Schriftspracherwerb - Ulrich Mehlem - E-Book

Schriftspracherwerb E-Book

Ulrich Mehlem

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Beschreibung

Seit es institutionelle Formen der Erziehung gibt, stellt der Zugang zur Schriftsprache eine zentrale Aufgabe der Schule dar. Schreiben und Lesen sind für die persönliche Bildung und Emanzipation, aber auch für die gesellschaftliche Handlungsfähigkeit und berufliche Qualifizierung eine unverzichtbare Ressource, die möglichst bei allen Kindern entsprechend ihrer individuellen Lernvoraussetzungen zur Entfaltung gebracht werden soll. Der Schriftspracherwerb in der Grundschule umfasst basale Lesekompetenz ebenso wie Rechtschreibung und Einsichten in die Funktionen geschriebener Sprache. Das Buch erläutert wichtige Entwicklungsschritte beim Erlernen des Lesens und (Recht-)Schreibens im Vor- und Grundschulalter und bezieht hierbei auch mehrsprachige Kinder mit ein. Wie Kinder am besten lesen und schreiben lernen, ist bis heute Gegenstand von Kontroversen, die sich in unterschiedlichen Methoden der Gestaltung des Anfangsunterrichts widerspiegeln. Die unterschiedlichen didaktischen Ansätze im Anfangsunterricht werden vom Autor betrachtet und diskutiert.

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Lehren und Lernen

Herausgegeben von Andreas Gold, Uta Klusmann, Cornelia Rosebrock und Rose Vogel

Begründet von Andreas Gold, Cornelia Rosebrock, Renate Valtin und Rose Vogel

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

     https://shop.kohlhammer.de/lehren+lernen

Der Autor

Prof. Dr. phil. Ulrich Mehlem war bis 2022 Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Literalität und einwanderungsbedingte Mehrsprachigkeit an der Goethe-Universität Frankfurt.

Ulrich Mehlem

Schriftspracherwerb

Theorie und Praxis für den Anfangsunterricht in der Grundschule

Verlag W. Kohlhammer

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Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2024

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-021583-2

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-043541-4

epub:     ISBN 978-3-17-043542-1

Geleitwort

Die nationalen und internationalen Schulleistungsstudien haben die unterrichtsbezogene Lehr-Lern-Forschung in hohem Maße stimuliert und spürbare Innovationen im gesamten Bildungssystem bis hinein in die konkreten unterrichtlichen Praktiken mit sich gebracht. Rund um das Lehren und Lernen hat sich eine interdisziplinär verstandene Empirische Bildungsforschung etabliert, die zu einem besseren Verständnis der Lehr-Lern-Prozesse und zu einer nachhaltigen Förderung individueller Lernpotenziale beizutragen vermag. Die Erziehungswissenschaft, die Fachdidaktiken und die Pädagogische Psychologie sind daran beteiligt. Nun geht es darum, die wissenschaftlichen Erkenntnisse empirischer Forschung für die pädagogische Praxis nutzbar zu machen.

Lehren und Lernen, wissenschaftlich basiert betrieben, kann nur durch das Zusammenspiel pädagogischer, psychologischer, fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Theorien und Befunde befriedigend erklärt, gesteuert und optimiert werden. In der pädagogischen Praxis kann keine Lerntheorie ohne Bezug auf eine konkrete Inhaltsdomäne und keine Lehrmethode ohne Bezug auf ein Curriculum und jeweils individuelle Lernvoraussetzungen erfolgreich sein.

Die je eigenen Perspektiven und Erkenntnisse der Psychologie, der Pädagogik und der beiden schulisch zentralen Fachdidaktiken Mathematik und Deutsch sollen in den einzelnen Bänden dieser Reihe verständlich und kompakt zu einem kohärenten Gesamtbild zusammengeführt werden. Neben der Interdisziplinarität liegt ein besonderer Wert auf einer empirischen Fundierung: Erfahrungswissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse zum Lehren und Lernen liegen den jeweiligen Darstellungen zugrunde. Schließlich fokussieren alle Bände der Reihe den Anwendungsbezug: Die entfalteten Themen, Diskurse und Fachgebiete sind jeweils unmittelbar bedeutend für Kindergarten, Schule und Unterricht.

Die vorliegende Reihe adressiert das Lehren und Lernen vom Vorschul- bis zum jungen Erwachsenenalter. Konzipiert ist sie für (zukünftige) Lehrende, aber auch für Pädagoginnen und Pädagogen sowie Psychologinnen und Psychologen in weiteren Anwendungsfeldern im Bildungssystem. Auch für die Fort- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern sind die Bände gedacht.

Nach mehr als zehn Jahren Mitherausgeberschaft ist Renate Valtin (Berlin) im Dezember 2021 ausgeschieden. Die Herausgeber bedanken sich bei ihr und begrüßen Uta Klusmann (Kiel), die ihren Platz eingenommen hat.

Andreas Gold, Uta Klusmann, Cornelia Rosebrock & Rose Vogel

Inhalt

Geleitwort

1         Einleitung

2         Schriftspracherwerb und Literalität

2.1       Die kommunikativen, kognitiven und grammatischen Aufgaben des Schriftspracherwerbs

2.2       Merkmale der gesprochenen und geschriebenen Sprache

2.3       Kommunikative Merkmale der ›konzeptuell‹ schriftlichen Sprache

2.4       Strukturelle (grammatische) Eigenschaften der geschriebenen Sprache

2.5       Kategorienraster zur Einordnung von Texten

2.6       Schriftsprachliche Kompetenzen im Überblick

2.7       Aufgaben

3         Schriftsystem und orthographische Strukturen des Deutschen

3.1       Das phonologische Prinzip

3.2       Das silbische Prinzip

3.3       Das morphologische Prinzip

3.4       Zwischenbilanz: Basis- und Orthographeme

3.5       Das syntaktische Prinzip

3.6       Aufgaben

4         Erwerbsprozesse beim Lesen und Schreiben lernen

4.1       Erwerbsprozesse im Vorschulalter

4.2       Der Erwerb basaler Lese- und Schreibkompetenzen

4.3       Aufgaben

5         Diagnostik der Rechtschreib- und der basalen Lesekompetenz

5.1       Standardisierte Messung der Rechtschreibkompetenz

5.2       Verfahren zur Analyse der Rechtschreibung freier Schülertexte

5.3       Fehleranalyse in Schülertexten

5.4       Messung der basalen Lesekompetenz

5.5       Neuere empirische Forschung zur orthographischen Kompetenz

5.6       Aufgaben

6         Lesen und schreiben lernen im mehrsprachigen und mehrschriftigen Kontext

6.1       Geringerer Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund und der Beitrag des Schriftspracherwerbs

6.2       Systematik des mehrsprachigen Schriftspracherwerbs

6.3       Aufgaben

7         Die Didaktik des Schreibens und Lesens in der Grundschule

7.1       Lehrgangsorientierte Fibeln

7.2       Offene Ansätze des Schreiben- und Rechtschreiblernens

7.3       Silbenanalytische Methode und Silbenfibeln

7.4       Aufgaben

8         Elemente eines adaptiven und kognitiv aktivierenden Rechtschreibunterrichts

8.1       Didaktisch-methodische Differenzierung

8.2       Gelegenheiten zu kognitiver Aktivierung

8.3       Aufgaben

9         Fazit

10      Lösungen der Übungsaufgaben

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

1        Einleitung

Schreiben und lesen zu lernen gehört neben den grundlegenden mathematischen Kompetenzen zu den zentralen Aufgaben der Grundschule. Auch wenn die Lernbereiche in einigen neueren Ansätzen der Grundschuldidaktik eher den »tradierten schulfächernahen Fähigkeiten und Fertigkeiten« zugeordnet oder als »elementare Techniken« (z. B. Knauf, 2009, S. 56) bzw. Kulturtechniken gegenüber höheren Kompetenzzielen etwas relativiert wurden, steht ihre Bedeutung für die spätere gesellschaftliche Handlungsfähigkeit und Teilhabe nicht in Frage. Dabei grenzt sich der neuere Begriff des Schriftspracherwerbs von der älteren Vorstellung des Erstlesens und Erstschreibens in mehrfacher Hinsicht ab:

1.  Es wird ein Bezug zum Erwerb der gesprochenen Sprache hergestellt. Dessen intensive Erforschung seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat zwar nach wie vor zu konkurrierenden Theorien, aber darüber hinaus auch zu der übergreifenden Erkenntnis geführt, dass die kognitiven Prozesse der Lernenden ihrer eigenen bewussten Planung und Kontrolle nur teilweise zugänglich sind. Lernen bzw. Erwerb1 wird als aktiver Konstruktionsprozess verstanden, bei dem die Lernenden sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen und sich deren Strukturen schrittweise, über mehr oder weniger angemessene kognitive Konstrukte und Schemata, erschließen. Die didaktischen Angebote von Lehrkräften und anderen Bezugspersonen müssen diesem Verständnis von Lernen Rechnung tragen.

2.  Dieser Bezug zum Spracherwerb leugnet keineswegs die Notwendigkeit einer besonderen institutionellen Rahmung, die der Schriftspracherwerb durch die Schule in allen schriftorientierten Gesellschaften erfahren hat. Der Umfang und die Komplexität des gesellschaftlich notwendigen Wissens sind in diesen Gesellschaften in einem solchen Ausmaß gestiegen, dass dessen Aneignung neben der lebensweltlichen Beteiligung oder der direkten Unterweisung durch einen Lehrer bzw. einen Meister einen eigenständigen Zugriff auf dieses Wissen in geschriebener Form voraussetzt. Über den geschriebenen Code schnell und sicher verfügen zu lernen, ist daher die Aufgabe einer besonderen gesellschaftlichen Institution, der Schule. Beschleunigung der Wissensvermittlung betrifft also nicht nur die generelle Vermittlung von Lerninhalten, sondern auch den Erwerb des entsprechenden Mediums selbst, das wie das Betriebssystem eines Computers beim Booten komplexerer Lernprogramme vorausgesetzt wird.

3.  Beim Schriftspracherwerb wird zunächst weder zwischen Lesen und Schreiben als besonderen Teiltätigkeiten unterschieden noch zwischen Leseverstehen, Rechtschreibung, Textproduktion und Handschreiben als spezifischen Praktiken, deren Zusammenwirken überhaupt erst den Umgang mit Schriftsprache ausmachen. Damit fällt auch eine in der Grundschulpraxis lange hochgehaltene Überzeugung weg, vor dem Erlernen der Orthographie müsse zuerst das lautorientierte Schreiben gelernt werden.

4.  Als letzte der alten Wahrheiten entfällt auch die scharfe Trennung zwischen bloßem Erlernen des Lesens und Schreibens als Technik und der späteren Anwendung dieser Technik beim tatsächlichen Lesen und Schreiben von Texten. Um die kommunikative Funktion des Lesens und Schreibens zu verstehen, müssen Lesen und Schreiben von vornherein in sinnvolle Handlungen eingebettet werden.

Während die Bedeutung der Textkompetenz beim Lesen und Schreiben lernen durch die internationalen Schulvergleichsstudien in das Bewusstsein weiter Kreise eingedrungen ist, was sich auch an großen Initiativen der Forschungs- und Unterrichtsentwicklung wie BISS (Bildung durch Sprache und Schrift)2 exemplarisch niedergeschlagen hat, stand die Rechtschreibung bei der öffentlichen Diskussion der Bildungspolitik einige Zeit eher im Hintergrund.

Einen ersten Impuls zur Diskussion der Entwicklung der Rechtsschreibkenntnisse bei Schüler*innen in einem längeren Zeitraum (1972 bis 2002) gab eine Studie von Wolfgang Steinig und Mitarbeitern (Steinig et al., 2009). Durch die Gegenüberstellung der Rechtschreibleistungen von 254 Kindern der Jahrgangsstufe 4, die 1972, und 276 Kindern, die 2002 zu einem Film einen Aufsatz schrieben, wurde deutlich, dass sich die Rechtschreibleistungen, die in der Fehlerzahl pro 100 Wörtern gemessen wurden, deutlich verschlechtert hatten: 6,94 Fehlern 1972 standen 12,26 Fehler 2002 gegenüber. Dabei zeigte sich 2002 eine viel stärkere Streuung der Fehlerzahlen als 1972, was auf starke Leistungsunterschiede schließen lässt. Der Unterschied zwischen den Leistungen ein- und zweisprachiger Schüler*innen, der nur für 2002 ermittelt wurde, ergab nochmals ein deutlich schlechteres Ergebnis von 14,92 der zweisprachigen gegenüber 11,36 bei den einsprachigen. In einer weiteren Studie, die noch Texte aus dem Jahre 2012 berücksichtigte (Steinig & Betzel, 2012), setzte sich dieser Trend mit durchschnittlich 16,95 Fehlern für alle Schüler*innen fort. Auch wenn das methodische Design der Studie und die Vergleichbarkeit der Schüler*innendaten in sozioökonomischer Hinsicht immer wieder problematisiert wurden, bleibt der Trend eines deutlichen Rückgangs der Rechtschreibleistung unstrittig.

Einen breiteren öffentlichen Widerhall löste ein Beitrag im SPIEGEL (Bredow & Hackenbroch, 2013) aus, der eine intensive Debatte nicht nur über die Bedeutung der Rechtschreibung selbst, sondern auch die Methoden ihrer Vermittlung im Anfangsunterricht der Grundschule angestoßen hat. Seine Hauptthese, dass der Rückgang der Rechtschreibkenntnisse an Grundschulen im Zusammenhang mit reformpädagogischen Methoden wie dem Spracherfahrungsansatz und dem Konzept »Lesen durch Schreiben« stünden, führte auch zu politischen Konsequenzen. In einigen Bundesländern wurde dieses Konzept explizit verboten. Ihren weiteren wissenschaftlichen Niederschlag fand die Debatte in einer Publikation des Grundschulverbandes (»Rechtschreiben in der Diskussion«, 2015, herausgegeben von Erika Brinkmann) und des Erich Schmidt Verlags 2016 (»Wie viel Rechtschreibung brauchen Grundschulkinder«, herausgegeben von Norbert Kruse und Anke Reichardt).

Mittlerweile liegen auch Forschungsergebnisse des IQB-Bildungstrends von 2011, 2016 und 2021 (Stanat et al., 2017; Stanat et al., 2022) vor. Deutschlandweit zeigt sich bereits 2016 eine signifikante Zunahme des Anteils der Schüler*innen, die den Mindeststandard im Bereich Rechtschreibung verfehlen, um 8 % (von 14 % auf 22,1 %). Diese Tendenz setzt sich – allerdings unter den besonderen Bedingungen der Corona-Pandemie – bis 2021 weiter fort: nun verfehlen 30,4 % den Mindeststandard.

Es ist daher verständlich, dass die Debatte um eine sinnvolle Ausrichtung des Schreib- und Leseunterrichts mit großer Heftigkeit geführt wird. Kruse & Reichardt (2016) sprechen von vier Positionen, die sich bei der Konzeption des Rechtschreibunterrichts in der Grundschule gegenüberstehen: 1. eine linguistisch-fachwissenschaftliche, 2. eine grundschulpädagogische, 3. eine pädagogisch-psychologische und 4. eine an einem übergreifenden Literalitätsbegriff ausgerichtete. Diese Positionen bilden aber keine wirklichen Gegensätze.

Um mit der letzten Position zu beginnen: Lesen und schreiben lernen sind selbstverständlich in eine Vielzahl von Praktiken eingebettet, die zu der literalen bzw. literarischen Sozialisation dazugehören. Ein Blick auf diese sprachlichen, kulturellen und sozialen Praktiken ermöglicht es erst, auch die Orthographie nicht als bloße Norm einzuordnen, sondern deren Funktion für das Lesen und Schreiben von Texten zu bestimmen. Diese Argumentation wird in Kap. 2 im Vordergrund stehen.

Wie jede Didaktik ist auch die Didaktik des Schriftspracherwerbs auf eine fachwissenschaftliche Fundierung angewiesen. Da sich diese weiterentwickelt hat, sollten diese Erkenntnisse auch fachdidaktisch genutzt werden. Durch die neuere Forschungsrichtung der Schriftlinguistik wurden auch einige Selbstverständlichkeiten der Didaktik des Lesens und Schreibens (Position 1) erschüttert. Von besonderer Bedeutung war die Erkenntnis, dass auch so etwas Willkürliches und Normatives wie die Rechtschreibung einen systematischen Kern hat, der – wie andere Disziplinen menschlicher Erkenntnis und Welterschließung auch – einer kognitiven Durchdringung zugänglich ist. Gute Lerner*innen zeigen, dass diese Systematik bei intensiver Auseinandersetzung mit geschriebener Sprache auch intuitiv erfasst werden kann. Die Aufgabe der Schule ist es aber, den Lerngegenstand mithilfe der Fachwissenschaft und Fachdidaktik so zu strukturieren, dass er auch unter weniger günstigen Bedingungen angeeignet werden kann.

Die Darstellung in Kap. 3 ist diesem Systemgedanken verpflichtet. Sie beginnt eher konventionell mit einem Überblick über das Phonem- und das Grapheminventar des Deutschen, greift aber in einem zweiten Schritt prosodische Aspekte der gesprochenen und geschriebenen Sprache auf und führt schließlich auch in die morphologische und syntaktische Fundierung der deutschen Orthographie ein.

Die reformpädagogischen Impulse zur Reform des Anfangsunterrichts (Position 2) verstanden sich lange Zeit – und teilweise immer noch – als Gegenmodell zur fachlichen Systematik und strengen Anwendung der Norm. Nach den Ergebnissen insbesondere der psychologischen und psycholinguistischen Forschung ist die Orientierung an den Lernenden conditio sine qua non einer erfolgreichen Didaktik und damit einigermaßen trivial. Sobald es aber gelingt, auch orthographische Lerngegenstände nicht mehr als bloßes Üben und Auswendiglernen, sondern als Erforschung sprachlicher Sachverhalte anzubieten, fällt das alte Vorurteil weg, beim Rechtschreiblernen würde außer dem Gedächtnistraining nichts Sinnvolles für die menschliche Weltaneignung geleistet (z. B. Dewey, [1916], 2011, S. 93f.). In den didaktischen Kapiteln wird diese Frage im Vordergrund stehen.

Voraussetzung dafür aber ist, dass die Erwerbsprozesse beim Schreiben- und Lesenlernen und die vielen Faktoren, die sie beeinflussen, in den Blick genommen werden. In Kap. 4 werden entsprechende Befunde zusammengetragen. Hierfür sind Ergebnisse der empirischen Forschung unverzichtbar, die, soweit möglich, auch mit Zahlen belegt werden. Mithilfe diagnostischer Verfahren können individuelle Lernstände relativ genau ermittelt werden Kap. 5.

Schließlich ist jede didaktische Konzeption darauf angewiesen, dass ihre Wirksamkeit empirisch überprüft wird (Position 3). Das Design von Interventionsstudien, das auch andere Variablen kontrolliert, ist in den letzten Jahrzehnten immer komplexer geworden. Gleichzeitig wurde der Faktor »Unterrichtsmethode« gegenüber einer Vielzahl weiterer Faktoren wie z. B. der Persönlichkeit der Lehrkraft und ihrer professionellen Kompetenz deutlich relativiert. Dennoch ist es wichtig, als Lehrkraft den Blick auch für empirische Fragen der Methodik zu schärfen und die Ergebnisse dieser Forschung kritisch zu reflektieren, um sie für die eigene Praxis nutzen zu können. Von hier aus ergeben sich Anhaltspunkte, um die Wirksamkeit bestimmter Unterrichtsansätze zu beurteilen Kap. 7 und 8.

Für ein richtiges Verständnis der Erwerbsprozesse des Lesens und Schreibens ist aber auch der Beitrag qualitativer Forschung in Rechnung zu stellen. Komplexe Phänomene wie Unterricht – etwa Rechtschreibunterricht – lassen sich nicht nur über ihren Output (bestimmte Schüler*innenkompetenzen im PRÄ-POST-Vergleich) erfassen. Was auch angehende Lehrkräfte oft viel mehr interessiert, ist die Art und Weise, wie durch Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden Lernprozesse in Gang kommen bzw. welche Anhaltspunkte es in der Interaktion selbst gibt, dass solche Prozesse stattfinden. Ein solcher qualitativer Zugang ergänzt notwendigerweise die quantitativen Studien. Besonders wenn es um eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte geht, die bei Schreibungen zusammenspielen, ist oft ein explorativer Zugang der einzige Weg, um Faktoren in den Blick nehmen zu können, die in einer zukünftigen Forschung vielleicht auch durch ein quantitatives Design genauer und verlässlicher ausgeleuchtet werden können.

Im Fokus eines Buchs über den Schriftspracherwerb in deutschsprachigen Ländern steht selbstverständlich das Deutsche. Die Verhältnisse von gesprochener Sprache und Schrift sind aber vielleicht auch deswegen so komplex, weil sie von Anfang an in einen mehrsprachigen Kontext eingebettet waren und immer noch sind. Das gilt bereits für die Entstehung unserer Orthographie aus dem lateinischen Alphabet, das an entscheidenden Stellen modifiziert werden musste, um den Bedürfnissen des Deutschen Rechnung zu tragen. Es gilt für den immer größer werdenden Komplex der Fremdwortschreibungen und die unterschiedlichen Grade ihrer sprachlichen und orthographischen Integration – Phänomene, die auch vor Grundschulkindern nicht mehr Halt machen. Es gilt aber vor allem für die stetig wachsende Zahl an Kindern, die nicht nur einen anderssprachigen, sondern auch einen andersschriftigen Hintergrund haben oder durch ihren Lernprozess im Deutschen nun auch ihre Erstsprache durch diese Schriftbrille sehen. Dieser Gruppe von Lernenden wird in diesem Buch in Kap. 6 besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Perspektive des Sprach- und Schriftvergleichs soll aber auch an anderen Stellen systematisch genutzt werden, um eben jene Schriftbrille bewusst zu machen, mit der Lehrkräfte auf ihre Sprache schauen, die aber ihre Schüler*innen sich erst über einen längeren Prozess hinweg aneignen müssen. Die Aufgaben am Ende der Kapitel bieten Gelegenheit, das Gelernte an ausgesuchten Materialien anzuwenden.

Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne meine langjährige Lehrtätigkeit in Frankfurt, wo ich seit 2015 die Chance hatte, die Vorlesung »Schriftsprachlicher Anfangsunterricht« jedes Jahr für Studierende der Grundschul- und Sonderpädagogik anzubieten. Ich danke zahlreichen Studierenden für ihre kritischen Fragen und Anregungen, auch in ihren Seminar- und Abschlussarbeiten. Besonders hervorheben möchte ich aber zahlreiche Kolleg*innen der Sprach- und Erziehungswissenschaft, die mit mir in den letzten 20 Jahren an den Universitäten Osnabrück, Bielefeld und Frankfurt in verschiedenen Projekten zum Schriftspracherwerb sowie zur Lese- und Sprachförderung zusammengearbeitet haben und von deren unterschiedlichsten Zugängen zum Thema ich lernen durfte. In alphabetischer Reihenfolge möchte ich nennen: Manuela Böhm, Michael Bommes, Katharina Brizić, Irene Corvacho del Toro, Anja Hackbarth, Ilonca Hardy, Esra Hack-Cengizalp, Jürgen Erfurt, Diemut Kucharz, Beate Lingnau, Birgit Lütje-Klose, Utz Maas, Mascha Mochalova, Guido Nottbusch, Helena Olfert, John Peterson, Christa Röber, Cornelia Rosebrock, Said Sahel, Christoph Schroeder, Yazgül Şimşek, Magdalena Spaude, Ulli Suntheim, Rüdiger Weingarten und Constanze Weth. Ihnen allen sei für die gute Zusammenarbeit herzlich gedankt.

1     Die Begriffe Lernen und Erwerb werden hier nicht als gegensätzlich aufgefasst, wie es häufig in der sprachdidaktischen Literatur der Fall ist.

2     Vgl. die seit 2018 bei Kohlhammer erscheinende Reihe »Bildung durch Sprache und Schrift«, herausgegeben von Michael Becker-Mrotzek, Hans-Joachim Roth, Markus Hasselhorn und Petra Stanat.

2        Schriftspracherwerb und Literalität

2.1       Die kommunikativen, kognitiven und grammatischen Aufgaben des Schriftspracherwerbs

Lesen und Schreiben zu lernen steht in einem engen Zusammenhang mit der Ermöglichung von Teilhabe an einer Gesellschaft, die in hohem Maße durch schriftliche Kommunikation charakterisiert ist. Diese neue Form der Kommunikation ist auch durch einen anderen Sprachgebrauch gekennzeichnet, den Kinder zusammen mit dem neuen Medium der Schrift lernen müssen. Lesen und Schreiben lernen im Anfangsunterricht steht also im größeren Kontext des Erwerbs literaler Fähigkeiten. Der Begriff der Literalität, der sich mittlerweile in Deutschland als Übersetzung des englischen Terminus ›literacy‹ durchgesetzt hat, bezeichnet individuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit geschriebener Sprache (Handlungsaspekt) in einem engen Zusammenhang mit spezifischen gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Voraussetzungen. Von zentraler Bedeutung sind hierbei soziale Praktiken, in denen diese Fähigkeiten erworben bzw. eingesetzt werden (Kulturaspekt). Der Begriff erfasst schließlich auch Besonderheiten der verwendeten sprachlichen Formen und Strukturen der geschriebenen Sprache (Strukturaspekt, vgl. Feilke, 2011, 2016). Nach einigen einführenden Überlegungen zur kulturellen Bedeutung der Schrift werden in diesem Kapitel daher die materiellen und medialen Dimensionen des Schriftgebrauchs (Kap. 2.2), ihre kulturelle und kommunikative Bedeutung (Kap. 2.3) und schließlich die strukturellen Besonderheiten geschriebener Sprache (Kap. 2.4) vorgestellt. Es schließt sich ein einfaches, vom Autor entwickeltes Analyseraster an, mit dessen Hilfe der Grad der Literalität eines Textes ermittelt werden kann (Kap. 2.5). Das Kapitel schließt mit einer Klärung der für diesen Lernbereich einschlägigen Kompetenzen (Kap. 2.6) und den Aufgaben (Kap. 2.7).

Erkenntnisse der Psychologie und der Soziolinguistik haben dazu beigetragen, dass der Begriff des Schriftspracherwerbs den des Erstlesens/Erstschreibens im Anfangsunterricht ersetzt hat. Damit wird auch die Aufgabe eines neuen Spracherwerbs deutlich, der den bisherigen, mündlichen Spracherwerb auf eine neue Stufe hebt. Ein Klassiker der modernen Psychologie, Lev Semjonowitsch Vygotskij, hat diesen Prozess tatsächlich als zweiten Spracherwerb bezeichnet und ihn mit dem Übergang von der Arithmetik zur Algebra in der Mathematik verglichen (Vygotskij, 2001, S. 315). Der Deutschdidaktiker Hubert Ivo spricht davon, wie der »gewachsene Schnabel« der Volkssprache durch die Schriftlichkeit »unter die Herrschaft der Grammatik gerät«, an der sich »[…] Rechtlautung, grammatische und lexikalische Korrektheit sowie Rechtschreibung« ausrichtet (Ivo, 1999, S. 71).

Dem steht seit der Reformpädagogik vor gut 120 Jahren eine verbreitete Auffassung gegenüber, die das Lesen und Schreiben lernen möglichst eng an die Sprache des Kindes anschließen möchte, also die Zumutungen des formalen Sprachunterrichts vermeiden oder noch möglichst lange aufschieben möchte. Lesen und Schreiben lernen wird dann häufig verkürzt auf die bloße Umsetzung gesprochener Sprache in Schrift statt der Aneignung neuer sprachlicher Formen der Kommunikation, eines neuen Registers.

Solche Vorbehalte gegenüber der Schrift durchziehen die Jahrtausende seit ihrer Entstehung. Einer der einflussreichsten Stichwortgeber für die spätere – auch pädagogische – Kritik ist Platon. In seinem Dialog Phaidros (Platon, 2013, 274e, 275a) greift Sokrates auf einen ägyptischen Mythos zurück, wonach die Schrift von dem Gott Theut erfunden wurde. In dem Dialog mit dem Gott lässt er den Pharao argumentieren: Durch die Möglichkeit, Erinnerungen in sprachlicher Form aufzubewahren, werde gerade nicht das Gedächtnis der Menschen verbessert, sondern ihre Vergesslichkeit gefördert. Hieran schließt Sokrates seine eigene Kritik: Die schriftlichen Zeugnisse seien im Vergleich zu einem wirklichen Gespräch nur tote Zeichen, deren Aussage immer dieselbe bleibe und die die Fragen ihrer Leser nie beantworten würden.

Hier wird – ganz im Sinne der späteren Pädagogik – die Unmittelbarkeit der Beziehung von Lernendem und Lehrendem, die Möglichkeit eines echten Dialogs zwischen beiden, in dem gemeinsam auch neue Fragen gestellt und beantwortet werden, gegen die Erstarrung eines schriftlich überlieferten Textes ausgespielt, mit dem eben keine Beziehung, kein lebendiger Austausch möglich sei (Mehlem, 2018).

So richtig das Insistieren auf der Beziehung und dem Dialog für das Lernen ist, so unverzichtbar stellt sich aus heutiger Sicht die schriftliche Überlieferung nicht nur für Bildungsprozesse, sondern für das Funktionieren der Gesellschaft insgesamt dar. Die Entlastung des Gedächtnisses durch schriftliche Dokumente bedeutet eben nicht, dass weniger gedacht, sondern dass der Fokus auf andere Denktätigkeiten gerichtet wird. Es kommt zu einer Überwindung räumlicher und zeitlicher Grenzen der Kommunikation, die in keinem Verhältnis mehr zu den unmittelbaren Beziehungen im Sinne eines signifikanten Anderen (Mead, 2013) steht.

Vor allem aber ist die These, dass ein Text nur immer dasselbe sagt, klar zurückzuweisen. Bedeutende Texte der Menschheitsgeschichte wurden tatsächlich von jeder Generation immer wieder neu gelesen, so dass sie auch immer wieder neue Fragen beantworten konnten, die für ihre damaligen Autor*innen überhaupt keine Rolle gespielt hatten. Um aber Antworten auf solche Fragen zu bekommen, muss ein*e Leser*in zunächst einmal sehr viel über geschriebene Sprache und ihre »kategoriale Differenz« (Ivo, 1999, S. 71) zur gesprochenen Sprache lernen.

2.2       Merkmale der gesprochenen und geschriebenen Sprache

In diesem Kapitel soll es darum gehen, gesprochene und geschriebene Sprache voneinander zu unterscheiden und hierbei nicht nur die physikalische Ebene der Zeichen, sondern auch die pragmatisch-kommunikative und die formal-sprachliche genauer zu betrachten.

In einem ersten Schritt sollen einige wichtige Unterschiede von gesprochener und geschriebener Sprache festgehalten werden (vgl. Dürscheid, 2000):

Tab. 2.1:    Merkmale gesprochener und geschriebener Sprache

Die Merkmalstabelle beginnt mit einigen physikalischen Aspekten des jeweiligen Mediums: Bei der gesprochenen Sprache handelt es sich um Geräusche/Töne, die durch die Artikulationsorgane des Mund- und Rachenraums im Zusammenspiel mit der Atmung hervorgebracht und in Form von Schallwellen übertragen, über das Ohr akustisch wahrgenommen und im Gehirn kognitiv verarbeitet werden. Bei der geschriebenen Sprache bedient sich der Mensch zusätzlich zu seinen Organen (Hände, Augen) eines Schreibwerkzeugs, das auf einer Unterlage mehr oder weniger dauerhafte Spuren hinterlässt. Die Rezeption beginnt entsprechend mit der visuellen Wahrnehmung dieser Zeichen. Auch Flüchtigkeit bzw. Dauerhaftigkeit des Produkts und Geschwindigkeit der Verarbeitung lassen sich aus diesen materiellen Bedingungen des Sprechens und Schreibens ableiten.

Bei der zeitlichen Struktur von Produktion und Rezeption (Merkmal 6) wird dagegen bereits ein einfaches Kommunikationsmodell (vgl. Merkmal 12) vorausgesetzt, bei dem Sender*in und Empfänger*in von Mitteilungen interagieren. Die Möglichkeit einer Trennung (Zerdehnung) der beiden Handlungen ergibt sich, solange keine modernen Technologien vorausgesetzt werden, erst bei der Schrift. Dort ist die strikte Synchronie aufgehoben, an deren Stelle ein beliebiger Zeitraum treten kann, wie schon das Beispiel Platons eindrucksvoll demonstriert.

Zwei Parameter des Vergleichs betreffen die Entstehungsgeschichte (Merkmale 7, 8). In beiden Fällen liegt die Sprachfähigkeit früher als die Schreibfähigkeit vor, auch wenn keine genauen frühgeschichtlichen Aussagen über konkrete Zeitpunkte möglich sind.

Die Unterscheidung von primärer und sekundärer Symbolisierung (Merkmal 9) geht bereits auf Aristoteles zurück. Der entscheidende Satz aus der Poetik lautet: »Es ist aber das, was im Lautlichen ist, Zeichen für die Zustände der Seele, und das Geschriebene ist [Zeichen, Anm. d. Verf.] für das in der Stimme.« (Aristoteles, 2015, 16a 1, 3–4).

In diesem Satz wird ein zweifacher Vorgang des Bezeichnens vorgenommen. Ausgangspunkt sind zunächst »Zustände der Seele«, also Sachverhalte, die von einem Menschen wahrgenommen und ausgedrückt werden sollen. Die menschliche Stimme bringt nun (lautsprachliche) Wörter hervor, in denen die Bezeichnungen der Sachverhalte enthalten sind. Im zweiten Schritt bringt nun die Schrift graphische Zeichen hervor, in denen dasselbe enthalten ist, was vorher in der Stimme war. Diese Aussage ist häufig im Sinne einer Dependenz der Schrift von der Mündlichkeit interpretiert worden: Schrift wäre das abgeleitete, nachgeordnete Phänomen, das das Gesprochene noch dazu unvollkommen wiedergebe.

Eine andere Sicht ergibt sich, wenn das Besondere der menschlichen Sprachfähigkeit nicht einfach in ihrer lautlichen oder schriftlichen Form, sondern in der begrifflichen Verfügung über einen Sachverhalt gesehen wird – egal, ob dieser nun lautlich oder schriftlich geäußert wird. Insofern ist Maas (1986) hier zuzustimmen, der Schrift nicht einfach als Abbild des Lautlichen begreift, sondern als eigenständige Symbolisierung dessen, was zuvor im Medium des Lautlichen hervorgebracht wurde. Insofern bedeutet Schreiben nicht einfach, gesprochene Sprache phonetisch zu fixieren, sondern mit eigenen Mitteln sprachlich artikulierte Sachverhalte darzustellen. In den folgenden Abbildungen werden die beiden unterschiedlichen Lesarten des Satzes des Aristoteles dargestellt.

Abb. 2.1:    Vorstellungen, Lautsprache und Schrift bei Aristoteles

Abb. 2.2:    Vorstellungen, Lautsprache und Schrift bei Aristoteles (nach Maas, 1986)

Bei den Einheiten des Gesprochenen (Merkmal 10) handelt es sich um Äußerungen, deren kleinste artikulatorische Einheiten (›Laute‹) nicht scharf voneinander getrennt sind, sondern ineinander übergehen. Entsprechend wird die Kommunikation zusätzlich zu den sprachlichen Zeichen selbst durch Tonhöhe, Intonation, Klangfarbe, Betonung, Lautstärke sowie Gestik und Mimik unterstützt. Die Elemente der Schrift sind dagegen diskrete graphische Einheiten (Buchstaben), die auch bei verbundener Schrift immer klar identifizierbar sind. An die Stelle der parasprachlichen und nonverbalen Mittel, die die mündliche Interaktion kennzeichnen, tritt das ›document design‹, also die weitere Gestaltung des geschriebenen Dokumentes, die durch Absätze, unterschiedliche Schriftgrößen und -arten, Anordnung von Textteilen, Farben und vieles mehr erfolgen kann.

Bis hierhin lassen sich gesprochene und geschriebene Sprache kategorial scharf unterscheiden. Ab dem 12. Merkmal kommen Unterscheidungen hinzu, die besser auf einer Skala, also auf einem Kontinuum zwischen zwei Polen, angeordnet werden. Bereits im mündlichen Gespräch kann die Deixis intensiver oder spärlicher eingesetzt werden, die Nähe zwischen Sprecher und Hörer ist z. B. bei einem Telefongespräch nur noch zeitlich gegeben. Mündlich vorgetragene Predigten und Vorlesungen sind eher monologisch, während umgekehrt im Chat sehr dialogische Formen des Schreibens auftreten, in denen zwischen dem Schreiben und Lesen einer Nachricht kaum Zeit vergeht. Schließlich kann die sprachliche Form des Sprechens auch sehr formell, standardsprachlich, ohne Wiederholungen und Versprecher sein, während das Gegenteil genau umgekehrt in zahlreichen schriftlichen Botschaften der Fall ist.

Diese Beobachtungen, die sich bereits durch die letzten 100 Jahre der sprachlichen und literarischen Forschung ziehen, haben zu einer systematischen Unterscheidung zwischen zwei Ebenen, der des ›Mediums‹ und der der ›Konzeption‹, geführt. Eine gängige Gegenüberstellung (Koch & Oesterreicher, 1985; Maas, 2008) sieht so aus:

Tab. 2.2:    Konzeptionelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit

medial mündlichmedial schriftlich

Die beiden Begriffe des ›Mediums‹ und der ›Konzeption‹ haben sich allerdings als sehr irreführend erwiesen. Dass ein sprachliches Zeichen durch die menschliche Stimme erzeugt, durch Schallwellen übertragen und über das Ohr aufgenommen wird im Unterschied zu einem sprachlichen Zeichen, das mit der Hand und einem Schreibgerät auf einer Unterlage fixiert und danach durch Lichtwellen vom menschlichen Auge wahrgenommen und verarbeitet wird, hat mit einem Medium im soziologischen Sinn als einem Hilfsmittel zur Ermöglichung von Kommunikation nur sehr indirekt zu tun. Was unter Massenmedien oder Neuen Medien diskutiert wird, sind Technologien und Institutionen, die neue Kommunikationsprozesse und Formen der Kommunikation ermöglichen, deren materielle Grundlage – jenseits der klassischen Unterscheidung in mündliche oder schriftliche Äußerungen – durch eine Vielzahl weiterer Faktoren gekennzeichnet ist (Moser, 2010).

2.3       Kommunikative Merkmale der ›konzeptuell‹ schriftlichen Sprache

Auch bei »Konzeption« denkt man schnell an eine vorherige Planung der Äußerung, die natürlich beim spontanen Sprechen in kürzester Zeit erfolgt bzw. erfolgen muss, während sie bei einem Vortrag auf wochenlanger Vorbereitung aufbauen kann. Dies ist aber nur ein Aspekt dessen, was hier unterschieden werden soll, nämlich die Kommunikationssituation, die durch unterschiedliche Grade der Förmlichkeit, der institutionellen Rahmung, der Bekanntheit der Interaktionsteilnehmer*innen und vieles mehr beeinflusst ist. In diesem Sinne haben Koch & Oesterreicher zehn Parameter der »Nähe« und »Distanz« unterschieden, die für den Grad der Formalität einer Kommunikationssituation ausschlaggebend sind.

Tab. 2.3:    Kommunikative Parameter der konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Mit diesen kommunikativen Parametern ist eine sehr weitreichende Modellierung kommunikativer und sprachlicher Kompetenzen angesprochen, deren Bedeutung für die schulische Unterstützung des Schriftspracherwerbs auch nicht annähernd ausgeschöpft ist.

In sozialer Hinsicht steht der Schriftspracherwerb mit pragmatischen Kompetenzen in Zusammenhang (vgl. Ehlich, 1983; Ehlich et al., 2008), die sich auf Institutionen jenseits der eigenen Familie und der Gleichaltrigengruppe, der »signifikanten Anderen«, bezieht. Adressat geschriebener Texte wird dagegen zunehmend der »generalisierte Andere« (Mead, 2013, S. 196f.). Indem Kinder schreiben lernen, lernen sie, mit ›Fremden‹ (Parameter 2) zu kommunizieren, bei denen sie keine Vertrautheit mit den behandelten Themen und Sachverhalten voraussetzen können. Ein Schülertext, der auf einem Elternabend oder einem Schulfest ausgestellt wird, erreicht bereits eine gewisse Öffentlichkeit (Parameter 1), ein bei einer Lokalzeitung eingereichter Leserbrief oder ein Chatbeitrag von Kindern in einem Forum noch sehr viel mehr.

Die Lehrkraft der Grundschule stellt nicht nur im soziologischen, sondern auch im sprachlichen Sinne eine Mittlerin zwischen den signifikanten Anderen des persönlichen Umfelds und den generalisierten Anderen dar. Sie motiviert die Kinder im Anfangsunterricht aufgrund einer persönlichen Bindung dazu, Texte nicht nur für nahestehende Personen, sondern Schritt für Schritt immer weiter für unbekannte Andere zu schreiben und dabei auch formale Anforderungen zu erfüllen.

Mit diesem neuen Verhältnis der Kommunikationsteilnehmer*innen untereinander eng verbunden ist zweitens eine andere Form der sprachlichen Gestaltung der Äußerungen. Das Stichwort der Situationsein- oder -entbindung (Embeddedness bzw. Disembeddedness, vgl. Chafe, 1994, Parameter 4) verweist auf Veränderungen der sprachlichen Form, die dadurch motiviert sind, dass Sprecher*in und Empfänger*in keine gemeinsame Kommunikationssituation mehr teilen. Dieser Prozess beginnt bereits im Vorschulalter mit dem Erwerb der Erzählfähigkeit.

Beim Erzählen (Becker, 2006) muss das Kind Sachverhalte versprachlichen, die gerade nicht aktuell gegeben sind, da auf etwas Vergangenes oder Fiktives Bezug genommen wird, also etwas, das sich zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort oder in einer anderen Welt abspielt oder abgespielt hat. Hiermit verbunden ist der Verlust der »referentiellen Nähe« (Parameter 5): Ich kann notfalls auf einen Gegenstand mit der Hand zeigen oder ein sprachliches Zeigemittel »das da« (Deixis) einsetzen, wenn das Sprechen eng an die äußere Situation gebunden ist. Wenn diese nicht mehr gegeben ist, muss ich ein möglichst eindeutiges sprachliches Zeichen, einen lexikalischen Ausdruck für diesen Gegenstand verwenden.

Merklinger (2013) hat untersucht, wie sich die Sprache von Vorschulkindern bereits dadurch verändert, dass eine pädagogische Fachkraft ihre mündliche Erzählung direkt mitschreibt. Es handelt sich hierbei um ein Arrangement, bei dem das Kind als Autor*in der Erzählung, also einer sprachlichen Aktivität der konzeptuellen Schriftlichkeit, von der konkreten Aufgabe des Schreibens, also der graphischen Fixierung der Sätze, Wörter und Buchstaben entlastet wird. Sie konnte beobachten, wie bereits diese Veränderung der Kommunikationssituation durch ihre Zerdehnung dazu führt, dass Kinder ihren mündlichen Text nochmals überarbeiten, also bereits anfangen, genauer und expliziter zu formulieren.