch, als »Seelenverwandter«. Und nun verzweifle ich an den Nicht–Infos.

 

Deine Nachricht war das Ende unserer Verbindung.

Du gabst mir keine Antwort mehr, kein Telefonat, kein Zeichen, keinen Support, kein liebevolles Wort. Eine ganze Woche lang herrschte Funkstille. Ich fühlte mich, als sei ich aus meinem Nest gekickt worden, ohne Vorwarnung. Dass du mich so plötzlich fallenlassen würdest, hatte ich nicht kommen sehen. Ich landete hart und schüttelte mich, versuchte verzweifelt, mich wieder zu finden.

 

Ich habe mich nicht in dich verliebt, das hatte ich dir bei einem unserer letzten Treffen gesagt. Und ich musste mir sicher sein, dass du mir das nicht unterstellst, denn für mich waren romantische Gefühle nicht die Grundlage unserer seelischen Verbindung. Es tat mir leid, deinen verletzten Blick während meiner Worte zu sehen, doch ich konnte ihm standhalten. Hatte ich dich erwischt? Du wandest dich sehr und hattest keine Erwiderung. Wenn wir das geklärt haben, gibt es doch eigentlich keinen Grund für merkwürdige Stimmung?

Und trotzdem ist sie nun merkwürdig.

Hast du mehr gefühlt als ich? Du kannst es vielleicht nicht zugeben, doch es interessiert mich.

Einer meiner letzten Songs, den ich dir per WhatsApp schickte: »Holes« von Passenger – eine Vorausschau auf die Ereignisse, die folgen würden?

Viele Löcher sind zurückgeblieben, viele Narben entstanden in so kurzer Zeit.

Ja, wir haben unsere seelische Verbindung und unsere emotionale Nähe genossen. Unser täglicher Austausch hat uns beiden gutgetan, denn er hat eine Leere in unseren Leben gefüllt. Wir haben beide in unseren jeweiligen Partnerschaften darum gekämpft, diese Verbindung erhalten zu können – doch am Ende war der Preis zu hoch.

Wir sind auf ganzer Linie gescheitert und ich mache mir Vorwürfe. Auf mir lasten Schuldgefühle, ich habe den Schmerz.

Von dir weiß ich nichts. Und das ist das Ende. Oder?

 

 

Zwei

 

In meiner Jugend lebte ich genaugenommen an zwei Orten gleichzeitig: im Haus meiner Eltern mit meinem lichtdurchfluteten Kinderzimmer im Obergeschoss, von dessen Fenster aus ich jeden Abend wunderbare Sonnenuntergänge beobachtete und zahlreiche teure Kodak–Filme für dieses Motiv meinen Fotoapparat passierten. Ich hatte schon immer eine besondere Beziehung zur Natur und dem Universum; stets begleitete mich eine unbestimmte Sehnsucht nach dem »Mehr« des Lebens. In jungen Jahren konnte ich dieses innere Verlangen natürlich nicht in Worte fassen oder benennen, ich konnte es nur tief in mir spüren und die Verbindung zu Bäumen, Wiesen und der Weite des Himmels verschaffte mir eine gewisse Erleichterung für meine unruhige Seele.

Ich bin ein sehr verträumtes Kind gewesen; stundenlang konnte ich, ohne ein Wort zu sprechen, dasitzen und mich in meine Fantasiewelten hineinschwelgen – was meine Mutter auf langen Autofahrten stets dazu veranlasste, sich zwischendurch zu mir umzudrehen und schmunzelnd und leicht verwundert zu fragen, ob ich überhaupt noch da sei. Einige meiner Geschichten schrieb ich auf und verfasste meine eigenen »Bücher«. Meine Eltern und ich waren sehr stolz auf meine literarischen Werke, auch wenn sie stilistisch und inhaltlich in jedem Fall noch ausbaufähig waren. Unsere Familie war seit jeher jeglicher Art von Kreativität sehr zugetan und so wurden mir in meinem Zuhause dahingehend keine Grenzen gesetzt.

Ich malte, musizierte, sang, entwarf und nähte meine eigene Modekollektion, spielte mit Stofftieren, Puppen, Barbies und Lego, rund um die Uhr. Ich las Bücher jeglicher Genres wie eine Besessene, Tag und Nacht. Ich brauchte selten den Kontakt zu anderen Kindern, oft fühlte ich mich alleine am wohlsten. Mit meiner Familie besuchte ich gerne und häufig Theatervorstellungen, Konzerte, Kunstausstellungen, Messen und wir unternahmen Stadtbesichtigungen. So waren die kreativen Facetten und Möglichkeiten des Lebens, die mir als Kind mitgegeben wurden, bunt und vielfältig wie ein Sommerblumenstrauß – und es war für mich keine Frage, dass dies in jeder anderen Familie ebenso war.

 

Zu Beginn der Planungen für unser neues Haus war von mir noch keine Spur zu sehen gewesen und meine Eltern äußerten oft den Gedanken, dass es mir erst in jenem Moment einfiel, mich auf den Weg zur Erde zu machen, als sie das Grundstück gekauft und die Bauarbeiten begonnen hatten. So wurde der bestehende Grundriss kurzerhand umgearbeitet und ich durfte mit bunter Blümchentapete, knallorangenen Möbeln und unglaublich vielen Spielsachen in das ursprünglich als Büro konzipierte Zimmer einziehen.

Mein Vater war in einer streng katholischen Familie aufgewachsen und so war es nur naheliegend, dass er auch uns allen, meiner Mutter ebenso wie uns Kindern, einen engen Bezug zu Glaube und Kirche vermittelte – was mir besonders in meiner Jugend ein unerschütterliches Grundgerüst für mein Leben mitgab. Wir hatten damals das Glück, in einer sehr lebendigen katholischen Gemeinde aufgenommen worden zu sein und beteiligten uns viele Jahrzehnte lang rege und aktiv und mit großer Begeisterung am bunten Leben der örtlichen Pfarrei. Ich wurde mit Leib und Seele Ministrantin und erkor das Gotteshaus und seine Umgebung zu meinem zweiten Zuhause – in manchen Wochen, besonders um die hohen Feiertage herum, verbrachte ich hier nahezu meine gesamte Freizeit und ging fast nur zum Schlafen wieder nach Hause. In unserer Ministrantengruppe versammelten sich damals um die vierzig Kinder zwischen neun und achtzehn Jahren, was die Grundlage für einen wahren Schmelztiegel an Erfahrungsaustausch aller Altersgruppen bot, denn die Älteren organisierten die Gruppen der Jüngeren und Erwachsene begleiteten uns nur während der alljährlichen Pfingstfreizeiten.

So wurde ich stets in allen Fragen des Lebens gut begleitet, denn neben dem Wissen über Gott und die Welt studierten wir ebenso eifrig die wöchentliche Ausgabe der »Bravo« mit ihren Reportagen über unsere Musikidole und den wertvollen Tipps des »Dr. Sommer-Teams«.

 

Ich liebte jeden einzelnen Moment im Kirchenhaus, das gedämpfte Murmeln und die leisen Schritte, wenn sich die Gemeinde zum Gottesdienst versammelte, die Orgel noch einmal probeweise einige Akkorde anspielte und es hinter den Kulissen in der Sakristei geschäftig wimmelte.

Der leichte Duft des Weihrauchs, der stets in der Luft hing, verlieh diesem Ort jene mystische Stimmung, die mich schon immer in ihren Bann gezogen hatte und meine Fantasie auf das höchste anregte. So versank ich jedes Mal umgehend in meiner eigenen Welt, sobald der Pfarrer mit den ersten Worten seiner Predigt begonnen hatte. Ich sprach mit den Statuen, den Engelfiguren und natürlich mit Jesus am Kreuz. Niemand wusste davon, niemand störte mich in meiner Versunkenheit und so war diese Zwiesprache einfach normal in meinem Leben.

 

Ungewöhnlich wurde es für mich erst, als ich eines Tages plötzlich eine Antwort erhielt…

Mai – »Der verwickelte Draht«

 

Inzwischen hatte ich folgende Erkenntnis, was unsere gescheiterte Verbindung betrifft:

Ich sollte aufhören, auf ein Zeichen von dir zu hoffen. Denn Hoffnung ist trügerisch und verleiht Fesseln. Trotzdem konnte ich meinem Impuls nicht widerstehen und griff erneut zum Handy:

»Ich habe keine Ansprüche an dich und keinerlei Erwartungen, das steht mir überhaupt nicht zu.«

So schrieb ich es dir, großzügig. Natürlich entsprachen meine Worte nicht der Wahrheit, das war mir mehr als deutlich bewusst, als Formulierung für dich klang es in meinen Ohren jedoch viel besser.

Meine Erwartung ist nach wie vor, dass wir auf der Seelen–Ebene wieder zueinanderfinden.

Die Erinnerung an jenen Tag, als du mir zum ersten Mal näher rücktest, erscheint vor meinem inneren Auge: Unsere Band hatte sich zum Aufbau des Equipments für den Auftritt am folgenden Tag zusammengefunden. Dein Stammplatz war bisher auf einem einzelnen Stuhl gewesen, abgerückt von den anderen und außerhalb der Gruppe. Jedes Mal versetzte mir dieser Anblick einen kleinen Stich im Herzen, denn es umgab dich stets eine Aura des Verlassenseins und eine gewisse Traurigkeit, die ich so gerne durchdringen wollte. Ich liebte es, dich lachen zu sehen. An jenem Nachmittag jedoch war irgendetwas anders. Du warst fröhlich und entspannt, wie ich dich bisher nur selten erlebt hatte. Du stelltest unsere beiden Stühle dicht an dicht auf. Ich bemerkte es mit einem Lächeln, freute mich über dein Zeichen, dass du mir ganz offensichtlich nahe sein wolltest und kommentierte es mit einem Augenzwinkern: »Da sitzen wir beide morgen ja recht kuschelig beieinander!«

Du lachtest mich an und umfingst mich mit einem solch liebevollen und warmen Blick, dass mein Herzschlag kurz aussetzte. In diesem Augenblick berührten wir uns in unserem Inneren, sanft, ehrlich, kamen für den Bruchteil einer Sekunde aus unserer Deckung.

Unsere Seelen trafen sich in den Augen des anderen. Solche Momente vergisst man nicht.

 

Wehmütig kehre ich in die Realität zurück.

Inzwischen sind wir aufgeflogen und du hast Ärger mit deiner Frau. Ich habe mich darauf verlassen, dass unsere Verbindung in jedem Fall eine platonische sein würde, denn vordergründig hast du mir sämtliche Signale gesendet, die mich in Sicherheit gewogen haben. Du hast dein Leben nie verschwiegen, ebenso wenig wie ich meines – Ehepartner, Kinder, Heim und Hof, Job. Idylle pur. Ich ließ mich fallen, öffnete mich dir mit Herz und Seele, in dem naiven Glauben, dass eine gute Freundschaft zwischen uns möglich sein würde. Doch unsere Nähe wurde zu nah und unsere Partner wurden misstrauisch. Das konnte auf lange Sicht nicht funktionieren.

Trotz der unumstößlichen Tatsachen frage ich mich immer wieder, ob es wirklich das Ende ist. Ich habe mittlerweile unsere Konversation gekappt. Aus unseren gemeinsamen WhatsApp-Gruppen bin ich aus‐ gestiegen und ich schreibe dich nicht mehr persönlich an. Soweit die aktuellen Vorkehrungen.

 

Was daraus wird? Ich werde es sehen …

 

 

Drei

 

Mit ungefähr zwölf oder dreizehn Jahren war meine innere Verbindung zu meinen spirituellen Begleitern, insbesondere zu Jesus, bereits so stark manifestiert und ausgeprägt, dass sich die Auswirkungen an verschiedenen Stellen in meiner Außenwelt bemerkbar machten – zunächst vereinzelt, doch dann so deutlich, dass ich selbst darüber stolperte und noch einmal darüber nachdenken musste, ob das Erlebte tatsächlich stattgefunden hatte.

Das erste Ereignis, an das ich mich erinnere, geschah – wie sollte es anders sein – in einer Kirche, die wir während eines unserer zahlreichen Ministrantenausflüge besuchten:

 

Ich wanderte entlang der alten Holzbänke, leise und ehrfürchtig. Die Schatten der in Gold getränkten Figuren zogen in meinem eigenen Tempo an den Wänden vorbei, während ich sie eingehend betrachtete. Die Gruppe der anderen Kinder konnte ich nur entfernt hören, sie schnatterten und lachten, doch ich suchte in diesem Moment das Weite, suchte mir meinen eigenen Weg. Meine Füße führten mich wie von selbst zu meinem Ziel, wie immer wurde ich auf geheimnisvolle Weise davon angezogen. Über dem steinernen Altartisch hing das schwere Holzkreuz mit der geopferten Jesusfigur. Einen Moment lang sah ich die Doppeldeutigkeit dieses Bildes vor meinen Augen: Trägt das Kreuz Jesus oder ist es Jesus, der das schwere Kreuz für uns trägt?

Ich spürte, wie die Verbindung zwischen ihm und mir stärker wurde, ein Sonnenstrahl drang durch das lange schmale Fenster herein und umfing mich mit seiner ganzen Wärme. Ich war angekommen – ich blieb unter dem Kreuz stehen und begrüßte die Figur, meinen Erlöser. Wie immer wurde mein Herz schwer, wenn ich ihn dort so sehen musste, von Leid und Schmerz gezeichnet, der nicht der seine war und welchen er so geduldig und selbstlos ertragen hat. Ich betrachtete sein schmales Gesicht, die geschlossenen Augenlider waren von Falten gesäumt. Wie von selbst verschränkten sich meine Finger ineinander und ich lauschte dem Gebet, das sich in meinem Inneren formte. Tiefe Ruhe machte sich in mir breit, ich genoss das damit verbundene Gefühl des Geborgenseins.

Als ich erneut meinen Kopf hob, um ihn zu betrachten und ihm meine Wünsche und Sorgen vorzutragen, wie ich es gewohnt war zu tun, erwiderte er mit geöffneten Augen meinen Blick, unendlich gütig und liebevoll sah er mich direkt und unerschütterlich an, begleitet von einem wissenden Lächeln.

Ich hörte auf zu atmen.

 

Ich weiß nicht, ob ich irgendeinem Menschen den unglaublichen Schrecken begreifbar machen kann, der mich in diesem Augenblick erfasste. Blitzartig flüchtete ich aus dem Gotteshaus, hinaus an die frische Luft, doch sein Blick und sein Lächeln verfolgten mich noch tagelang. Ab diesem Zeitpunkt war mir klar, was der Begriff »bis ins Mark erschüttert« tatsächlich bedeutete.

 

Ein gutes Jahrzehnt später, während meines Kunst– und Fotografiestudiums erhöhte sich die Intensität und die Frequenz solcher Vorkommnisse noch einmal sprunghaft. In meinem damaligen Umfeld war ich stets umgeben vom kreativen Geist meiner Kommilitonen und es war für uns alle vollkommen normal, all unsere Gedanken auszutauschen, ohne dass man dafür negativ beurteilt oder als »sonderbar« abgestempelt wurde, was meine bisherigen Lebenserfahrungen – nämlich, dass die Welt ein wunderbarer Spielplatz war und offen für jegliche Form von Ideen in ganz selbstverständlicher Art und Weise fortführte.

Damals begannen meine nächtlichen Träume, sich zu verändern. Auch dies bemerkte ich zunächst nur an kleinen »zufälligen« Synchronitäten über die ich mich wunderte. Dinge, die ich zuvor in meinen Träumen gesehen hatte, trafen kurze Zeit später in der Wirklichkeit ein – und eines Tages wurde ich dabei auf die Probe gestellt:

 

In meinem Traum befand ich mich vor der Haustüre meines Studentenwohnheims und machte mich auf den Weg zur ersten Vorlesung des Tages. Ich lief die Straße entlang, die Luft roch bereits nach Herbst und einige Nebelfetzen hingen über den angrenzenden Wiesen des benachbarten Schlachthofes. Mein Schritt wurde unwillkürlich schneller, als ich das Schreien der Rinder hinter den dicken alten Mauern hörte, während sie ihren letzten Gang antraten und mit Sicherheit bereits den Tod witterten, der sie in nur wenigen Augenblicken ereilen würde. Ich schob den Gedanken beiseite, so gut ich konnte. Ich war schon fast zu spät für die erste Vorlesungsstunde und entschied mich daher kurzerhand, den kleinen verbotenen Fußweg zu benutzen, der sich durch die grüne Wildnis der stillgelegten Spinnerei bis zum Notausgang auf der Rückseite des Unigebäudes schlängelte. Auf diese Weise ersparte ich mir zehn Gehminuten, die ich benötigt hätte, um den gesamten Komplex zu umrunden und das Hauptportal zu benutzen. Im stets verriegelten Einfahrtstor des Fabrikgeländes waren glücklicherweise zwei der rostigen Eisenstangen herausgebrochen – gerade breit genug, damit ich mitsamt meinen Lernutensilien hindurchpasste.

Doch zu meiner Überraschung konnte ich in diesem Moment die Lücke nicht sehen. Verwundert lief ich am Zaun entlang, scannte gründlich die zwanzig Meter mit meinen Augen ab, und ich fand: nichts.

Dann endlich wurde mir der Unterschied klar: In der exakt gleichen Farbe des von Rost gefärbten Metallgatters waren die zwei fehlenden Stangen ersetzt worden. Ungläubig und leicht verärgert begutachtete ich die geschlossene Lücke, doch so sehr ich auch nach einem Durchgang suchte – der stets so bequeme Schleichweg war nun nicht mehr passierbar und so machte ich mich ärgerlich auf den langen Weg zum Haupteingang.

 

Als ich morgens im Flur vor dem Spiegel stand, und mich für die Uni zurechtmachte, musste ich innerlich schmunzeln über meinen absurden Traum. Was für ein Blödsinn hatte mich da in der Nacht nur beschäftigt? Ich aß im Hinausgehen zwei Bissen meines Vollkornbrotes und lief dann in strahlendem Sonnenschein die Straße am Schlachthof vorbei.

Als ich die letzte Kurve durchquerte, um auf den kleinen Schleichweg über das Fabrikgelände zur Uni einzubiegen, traf mich fast der Schlag.

---ENDE DER LESEPROBE---