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Eine Thrillerkomödie mit viel Wortwitz und voller skurriler Überraschungen
Sommer, Sonne, Sylt – doch die Idylle trügt. Plötzlich prallen hier zwei Welten aufeinander: junge, zu allem entschlossene Klima-Aktivist*innen und die chillende Schickeria. Als die ersten Umweltsünder sterben, ist klar, dass die Gruppe »Letzte Tage« dafür verantwortlich gemacht werden soll. Nur zwei Menschen sehen das anders: Mia, die ältere Schwester einer jungen Hauptverdächtigen, und Fred, ein lässiger Lebenskünstler. Sie glaubt nicht an die Schuld ihrer kleinen Schwester, er hat sich in Mia verguckt und weicht ihr nicht von der Seite. Die Ermittlungen der beiden – zwischen Schampus in Kampen und Farbspritzaktionen in Westerland – werden heiß: nicht nur, weil der Bodycount steigt, sondern auch, weil es zwischen Mia und Fred heftig knistert ...
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Seitenzahl: 204
Tatjana Kruse
Schöner sterben auf Sylt
Eine Krimödie
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5048.
© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024
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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildungen: FinePic®, München
eISBN 978-3-458-77979-7
www.suhrkamp.de
Für Lars
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Kapitel 1. Sylt tritt auf, Garstig tritt ab.
Kapitel 2. Fred flutscht in die Fluten, Mia motzt gegen die Möwen an.
Kapitel 3. Kell ermittelt, Jorgensen auch.
Kapitel 4. Fred föhnt ein Kleid, Mia bittet um Hilfe.
Kapitel 5. Kell isst ein Fischbrötchen, Jorgensen reihert das Hafenbecken voll.
Kapitel 6. Mia wird zur Amazone, Fred friert.
Kapitel 7. Fred fängt an, Bruns hört auf.
Kapitel 8. Frau Bruns sucht ihren Sohn, Herr Kell findet ihn.
Kapitel 9. Fred kauft was Warmes, die Kopelke liegt flach.
Kapitel 10. Fred hamstert, Hubertus fehlt, Jasmin plaudert.
Kapitel 11. Das Meer spuckt aus, der Wind wirbelt weg.
Kapitel 12. Fred gibt den Beichtvater, Hubertus heult – aber nicht mit dem Wind um die Wette, sondern fette Tränen.
Kapitel 13. Fred blamiert sich, Kell schnappt sich einen Killer.
Kapitel 14. Broder Petersen geht aufs Trockendock, Kell gönnt sich eine Mütze voll Gefühl.
Epilog. Mia verliebt sich, Fred hat da schon die Namen der Kinder ausgesucht.
Danksagung
Informationen zum Buch
Schöner sterben auf Sylt
Sehnsuchtsort Sylt – die Insel gibt es wirklich, aber selbstverständlich sind die Handlung und alle handelnden Personen frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden, realen Personen wäre rein zufällig.
Sylt tritt auf, Garstig tritt ab.
Was macht eine Leiche eine Stunde, vierzehn Minuten und zweiunddreißig Sekunden, bevor sie zur Leiche wird?
Sie flucht!
»Herrschaftszeiten!«, brüllte Robert Garstig – der Name war Programm – am Steuer seines nigelnagelneuen SUV. »Reißt diesen Bratzen doch einfach die Hände vom Asphalt! Haut wächst nach!«
Sylt – das ist kein Ort, das ist ein Gefühl. Ein Gefühl, zu dem man hinreisen kann. Was in einem Sommer wie diesem alle Welt zu gern tat: Stadtmenschen, Landeier, Inländer, Ausländer, Familien, Singles, Wasserratten, Sonnenanbeter, Frühaufsteherinnen, Nachteulen, Oligarchen, Habenichtse, tamilische Separatisten, kolumbianische Freiheitskämpferinnen und diverse Überlappungsindividuen mit ein bisschen was von allen.
An diesem Tag auch Robert Garstig. Leider, möchte man sagen.
Er hatte sich in Niebüll mit einem selbst für seine Verhältnisse gewagten Vordrängelmanöver den vordersten Platz auf der Autofähre nach Sylt gesichert, damit er sofort losbrausen konnte, wenn in Westerland die Sperrkette gelöst wurde.
Aber jetzt ging's nicht weiter.
Und warum ging's nicht weiter?
Weil irgendwelche kleinen Scheißer sich als Klimakleber betätigen, anstatt die Schulbank zu drücken. Lasst sie doch einfach kleben, dachte er, dann sehen sie schon, was sie davon haben!
Trotz seiner höhergelegten Warte im SUV konnte Garstig die ›Scheiß-Kleberlinge‹, wie er sie nannte, nicht sehen. Eine Bahnmitarbeiterin in oranger Schutzweste hatte ihm und den anderen hinter ihm erklärt, weshalb es zu dieser Verzögerung kam.
Hätte er freien Blick gehabt, dann hätte er gesehen, dass es sich mitnichten um Kinder handelte, sondern um junge Erwachsene. Alt genug, um legal Alkohol zu trinken. Was aber keiner von ihnen tat. Festgeklebte achten sehr darauf, keine Toilettengänge zu provozieren. Die ja nicht möglich waren. Und wer nässt sich schon gern vor den Kameras der versammelten Weltpresse ein?
Wobei in diesem Moment nur der Vertreter der Sylter Rundschau zugegen war. Und der würde erst Fotos schießen, wenn Action geboten werden sollte. Danach sah es aber derzeit nicht aus. Die anwesenden Schutzpolizisten warteten in aller Seelenruhe. Die übliche Mischung aus Aceton und Speiseöl, mit denen man die Aktivisten und -innen gemeinhin vom Asphalt löste, war schon aufgetragen und würde in circa dreißig Minuten wirken. Und die Aktivistinnen und Aktivisten skandierten ausnahmsweise nicht – zwei von ihnen waren erkältet und heiser, und die anderen beiden hatten keine Lust, weil sie in dieser Woche bereits in Flensburg und Husum mit vollem Körpereinsatz protestiert hatten und heute nur hier waren, weil nicht alle in ihrer Gruppe wirklich engagiert Einsatz zeigten und sich zwei ›total kurzfristig‹ abgemeldet hatten. Dreimal in einer Woche – das ging so was von auf die Haut!
Garstig schnaubte und sah auf seine Armbanduhr. Einen Schweizer Echtgoldchronometer im Wert einer Viertelmillion, mit dem man auch im Marianengraben oder auf dem Gipfel des Mount Everest die Atomuhrzeit angezeigt bekam. Er schnaubte erneut.
»Die Polizei ist schon vor Ort. Es kann nicht mehr lange dauern«, hatte ihm die schutzbewestete Bahnmitarbeiterin versichert. Etwas blauäugig, wie sich zeigte.
Garstigs Handy klingelte.
»Was?«, meldete er sich genervt.
»Garstig? Hier Müller.«
Ein Allerweltsname. Dennoch musste Müller nicht näher ausführen, um welchen Müller es sich in seinem Fall handelte. Spätestens nach seiner nächsten Ansage war es ohnehin klar: »Wir haben ein Problem in der Nordsee.«
»Dann lösen Sie es!«, bellte Garstig.
Ihm gehörten mehrere große Entsorgungsfirmen, spezialisiert auf das Beseitigen von Sonder- und Gefahrmüll. Europaweit galt: Wann immer ein Unternehmen sich etwas entledigen wollte, an das sich niemand herantraute, rief man bei Garstig an. Also, nicht bei ihm – bei seinen Subalternen. Wie Müller einer war.
»Es ist aber so …«, holte Müller aus.
»Sehe ich so aus, als würden mich Details interessieren?«, brüllte Garstig. So laut, dass sogar die Polizisten und die Klimakleber in Richtung Zug schauten. Die Frage war rhetorischer Natur, da es sich nicht um einen Facetime-Anruf handelte, konnte Müller ihn ja nicht sehen.
Garstig brummte, schon etwas leiser: »Rufen Sie mich gefälligst erst wieder an, wenn Sie das Problem im Griff haben. Und wenn Sie es nicht in den Griff bekommen, sparen Sie sich den Anruf, dann sind Sie nämlich gefeuert!«
Er beendete das Gespräch. Es hatte gutgetan, den Frust der zwangsverordneten Warterei mal eben schnell an einem seiner leitenden Angestellten auszulassen. Da war aber noch Rest-Frust.
Dabei hatte er es theoretisch nicht eilig. Niemand wartete auf ihn, es war ein Spontanausflug. Er wollte zwei Tage nichts weiter, als mit seiner Geliebten und mit seinen neuen Golfschlägern spielen. Und sich vielleicht noch im Haus um Kleinkram kümmern, wie die defekte Kameraanlage oder den allzu laut röhrenden Filter im Pool.
Garstigs Geduldsfaden bestand nur aus einer kurzen Lunte. Einer wie Garstig wartete nicht. Auf nichts und niemanden. Oder wie er in Meetings mit ausländischen Geschäftspartnern gern auf Englisch zu sagen pflegte: »I am a doer, not a waiter.« Womit er sagen wollte, dass er ein Mensch der Tat war, keiner, der wartet. Und sich dann wunderte, warum alle verstohlen grinsten, weil das in wörtlicher Übersetzung nämlich ›Ich bin ein Tatmensch, kein Kellner‹ hieß.
Garstig ließ das Seitenfenster hinunter und sah sich zu der Bahnangestellten um. Sie war jedoch zu weit weg, um sie anschreien zu können.
Garstig hmpfte.
Er tastete sein Sakko nach den Tabletten ab, die ihm sein Therapeut verschrieben hatte. Selbstverständlich begab sich einer wie Garstig nicht freiwillig in die Hände eines ›Psychofritzen‹. Das Antiaggressionstraining war ihm vom Gericht aufgebrummt worden, als er vor drei Monaten – übrigens in einer ganz ähnlichen Situation – ein Parkwächterhäuschen umgefahren hatte. Nicht nur umgefahren. Mehrfach zurückgesetzt und drübergerollt, bis es platt wie eine Flunder und sein Auto Schrott war. Alles in körnigem Schwarz-Weiß von der Überwachungskamera festgehalten. Deswegen hatte er jetzt einen neuen SUV. Und einen Therapeuten.
Garstig drückte auf dessen Kurzwahlnummer.
»Ich brauche Nachschub an Ihren Beruhigungs-Bonbons«, bellte er, als sich Psychotherapeut Gernfried König meldete.
»Aber Herr …«
»Stellen Sie mir das Rezept aus und lassen Sie es meiner Sekretärin zukommen«, unterbrach Garstig. »Heute noch!«
Man musste es König zugutehalten, dass er sich nicht so leicht einschüchtern ließ. Auch nicht von einem, der hochwirksame Benzodiazepine wie zuckerfreie Fischermannfreunde einwarf. »Herr Garstig, der chemische Ansatz bei Ihrer Aggressionsbewältigung ist nur für …«
Weiter kam er nicht.
»ICH SAGTE: REZEPT! UND ZWAR SOFORT!«, blökte Garstig und beendete die Verbindung.
König, der auf der Toilette seines Hotelzimmers saß, weil er in dieser Woche seinen längst überfälligen Urlaub genommen hatte, schloss sein Klapphandy und dachte bei sich, dass Garstig keinen Therapeuten brauchte, sondern einen Exorzisten. Dennoch ging er gleich darauf zum Schreibtisch und stellte das Rezept aus. Um nur einen der Gründe für seine Willfährigkeit zu nennen: Garstig war schweinereich und hatte überall Connections – mit so einem verdarb man es sich besser nicht.
Derweil kletterte Garstig aus seinem Wagen und schritt auf die Absperrkette zu. Wenn er seinen SUV in elegantem Racing Green nicht erst vorgestern geliefert bekommen hätte, wäre er einfach losgedüst, aber das Auto – ein Prototyp, der im freien Handel noch gar nicht erhältlich war – hatten noch nicht alle seiner Golffreunde gesehen. Es sollte vorerst keinen Kratzer abbekommen.
»He, hallo«, rief die Bahnmitarbeiterin von hinten. »Lassen Sie das!«
Garstig zeigte ihr den Stinkefinger, stieg wieder in den Wagen und fuhr los.
Die Bahnmitarbeiterin, eine echte Sylter Deern namens Bente, seufzte. Dass man ihre Heimatinsel in vielen Kreisen für einen Tummelplatz der superreichen Durchgeknallten hielt, tat ihr nachgerade körperlich weh. Für dieses Kleinod der Nordsee mit seinem Duft nach Salz und Dünen, seinen magischen Sonnenuntergängen und seinen Schafen – von denen es immer noch mehr gab als Menschen – war die hohe Promi- und Geldsack-Dichte mehr Fluch als Segen. Fand Bente. Der SUV-Typ war der personifizierte Fluch. Na, soll er doch, dachte sie. Weit kommt er nicht.
Garstig trat aufs Gas.
Er bog auf die Rampe ein und rollte zügig auf die Klimaklebertruppe zu, die wenige Meter vor der Rampenabfahrt immer noch mit dem Asphalt festgebacken war. Was einer der Streifenbeamten – Polizeianwärter Kevin Häfelein – just in diesem Moment austestete. Er versuchte, die Hand einer jungen Frau zu lösen, konnte aber nur den Ballen anheben konnte, nicht die Finger. Als er das Motorengeräusch hörte, sah er auf.
»Was zum Teufel?!«
Garstig war mit den genauen Ausmaßen seines neuen SUV noch nicht wirklich vertraut, aber das sah er doch auf einen Blick, dass er an diesen Spinnern vorbeikam, wenn er einfach seitlich aufs schmale Grün ausscherte. So weit es eben ging, ohne die Absperrung zu touchieren. Und wenn er dabei einem dieser jungen, woken Alles-Verneiner über den Fuß fuhr, auch egal. Seine Anwälte waren Kummer gewöhnt und würden ihn schon raushauen. Notfalls würde er behaupten, sein Therapeut hätte ihm versehentlich Aufputsch- statt Beruhigungsmittel verschrieben. Entsprechende Zeugen ließen sich immer kaufen.
Aber die Füße der Aktivisten hatten Glück – Garstigs SUV passte millimetergenau zwischen Sohle und Absperrung.
»Umweltschwein!«, rief eine der Klimakleberinnen. Sie trug eine regenbogenfarbenbunte Regenjacke und schwenkte das handgemalte Schild in ihrer Hand – Klimawandel: Es ist nicht fünf vor zwölf, es ist fünf nach zwölf! Die Dinos dachten auch, sie hätten noch Zeit! »Das wirst du bereuen!«
Polizeianwärter Häfelein notierte sich das Kennzeichen des SUV. Das wird Folgen haben, dachte er bei sich. Aber als die Anzeige wegen Verkehrsgefährdung einige Tage später an Garstigs erstem Wohnsitz eintraf, war der längst tot.
So weit war es jetzt aber noch nicht. Garstig fühlte sich nie lebendiger, als wenn er etwas Verbotenes tun konnte.
Mit einem triumphierenden »Ha!« brauste er über die Keitumer Chaussee. Werktags in der Nebensaison konnte man tatsächlich Glück haben und relativ schleunig fahren. Zumal wenn man es nicht ganz genau nahm mit der Straßenverkehrsordnung.
»Kampen, here I come!«, sang Garstig. In der Stimmlage Bassbariton.
Er freute sich weniger auf Kampen als auf das, was dort auf ihn wartete. Seine beiden Lieblingshobbys – die zwei großen G: Golfen und Geschlechtsverkehr. Wann immer er auf Sylt war, frönte er beidem leidenschaftlich.
Mit einem Handicap von -36 war Garstig ein guter Golfer. Und auch seine Bettgespielinnen gaben ihm exzellente Bewertungen in Sachen Kunstfertigkeit und Ausdauer. Ersteres zählte für ihn mehr, weil er dafür wirklich Leistung bringen musste. Golfen war teuer, aber nicht käuflich. Im Gegensatz zu Frauen.
Auf Sylt hielt er sich seine Zweitfrau Vana. Nicht jünger oder hübscher als seine Hauptfrau Nessi, aber deutlich abenteuerlustiger in der Horizontalen.
Natürlich konnte sich nicht einmal ein Multimillionär wie Garstig offiziell zwei Frauen halten. Aber inoffiziell ging das schon. Er hatte eine Hauptfrau in Hamburg für alle Anlässe rund um seinen Auftritt als Unternehmer und eine Nebenfrau auf Sylt für ihn als Mann. Und der große Vorteil: Beide hießen Vanessa. Das machte es deutlich einfacher als früher, wo er all seine Gespielinnen einfach »Schatzi« nennen musste, um jedweden Lapsus zu vermeiden. Aus irgendeinem Grund reagierten Frauen megaempfindlich, wenn man sie beim Koitus mit dem falschen Namen bedachte.
Die Nessi in Hamburg zickte in letzter Zeit, das taten Frauen nach dem dreißigsten Lebensjahr oft. War zumindest Garstigs Erfahrung, weshalb er auch gut verstand, warum Leonardo di Caprio es gar nicht erst so weit kommen ließ und der Filmstar seine Freundinnen bereits mit 25 in Rente schickte.
Seit fast zwei Wochen war Garstig bei Nessi nicht mehr zum Zug gekommen. Darum war er jetzt so richtig rattig. Gut, dass er sich zwei Tage freinehmen konnte, um sich mit Vana mal wieder so richtig auszutoben. Ein bisschen Cardio war echt nötig.
Golfen würde voraussichtlich nicht möglich sein.
Garstig hob den Blick kritisch zum Himmel, der zunehmend eingraute.
Trotz Nebensaison war die L24 wie immer voll. Er kam kaum schneller voran als der Bus. Das nervte.
Nach zwei gewagten Überholmanövern – sollte er den Lappen verlieren, würde er sich eben wieder mal einen Temporär-Chauffeur leisten – fuhr er in Kampen ein.
Er bog erst rechts und dann links ab und rollte anschließend auf die von Kugel-Eiben gesäumte Auffahrt zu seiner Reetdachvilla. Für zehn Millionen kein Schnäppchen, aber dafür mit einem Haupt- und einem Nebenhaus sowie einem Indoorpool mit griechischen Säulen. Ursprünglich hatte er für sein Gespielinnen-Wochenendhaus auf der Insel nicht so tief in die Tasche greifen wollen, aber die Immobilienpreise in Kampen schraubten sich ungebremst immer weiter in die Höhe. Die Eingeborenen – wie Garstig sie zu nennen pflegte –, die schon vor Jahrzehnten ihr Elternhaus für sechsstellige Beträge an Schickimicki-Interessenten verschachert hatten, bissen sich jetzt bestimmt vergrätzt in den Allerwertesten. Er freute sich über diese Vorstellung. Wenn das so weiterging, konnte er das Anwesen in ein, zwei Jahren mit sattem Gewinn wieder veräußern. Bis dahin hatte er dann zweifelsohne auch genug von Vana.
Links von ihm wohnte ein bekannter Fußballtrainer, rechts ein umstrittener Fernsehmoderator und gegenüber ein in die Jahre gekommener Schlagersänger. Die waren allesamt so gut wie nie da und vermieteten auch nicht. Garstig gefiel es, quasi für sich zu sein.
Er stellte den Wagen in dem ebenfalls reetbedachten Carport ab, schnappte seine Reisetasche und drückte auf den Knopf, der die Kofferraumtür aufgleiten ließ. Die Golfschläger würde er gleich holen. Erst drängte es ihn in die Fliesenabteilung.
Zügig schritt er zum Haupteingang.
»Vana-Baby«, rief er in der Lobby und ließ die Tasche mit lautem Knall auf den italienischen Marmorboden fallen. »Ich bin da-a!«
Gleich rechts neben dem Eingang befand sich eine der vier Gästetoiletten. Garstig erleichterte sich. Die Hände wusch er sich natürlich nicht.
»Vana!«, rief er, als er wieder in den Flur trat.
Dann fiel ihm ein, dass er ihr zwar bei seiner Abfahrt in Hamburg eine Textnachricht geschickt, sie aber darauf nicht geantwortet hatte.
Vanessa zwo half – wenn er nicht auf Sylt war – gelegentlich in einer hippen Designer-Boutique in Westerland aus. Sie hatten aber fest ausgemacht, dass sie sofort alles stehen und liegen ließ, sobald er sich ankündigte.
In Garstig wallte erneut Frust auf.
»Vana!«, rief er und lief die große Freitreppe in den ersten Stock hinauf. Nein, im Schlafzimmer war sie auch nicht. Manchmal erwartete sie ihn auf dem übergroßen Bett liegend. In der teuren französischen Unterwäsche, die er so an ihr liebte. An ihr – und an sich. Manchmal schlüpfte er auch hinein. Danach mussten die Sachen allerdings entsorgt werden, weil französische Designerdessous nicht aus Stretch-Material gefertigt waren und folglich an seinem stattlichen Männerkörper aus den Nähten platzten.
Er sah auf sein Handy. Dutzende Textnachrichten, aber alle geschäftlich, keine von ihr.
Er rief in der Boutique an.
»Ist Vanessa da?«, blökte er, als sich eine zarte Frauenstimme meldete.
»Äh … wer spricht denn da?«
»Ich will nur wissen, ob Vanessa heute arbeitet.« Für zwischenmenschliche Höflichkeiten fehlte Garstig die Geduld.
»Nein. Sie hat heute frei.«
Garstig beendete die Verbindung. Wenn sie frei hatte, dann musste sie hier sein.
»VANA, VERDAMMT!«
Festangestelltes Personal hielt er sich hier nicht. Jeden zweiten Morgen kam eine Putzfrau, die die Villa von oben bis unten durchfeudelte. Und draußen patrouillierten stündlich zwei Männer einer Sicherheitsfirma über das Grundstück. Garstig fand, das war genug.
Er stammte aus einfachsten Verhältnissen und hatte sich zum Multimillionär hochgeboxt. Er fürchtete weder Tod noch Teufel, nur eines: irgendwann wieder arm zu sein. Das hatte eine gewisse Knausrigkeit zur Folge. Womit er seinen Reichtum nach außen hin deutlich demonstrieren konnte, dafür ließ er immer Geld springen. Aber zu Hause mussten seine Vanessas selbst anpacken: kochen, spülen, Wäsche waschen, bügeln. Das Haus und sich selbst in Schuss halten, das war deren Aufgabe.
»Vanessa!«
Garstig stapfte die Treppe wieder nach unten.
Auf der vorletzten Stufe hörte er es. Ein Plätschern. Ein großflächiges Plätschern. Es kam vom Pool.
Die Villa hatte sechs Schlafzimmer – vier im Haupthaus und zwei im Nebenhaus. Verbunden waren die Häuser von einem nachträglich angeflanschten, gläsernen Zwischenbereich, in dem sich der Pool befand. Garstigs bester Freund, Honorarkonsul Hans-Herwig von Dölpen, hatte die Installation scherzhaft als ›Wintergarten mit säulenumrahmter Pfütze‹ bezeichnet. Danach hatte Garstig ihm sechs Monate lang keine seiner zehn Dauerkarten für die Hamburger Elphi in 1-a-Sitzlage überlassen.
»Vana?« Die Glastür zum Poolbereich stand weit offen.
Es war aber niemand zu sehen. Weder Vana noch die Putzfrau. Und auch niemand von der Securityfirma, die ohnehin nur das Anwesen, nicht das Innere des Hauses bewachen sollte.
Garstig schürzte unzufrieden die Lippen und kratzte sich im Schritt.
Er ahnte nicht, dass soeben seine letzte Lebensminute angebrochen war. Die Unzufriedenheit war somit ein Charakter-Manko, keine angemessene Reaktion auf eine zufriedenheitsraubende Gesamtsituation. Garstig war einfach gern unzufrieden.
Gern unzufrieden und garstig. Das hätte auf seinen Grabstein gemeißelt gehört, nicht das Robert Garstig – Er bleibt unvergessen, das seine Anwaltskanzlei nach seinem Ableben bei einem Steinmetz in Auftrag gab. Inhaltlich war das korrekt, Garstig würde allen, die je in Kontakt mit ihm gekommen waren, in Erinnerung bleiben – nur halt nicht positiv.
Niemand vergoss auch nur eine Träne um ihn.
Womöglich hätte Garstigs Mutter geweint, aber die war schon lange tot. Vana und Nessi weinten selbstverständlich ein paar Krokodilstränen, aber das war allein dem Umstand geschuldet, dass sie nicht in Garstigs Testament vorkamen und ihr Luxusleben mit seinem Abgang ein Ende hatte. Und da Garstig nicht mal einen Hund hatte, war wirklich niemand traurig angesichts seines Dahinscheidens.
Das nicht freiwillig erfolgte.
Er hörte ein Rascheln und drehte sich um.
»Hallo?«, brummte Garstig. Er hätte die Haustür schließen sollen, dachte er, aber hier in Kampen fühlte man sich sicher. Es gab ja überall Überwachungskameras und Security-Leute, die ihre Runden drehten.
Darum war Garstig auch kein bisschen besorgt. Nur angefressen. Weil man fremde Häuser nicht betrat, ohne sich irgendwie anzukündigen.
»Hallo? Ist da wer?«, bellte er ungnädig.
In diesem Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit jedoch abgelenkt. Aus den Augenwinkeln nahm er durch die riesigen Panoramascheiben des Poolbereichs draußen auf der Straße eine Bewegung wahr. Etwas Blau-Weißes radelte vorbei. Es war das Letzte, was Garstig in diesem Leben sah. Er dachte noch, dass die Villa dringend eine mannshohe Hecke benötigte, da wurde auch schon seine Schläfe mit einem wuchtigen Schlag zerschmettert.
Hirnmasse quoll heraus.
Garstigs Garaus erfolgte durch einen Golfschläger.
Einer seiner neuen Luxus-Golfschläger in Racing Green. Genauer gesagt, das Dreier-Eisen mit hochmoderner Impact-Technologie.
Passte eigentlich ganz gut.
Hätte Garstig bestimmt gedacht, wenn er da noch hätte denken können.
Mit Gewitter, Starkregen und Windböen muss gerechnet werden.
Fred flutscht in die Fluten, Mia motzt gegen die Möwen an.
»Bicycle, bicycle, bicycle, domm domm domm domm domm domm domm domm«, sang Fred, fröhlich radelnd.
Den Text zum Queen-Song hatte er nicht memoriert, sehr wohl aber die Melodie. Wann immer er – meist gegen Mittag, manchmal später, nie früher – aus süßem Schlummer erwachte und in seinen maßgefertigten, blau-weiß gestreiften, viktorianischen Schwimmanzug für Herren schlüpfte, um an den Strand zu radeln und dort sein Morgenbad zu nehmen, diente ihm dieser Oldie-Hit als Tempo- und Stimmungsmacher.
Frederick Ragnar Mencksen der Fünfte, von allen nur Fred genannt – außer von seinem Vater, der Frederick zu ihm sagte, und man durfte noch froh sein, dass er das Ragnar weg ließ –, entstammte einer alten Hamburger Hanseatenfamilie. Seit seiner Urgroßmutter Daphne, jüngste Tochter eines US-Stahlmagnaten, deren erkleckliche Mitgift die Familie Mencksen Ende des vorvorigen Jahrhunderts aus einer äußerst prekären Lage rettete, wurden alle männlichen Erstgeborenen Frederick benamst. Nach Daphnes Vater Frederick Augustus Dunfermline. Eigentlich zutiefst unhanseatisch, diese chronologische Aufreihung der Stammhalter. Aber große Vermögen fordern nun mal große Opfer. Auch wenn jetzt schon klar war, dass Fred – sollte er jemals einen Jungen zeugen – diesen niemals Frederick nennen würde. Mit ihm war Schluss! Fünf fand er schon exzessiv – Familien mit Grips hörten bei »der Dritte« auf. Sie produzierten doch keine Päpste.
Prekär war es für Freds Familie seitdem nie mehr geworden. Im Gegenteil. Wenn Hanseaten über Geld reden würden, was sie nicht taten, würde manch einer angesichts des Reichtums der Mencksens mit den Ohren schlackern. Ihr Geschick in kommerziellen Dingen war legendär. Nur in eingeweihten Kreisen, versteht sich, nicht in der Öffentlichkeit. Auf der Liste der zehn wohlhabendsten Deutschen tauchte der Name Mencksen nicht auf. Absichtlich nicht.
Fred war seit hundert Jahren der Erste, dessen Interesse an allem Wirtschaftlichen gegen null ging. Kleiner gleich null, um genau zu sein. Eigentlich im dreistelligen Minusbereich. Und das, obwohl er seine Kindheit und Jugend – nach dem frühen Tod der Mutter – erst in einem süddeutschen Elite-Internat und später an einer elitären Finishing School in Gstaad verbracht und noch später, auf Wunsch des Vaters, an Elite-Universitäten im In- und Ausland Betriebswirtschaft und Finanzmanagement studiert hatte. Sogar mit Abschluss. Damit sah Fred allerdings seine Pflicht gegenüber der Familie als abgegolten. Zumal die Dynastie der Mencksens dank seines jüngeren Bruders Andreas nicht vor dem Ende stand: Dreas war gerade mal 25, hatte aber schon drei Firmen gegründet und einen Sohn gezeugt.
Ganz anders Fred. Ab dem Tag, als er sein Graduiertenkäppi der Uni Harvard zusammen mit Dutzenden anderer privilegierter Jungakademiker in die Luft warf, hatte Fred nur noch ein Ziel: sich treiben zu lassen. Er besaß keinen einzigen Funken Ehrgeiz. Am Leben zu sein reichte ihm schon. Wenn dazu noch eine Prise Exzentrik und Verrücktheit kam, umso besser.
Es half, dass er sich um Geld keine Sorgen machen musste. Dafür sorgte das Erbe seiner Mutter, über das er seit seinem 18. Lebensjahr verfügen konnte.
Und so kam es, dass er nun mit nicht ganz dreißig in einem maßgeschneiderten viktorianischen Badeanzug durch den Tag radeln konnte. Sorgenfrei und fröhlich.
»Moin!«, rief Fred dem Postboten zu und wackelte unter seiner Taucherbrille mit den Augenbrauen.
»Moin!«, rief der Postbote zurück. Und winkte. Alle mochten den stets gut gelaunten Fred.
Und alle hielten ihn für ein bisschen Banane.
Weil das nämlich nicht normal war, immer gute Laune zu haben. Und man auf Nordseeinseln für gewöhnlich nicht in lila Samtanzügen mit gelber Rüschenbluse herumlief wie die späten Beatles oder der frühe Austin Powers. Auch nicht in Ganzkörperbadebekleidung wie Kaiser Wilhelm anno dunnemals. Darum das einhellige Urteil der Einheimischen über Fred: sympathisch, aber schräg.
Dabei war die ungewöhnliche Art, sich zu kleiden, eine reine Schutzmaßnahme. Fred litt nämlich unter einem genetischen Defekt, wie er morgens zu scherzen pflegte, wenn er beim Rasieren vor dem Spiegel Selbstgespräche führte. Wo niemand außer ihm es hören könnte. Es hätte ihn nämlich niemand verstanden.