Schöne Künste - Evelyn Grill - E-Book

Schöne Künste E-Book

Evelyn Grill

4,2

Beschreibung

Eine Leiche im Museum - Spurensuche zwischen Monet und Picasso. Nachts im Museum … … wird der Museumsdirektor Carlo Morwitz tot aufgefunden: nackt liegt er am Boden, der Kopf in eines der Kunstwerke gekippt, neben ihm sein Äffchen, ebenfalls tot, erstochen. Eine grausam-groteske Szene, die dem Direktor auch im Tod noch Schlagzeilen verschafft. Nicht nur die Polizei ermittelt in diesem brutalen Mordfall, auch Viktor Escher, reicher Privatier und Schwager des Toten, begibt sich auf die Spur des Mörders. Viele Verdächtige und dunkle Geheimnisse Es bleibt nicht lange bei einer Leiche, und auch die ersten Verdächtigen sind schnell gefunden. Denn der exzentrische Museumsdirektor war offenbar ein äußerst unangenehmer Zeitgenosse: launisch und voller Verachtung für jeden, der seinen exquisiten Kunstgeschmack nicht teilte. Je tiefer Viktor Escher in das Privatleben des Mordopfers vordringt, desto mehr dunkle Geheimnisse treten ans Tageslicht - und desto größer wird der Kreis der möglichen Täter … Bitterböse Unterhaltung in der Kunstszene Evelyn Grills Roman ist spannender Kunst-Krimi und bitterböse Satire in einem. Mit ihrem unverkennbaren Charme, ihrem trockenen Humor und dem doppelbödigen Witz verpasst sie dem Kunst- und Kulturbetrieb einige spitze Seitenhiebe. Ein klug arrangierter Roman, der bis zur letzten Seite Spannung und Humor verspricht.

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Evelyn Grill

Schöne Künste

Kriminalroman

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
1
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5
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Evelyn Grill
Zur Autorin
Impressum
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Evelyn Grill

Schöne Künste

Ohne Zweifel ist es ein Irrtum, in der technischen Verwicklung, der Suche nach dem Verbrecher, das Wesentliche des Kriminalromans zu sehen. Für sich genommen, käme dieser Verwicklung kein höherer Rang zu als dem Schachspiel – künstlerisch wäre er gleich Null. Ihre Bedeutung besteht vielmehr darin, daß sie das wirksamste Mittel ist, einen ethischen oder poetischen Sachverhalt in seiner ganzen Intensität zu übersetzen. Ihren Wert macht das aus, was sie multipliziert.

André Malraux

1

„Da hat Morwitz offenbar wieder einen Coup gelandet“, dachte Kurt Kauz, als er sah, wie das Publikum in die ehemalige Skulpturenhalle strömte, die für diesen und ähnliche Anlässe bis auf den Fettstuhl von Beuys freigeräumt worden war. Er hatte dem Direktor des Neuen Kunstmuseums davon abgeraten, das umstrittene Südtiroler Gesamtkunstwerk Ganymed von Schmoizz für eine Performance zu verpflichten. Aber wie gewöhnlich hörte jener nicht auf die Ratschläge seines Assistenten. Carlo Morwitz wollte keine Figuren aus Gips, Terrakotta, Bronze oder Stein ausgestellt haben, die auch in anderen Museen zu betrachten waren. „Ich bevorzuge den Menschen aus Fleisch und Blut“, hatte er Kauz gegenüber seinen Entschluss begründet. Und der Kunsthistoriker musste zugeben, dass Morwitz mit seiner Programmatik, dem radikalen Bruch mit der abendländischen Repräsentationstradition, bisher Erfolg gehabt hatte. In der Tat lockten seine spektakulären Happenings eine ganz neue Besucherklientel an. „Mir ist es gelungen“, sagte er zu seinem Assistenten triumphierend, „mit meinen Events auch Menschen ohne kunsthistorische Vorkenntnisse an das Museum heranzuführen. Kunst soll doch Spaß machen.“ Und Kauz wusste nichts dagegen zu sagen. Gegen den Erfolg konnte er nicht argumentieren. Kauz selbst suchte mit Besuchern das Gespräch, die zum ersten Mal, geködert von Carlos geschickter Werbestrategie, in das Museum kamen, sie äußerten sich positiv überrascht vom Gebotenen und wollten wiederkommen. Aber heute, das wusste Kauz, sollte ein erster, allerdings riskanter Höhepunkt an künstlerischer Unterhaltung erreicht werden. Im hohen klassizistischen Foyer drängten sich bereits die Interessierten, darunter befanden sich auffallend viele junge Männer und Frauen in Jeans und Sweatshirts, wie Kauz feststellte, ein Publikum, das man sonst eher auf Popkonzerten oder Fußballplätzen anzutreffen gewohnt war, zwischen arrivierten älteren Herrschaften. Die Damen in teuren Designerkostümen, die Herren im dunklen Anzug, alle balancierten Sektgläser und Häppchen und warteten auf den Einlass in den Ausstellungsraum. Kauz drückte sich in eine Nische und beobachtete die Versammlung. Der Einladungsflyer hatte die Geladenen darüber informiert, dass die als „Verfügungspermanenz“ überschriebene Performance zu ihrem vollen Gelingen auf die handgreifliche Mitwirkung der Besucher angewiesen sein würde. Die Wartenden diskutierten dieses Ansinnen, was eine fiebrige Spannung erzeugte. Kauz verschwand rechtzeitig aus seiner Nische und begab sich durch eine geheime Tür in den Ausstellungsraum, in dem ihm eine bescheidene Tätigkeit zugedacht war. Als endlich die hohe zweiflügelige Tür geöffnet wurde, empfing der Museumsdirektor, auf den der Blick der Gäste zwangsläufig zuerst fallen musste, die Hereinströmenden mit der Geste eines Monarchen. Kauz konnte nicht umhin, das Inszenierungstalent seines Chefs zu bewundern. Morwitz, der wie gewöhnlich sein Totenkopfäffchen Tootoo auf der Schulter sitzen hatte, spielte mit seiner Linken mit der strassbesetzten Leine aus Känguruleder, die um den Hals des Tieres befestigt war. An seiner Rechten führte er seine schöne jüngere Halbschwester Margot. Neben ihr hielt sich Margots Gesellschafterin, eine Cousine unbestimmten Alters. Morwitz war eine glanzvolle Erscheinung, und sein bunter, schimmernder, bis zu den Füßen reichender ärmelloser Brokatmantel erinnerte an die prächtigen Pluviale der römisch-katholischen Geistlichen vor der Liturgiereform und vermittelte damit den Anschein, hier handle es sich nicht um eine Ausstellungseröffnung, sondern um einen sakralen Akt. Morwitz pflegte seine extravagante Kleidung selbst zu entwerfen und von einem Antwerpener Couturier anfertigen zu lassen. Aber auch Margot, Carlos Halbschwester, zog die Blicke der Hereinströmenden auf sich, denn sie trug ihre nilgrün schimmernde Delphos-Robe von Fortuny, die sie, wie Eingeweihte zu wissen vorgaben, seinerzeit von ihrem Bräutigam zur Verlobung erhalten hatte und deren seidiges Plissee ihre makellose Figur auf atemberaubende Weise umfloss. Ihre Frisur war derart kunstvoll gebaut, dass man nicht sofort unterscheiden konnte, ob es sich um ein Werk des Friseurs oder der Hutmacherin handelte. Das zierliche Stöckchen aus Ebenholz mit dem elfenbeinernen Knauf, auf das sie sich stützte, wirkte in ihrer Hand wie ein Schmuckstück, war ein Zierrat ihrer Erscheinung. Neben Margot ergänzte dieses Mal auch die Base im schwarzen Helmut-Lang-Smoking mit glatt zurückgestrichenem, glänzend gegeltem Haar und weiß gepudertem Gesicht die Inszenierung. Kauz gehörte zu den Bewunderern der schönen Margot; er konnte seinen Blick lange nicht von ihrer Gestalt abwenden. Sie war selten an der Seite ihres Bruders zu sehen, lebte mit ihrer Verwandten seit ihrem Unfall, bei dem ihr Verlobter auf nie ganz geklärte Weise ums Leben gekommen war, zurückgezogen im Haus ihres Halbbruders. Kauz empfand immer Mitleid mit der schönen Frau, auch wenn er nicht wusste, was es an ihr zu bemitleiden gab, da sie von ihrem Bruder verwöhnt wurde. Während Carlo mit seiner munter auf seiner Schulter zwitschernde Laute ausstoßenden Äffin den Gesichtsausdruck eines Siegers hatte, lag auf Margots Antlitz ein melancholischer Schatten, der auf romantisch gestimmte Männer, und zu denen konnte Kauz gezählt werden, immer eine besondere Anziehung auszuüben pflegte, und auch die Cousine starrte düster den Hereinströmenden entgegen. Das alles freilich entging dem heiteren Museumsdirektor, denn er hatte seine Augen auf die Geladenen gerichtet.

Der Aufzug dieser drei verhinderte es, dass die Gäste mit ihren Blicken zunächst den Aktionskünstler suchten, der sich in der Tiefe des Raums hingestreckt hatte und durch einen Schleiervorhang nur in Umrissen sichtbar war. Carlo Morwitz ergriff das Mikrofon und begrüßte die Anwesenden, während Kauz seinen Platz einnahm, von dem aus er auf ein Stichwort agieren sollte. Morwitz verlieh seiner Freude Ausdruck, dass so viele seiner Einladung gefolgt waren. Sein Museum breche ganz bewusst die altbekannten Strukturen auf, um ein größeres Ganzes zu schaffen, das die Betrachtung der Kunst zu einem lustvollen Erlebnis werden lasse. Es sei weltweit eines der ersten ­Museen, das nicht mehr auf der Rekonstruktion von Geschichte aufbaue, sondern die Kunstwerke in einen neuen dialogischen Zusammenhang stelle. Das Wesen des Kunstwerkes und die ästhetische Wahrnehmung träten in den Vordergrund. Es solle im positiven Sinn aufregen und aufrütteln, stutzig und nachdenklich machen. Dann kam er auf den Aktionskünstler ­Ganymed von Schmoizz zu sprechen, der sich selbst als Gesamtkunstwerk bezeichne. Ganymed hatte bisher in einer Galerie in Bozen und in Basel unter beträchtlichem Aufsehen durch Publikum und Medien seinen Körper präsentiert. Wer die Ausnahmeerscheinung des Künstlers begreifen wolle, brauche mehr als nur Mut zum Voyeurismus, behauptete Morwitz. Schmoizz stelle sich nicht dar, er stelle sich zur Disposition und fordere somit eine Stellungnahme ein. Er spiele keine Rolle, habe keine Maske, die er zu Hause ablegen könne. In seiner Nichtinszenierung jedoch liege die Irritation des Publikums. Dann bat der Museumsdirektor die Umstehenden noch um Aufmerksamkeit für den Untertitel, auf den der Künstler besonders hinzuweisen gebeten hatte, und verlas ihn: „Ganymed von Schmoizz begeht fünf Jahre ohne Sex und gibt einer breiten Öffentlichkeit die Möglichkeit, Versäumtes nachzuholen.“ Da hörte man aus dem Auditorium ein eigenartiges Geraune, das einerseits Neugier, andererseits lustvollen Abscheu verriet. Der Museumsdirektor gab durch eine rasche, aber elegante Bewegung ein Zeichen, daraufhin raffte Kauz den Schleiervorhang zur Seite.

Rücklings, auf einem filzigen grauen Kotzen hatte sich Ganymed von Schmoizz ausgebreitet. Die Arme hatte er von sich gestreckt und die feisten Schenkel lagen gespreizt. Er war vollständig nackt, und seine Nacktheit wurde noch dadurch betont, dass sein Körper keinerlei Behaarung aufzuweisen schien. Um ihn herum im Kreis verstreut lagen Kondome, Gummihandschuhe, Peitschen und andere befremdliche Utensilien. Nach einem Augenblick der Stille brauste es aus der Menge in einer Mischung von Ekel und Lüsternheit, auch Gelächter war zu hören, ein unfrohes, gepresstes Gekecker. Morwitz lud die Gesellschaft mit einer höflichen Armbewegung ein, näher an den Kotzen heranzutreten, sodass man den Unbekleideten, der seinen Blick gegen die Decke gerichtet hatte und seine Umgebung anscheinend nicht wahrnahm oder nicht wahrzunehmen beschlossen hatte, genau betrachten konnte. Der Direktor beugte sich mit einem Lächeln zu seinen Begleiterinnen und schien sie aufzufordern, näher zu treten. Manche der mondänen Damen, die nun herantraten und ihren Hals vorstreckten, hielten sich die Hand vor Mund und Nase, als ströme das Kunstwerk zusätzlich zu seiner unwahrscheinlichen Hässlichkeit auch einen Gestank aus. Kecker waren naturgemäß die jungen Leute, die sich ohne Scheu und grinsend über den Körper beugten.

Hier also lag ein Mann, dessen gewaltiger Bauch sich wie ein riesiger teigiger Fladen um seinen Rumpf legte und auch sein Geschlecht wie ein Schurz bedeckte und verbarg. Der schiefe Mund mit den wulstigen Lippen war halb geöffnet, sodass man teilweise die kräftigen Zähne sah; die Haare sträubten sich in langen Strubbeln und gaben seinem Gesicht einen beinahe medusenhaften Ausdruck. Hätten nicht seine Brüste mit den dunklen Brustwarzen dem Körper einen Akzent gegeben, wäre man wohl an die Unterseite einer riesenhaften Kröte erinnert gewesen. Es war aber ein Mensch, der hier lag und sich zur Verfügung stellte. Als Morwitz zu merken schien, dass sich die Stimmung des Publikums gegen die Aktion zu wenden drohte und Abscheu oder auch Hilflosigkeit sich breitmachten, die auch ihm zu gelten schienen, griff sich seine Schwester mit beiden Händen an den Kopf und taumelte. Bevor Kauz die Wankende auffangen konnte, wurde sie von Julian Horn, einem in der Nähe befindlichen ehemaligen Freund des Hauses, der das Geschehen beobachtet haben musste und der jedoch bei Morwitz in Ungnade gefallen war, gestützt und weggeführt. Morwitz war so in seine Inszenierung vertieft, dass er dem Vorfall keine Aufmerksamkeit schenkte, was Kauz, der sich an Julian Horns Stelle wünschte, erstaunte; nun nahm Carlo sein Äffchen von der Schulter, flüsterte ihm etwas ins Ohr und ließ es zu Boden. Daraufhin begann das Tierchen um den Liegenden herumzuspringen, zuerst zaghaft und wie spielerisch, dann kräftiger an seinen Haarsträhnen zu zerren. Schließlich schwenkte es kreischend ein Haarbüschel, das ihm gelungen war dem Aktionskünstler, der bisher keine Miene verzogen hatte, auszureißen. Es kletterte über den Bauch des Kunstwerks, hinterließ darauf Abdrücke, die nach kurzer Zeit wieder verschwanden, zerrte an der Wamme über dem Geschlecht, sodass etwas von der blonden Schambehaarung sichtbar wurde. Ganymed begann seinerseits Laute auszustoßen, die etwas Brunsthaftes hatten und die in manchem Zuschauer einen Ekel verstärkten, aber in anderen Begierden weckten. Dass sich Letztere in der Mehrzahl befanden, erkannte Kauz an den geröteten Gesichtern der Umstehenden, die sich nun immer näher, laut atmend, herandrängten. Schließlich feuerten die Nächststehenden das Tier mit Zurufen an, und der kleine Kobold zwickte den Ausgestellten in seine feisten gespreizten Schenkel, sprang immer wieder auf Ganymeds Bauch, der sich elastisch wie ein Trampolin erwies, wobei Ganymeds geöffnetem Mund ein Fauchen entfuhr. Tootoo spielte mit seinen Brustwarzen, strich ihm mit seinem langen, geringelten Schwanz über das Gesicht, tätschelte seine Wangen, zerrte an seinen dicken Lippen, drückte ihm schmatzend Küsse auf seinen Mund, biss ihn scherzhaft in die Nase. Schließlich suchte es unter dem fleischigen Bauch nach dem Geschlecht des Gesamtkunstwerks, kroch mit seinen Ärmchen unter die Wamme und kraulte das Schamhaar, federte dann wie ein Bällchen auf und ab und zwitscherte vor Vergnügen.

Im Hintergrund hatte sich, von den Besuchern unbemerkt, eine Jazzkapelle aufgestellt. Auf ein Zeichen des Museumsdirektors begann die Combo Tiroler Volkslieder zu improvisieren. Kauz, dessen Vorfahren mütterlicherseits aus dem Zillertal stammten, erkannte das Andreas-Hofer-Lied in einer Jazzversion. Das Saxophon intonierte, das Schlagzeug fiel ein. Der Klarinettist schmiegte sich ans Saxophon. Das brachte die Menschen in Hochstimmung, sie leerten hastig ihre Sektgläser und stopften sich die letzten Häppchen in den Mund. Die ersten Beherzten fassten nun auch nach den Haaren des Künstlers und rissen daran, andere drängten sich herbei, um ihm auf den Bauch zu klatschen, eine junge Frau mit grünen Stachelhaaren beugte sich über ihn und kitzelte seine Fußsohlen. Eine elegante Dame im besten Alter und im Gucci-Outfit ergriff sogar die Peitsche, es war eine schlanke Reitgerte, und schlug zuerst zag-, bald aber recht herzhaft auf das Gesamtkunstwerk ein, das daran offensichtlich Gefallen fand, denn es ruderte mit seinen Armen, winkelte seine Beine ab, streckte sie wieder, als würde es einen Lauf durch die Luft probieren. Dass durch seinen aufgerissenen Mund schrille Laute ausgestoßen wurden, konnten nur die Nächststehenden hören, denn Saxophon und Schlagzeug der Combo übertönten sie. Diese Szene, manche behaupteten später, sie sei geplant gewesen, wurde zum Höhepunkt des Happenings und führte zu einer generellen Erregung der Anwesenden. Kauz beobachtete mit einiger Besorgnis die Entwicklung und seinen Chef, der jedoch gelassen und aufmerksam wie ein Impresario das Geschehen überwachte. Die Mondäne hatte so offensichtlich Gefallen am Auspeitschen Ganymeds gefunden, dass die weiteren Anwärter für eine Auspeitschung, die sich nun herandrängten, für den Augenblick chancenlos waren. Gerade rechtzeitig gelang es dem Vorsitzenden des Fördervereins für das Neue Museum, an den Ausgepeitschten, dessen Bauch schon rote Striemen zeigte, heranzukommen, die erhitzte Frau zu ergreifen und aus dem Gewühl zu schaffen. Sie leistete keinen Widerstand, warf nur einen erstaunten und irgendwie traumverlorenen Blick auf ihren Mann. Das Gesicht des Ehemannes, dem die Schamröte im Gesicht brannte, gab Carlo den Hinweis, dass der Zeitpunkt, an dem die Szene zu kippen und zu einem unappetitlichen Bacchanal auszuufern drohte, erreicht war und er es beenden musste. Nicht, dass er Bacchanalien gegenüber abgeneigt gewesen wäre, im Gegenteil, aber er vergaß nicht, dass er der Direktor des Museums war, der seinen Besuchern zwar einen Kitzel, er nannte es einen „emotionalen Dialog“, bieten wollte, der sich jedoch stets einem ausgeklügelten Ritual verdankte, über das er selbst die Kontrolle behalten musste. Er nahm sein Äffchen, das die Peitschenhiebe mit munteren Gesten begleitet hatte, wieder auf seine Schulter, flüsterte ihm etwas ins Ohr, signalisierte der Kapelle, sie möge aufhören zu spielen, was auch augenblicklich geschah. Durch den unerwarteten Interruptus trat eine sekundenlange Stille ein, und der junge Mann, der zuletzt die Peitsche in Händen hatte, legte das Utensil hastig, wie ertappt, auf den grauen Filz zurück. Kauz atmete erleichtert auf. Die Menschen kamen wieder zu sich, schlüpften rasch zurück in ihre Rolle als kultivierte Besucher und waren doch, und das merkten sowohl Kurt Kauz wie auch Carlo Morwitz, in ihrem Inneren aufgestört. Letzterer wandte sich nun noch einmal an die Anwesenden: „Meine sehr verehrten Damen, meine sehr geehrten Herren, wenn Sie die Aktion verstehen wollen, müssen Sie bedenken, dass der Kampf, den Ganymed von Schmoizz auf seine exhibitionistische Weise führt, nicht nur ein Kampf um die Erfüllung hedonistischer Fantasien ist; vielmehr geht es bei dieser Aktion generell auch um die Frage: Kann das“, er wies mit einer theatralischen Geste auf den Liegenden, „wirkliche Kunst sein?“ Er machte eine Pause und fasste die Umstehenden scharf ins Auge. „Die Anziehungskraft“, fuhr er fort, „welche der Anblick des Hässlichen auf die Grausamkeitswollust ausübt, fällt als reale Gefühlserregung keineswegs, ich betone: keineswegs, außerhalb des ästhetischen Gebiets. Das heißt mit anderen Worten, dass ein Kunstwerk erst dann ein Kunstwerk ist, wenn es den Betrachter emotionalisiert. Wenn es dem Betrachter geistige Freiräume eröffnet. Was also ist ästhetisch relevant? Ist es eine Kunst, die uns unerschüttert lässt? Die keinen emotionalen Dialog erlaubt? Brauchen wir eine solche Kunst? Oder brauchen wir eine Kunst, die uns Selbsterfahrungen gewährt, eine Kunst, unter der wir zusammenzucken wie unter einem Peitschenschlag, die uns aufwühlt und uns einen Blick in die eigenen Abgründe gewährt? Also Sensationen, die wir durch Ganymed von Schmoizz erleben dürfen?“

Die Besucher applaudierten erhitzt. Der Kunsthistoriker Kurt Kauz ließ auf ein Zeichen seines Chefs den Vorhang aus schwarzem Voile vor dem Liegenden herunter, sodass sich die Menge allmählich zerstreute, wobei Kauz von seinem Standpunkt aus noch auf der Straße diskutierende Grüppchen ausmachen konnte. Der Museumsdirektor war noch eine Weile von Journalisten und einem Kamerateam des lokalen Fernsehsenders umringt. Kauz hielt sich so lange im Hintergrund. Als sich die Reporter entfernt hatten, ging Morwitz strahlend auf Kauz zu. „Na, habe ich Sie überzeugt? Ohne Risikobereitschaft kann man keinen Erfolg haben.“ Kauz antwortete: „Das war allerdings knapp. Es hätte auch schiefgehen können. Ich gratuliere.“

„Na, dann kommen Sie“, sagte Morwitz, „wir müssen den Erfolg doch feiern“, und Kauz folgte ihm ins Maritim, wo man sich mit dem Bürgermeister, dem Kultusminister, dem berühmten Kulturphilosophen Robert Balz, dem Bankier Alfons Unschlitt und dem Direktor der Landmaschinenfabrik Max Fortsatz zu einem mitternächtlichen Umtrunk verabredet hatte. Später stieß auch noch Dr. Muxner, der Vorsitzende des Förderkreises, zur Runde und ließ sich zu seiner mutigen Frau beglückwünschen. Carlo umarmte ihn und versicherte ihm, dass die Peitsche in der Hand seiner Frau dem Happening erst den richtigen Kick verliehen habe und dass ihm auch Ganymed versichert habe, er habe besonders Frau Muxners Engagement genossen.

Die Runde ließ den Museumsdirektor hochleben, und vor allem der Direktor der Landmaschinenfabrik und der Bankier versprachen, dass er sich wegen weiterer finanzieller Zuwendungen für geplante Aktionen keine Sorgen zu machen brauche. Auch Professor Robert Balz dankte Carlo Morwitz ausdrücklich für das Erlebnis, das ihm frische Gedanken und Ideen für seinen neuen Essay über die Intermedialität des emotionalen Dialogs mit dem Kunstwerk generell gegeben hätte. Der Kultusminister schließlich bekundete seinen Stolz auf das Aufblühen einer neuen Hochkultur in der Stadt, die das Gespräch mit allen Schichten der Stadtbevölkerung aufzunehmen imstande war. Bevor die Geselligkeit in ein Besäufnis ausuferte, verdrückte sich Kauz, den das Happening in eine trübe Stimmung versetzt hatte; er zog es vor, sich allein zu betrinken.

Die Ausstellung war für die Dauer von zwei Wochen geplant, während dieser Zeit lag Ganymed während der Öffnungszeiten unbeweglich auf dem Kotzen. Er konnte sich über mangelnde Aufmerksamkeit nicht beklagen, wenn auch die Stimmung nie mehr so mitreißend wurde, dass jemand Hand an ihn zu legen wünschte. Zumal ihn die meisten Besucher wie einen weißen Hirsch bestaunten und von Kauz und Hasso Wirth, den beiden Kunsthistorikern des Museums, als Artefakt erklärt bekamen, worunter der emotionale Dialog ein wenig litt.

2

Viktor Escher pflegte im Salon sein Frühstück einzunehmen. Er liebte es, mit Blick auf Cosima, seine Frau, und Rossettis Lady Lilith seinen Tee zu trinken und dabei die Acht-Uhr-Nachrichten zu hören. Als seine Haushälterin die obligaten Croissants brachte und Escher ein weiches Ei für seine Frau bestellte, ließ ihn eine Meldung aus dem Radio aufhorchen. Auch Marie blieb wie angewurzelt auf dem Weg in die Küche stehen. Der Direktor des Neuen Kunstmuseums Dr. Carlo Morwitz, der erst seit zwei Jahren die Leitung des Museums innehatte, ist heute früh von einem Wärter im Beuys-Saal des Kunstmuseums tot aufgefunden worden. Ein Gewaltverbrechen wird vonseiten der Kriminalpolizei nicht ausgeschlossen.

„Tot!“, rief Viktor Escher aus. „Hörst du, Cosima? Tot! Hören Sie, Marie? Ein Gewaltverbrechen wird nicht ausgeschlossen!“ Er war aufgesprungen und begann zu lachen. „Hörst du, Cosima, ein Mord wird nicht ausgeschlossen“, wiederholte er. Marie war am Tisch stehen geblieben und schaute den hysterisch Lachenden mitleidig an.

„Herr Doktor, das war ja zu erwarten gewesen, nicht wahr? Das überrascht uns doch nicht.“

„Doch, das überrascht mich, Marie, das überrascht mich sehr. Vergessen Sie das weiche Ei für meine Frau nicht, trotz der Nicht-Überraschung.“ Er kicherte. Das Telefon klingelte, Marie hob ab. Escher besaß kein Handy, denn er fand, dass nur ein Domestik überall und jederzeit erreichbar sein müsse.

„Herr Dr. Wirth möchte Sie sprechen.“ Marie brachte ihm den Apparat. „Er sagt, es sei dringend.“

„Hasso“, rief Escher, „das ist ja eine Nachricht!“ Er schlug sich auf die Schenkel. „Weißt du was Näheres?“ Er lauschte gespannt in den Hörer. „Ermordet! Sogar grausam ermordet! Er ist grausam ermordet worden“, sagte er zu Cosima, die ihre schmalen Hände neben dem Teller liegen hatte, und zu Marie gewandt: „Grausam! Und ermordet! Ich komme, ja, ich komme sofort.“ Er sprang vom Tisch auf. „Sie können abservieren. Bringen Sie meine Frau in ihr Zimmer, ziehen Sie ihr das rote Kleid an, Sie wissen schon, das mit den Brüsseler Spitzen am Oberteil und dem tiefen ­Dekolleté.“

„Verzeihen Sie, Herr Doktor, Sie sollten damit aufhören, wirklich, Herr Doktor. Jetzt wäre es Zeit, dieses Spiel zu beenden“, sagte Marie mit eindringlichem Ernst, als sie die Puppe vom Stuhl nahm und sich über die Schulter legte.

„Vielleicht haben Sie recht, Marie“, er warf einen nachdenklichen Blick auf das lebensgroße Geschöpf, das noch einen seidenen cremefarbenen Morgenmantel trug und dessen Arme und Kopf mit den rotblonden Locken über die Schulter der Haushälterin hingen. „Dennoch, Marie, vergessen Sie nicht: das rote Kleid!“

Das Kunstmuseum war großräumig von der Polizei abgeriegelt worden. Die Menschenmenge zu sehen, die die Absperrung nicht durchbrechen durfte und doch gespannt und mit einer, wie Escher in den Gesichtern zu lesen glaubte, lustvollen Spannung auf neue Nachrichten wartete, erregte auch ihn. Er hörte, wie sie sich zuraunten: Er liegt immer noch im Beuys-Saal. Ja, sie lassen alles so, wie sie es vorgefunden haben, solange die Spurensicherung nicht abgeschlossen ist. Morgen, so hört man, bringen sie ihn in die Gerichtsmedizin. Dort erst werden sie die genaue Todesursache feststellen können. Und eine DNA-Analyse wird auch gemacht, rief einer aufgeregt. Das kann aber dauern, war eine weibliche Stimme zu hören. Es ist eine Schande für die Stadt, ereiferte sich ein älterer, soignierter Herr, unser Museumsdirektor in seinem eigenen Museum ermordet! Man ist heutzutage nirgends mehr sicher, bemerkte eine Dame.

Escher zwängte sich durch die Menschenansammlung. Er war auf dem Weg zu Dr. Hasso Wirth. Wirth arbeitete wie gewöhnlich im Archiv des Volkskundlichen Museums, das dem Kunstmuseum angegliedert war und dessen Eingang außerhalb der polizeilichen Absperrung lag. Seit beinahe zehn Jahren war er mit einer Arbeit über den fast vergessenen Künstler und Naturforscher Gabriel von Max beschäftigt. Hier hockte er, umgeben von dicken, verstaubten Folianten und von Vitrinen, in denen die Sammlungen seines Forschungsobjekts ausgebreitet lagen. Der Raum hatte kein Fenster. Das kalte Licht der Leuchtstoffröhren überzog die Gesichter mit einer kränklichen Blässe. Dennoch schien sich der Kunsthistoriker hier wohl zu fühlen. Er hatte sich offenbar gerade mit einer Lupe über die mumifizierte Leiche eines Affen gebeugt, denn als Escher anklopfte und auf sein „Herein!“ den Raum betrat, musste er sich erst aus seiner gebückten Haltung erheben, dann aber stürzte er erregt auf ihn zu. „Gut, dass du da bist. Wir müssen uns unbedingt verständigen.“ Er nötigte den Besucher, Platz zu nehmen.

„Können wir nicht woanders hingehen, ich ersticke zwischen deinen Folianten und Affenskeletten“, stöhnte Escher. Er hatte den Raum nicht so düster in Erinnerung.

„Setz dich, bitte, nein, hierhin.“ Wirth zerrte einen Hocker unter einer Vitrine hervor, aus der ihn ein Affenschädel angrinste. Auch Wirth nahm sich einen Stuhl und ließ sich darauf nieder, seine Hände zitterten, doch gleich darauf richtete er sich wieder auf, als wollte er zu einer Rede vor einem größeren Auditorium ansetzen, der ehemals weiße Arbeitskittel spannte sich über seinem Bauch, die spärlichen dunklen Härchen zitterten auf seinem Schädel wie feine Antennen: „Der Direktor des Neuen Kunstmuseums, mein Chef“, wiederholte er genüsslich mit einem gewissen Pathos, „Dr. Carlo Morwitz, ist heute früh von unserem Wächter tot aufgefunden worden.“ Er machte eine Kunstpause.

„Hingerichtet“, ergänzte er, „abgeschlachtet.“

„Abgeschlachtet?“, fragte Escher verwundert. „Wie soll man sich das vorstellen? Woher willst du das wissen?“

„Ich habe meine Quellen“, feixte er, „Herr Simm war so freundlich.“ Er setzte sich wieder. Seine Hände zitterten nun nicht mehr, und auch sein Gesicht entfärbte sich wieder.

„Der Wärter? Nun, der muss es ja wissen. Wie ich sehe, bist du erschüttert“, sagte Escher, obwohl er weniger eine Erschütterung an ihm wahrnahm, eher ein begreifliches Entsetzen und eine Unsicherheit, wie sich die Tatsache, dass sein Vorgesetzter ermordet worden war, auf sein berufliches Leben auswirken würde.

„Natürlich, erschüttert“, sagte Hasso, „das auch.“ Er musterte Escher unsicher. „Stell dir vor, Morwitz hat meinen Vertrag nicht verlängert. Drei Tage vor seinem Tod ließ er mich kommen und sagte, es täte ihm leid, er könne meinen Vertrag nicht verlängern. Das war genau eine Woche nach dem Ende der Performance Verfügungspermanenz. Die Vernissage endete mit einem Skandal, wie du wahrscheinlich weißt.“

Escher zuckte mit den Schultern: „Ein Skandal? Davon habe ich nichts gehört. Hat ihm auch anscheinend nicht geschadet.“

„Im Gegenteil, es gab einen Besucherrekord“, sagte Wirth, „aber ist das kein Skandal, wenn die Frau des Vorsitzenden des Förderkreises eigenhändig ein sogenanntes Gesamtkunstwerk auspeitscht?“

„Aber das war doch intendiert, soviel ich gelesen habe“, sagte Escher.

„Dennoch: die Frau des Vorsitzenden des Förderkreises, eine Dame!“, rief Wirth überrascht über Eschers Gleichgültigkeit. „Eine Honoratiorin! Wenn das um sich greift, dass im Museum ausgepeitscht wird!“

„Na ja“, sagte Escher, „das spielt auch keine Rolle mehr. Dieses Museum ist für mich sowieso hinüber. Aber du wolltest etwas anderes erzählen. Etwas von deinem Vertrag.“

„Drei Tage vor seinem Tod ließ mich Morwitz kommen, warf mir vor, dass ich mit meinen Forschungen nicht vorankäme, und außerdem seien sie für die heutige Zeit irrelevant. Ich hätte einen falschen Ansatz, behauptete er. Gab mir keine Gelegenheit, mich zu verteidigen. Irgendwie muss er erfahren haben, dass ich seine Bilderstürmerei nicht gutgeheißen habe. Und ich auch seine letzte Performance, diese bodenlose Geschmacklosigkeit, mit diesem sogenannten Gesamtkunstwerk aus den Dolomiten fluchtartig verlassen habe. Das waren seine eigentlichen Gründe. Nicht, dass ich nicht vorwärtskam mit meiner Forschung, im Gegenteil, ich bereite eine umfangreiche Publikation vor, in der ich schlüssige Beweise liefere, dass Gabriel von Max ein Vorbereiter des Expressionismus war. Auch das Konzept für eine Ausstellung habe ich bereits erarbeitet. Dass ohne Gabriel von Max Franz Marc nicht zu denken ist, kann ich zweifelsfrei belegen. Aber exakt drei Tage vor seinem Tod hat Morwitz zu mir gesagt, Wirth, ich brauche Sie nicht mehr. Er sagte auch etwas von Geldern, die für mein Forschungsprojekt nicht mehr zur Verfügung stünden. Wenn Sie einverstanden sind, sagte er, beurlaube ich Sie sofort. Ihr Gehalt bekommen Sie noch bis Ende des Jahres, das ist mein Entgegenkommen. Sie brauchen nicht mehr zu erscheinen. Machen Sie Urlaub. Fahren Sie mit Ihrer Frau ans Meer oder nach Abano. Er wollte mich in Schlamm packen, dieser Unmensch, in Abano sollte ich ins Schwitzen kommen, dabei habe ich unter seiner Leitung wahrhaftig genug geschwitzt. Ihre Arbeit hat für mich und das Museum keine Relevanz mehr. Keine Relevanz mehr!“ Wirth schrie es heraus. „Und dann hat er mich angegrinst, unverschämt angegrinst, du kennst sein breites Grinsen, das eigentlich nur ein Zähneblecken ist, und sein Affe hat angefangen zu zwitschern und auf dem Schreibtisch herumzuhopsen und mir Kusshändchen zuzuwerfen. Brav, Tootoo, du weißt, was sich gehört, sehen Sie, sie verabschiedet sich von Ihnen, ist sie nicht charmant? Ich weiß nicht mehr, wie ich aus dem Zimmer gekommen bin, ich hatte weiche Knie, denn darauf war ich nicht gefasst gewesen. Du weißt doch, dass Morwitz immer ein besonderes Interesse an Gabriel von Max wegen seiner Beziehung zu den Affen gehabt hat. Deshalb fühlte ich mich sicher, dass ihm meine Forschungen wichtig waren.“

„Aber du hast doch weniger die Beziehung des Malers zu den Affen erforscht, sondern mehr die zur Klassischen Moderne“, wandte Viktor Escher ein, „soviel ich weiß.“

„Beides“, sagte Wirth, „beides. Zugegeben, die Affen traten in letzter Zeit ein wenig in den Hintergrund. Aber da gibt es noch viel aufzuarbeiten. Ich fange gerade wieder damit an. Er hat mir nämlich die Schlüssel nicht abverlangt, obwohl er sagte, ich brauche nicht mehr zu erscheinen. Ich kam dann auch die Tage nicht mehr, ich wollte tatsächlich wegfahren, einfach den Kopf freibekommen, nicht nach Abano, sondern nach Wangerooge, aber meine Frau wollte nicht mit mir verreisen, die Kinder, die Schule, ihr Job in der Erwachsenenbildung, verstehst du, also blieb auch ich zu Hause und überlegte, was nun aus mir und meiner Familie werden sollte. Aber als ich heute hörte, dass er tot ist, dass das Scheusal tot ist, bin ich schnurstracks hierhergeeilt, habe einfach meine Arbeit wieder aufgenommen und dich angerufen.“

„Sehr aufmerksam von dir“, sagte Escher, „ich hatte es gerade im Rundfunk gehört. Hast du auch etwas Schriftliches, dass dein Vertrag nicht verlängert wird?“

„Eben nicht! Das ist ja meine Chance. Möglicherweise hat er meinen Hinausschmiss noch nirgends schriftlich niedergelegt. Aber vielleicht hat er ihn doch schon in meiner Personalakte vermerkt. Ich muss gestehen, ich hätte ihn umbringen können oder ihm zumindest meine Faust in diese arrogante Fresse hauen, als er sagte, meine Arbeit hätte keine Relevanz. Und diese Äffin, dieses dressierte Maskottchen, auch sie hätte ich erwürgen können.“

„Verständlich“, grinste Escher. „Vielleicht hat es Morwitz gar nicht ernst gemeint, vielleicht hat er dir nur gedroht, dich zum Zittern bringen wollen. Du weißt doch, er hatte es gerne, wenn die Leute vor ihm zitterten. Oderint dum metuant war doch sein Wahlspruch. Es machte ihm nichts aus, wenn er gehasst wurde, Hauptsache, man fürchtete ihn.“

„Meinst du?“, fragte Hasso, „glaubst du? Dann könnte ich ja auf jeden Fall noch bleiben. Vielleicht könnte ich den Nachfolger für mein Projekt gewinnen. Ein Nachfolger muss ja auch gefunden werden. Kannst du dir denken …“

Obwohl auch Eschers Herz in Gedanken an einen potenziellen Nachfolger hoffnungsvoll schlug, sagte er mit einem Augenzwinkern: „Lieber Freund, selbst wenn der Papst gestorben ist, darf über seinen Nachfolger erst spekuliert werden, wenn er begraben ist, offiziell jedenfalls.“

„Entschuldige, natürlich, entschuldige, ich bin ganz durcheinander. Dieser furchtbare Mord. Simm, der Wärter, erzählt von Messerstichen. Von einem Blutbad im Saal der Französischen Symbolisten, das heißt, wo früher die Symbolisten hingen, jetzt befindet sich dort ja nur mehr der Fettstuhl aus dem Jahr 1963 von Joseph Beuys, den Morwitz vor zwei Jahren bei einer Auktion in London für eine horrende Summe ersteigert hat. Das hat damals auch überregional erhebliches Aufsehen erregt. Mir wurde zugetragen, dass er dafür einige Bilder aus dem Magazin verkauft haben soll, unter der Hand, versteht sich. Das wird nun möglicherweise auch ans Tageslicht kommen“, sagte Hasso.

„Weißt du Näheres darüber?“

„Es wird halt gemunkelt. Morwitz zitierte ja gerne einen seiner Vorgänger, der gesagt haben soll: Was das Museum sich aber bestimmt nicht leisten kann, ist dieses: abzuwarten, bis die Situation moderner Kunst sich geklärt hat. Denn das hieße, dem Museum den Kopf abschlagen.“

„Nun hat man dem Museumsdirektor den Kopf abgeschlagen“, sagte Escher, beglückt über sein Bonmot.

„Nein“, widersprach Hasso, „soweit mir bekannt ist, ist der Kopf noch dran.“

„Aber erstochen?“, fragte Escher.

„Erstochen wurde auf jeden Fall sein Affe“, antwortete Hasso, „sagt Simm.“

„Und Carlo selbst?“ Escher ließ nicht locker. „Warum macht man ein Geheimnis um seinen Tod? Und ausgerechnet im jetzigen Beuys-Saal!“

„Exakt an der Stelle, an der früher Moreaus Die Erscheinung hing, hörte ich von Simm“, sagte Wirth, „und wo jetzt der Fettstuhl steht. Ausgerechnet an dieser Stelle!“, rief er aufgebracht. „Erinnerst du dich an diesen Moreau? An den schrecklichen abgeschlagenen Kopf des Johannes? Er strahlt und blutet. Mit den kleinen dunkelpurpurnen Kieseln an den Spitzen des Bartes und des Haares. Davor steht Salome. Sie streift mit ihrem düsteren Blick weder die Herodias, die an ihren endlich gestillten Hass denkt, noch den Tetrarchen, der, etwas vorgebeugt, die Hände auf den Knien, keuchend dasitzt und wahnsinnig betört ist durch die Nacktheit dieses jungen Körpers, den man sich von wild aufregenden Wohlgerüchen, von Weihrauch und Myrrhen umduftet vorstellen muss.“ Hasso schnaubte.

„Schön gesagt“, antwortete Escher. „Das Bild ist eine von zahlreichen Donationen meines Vaters. Ich bin damit aufgewachsen, es hing bei uns im Salon. Mit meinem Einverständnis hat er es dem Kunstmuseum geschenkt. Ich dachte, ich könne es auf diese Weise der Öffentlichkeit und zugleich auch mir zugänglich erhalten.“