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SWR BESTENLISTE PLATZ 1 im SEPTEMBER 2023
NDR BUCH DES MONATS JUNI 2023
Anfang der 1960er Jahre: sexuelle Tabus, veraltete Frauenbilder, patriarchale Strukturen. Für die Erniedrigung, die sie jeden Tag erlebt, will sich die 17-jährige Dora rächen. Ihr Opfer ist der Musiklehrer, ihre Waffe ist ihre Weiblichkeit. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln möchte sie ihn verführen.
Der Verführer von Doras Mutter war Adolf Hitler. Als Geflüchtete aus Schlesien hängt sie ihrer Heimat und dem NS-Regime nach. Die Erzählungen der Mutter und die Folgen des Zweiten Weltkriegs prägen Doras Leben. Sechzig Jahre später schaut die Ich-Erzählerin auf ihre Jugend im Oberharz zurück, ordnet kritisch ein und verknüpft ihre Erinnerungen mit der Gegenwart.
Elfi Conrad, geboren 1944, wuchs im Harz auf, studierte Musik und Deutsch in Hamburg und lebt jetzt in Karlsruhe. Mit Leib und Seele lehrte sie dort an Schulen und an der Pädagogischen Hochschule. Daneben vertiefte sie sich in die Fächer Kognitionswissenschaft und Semiotik, in denen sie promovierte. Sie veröffentlichte bisher „Gedächtnis und Wissensrepräsentation“ (Olms-Verlag) und mehrere Romane unter ihrem Pseudonym Phil Mira.
„Schneeflocken wie Feuer lässt sich in seiner kühlen, oft selbstironischen Sachlichkeit und seinen Fragen nach weiblicher Selbstbestimmung und weiblichem Begehren durchaus vergleichen mit den Romanen von Annie Ernaux, Colette oder Simone de Beauvoir.“ Beate Tröger, Büchermarkt/Deutschlandfunk
„Es ist ein Buch, das mich in Bann geschlagen hat, verzaubert, regelrecht in andere Sphären verschlagen. … Das ist eine Zeitreise zurück ins Deutschland des Jahres 1962, in den Harz, es ist die Geschichte einer Verführung einer Frau, die mit den Waffen einer Frau, sie ist in Wahrheit ein junges Mädchen, sich ihren Musiklehrer krallt, gleichzeitig ist es eine große Analyse, woher wir kommen, was wir hinter uns gelassen haben. … Eine hinreißende Prosa.“ Denis Scheck, WDR2 Buchtipp
„Was einen aber so für dieses Buch einnimmt, ist Doras unbändige Energie, dieser unbedingte Lebenswille, der so elendig unterdrückt wird. … Elfi Conrads Roman verhandelt jedenfalls mit beeindruckender Lebensklugheit und zupackender moralischer Urteilskraft nicht Schuld, sondern Schmerz und was aus ihm folgt, auch gegenwärtig.“ Insa Wilke, Süddeutsche Zeitung
„Eine absolute Entdeckung. Dieses Buch katapultiert einen direkt zurück in die 1960er Jahre: die Nachkriegszeit, das Aufwachsen im Schatten der Nazizeit, die in vielen Strukturen natürlich noch zu spüren war, und es geht um die Geschlechterrollen, um die Frage nach Gleichberechtigung. … Da trifft die Lebenserfahrung einer überzeugten Feministin auf eine junge unerfahrene Frau mit Lebenshunger.“ Anne-Dore Krohn, rbb Kultur
„,Schneeflocken wie Feuer' ist so besonders, weil sich die Erzählstimme immer der Bedingungen bewusst ist, unter denen ihre Dora handelte. Sie erzählt auf eine Weise, die einen emotional direkt erreicht, aber stets zugleich reflektieren lässt. Und sie zeigt auch die Befreiung einer Frau aus den Grenzen der Erziehung.“ Cornelia Geißler, Berliner Zeitung
„Ein autobiographischer Roman, der begeistert. Elfi Conrad erzählt von einer jungen Frau, die sich nach Selbstbestimmung sehnt. Und wie sie das macht, kann einen als Leser wirklich in den Bann ziehen.“ Denis Scheck, WDR2 Buchtipp (Online)
„Dieses so ehrliche wie wie kluge Buch über die Befreiung der Frauen von gesellschaftlichen Zwängen, über selbstbestimmten Sex und Körpergefühl, über Liebe und die Suche nach einem Platz im Leben gehört für mich zu den großen Entdeckungen dieses Frühjahrs. Wer Annie Ernaux schätzt sollte sich dieses kühne und unkonventionelle Buch nicht entgehen lassen!“ Frank Menden
„Als Dora ihren Blick auf die Vergangenheit richtet, reflektiert sie ihr Handeln und vergleicht unter anderem die Verhaltensmuster der Gesellschaft und die Rechte der Frauen mit der Neuzeit. Eine Reise in die Vergangenheit, die spannend erzählt ist. Die Protagonistin wächst und steht für sich ein.“ Henrike Lehmann, ekz Bibliotheksservice
„Radikal. Schamlos. Mehr davon!“ Katarina Hellinger @schlimmehelena
„Am Beispiel eines freien Falls in die Schulklassen und Beatkeller der sechziger Jahre, aus der Perspektive der alten wie der jungen Frau, scheint Phil Miras/Elfi Conrads in früheren Büchern bewiesene Fähigkeit auf, mitreißende Handlung, psychologische Analyse und Portrait einer Zeit zu verweben.“ Bodo Morshäuser
„Dieser schonungslose Blick auf sich selbst! Ich konnte nicht aufhören zu lesen.“ Sarah Raich
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 310
Das Buch
Während eines Klassentreffens in ihrer Heimatstadt im Harz holen Erinnerungen die fast 80-jährige Dora ein. Erinnerungen an ihr 17-jähriges Ich, das wagte – ohne je von Emanzipation und sexueller Befreiung gehört zu haben –, dem eigenen Begehren nachzugehen: den von Rockmusik begeisterten Musiklehrer zum Tanz aufzufordern und mit ihm gesellschaftliche Tabus der 1960er Jahre zu durchbrechen. Dora balanciert auf dem schmalen Grat zwischen aufgeklärter Gegenwart und beengter, durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg belasteter Vergangenheit. Die ihr zugeschriebene Rolle als ältere Tochter, Schülerin, junge Frau beherrscht sie zwar perfekt, dennoch kann sie sich nicht mit den dazugehörigen Grenzen abfinden.
Die Autorin
Elfi Conrad, geboren 1944, wuchs im Harz auf, studierte Musik und Deutsch in Hamburg und lebt jetzt in Karlsruhe. Mit Leib und Seele lehrte sie dort an Schulen und an der Pädagogischen Hochschule. Daneben vertiefte sie sich in die Fächer Kognitionswissenschaft und Semiotik, in denen sie promovierte. Sie veröffentlichte bisher Gedächtnis und Wissensrepräsentation (Olms-Verlag) und mehrere Romane unter ihrem Pseudonym Phil Mira.
© mikrotext 2023, Berlin
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Cover: Inga Israel
Covervorlage: aus dem Privatarchiv der Autorin
Satz: Sarah Käsmayr
Schriften: PTL Attention, Gentium Book Plus
ISBN 978-3-948631-32-1
Elfi Conrad
Schneeflocken wie Feuer
Roman
Für meine Mutter, meine Schwester,meine Tochter, meine Enkelin
Ich war siebzehn, und ich war eine Frau.
Es ist nicht so, dass ich dachte, ich sei eine Frau. Nein, ich war eine Frau, fühlte mich nicht anders als heute.
Heute bin ich alt, fast achtzig. Aber dieses Gefühl ist über die Jahrzehnte hinweg gleichgeblieben. Erfahrung und Wissen haben es nicht verändert.
Wir haben damals alle ausgesehen wie Kindfrauen. Doch das Kindliche war nur das Äußere: die Babyhaut, die uns umspannte, die großen unschuldigen Augen, die unsere marmornen Gesichter beherrschten. Innerlich verfügten wir über eine ausgeklügelte Raffinesse, uns in Szene zu setzen. Und ich war in dieser Hinsicht skrupellos.
Nicht allein die Scham lässt mich das sagen. Da ist etwas, das schwerer wiegt und heute noch auf mir lastet. Das alles hochkochen lässt, weil ich ihn beim Klassentreffen vor ein paar Tagen auf einem Foto sah.
Natürlich erkannte ich ihn sofort, als sei alles erst vor Kurzem geschehen und nicht vor bald sechzig Jahren.
Ich zuckte zusammen, der Abend mit den ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern war mir jetzt ein wenig verleidet. Was war das für eine unselige Sitte, Fotos der Schulzeit zu zeigen, inzwischen digitalisiert und als JPGs auf einem Computer präsentiert!
Den anderen war offenbar nicht klar, wer da – unscharf und in Schwarzweiß – mit seiner Gitarre bei einer Schulaufführung saß. Oder wollten sie es nicht wissen? Schauten nicht ein paar verstohlen zu mir herüber?
Der, der die Fotos in JPGs umgewandelt hatte, schien auch etwas zu bemerken. Warum ging er so schnell zum nächsten Foto über? Gunther, der mich jedes Mal in seinem Wagen zum Klassentreffen mitnimmt, weil es kein großer Umweg für ihn ist. Der mir, als ich vierzehn war, den ersten Kuss auf den Mund gedrückt hat. Gunther, mit dem ich seit zwanzig Jahren Mails hin und her schreibe.
Und sein Blick, was sagte der: Du hast nie über ihn gesprochen, weder im Wagen noch in deinen Mails. Aber du kannst mir nichts vormachen!
Bei allen anderen Fotos wurde minutenlang palavert: „Weißt du noch, Martin hat uns doch bei der Abiprüfung die Mathelösungen auf dem Klo hinterlassen, der ist auch schon gestorben, Darmkrebs.“
„Ach, die Klassenfahrt nach München. Wo wir nachts in den Mädchenschlafzimmern erwischt wurden! Aber der Steinbach war super, der hat uns nicht verraten.“
„Dem Geschichtslehrer, wie hieß der noch? Dem haben wir Schnaps in die Thermoskanne getan!“
„Und hat der Geschichtsunterricht stattgefunden?“, fragte ich. „Klar, hast du’s nicht mitbekommen, Dora? Die lustigste Stunde überhaupt!“ Die anderen lachten und lachten, beschrieben jede Einzelheit. Ich konnte mich nicht erinnern.
An den, der sich unter die Schüler gemischt hatte, weil er so gut Gitarre spielte und eine Rockband hatte, erinnere ich mich genau. Ich könnte ihn zeichnen, auch ohne dass ich ihn auf jenem Foto gesehen hätte: ziemlich klein für einen Mann, nicht viel größer als ich. Damals maß ich 1,64, zwei oder drei Zentimeter habe ich vermutlich inzwischen eingebüßt. Zart und schmal, die Schultern, die Hüften, die Nase. Wäre er groß gewesen, mit langen dünnen Gliedmaßen und langen Händen und langen Füßen, hätte man ihn leptosom genannt; gebraucht man heute noch solche Klassifikationen?
So aber war er einfach ein zerbrechlicher junger Mann, der keinen Sport trieb. Im Gegensatz zu mir, die ich regelmäßig Geräteturnen trainierte. Als ich ihn später spaßeshalber in den Schwitzkasten nahm, konnte er sich nicht herauswinden.
Er hatte keine Chance, mir zu entkommen.
Heute sehe ich nur noch ein einsames neunundzwanzigjähriges Männlein vor mir, mit schlammgrauen, etwas leeren Augen und sandblonden Haaren, die auf den Schultern aufstoßen. Anfang der 1960er wirkt das geradezu unanständig. Und unanständig wirkt auch seine Kleidung: weiße Shirts oder hochgekrempelte Hemden im Sommer und dazu lehmbraune Wildlederschuhe mit Kreppsohlen. Im Winter schwarze Pullover und dazu ochsenbraune Bikerboots. Und winters wie sommers Jeans und Lederjacke. Die anderen Lehrer tragen Anzüge. Niemand traut sich, Jeans zu tragen, diese Arbeitshosen. Nicht mal die Schüler. Jeans sind verpönt.
Da er neben seinem Lehrerberuf Rockmusiker ist, werden seine Haare und seine lässige, beinahe nachlässige Kleidung toleriert. Bei den Jungen werden lange Haare nicht geduldet. Und bei den Mädchen dürfen Haare, die bis zum Ende der Schulterblätter reichen, nicht offen getragen werden.
Ich muss meine langen, schwarz getönten Haare jeden Tag zu einem Dutt zusammenzwirbeln oder hochstecken, andernfalls würde man mich von der Schule werfen. Es gibt keine offizielle Regel, aber man würde das irgendwie mithilfe schlechter Noten hinbiegen.
Dämmriges Licht, vielleicht Kerzen, eine Art Keller. Ich entsinne mich nicht genau an die Umgebung, in der ich das Objekt meiner Begierde anvisiere. Ein Klassenfest der beiden zwölften Klassen der Oberschule, die später Gymnasium heißen wird. Die beiden Klassen feiern gern zusammen, denn die sprachlich orientierte Klasse kann kaum Jungen aufweisen, während es in der naturwissenschaftlichen genau andersherum ist. Vielleicht ist der Raum geschmückt mit Luftballons oder Girlanden.
An der Vorbereitung war ich sicher nicht beteiligt. Dazu hätte ich keine Zeit gehabt. Ich habe genug mit dem Haushalt, der Betreuung meiner kranken Mutter und meiner kleinen Schwester zu tun. Dazu kommen meine eigenen Verpflichtungen, den ganzen Tag hetze ich herum. Erst nachts lerne ich, mache die Schulaufgaben.
Wegen des Schlafmangels bin ich ständig müde. Aber wenn Jungen in der Nähe sind, wache ich auf. Und wenn dann noch Musik ertönt, bin ich nicht zu halten.
Es muss das Jahr 1962 gewesen sein, ich habe gerade nachgerechnet. Am Ende des Jahres, Weihnachten, werde ich achtzehn Jahre alt, aber noch bin ich siebzehn. Volljährig werde ich durch das Erlangen des achtzehnten Lebensjahres nicht, sondern erst mit einundzwanzig. Erst Mitte der 1970er wird man in Westdeutschland mit achtzehn Jahren volljährig. Sollte ich bis dahin verheiratet sein, wird mir das nichts nützen, denn ich werde als Ehefrau kaum Rechte haben und für ein selbstbestimmtes Leben die Erlaubnis meines Ehemannes benötigen. Außerdem werde ich dazu verdammt sein, seinen Namen zu tragen, was ich als Ehre auffassen sollte.
Als ich mit zweiundzwanzig Jahren tatsächlich heirate, fasse ich die Annahme des fremden Namens als Nötigung auf. Ich muss stillhalten und kann mich nicht wehren gegen das Gesetz aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Mir wird gegen meinen Willen ein Teil meiner Identität genommen, die sich in zweiundzwanzig Jahren mit meinem Nachnamen verknüpft hat.
Heute lese ich im Netz, dass es für mich schon ab 1957 das Recht gegeben habe, an den Namen meines Mannes meinen Namen anzuhängen. Immer noch eine massive Ungleichheit, aber so wäre ein Teil von mir sichtbar geblieben. Von diesem Recht ahne ich nichts, denn keine einzige Frau in meiner Umgebung trägt einen Doppelnamen.
Und mein Mann? Hat er es gewusst und geschwiegen? Er empfand es als Liebesbeweis, dass ich seinen Namen annahm. Ein erzwungener Liebesbeweis wie ein erzwungener Beischlaf. Nach der Scheidung stieß ich den ungeliebten fremden Namen sofort ab.
Die Musik kommt vom Plattenspieler. Zu Hause habe ich auch einen. Darauf spiele ich kleine Schallplatten ab, die man noch nicht Singles nennt. Ich besitze nur wenige. Ich bekomme sie zum Geburtstag und zu Weihnachten geschenkt. Da ich kein Taschengeld erhalte, kann ich mir selbst keine weiteren Platten kaufen.
Ich höre jeden Tag dieselben, von Elvis Presley, Peter Kraus und Conny Froboess. Conny singt mit ihrer Kinderstimme: „Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein“, was sehr gut zu meiner eigenen Situation passt. Außerdem habe ich Jazzplatten von Chris Barber. Die Studenten der WG in Hamburg, ein paar Jahre später, werden mich auslachen, das sei kein richtiger Jazz. Mein Vater hört nur klassische Musik und stellt sie sehr laut, was meine Mutter ärgert.
Meine Mutter mag Peter Alexander, aber nur so lange, bis wir ein Jahr später die Beatles im Radio hören. Wir werden ausflippen wie die Teenies auf den Konzerten der Band, werden schreien und beinahe weinen vor musikalischem Glück. Ein völlig neuer Sound, noch nie drang Ähnliches in unsere Ohren. Ab diesem Zeitpunkt hört meine Mutter keine deutschen Schlager mehr, sondern nur noch Popmusik.
Handelt es sich wirklich um einen Kellerraum? Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, erinnere mich nur an schummriges Licht. Vielleicht wurden die Lampen ausgeschaltet oder mein Gedächtnis hat einen grauen Schleier über die Erinnerung gelegt. Vermutlich haben ein paar technisch versierte Jungen Lautsprecher aufgestellt und sie mit dem Plattenspieler verbunden; ich bin noch nicht so emanzipiert, dass mich das interessieren würde. Hauptsache, die Musik ist schön laut und lässt sich in meinem Bauch nieder.
Ein Junge wurde abgestellt, die Singles aus den bunten Papierhüllen zu nehmen, auf den Plattenspieler zu legen und die Nadel vorsichtig auf den Rand der Platte zu setzen. Auch Plattenwechsler sind schon erfunden worden, man könnte darauf mehrere Platten gleichzeitig aufstecken. Aber sie haben Nachteile, man kann damit die B-Seite nicht anhören und die Platten fallen unsanft auf den Plattenteller, wodurch Kratzer entstehen können.
Auch ohne Wechsler entstehen oft Kratzer. Sie schmälern den Musikgenuss durch Knacken oder Knistern. Meine Platten zu Hause haben alle leichte Beschädigungen. Manchmal ratscht die Nadel über die Platte und es bleiben Löcher zurück. Die Platte bleibt dann beim nächsten Hören an der beschädigten Stelle hängen.
„Und dann nüscht wie raus an Wannsee“, singt Conni immer wieder, bis ich sie erlöse und den Plattenarm auf der nächsten Rille aufsetze. Zwanzig Jahre später wird die CD erfunden sein, endlich werde ich Musik ohne dieses Knacken hören können. Klares Wasser, in das man eintaucht.
Es ist Sommer. Ich trage spitze Stöckelschuhe (man sagt nicht High Heels), ein enges geripptes Oberteil mit kurzen Ärmeln (es gibt noch keine Tops mit Spaghettiträgern), einen breiten, die Luft abschnürenden Ledergürtel und einen schwingenden Rock mit großen blauen Blumen. Der Rock reicht über die Knie, aber durch den Tüllpetticoat steht er hoch. Es ist kalt. Die Kälte kriecht vom Boden meine nackten Beine herauf und nur an dieser Nacktheit kann ich erkennen, dass es Sommer sein muss. Im Oberharz, in den es meine Eltern nach der Flucht aus Niederschlesien verschlagen hat, ist es auch in den Sommermonaten kalt.
Der Heimatort liegt sechshundert Meter über dem Meeresspiegel. Die technische Universität, die damals noch Bergakademie heißt, wird scherzhaft als „die einzige Uni mit zwei Wintersemestern“ bezeichnet. Im Winter liegt der Schnee meterhoch und ergibt in der Stadt eine feste Eisdecke, die mit Sand bestreut wird. Auf dieser Decke spazieren wir mit Stöckelschuhen und Nylonstrümpfen, die an Strumpfhaltern gehalten werden, zu Partys und Klassenfesten.
Mir ist nur so lange kalt, bis mich der erste Junge zum Tanzen auffordert. „Come on let’s twist again, like we did last summer.“ Die Klassenkameraden tanzen Foxtrott dazu. Den neuen Tanz „Twist“ tanzt man getrennt voneinander, ohne sich anzufassen. Er ist in unserem Bergstädtchen noch nicht angekommen.
Doch ich war gerade aus der Enge ausgebrochen, für zwei Wochen. Ich hatte den „Duft der großen weiten Welt“ eingeatmet, den die Werbung für Peter Stuyvesant-Zigaretten versprach, bunte Fotos in Illustrierten und auf Litfaßsäulen: ein Segelboot, ein Mann mit Zigarette im Mundwinkel, das Meer. Bei mir verfehlt der Spruch seine Wirkung. Die Zigarettenpackungen liegen auf unserem Wohnzimmertisch, aber ich rühre sie nicht an. Habe nur ein oder zwei Mal gepafft, ohne den Rauch durch die Lunge zu ziehen.
Mein Vater ist Kettenraucher. Ist er an der Front dazu geworden, während des Zweiten Weltkriegs? Er wurde als Siebzehnjähriger eingezogen. Gab es noch andere Drogen, damit die Kämpfenden durchhielten? Mein Vater wird mit achtundsechzig Jahren an den Folgen des Rauchens sterben, nachdem ihm ein Bein amputiert wurde.
Der Duft der großen weiten Welt hatte in London auf mich gewartet. Ein Schüleraustausch. Ich wohnte bei einer Familie mit sieben Töchtern, sieben Hunden und sieben Katzen. Ich denke mir das nicht aus. Wenn ich mir etwas ausdenke, hört es sich einigermaßen glaubwürdig an.
Freundliche Leute waren das, die Engländer. Sie gaben sich Mühe, alle gängigen Klischees zu bestätigen. Waren unkompliziert und unkonventionell. Tranken jeden Nachmittag Tee und aßen Ingwerkekse und Haferplätzchen. Mittags brachten sie mir auf mein Zimmer Dosenerbsen mit Dosenfleisch, das ähnlich aussah wie das für die Hunde. Auf den Tagesausflügen gaben sie mir zusammengelegte Toastbrotscheiben mit, zwischen die nur ein Salatblatt geklemmt war. Kopfsalat, ich erinnere mich an den nichtssagenden Geschmack. Ich nahm ein paar Kilo ab, sah aus wie Twiggy, das erste Magermodel, das erst vier Jahre später entdeckt werden wird. Die Töchter waren nett, sie brachten mir den Twist bei.
Ich schwenke gekonnt meine Hüften. Gehe dabei in die Knie, „yeah, let’s twist again like we did last year“ … Einige der Klassenkameradinnen umringen mich. Versuchen, es mir nachzumachen. Ich zeige ihnen, wie der Hauptschwung funktioniert. Es ist nicht einfach, ich habe auch erst zu Hause vor dem Spiegel üben müssen. Ich sehe, wie der Musiklehrer amüsiert zu uns herüberblickt.
Wenn eine Platte von Bill Haley & his Comets gespielt wird, drehen wir alle durch. „One, two, three o’clock, four o’clock, rock … We’re gonna rock around the clock tonight.“ Immer wieder das gleiche Lied.
Rock’n’Roll haben wir zwei Jahre vorher in der Tanzstunde gelernt. Wenn ich Glück habe, gerate ich an einen Jungen, der meine Finger geschickt in seine einrasten lässt, wenn ich davonfliege. Der mir nicht den Arm verrenkt, wenn ich unter seinem durchschlüpfe. Der mich vielleicht über die Schulter werfen kann. Das ist jedoch gefährlich, da ich auf meinen Stöckelschuhen landen muss. Flache Schuhe wären praktisch, aber damit käme ich mir zu klein vor, unattraktiv. Könnte außerdem nicht kokett mit den Hüften wackeln.
Ja, ich beherrsche das Repertoire: neben dem Hüftwackeln das Herausstrecken des schaumgummiummantelten Busens, das Schürzen der Lippen zum Schmollmund, den Augenaufschlag mit Unschuldsmiene, um die Kindfraulichkeit zu betonen. Statt Lateinvokabeln zu lernen, haben wir BB studiert. Brigitte Bardot, das Idol. Haben uns abgeguckt, wie jene Künstlichkeit funktioniert, die Männer auf Hundertachtzig bringt.
Mit meiner geballten Hitze, der keinerlei Entladung gegönnt wird – nur Männer haben einen Höhepunkt und nur sie können sich selbst befriedigen, sagt meine Mutter, und deine Unschuld musst du mindestens bis zwanzig bewahren wegen der Schwangerschaftsgefahr –, würde ich mich am liebsten auf das nächstbeste, halbwegs männliche Exemplar stürzen. Aber ich weiß, dass ich es verschrecken würde, so geht das Spiel nicht.
Es funktioniert auch Jahrzehnte später nicht, als ich mich befreit habe von alten Mustern und auch den Mann als emanzipiert wähne. Er reagiert nach wie vor ängstlich auf draufgängerische Frauen.
Hitze also, die sich mehr und mehr aufstaut.
Streichelspiele in dunklen Ecken mit Stefan, dem drei Jahre älteren Freund. Dabei erfährt nur er Befriedigung durch meine Hände, während er meine Brüste bis zur Unerträglichkeit befingert. Weder er noch ich kommen auf die Idee, seine Hände könnten mit mir etwas Ähnliches anstellen wie meine Hände mit ihm.
Herumschäkern mit einem Studenten, Ulli, sieben Jahre älter. Er lädt mich zu seinen Verbindungsfesten ein. Fast alle Mädchen der Schule, die alt genug sind, werden zu solchen Festen von Studenten eingeladen, denn Frauen sind hier Mangelware. In der männerreichsten Stadt Europas werden Frauen und Mädchen angestarrt wie Wesen von einem anderen Stern.
Treffen mit einem anderen Studenten, dessen Namen ich vergessen habe. Er ist mir etwas unheimlich, trotzdem gehe ich zu den Festen seiner schlagenden Verbindung. Er hat einen Schmiss an der Stirn, schwafelt von Kameradschaft und Tapferkeit, die man besitzen müsse, um mit einem Schwert ungeschützt auf sich eindreschen zu lassen. Ich kann dieses Ritual nicht besonders tapfer finden, denn ich habe eine spartanische Erziehung genossen. Als Kind habe ich mich für eine Belohnung ohne Betäubung am Knie nähen lassen und mein Vater gab mir Ohrfeigen, die mich wegen ihrer Heftigkeit an die Wand prallen oder hinfallen ließen. Danach nötigte er mich zum Lächeln, andernfalls hätte ich eine weitere Ohrfeige kassiert.
Die gleichaltrigen Jungen der beiden Klassen wirken unreif. Sollten sie geschlechtliche Begierde spüren, zeigen sie es nicht. Sie wissen, sie haben keine Chance. Die Mädchen sind alle liiert, mit einem Jungen, der die dreizehnte Klasse besucht, oder einem Mann, der an der Bergakademie studiert. Während langsamer Songs, bei denen man auf der Tanzfläche herumeiert (heißt das noch Stehblues, diese merkwürdige Art des Tanzens, bei der man fast auf der Stelle tritt und sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagert?), versuchen sie nicht mal, uns an sich zu drücken.
Dabei hätte ich nichts dagegen, ihre Begierde durch den Stoff hindurch zu spüren. Ich habe mich daran gewöhnt, Lust als Ersatz für ihre Sättigung zu betrachten. Genauso, wie ich mich daran gewöhnt habe, an einem Abend möglichst viele männliche Trophäen zu ergattern.
An ihren Augen kann ich erkennen, ob ich sie in die Reihe meiner Eroberungen eingliedern kann oder nicht. Mitzuzählen brauche ich nicht, meinen Erfolg messe ich an meiner Stimmung.
Es war schon länger in meinem Kopf, beinahe unbemerkt: Irgendwann würde ich diese besondere Trophäe ergattern. Und nun ist er zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Dieser fast Dreißigjährige, gegen den die siebzehn- oder achtzehnjährigen Jungen wie Kinder erscheinen.
Eigentlich wollte ich mich nach dem Klassenfest mit Stefan verabreden, aber er ist mit seiner Mutter zu einer Theateraufführung nach Göttingen gefahren. Er wird mir mit seinem offenen Hosenstall nicht zur Verfügung stehen.
Ja, er ist am richtigen Ort, der Musiklehrer.
Mit seinem Mann-Sein. Seinen spitzen Ellenbogen, die unter dem hochgekrempelten weißen Hemd hervorgucken, seinen behaarten Armen.
Seinen Gesten, die in den vergangenen Jahren Schicht um Schicht an Selbstsicherheit gewonnen haben. Seinem Gesicht, fast kantig gegen die weichen Gesichter der Jungen, trotzdem empfindsam gegen die Züge der Jungen, denen man ansieht, dass sie mit dem Kopf durch die Wand wollen. Diesen Augen, die die Erinnerung an die Liebe zu Frauen bergen. Die Liebe mit Frauen.
Jeder weiß, die Frau des Musiklehrers wohnt an einem anderen Ort, er sieht sie vermutlich nur einmal im Monat. Er muss in der gleichen Verfassung sein wie ich. Es ist weniger als ein Gefühl, es ist eine körperliche Ahnung.
Dann noch die anderen Mädchen. Sie himmeln ihn an. Weil er ansehnlich ist. Weil er ein Mann ist. Weil er eine Rockband hat, Gitarre spielt und singt. Weil er ihr Lehrer ist. Sie würden ihn gern verführen, aber sie wagen es nicht; Lehrer sind tabu. Ich kenne keine Tabus, keine Furcht. Ehe etwas wie Furcht in den Bereich meiner Wahrnehmung dringen kann, unterdrücke ich es. Die Erziehung meines Vaters zur Tapferkeit trägt Früchte.
Vielleicht bildete ich mir nur ein, dass alle Mädchen hinter dem Musiklehrer „her waren“, wie man sagte. Nennt man das heute noch so, jenes passive Nachstellen? Es schürte meinen Ehrgeiz.
Und vielleicht habe ich mir damals in der elften Klasse nur eingebildet, dass alle Mädchen hinter Heinz, einem Jungen aus meiner Klasse, her waren, weil er eine Vespa besaß. Habe ich mich deshalb auf ihn eingelassen? Oder galt auch mein Interesse nur der Vespa? Diesem Gefühl, den Jungenkörper zu umklammern und den Fahrtwind zu spüren, die Illusion von Freiheit?
Waren alle Mädchen so wie ich? Wollten sie alle die Schönste, Beste, Umschwärmteste sein? Stachelte es sie umso heftiger an, desto mehr Konkurrentinnen sie hatten? Sind Mädchen heute noch so? Liegt es an der Erziehung, ihrem Umfeld, den Hormonen, die ihre Körper überschwemmen?
Rock around the clock ist zwei Mal gelaufen, ich bin schweißnass. Mein Tänzer hat mir nicht den Arm verrenkt und mich nicht losgelassen. Aber er ist nicht perfekt.
„Ich habe Gunther versprochen, mit ihm zu tanzen“, sage ich. Es ist eine Lüge.
Der nicht ganz Perfekte geht an seinen Platz zurück.
Mit der Bewegung meines Zeigefingers, einem eindeutigen Locken, zitiere ich Gunther zu mir, den besten Rock’n’Roll-Tänzer. Den, der mir den ersten Kuss gab, als ich vierzehn war und er fünfzehn.
In den Mails, die die alte Frau dem alten Mann schreibt, sieht sie den Fünfzehnjährigen vor sich. Den auf den Schwarz-Weiß-Fotos, die er ihr als Mail-Anhang schickt, auch digitalisiert.
Den sehnigen Jungen in kurzer Lederhose und mit roten Wangen (das Rot auf den Fotos nicht sichtbar, aber sie erinnert sich genau daran), unbeirrbar, unverwundbar. Mit diesem Geruch nach Luft, den diejenigen haben, die draußen herumstreunen.
Den, der wie sie in jenem endlos erweiterbaren Raum der Jugend gelebt hat.
Der mit seinem Kuss einen Rausch auslöste, den sonst nur Drogen bewirken können und der sie für den Rest des Tages in ihr Bett zwang, vergraben unter der Decke.
Den achtzehnjährigen Rock’n’Roll-Tänzer sieht die alte Frau nicht.
Auch nicht den, der auf den Farbfotos zu sehen ist, die vor Kurzem entstanden sind und zusammen mit allen möglichen anderen Fotos – kunstvolle Aufnahmen von Insekten, Pflanzen, Landschaften – eingebettet sind in lange Mails.
Der graue Strähnen in den Haaren hat wie sie, ohne sie zu tönen.
Der Einkerbungen im Gesicht aufweist, die wie Narben überstandener Kämpfe anmuten.
Sein Rücken auf den Farbfotos leicht gebeugt, die Hände unmerklich gekrümmt. Gerade das lässt ihn nicht alt aussehen, denn es kommt nicht vom Alter, sondern vom Fahrradfahren. Pro Tag schafft er durchschnittlich sechzig Kilometer. Wenn er in den Alpen auf dreitausend Meter Höhe während einer Pause und für ein paar Fotos neben seinem blauen Rennrad steht, das an einen Pfahl gelehnt ist (ein Gios, darauf legt er Wert), scheint es, als sitze er immer noch auf dem Sattel. Beuge seinen Oberkörper hinunter zum tief liegenden Sportlenker. Klammere seine Hände fest um die Griffe, und manchmal sind Zeige- und Mittelfinger nach vorn gespreizt, als lägen sie auf den Hebeln der Handbremsen.
Er trägt keinen Helm oder irgendeinen anderen Schutz, als sei er immer noch unverwundbar. „Ich muss den Wind spüren“, sagt er. Und selten hat er einen Anorak an oder lange Hosen, dafür bei fast jedem Wetter ein enges Shirt und eine kurze elastische Radhose. Darunter schauen die strammen Schenkel des damaligen Jungen hervor. Diesen Männer-Vorteil neide ich ihm. Ich könnte hundert Kilometer pro Tag fahren und hätte nicht im Entferntesten die Mädchenschenkel von früher.
Während ich ihm schreibe, kommt mir immer wieder die Erinnerung an den ersten Kuss in die Quere, den es nur einmal im Leben gibt.
Jener Kuss, den ich mit einem Schnipsen aus meinem Gedächtnis abrufen kann: der modrige Geruch der alten Holztreppe, die zu unserer Wohnung führte, die winzigen roten Punkte auf den Wangen des Jungen, sein Kieferknochen unter meinen Fingerkuppen, der Geschmack nach Milchreis im Mund.
Alles andere verschwimmt: die Tageszeit, die Jahreszeit, die Kleidung. Ich habe vergessen, was er anhatte, was ich anhatte, was es zu Mittag gab, welche Probleme es gerade in der Schule gab oder mit meiner Mutter. Es war nicht wichtig.
Und unwichtig waren auch die Geschehnisse in Deutschland oder der Welt. Che Guevara rückte in Havanna ein und Fidel Castro kam in Kuba an die Macht, in Tibet begann ein Volksaufstand gegen die chinesische Besatzung mit Zehntausenden von Opfern, in Deutschland trat das Gleichstellungsgesetz in Kraft, in Hamburg wurde die erste Teilchenphysik-Forschungsanlage gegründet, die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete die Deklaration über die Rechte des Kindes …
All das war ganz klein angesichts jenes großen Ereignisses, auf das ich seit zwei Jahren hingefiebert hatte. Auch daran erinnere ich mich, ich hatte zwei lange Jahre standgehalten und gleichzeitig darauf gewartet. Hatte mich standhaft gegen alle schüchternen Versuche der Jungen gewehrt.
„Don’t be cruel to a heart that’s true“, singt Elvis Presley. Seine Soul-Stimme, sein Hüftschwung in meinem Körper. Der harte ungewohnte synkopische Rhythmus peitscht mich auf. In den USA führte er zur Zertrümmerung von Glasscheiben und Mobiliar. Gunther, der Achtzehnjährige, schwenkt mich gekonnt herum. Ich rufe ihm Kommandos zu. Wann er seinen Arm heben und mich unter ihm hindurchlassen soll. Wann er eindrehen soll.
Mir ist jetzt alles egal. Ich werfe die Stöckelschuhe an den Rand. Gunther weiß, was es bedeutet. Wir haben das Überdie-Schulter-Werfen schon mal für eine Vorführung bei einer Faschingsveranstaltung geübt. Gunther ist kräftig und größer als ich, er wird es schaffen.
Während des Tanzens wirft er mich zwei Mal über seine Schulter. Mein Körper fliegt, meine Haare fliegen. Hier muss ich sie nicht zur Hochfrisur zusammenstecken.
Als er mich unter seinen Beinen durchschleifen will, bleibe ich stecken wegen meiner nackten Füße. Ich lande auf den Knien, wir lachen.
Als ich mich wieder aufrappele, sehe ich den bewundernden Blick des Musiklehrers. Es folgt ein langsames Lied von Peter Kraus. Ich erinnere mich nicht, welches, habe nur sein rollendes R im Ohr. Vielleicht ist es das Lied Wenn Teenager träumen, das R rollt bei dem Wort „träumen“. Gunther legt seine Hände auf meine Schultern und ich tue das Gleiche bei ihm. Er lässt einige Zentimeter Abstand zwischen ihm und mir, er wirkt verkrampft.
„Kannst du dich an unseren Kuss erinnern? Auf der Holztreppe vor unserer Wohnung?“
„Du stellst Fragen!“ Er rückt etwas näher.
Ich streiche meine klitschnassen Haare aus dem Gesicht. Werfe sie nach hinten, lächele Gunther an. Das Lächeln ist nicht für ihn bestimmt.
Nach einer schnellen Platte behaupte ich, müde zu sein. Auch das ist eine Lüge, ich werde in diesem Alter nicht müde. Wenn ich einmal angefangen habe zu tanzen, höre ich nicht mehr auf. Die langsamen Platten, die regelmäßig nach drei oder vier schnellen aufgelegt werden, reichen mir, mich auszuruhen. Ich sammle meine Schuhe ein und lasse mich auf meinen Platz zurückbringen. Allein kann ich nicht zurückkehren. Das gehört sich nicht.
Die Unterhaltung am Tisch dreht sich hauptsächlich um die Schule. Um Arbeiten, die demnächst geschrieben werden. Um die neusten Tricks, die beim Mogeln angewendet werden könnten. Um Streiche, die den Lehrern gespielt wurden. Weltbewegende Ereignisse werden erst im Oktober passieren: die Kubakrise und das Vorbeischrammen an einem Atomkrieg; die Spiegel-Affäre, die mit einer Anzeige gegen das Nachrichtenmagazin wegen Landesverrats und mit Durchsuchungen beginnt.
Das für die Allgemeinheit herzbewegendste Ereignis des Jahres geschieht am 5. August:
Marilyn Monroe stirbt mit sechsunddreißig Jahren. Es wird gerätselt, ob es Selbstmord, eine unbeabsichtigte Überdosierung eines Schlafmittels oder Mord war.
Ich erinnere mich nicht an den Monat, in dem das Klassenfest stattfindet. War Marilyn, die uns wahlweise als leichtes Mädchen oder Sexbombe vorgehalten wurde, schon tot? Haben wir darüber gesprochen? Hätten wir denn darüber gesprochen?
Ich erinnere mich nicht an Gespräche. Wenn es sie gab, spielten sie keine große Rolle. Die Inhalte der Gespräche waren nebensächlich.
Es ging immer nur um die Sprache der Körper, die sie begleiteten. Ging immer nur um das eigene Begehren. Und darum, fremdes Begehren auszulösen.
Wer imponierte den anderen am meisten? Wer stand im Mittelpunkt? Wer schlug die anderen aus dem Feld?
Am Buffet häufe ich mir von allem ein bisschen auf einen Pappteller. Vom Nudelsalat, vom Wurstsalat, vom Kartoffelsalat, den ich selbst gemacht habe. Da ich zu Hause viel koche, habe ich Erfahrung in solchen Dingen. Es ist nicht mehr viel da von meinem Salat, das ist ein gutes Zeichen und ich bin ein bisschen stolz. Dass ich als Frau gut kochen können muss, ist mir eingeschweißt. Bei einem Mann setze ich es Anfang der 1960er nicht voraus. Das Rezept für den Kartoffelsalat, zu dem außer gekochten Kartoffeln Mayonnaise, Zwiebeln, Apfelstückchen, saure Gürkchen und Wurststücke gehören, hat meine Mutter aus Schlesien mitgebracht.
Heute würde ich diese Art von Salat nicht mehr herunterbringen. Heute könnte man so einen Salat bei Partys nicht mehr anbieten. Ich schenke mir ein wenig von der Bowle in einen Pappbecher ein, die als reine Fruchtbowle deklariert ist. Gleich bei den ersten Schlucken schmecke ich, dass sie irgendeinen Alkohol enthält. Ob es Wein oder Schnaps ist, kann ich nicht beurteilen. Davon habe ich keine Ahnung. Zu Hause trinken wir nur Apfelsinensprudel, den wir Brause nennen.
Der Musiklehrer, der als Aufsicht fungiert, muss längst gemerkt haben, dass das Getränk nicht koscher ist. Ich habe auch keine Ahnung von der tatsächlichen Bedeutung des Begriffs „koscher“. Ich gebrauche ihn wie die Begriffe „meschugge“, „kabbeln“, „schummeln“, „Schlamassel“ und „Tinnef“, ohne zu wissen, dass diese Wörter aus dem Jiddischen stammen. Obwohl meine Mutter als Jugendliche zur Verachtung von Juden erzogen wurde, hat sie eine Menge solcher Ausdrücke in ihrem Wortschatz.
Dann tue ich etwas, was sich Anfang der 1960er Jahre auf keinen Fall gehört, ich fordere den Musiklehrer zum Tanzen auf. Zuerst weigert er sich:
„Ich kann nicht tanzen.“
„Seien Sie kein Feigling!“ Ich lache, ziehe ihn auf die Tanzfläche.
Die Klassenkameraden klatschen. Am Vormittag in der Schule habe ich mit ihnen gewettet: „Ich schaffe es, mit ihm zu tanzen!“ „Okay, wir wetten um zwanzig Pfennig von jedem!“
Heute kommt es mir vor, als hätte ich alles geplant. Als hätte die Wette ein Alibi sein sollen für meine Absichten.
Zuerst ein Song, zu dem man Foxtrott tanzen kann oder den sogenannten Einheitsschritt. Er beherrscht weder das eine noch das andere. Der Rockmusiker, der ein ausgeprägtes Rhythmusgefühl besitzt, versucht, kreativ zu sein. Er probiert, Figuren zu tanzen. Nimmt meine rechte Hand in einen Zangengriff und bohrt seine Rechte in meinen Rücken, um mir seinen Willen aufzuzwingen. Da er nicht führen kann, trete ich ihm auf die Füße, stolpere. Er fängt mich auf, die erste kurze Berührung unserer Körper.
„Lassen Sie mich mal führen“, sage ich. Auch das gehört sich nicht.
Er ist verdutzt, lässt aber sofort ab von seinem verkrampften Wunsch, mich zu seinen Schritten zu nötigen. Er fügt sich, wird ganz nachgiebig, und ich tanze einfach nur den Einheitsschritt. Dann überlasse ich ihm wieder die Führung. Jetzt klappt es, fast eine Harmonie. Er atmet auf, das kann ich spüren.
Und ich spüre die Blicke der Klassenkameradinnen im Rücken, die jede unserer Bewegungen verfolgen. Sie beneiden mich.
Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob sie mich beneideten. Vielleicht war es ihnen gleichgültig, dass ich mit dem Lehrer tanzte. Vielleicht wäre er ihnen zu alt gewesen, über zehn Jahre älter als sie selbst! Vielleicht bedauerten sie mich sogar. Vielleicht fanden sie ihn altbacken und hässlich. Oder lächerlich, wie er sich von einer Schülerin zeigen lassen musste, wie man tanzt.
Als ein Twist ertönt, wird es tatsächlich lächerlich. Ich bin froh, mich den Griffen des Mannes entwinden zu können, spule das in England Gelernte ab. Er versucht, es mir nachzumachen. Seine Bewegungen sind eckig und tölpelhaft, haben kaum Ähnlichkeit mit meinen. Zudem scheint er unsportlich zu sein. Nach kurzer Zeit ist er außer Atem, Schweiß steht auf seiner Stirn. Wieder ein Aufatmen, als der Tanz vorüber ist, diesmal auf beiden Seiten.
„Love me tender, love me sweet …“ Erneut die sexgeballte Stimme Elvis Presleys, die durch meinen Körper fährt. Jetzt dem männlichen Körper nahekommen und mich verflüssigen!
Ich reiße mich zusammen. Es gibt diesen Marshmallow-Test: Vierjährige, denen eine Süßigkeit angeboten wurde, konnten eine zweite bekommen, wenn sie auf den sofortigen Genuss verzichteten. Später zeigte sich, dass die, die als Kind verzichten konnten, auch als Siebzehnjährige zielstrebiger und erfolgreicher waren. War ich eine solche Vierjährige und bin ich jetzt diese Siebzehnjährige?
Die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub halte ich vor allem für eine Folge der Erziehung meines Vaters zur Disziplin. Ich habe gelernt, meinen grenzenlosen Trieb zu zügeln und auf die unmittelbare Befriedigung zu verzichten, um später einen viel größeren Lohn zu bekommen.
Meine Hände auf den Schultern des Musiklehrers, seine Hände auf meinen Hüften. Das Treten von einem Bein auf das andere, rechts links rechts links.
In dem Moment, in dem er nicht mehr versucht, mich zu nötigen oder nachzuahmen, in dem Moment, in dem er nicht wie blöd herumhampelt, wird er wieder zum begehrten männlichen Objekt, dessen Attraktivität durch seine Unerreichbarkeit ins Grenzenlose wächst.
Ich rieche seinen Schweiß. Über Testosteron-Abbauprodukte, die als Pheromone wirken, weiß ich nichts. Aber ich merke, wie der Geruch mich anzieht, der Belohnungsaufschub gelingt nur mit Mühe und der angelernten eisernen Disziplin. Statt meine Wange an seine zu lehnen, statt mich an ihn zu drücken, halte ich Abstand. Setze mich lasziv in Szene, als stünde ich auf einer Bühne. Achte auf meine Haltung, damit alles zur Geltung kommt, was ich zu bieten habe:
Von Zeit zu Zeit löse ich mich aus dem Griff des Mannes und tanze frei. Das wirkt zu damaliger Zeit geradezu anarchistisch. Ich vollführe eine Drehung, während die Hände des Mannes an mir sind. Sie umfahren meine ungeheuer schmale Taille, die durch enge Ledergürtel am Wachsen gehindert wurde. Umwinden meine Hüften, meinen Bauch, der durch tägliche Klimmzüge kein Fett ansammeln kann.
Es ist mehr als eine Umarmung, es ist der Vorgeschmack von Sex, ich weiß das. Er ist nicht der erste Mann, an dem ich es ausprobiert habe.
Ich werfe meine langen dichten Haare nach hinten, stoße ein Lachen aus. Auch das eingeübt, kehlig, nicht zu laut, nicht zu hell. Ich wirke wie achtzehn oder älter, da bin ich sicher.
Ja, noch sind meine Haare dick und dicht und werden es noch jahrelang bleiben. Noch fühle ich mich unbesiegbar! Niemals könnte eine andere Frau Konkurrentin für mich sein, schon gar keine, die älter ist als ich. Niemals wäre ihre Haut so strahlend wie meine, ihr Busen so fest wie meiner. In der Begegnung mit dem anderen Geschlecht kenne ich nur äußere Maßstäbe. Als Ulli, der sieben Jahre Ältere, über die Faszination spricht, die von der Frau eines Kommilitonen ausgehe, bin ich ohne Verständnis. „Die ist doch schon dreiundzwanzig!“, ich lache ihn aus.
Ich sonne mich in meiner Überheblichkeit. Drehe und wende mich. Et Dieu … créa la femme, … und ewig lockt das Weib, ich bin BB, die Sexbombe. Wir alle haben sie eingeatmet, jede ihrer Bewegungen des Kopfes, des Körpers. Wir sind ihre Klone und nicht mehr von ihr zu unterscheiden.
Da stört es nicht, dass meine Brüste nicht riesig sind, meine Haare nicht blond, die Augen kleiner, meine Lippen weniger voll. Die Schönheitsmittel gleichen es aus. Die Schaumgummi-BHs lassen die Brüste groß erscheinen, die nachtschwarz getönten Haare glänzen, die Augen wirken durch ihre schwarze Ummalung ausdrucksvoll, die Lippen durch dicken rosafarbenen Lippenstift üppig.
Jeder Junge und jeder Mann hat das Sexsymbol verinnerlicht, dazu tragen die Filme, die Plakate auf den Litfaßsäulen, die Cover der Zeitschriften bei.
Er kann kaum an sich halten, seine Augen nicht mehr hell, sondern schwarz vor Begierde. Seine Hände bleiben Bruchteile von Sekunden zu lang an meinem Bauch, wenn ich mich drehe. Doch man merkt ihm nichts an, äußerlich wirkt er fast gleichgültig. Bilde ich mir seine Erregtheit ein? Weil ich will, dass es so ist? Vielleicht sind seine Pupillen geweitet wegen des dämmrigen Raums? Vielleicht guckt er nur interessiert oder amüsiert? Fühlt sich lediglich geschmeichelt, weil ihm ein hübsches Mädchen schöne Augen macht?
Ich war hübsch, das darf ich jetzt, da ich alt bin, sagen und eigentlich besitzen alle Siebzehnjährigen diese Art Hübschheit. Es ist, als spräche ich über einen anderen Menschen. Und dieser andere Mensch hat so gut wie nichts mit mir gemein.
Er ist ein Automat, dazu abgerichtet, Männer zu verführen und irgendwann stopp zu sagen. Den Stoppschalter muss man drücken, bevor es ernst wird. Wegen dieser etwas lästigen Eigenschaft, Kinder zu bekommen. Wegen der Angst, als „Flittchen“ zu gelten. So heißen die, die nicht stopp sagen können. Man zerreißt sich im Städtchen das Maul über sie. Und sie bekommen keinen ordentlichen Mann ab, darum geht es doch. Sich einen ordentlichen Mann zu angeln.
Es gab noch etwas, das mich antrieb. Was in meinem Unbewussten lauerte und erst jetzt zutage tritt.
Heute kann ich kaum noch verstehen, wie ich diesen Mann anziehend finden konnte. Und vermutlich war es nicht er, der mich auf geradezu unnatürliche Weise anzog, sondern seine Stellung. Er war mein Lehrer. Die Aufmerksamkeit, die er der siebzehnjährigen Schülerin entgegenbrachte, schmeichelte mir. So wie es ihm schmeichelte, von einem Mädchen angehimmelt zu werden.
Und ich wollte Macht. Über ihn, über das System.
Wir alle verachteten das System, dem wir ausgeliefert waren. Und wir verachteten die Lehrer. Sie demütigten uns. Führten uns jeden Tag vor Augen, dass wir keine Ahnung hatten. Dass wir nichts waren! Dass wir es nicht wert waren, auf einem Gymnasium zu sein!
Eine kleine Gruppe Strebsamer hielten sie für geeignet. Alle anderen Schüler waren in ihren Augen Abschaum. Die Lehrer wussten nichts über Pädagogik, hielten ihren geistlosen Drill und die Verbreitung von Angst für Unterricht. Hatten nicht gelernt, wie man Kindern den Spaß am Lernen beibringt. Das, was sie für unsere Dummheit hielten, war ihre Unfähigkeit.
Wir hassten die meisten der männlichen Lehrer. Und ich hasste sie wegen ihrer Misogynie. Den Ausdruck gab es nicht, aber die Haltung war eindeutig: Frauen gehören an den Herd und zu ihren Kindern. Manche sprachen es offen aus, anderen merkte man ihre Einstellung an: „Was zum Kuckuck machen Mädchen auf einem Gymnasium, sie heiraten doch sowieso!“
In der elften Klasse hatte ich im Deutschunterricht über meine Vorstellung vom Leben als Frau und der erwarteten Erfüllung im Beruf gesprochen. Ich hatte dem Deutschlehrer widersprochen, der eine Erfüllung im Dasein als Hausfrau und Mutter angepriesen hatte. Statt der üblichen Zwei bekam ich daraufhin eine Drei im Zeugnis.