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Peter Handke gehört zu jenen Schriftstellern, die sich sehr intensiv mit visuellen Fragestellungen auseinandersetzen. Sein Werk ist durchzogen von dem Versuch, das Schauen, den ,,Augenstoff", zu finden; jedes seiner Bücher markiert die Schwelle einer neuen Wahrnehmungsanstrengung und ist zu sehen als eine Analyse von Empfindungsmöglichkeiten, Wiederholungen und der Sehnsucht nach dem Ganzen. In diesem Zusammenhang ist auch seine umfassende Beschäftigung mit der Bildenden Kunst zu verstehen, sei es mit den großen Malern der Kunstgeschichte wie Brueghel, Hopper, Cézanne, sei es mit zeitgenössischen Künstlern wie Jan Voss, Peter Pongratz oder Pierre Soulage, die alle durch Handkes Blick zusammengehalten werden. Diese Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Kategorien Sehen, Wahrnehmung und Bildende Kunst im Werk Peter Handkes zu untersuchen. Neben einem Überblick über wichtige phänomenologische Theorien aus der Philosophie und über wichtige literarische Werke, bei denen ebenfalls die Wahrnehmung im Mittelpunkt steht, stellt sich die Autorin die Frage, wie Handke selbst in seinem Prosawerk das Verhältnis von Mensch und Welt entwirft und welche Rolle die sinnliche Wahrnehmung gegenüber Reflexion und Handeln in seinen Büchern spielt. Anhand von fünf Erzählungen soll darüber hinaus Handkes Einstellung zur Phänomenologie, zum Sehen und der damit verbundenen Sprachproblematik nachgezeichnet werden.
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Seitenzahl: 124
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So müßte Glück sein:
ein Schwenk des Blicks um dreihundert-
sechzig Grad, und jedes Ding muß dabei
als Titel erscheinen, zu einer unendlichen
Begebenheit.
1
Peter Handke gehört zu jenen Schriftstellern, die sich sehr intensiv mit visuellen Fragestellungen auseinandersetzen. Sein Werk ist durchzogen von dem Versuch, das Schauen, den “Augenstoff” zu finden; jedes seiner Bücher markiert die Schwelle einer neuen Wahrnehmungsanstrengung und ist zu sehen als eine Analyse von Empfindungsmöglichkeiten, Wiederholungen und der Sehnsucht nach dem Ganzen. In diesem Zusammenhang ist auch seine umfassende Beschäftigung mit der Bildenden Kunst zu verstehen, sei es mit den großen Malern der Kunstgeschichte wie Brueghel, Hopper, Cézanne, sei es mit zeitgenössischen Künstlern wie Jan Voss, Peter Pongratz oder Pierre Soulage, die alle durch Handkes Blick zusammengehalten werden.
Diese Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Kategorien Sehen, Wahrnehmung und Bildende Kunst im Werk Peter Handkes zu untersuchen. Das erste Kapitel gibt einen allgemeinen Überblick über wichtige phänomenologische Theorien aus der Philosophie sowie über wichtige literarische Werke und Autoren, bei denen ebenfalls die Wahrnehmung im Mittelpunkt steht und auf die sich Handke im Laufe seines Schreibens immer wieder bezieht.
Das zweite Kapitel stellt sich die Frage, wie nun der Autor selbst in seinem Prosawerk das Verhältnis von Mensch und Welt entwirft und welche Rolle die sinnliche Wahrnehmung gegenüber Reflexion und Handeln in seinen Büchern spielt. Anhand von fünf Erzählungen und enger Anlehnung an die Texte wird in den darauffolgenden Kapiteln Handkes Einstellung zur Phänomenologie, zum Sehen und der damit verbundenen Sprachproblematik nachgezeichnet.
Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts. Salzburg 1982, S. 83.
Aber ist die Welt denn ein
Guckkasten? Zu sehen sind diese
Dinge freilich schön; aber sie zu seyn
ist etwas ganz Anderes.1
Hinter dem griechischen Wort “aisthesis”, das im Deutschen zumeist mit “Wahrnehmung” übersetzt wird, verbirgt sich eine lange Geschichte wechselnder Auffassungen, Denkstile und Theorien von der Wahrnehmung und der Sinnlichkeit. Wenn von Wahrnehmung die Rede ist, so geht man im Normalfall von der Annahme aus, dass jemand wahrnimmt, dass es einen Akteur/eine Akteurin der Wahrnehmung gibt bzw. Dass jemand die Wahrnehmung vollzieht und dass etwas wahrgenommen wird. Silvia Stoller bezeichnet in ihrer Dissertation “Wahrnehmung bei Merleau-Ponty” den/die Wahrnehmende(n) als Subjekt der Wahrnehmung, während das Wahrgenommene Objekt genannt wird.2
Eine philosophische Wahrnehmungstheorie handelt also von der Frage, wer oder was in der Wahrnehmung wahrnimmt, was wahrgenommen wird und folglich aber auch, wie sich das Wahrnehmen vollzieht. Von dieser Grundthese ausgehend steht im Zentrum eine der ältesten Fragen der Philosophie, die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Innen und Außen oder von Bewusstsein und Welt.
Das Sehen bzw. die Wahrnehmung nimmt aber nicht nur in der Philosophie als ein dem Denken nahes Erkenntnismittel einen hohen Rang ein, sondern spielt auch bei vielen Autoren im Sinne eines “neuen” oder “unmittelbaren” Sehens eine große Rolle. Dieses Kapitel möchte einen Überblick über die unterschiedlichen Wahrnehmungstheorien einiger Philosphen geben und nimmt gleichzeitig auch Bezug auf vier verschiedene Autoren, die das Sehen und die “aisthesis” als wichtiges Gestaltungsmittel nutzen. Alle die genannten und beschriebenen Schriftsteller und Philosphen (bzw. Maler, die in das Kapitel aufgenommen wurden) sind auch für Peter Handke und sein Schaffen von großer Bedeutung.
PLATON: DAS HÖHLENGLEICHNIS
Das Vermögen des Sehens und Gesehen-
werdens ist bei weitem am köstlichsten
gebildet.3
Platon gilt als einer der großen Meilensteine in der Geschichte der Philosophie, der auf die Frage nach dem Sein und dem verantwortlichen Tun des Menschen sowie auf die Frage, was hinter dem wahrnehmbaren Sein liegt, zum ersten Mal sehr differenzierte Antworten gefunden hat.
Die Werke Platons sind, abgesehen von der Apologie und den Briefen, in Dialogform abgefasst, in denen eine Gruppe von Menschen über ein bestimmtes Thema diskutiert. Im Mittelpunkt seines Schaffens steht die “Politeia”, die zehn Bücher über den Staat. In ihr bildet die Gerechtigkeit das eigentliche Thema, faktisch wird aber die gesamte Philosophie zur Sprache gebracht. In der “Politeia” stoßen wir auch auf eine Fabel, die den Gehalt der übrigen Teile des Buches rafft, indem sie sie in der Form aufhebt, transportiert in ein Gleichnis, das dem Sehen einen besonderen Status zubilligt: das Höhlengleichnis.4
Im berühmten Höhlengleichnis erklärt Platon das Verhältnis der Wahrnehmung der Dinge durch den Menschen zu ihrem eigentlichen Wesen. Demnach sind die Menschen wie in einer Höhle gefesselt und blicken auf eine Felswand, während hinter ihnen ein Licht flackert. Was zwischen ihnen und dem Licht vorübergeht oder getragen wird, nehmen die Menschen auf der Wand nur als Schatten wahr, die sie aber für die Wirklichkeit halten:
“Stelle dir Menschen vor in einer unterirdischen Wohnstätte … von Kind auf sind sie in dieser Höhle festgebannt … sie sehen nur geradeaus vor sich hin … von oben her aber aus der Ferne von rückwärts erscheint ihnen ein Feuerschein; zwischen dem Feuer aber und den Gefesselten läuft oben ein Weg hin, längs dessen eine Mauer errichtet ist … Längs dieser Mauer … tragen Menschen allerlei Gerätschaften vorbei … Können solche Gefangenen von sich selbst sowohl wie gegenseitig voneinander gesehen haben, als die Schatten, die durch die Wirkung des Feuers auf die ihnen gegenüberliegende Wand der Höhle gworfen werden? … Durchweg also würden die Gefangenen nichts anderes für wahr gelten lassen als die Schatten der künstlichen Gegenstände."5
Das Wahre werden sie aber erst dann erkennen, wenn sie, befreit von den Fesseln, zumeist noch gegen ihren Willen, sich dem Licht zuwenden können. Zuerst geblendet, werden sie mit der Zeit das wahre Wesen der Dinge, ihre Idee, erkennen:
“Zuletzt dann würde er die Sonne, nicht etwa bloß Abspiegelungen derselben im Wasser … in voller Wirklichkeit … schauen und ihre Beschaffenheit zu betrachten imstande sein … Wenn ein solcher wieder hinabstiege in die Höhle und dort wieder seinen alten Platz einnähme, würden dann seine Augen nicht förmlich eingetaucht werden in Finsternis. Und wenn er nun wieder … wetteifern müßte in der Deutung jener Schattenbilder, … würde er sich da nicht lächerlich machen und würde es nicht von ihm heißen, sein Aufstieg nach oben sei schuld daran … und schon der bloße Versuch nach oben zu gelangen, sei verwerflich?"6
Demnach gibt es zwei Welten: die Welt der Erscheinungen und die Welt des wahren Seins, der Ideen. Diese letztere Welt ist aber nur durch den Geist und die Seele des Menschen zu erkennen.7
Der Weg zur Erkenntnis ist für Platon aber mühselig und eine nicht enden wollende Abnabelung vom Gewohnten. Zuerst muss die “höhleninterne Bildungsetappe8
überwunden werden. Sie führt den Menschen über die Schatten zu den die schattenwerfenden Gebilden bis hin zum Feuer, der Quelle des Sehens und der Sichtbarkeit. Auch außerhalb der Höhle muss ein mühsamer Erkenntnisprozess durchlaufen werden; die Augen müssen sich erst an die neue Umgebung anpassen. Schritt für Schritt kann der Mensch sich an die anspruchsvollen Gegenstände gewöhnen und ihren Zusammenhang und ihren Ursprung erfassen. Danach kann er die schattenwerfenden Originale ins Auge fassen; dabei erkennt er, dass unter der Sonne die Schatten und Spiegelungen nicht künstliche Gegenstandsimitationen sind, sondern Abbilder von wahrhaften Gegenständen, im Gegensatz zu den Schattenbildern an der Höhlenwand. Schließlich sieht er das Licht selbst, das Sichtbarkeit und Sichtung erzeugt.9
ZUR PHÄNOMENOLOGIE EDMUND HUSSERLS
Das “unmittelbare Sehen”, nicht bloß das
sinnliche, erfahrende Sehen, sondern
das Sehen überhaupt als originär gebendes
Bewußtsein welcher Art immer, ist die
letzte Rechtsquelle aller vernünftigen
Behauptungen.10
Edmund Husserl ist der erste Philosoph der Neuzeit, der im Sinne Platons philosophierte und dessen Renaissance auch auf ihn zurückzuführen ist. Sein Denken lässt sich mit ihren Hauptetappen in vier Phasen zerlegen. Jede dieser Phasen stellt eine Vertiefung und Radikalisierung seines kritischen Grundanliegens dar.
In der ersten Phase widmet sich der Philosoph der Psychologismuskritik und der Neubegründung der Logik. Die zweite Phase weitet die Geltungsanalysen auf alle Gebiete des Erkennens aus und beschäftigt sich mit der Wissenschafts- und Philosophiekritik der Göttinger Phänomenologie. Die dritte Phase stellt einen Versuch der kritischen Grundlegung einer transzendentalen Phänomenologie dar; in der vierten und letzten Phase konzentriert sich Husserl auf die Kritik des europäischen Wissenschafts- und Zivilisationsprozesses durch eine transzendentale Analyse der Lebenswelt.11
Die Göttinger Phänomenologie mit ihrem legendären Kampfruf “Zu den Sachen selbst!” war als Aufforderung zur strengen Selbstdisziplin und methodischer Genauigkeit des Denkens gemeint und erhebt alle Phänomene – auch die unscheinbarsten und kleinsten – in den Rang authentischer und natürlicher Gegebenheiten. Die Arbeit der Erinnerung an das Selbstverständliche, aber Vergessene erfordert dabei eine radikale Umlenkung der Blickrichtung, die von Husserl so genannte “epoché".12
Husserls Philosophie will unangreifbare Wahrheiten feststellen. Als Lehre von dem Wesen der Erscheinungen, als Phänomenologie, versteht sie sich als Grundwissenschaft, will sie die erste Verwirklichung von Philosophie als strenger Wissenschaft sein. Es ist eine Philosophie des reinen Ich-Blicks, aber eine, die das konkrete Dasein und somit das Leben ausschließt.
Neben und vor dem Denken steht für Husserl vor allem die Wesensschau oder Intuition, durch welche über die Anschauung des gegebenen Einzelnen hinaus das allgemeine Wesen erfasst wird. Im Unterschied zur Anschauung, worunter der Philosoph Wahrnehmung von Existenz habenden, individuellen Gegenständen versteht, sieht die Wesensanschauung von der Tatsache der Existenz ab. Dennoch bedingen Wesensanschauung und individuelle Anschauung einander, was Husserl gern am Wesen, am Eidos einer Farbe (z.B. dem Rot einer Rose) exemplifiziert. Rot steht hier aber nicht für einen allgemeinen Begriff, der von einem Begriff Blau oder Grün unterschieden werden kann und dessen spezifische Differenzen die verschiedenen Rotarten wären, sondern er meint das Rot eines Dinges, das durch phänomenologische Reduktion gewonnen wird, also das Eidos Rot dieses Dinges. Dieses Eidos darf nicht mit einer platonischen Idee verwechselt werden, deren “Erscheinungen” die Rotvorkommnisse aller Rotnuancen wären. Es handelt sich hier um ein Erkenntnisverfahren, das das Spezifische eines Gegenstandes oder eines Sachverhaltes durch Abstraktion oder – mit den Worten des Philosphen – Reduktion von allem, was ihm außerhalb noch anhaftet, erfassen will.13
VON EDMUND HUSSERL ZU MARTIN HEIDEGGER
Dieses Ich ist nicht reines Sehen,
dieses Ich ist der Mensch.14
Martin Heidegger, von 1919 an Edmund Husserls Assistent, gehört jener Generation der geistigen Avantgarde an, die wie ein Franz Kafka in der Literatur oder ein Pablo Picasso in der Malerei dadurch geistig revolutionär im 20. Jahrhundert wirkte, dass er tradtitionelle Formen einriss und den eigenen Ansatz von Grund auf neu schuf. Dabei vollzieht sich der Denkweg Heideggers in einer dreifachen Aneignungs- und Abstoßungsbewegung: Aneignung und Abstoßung der Theologie; Aneignung und Abstoßung der Phänomenologie; Aneignung und Abstoßung der Philosophie- und Metaphysikgeschichte. Was ihn an der Arbeit Husserls interessierte, war die Erkenntnis der Phänomene, die Erforschung des Wesens der Erscheinung und des So-Seins der Dinge. Heidegger richtet aber seinen Blick darüber hinaus auf die Existenz, das Sein der Seienden.15
Martin Heidegger lehrt, das Seiendes immer schon ,,enthüllt sein muß, damit eine Aussage darüber möglich ist.”16Dies beinhaltet, dass das “ist” schon vorweg verstanden sein muss. ,,Das Seinsverständnis dessen, worüber die Rede ist, erwächst nicht erst durch die Aussage, sondern diese spricht jenes aus."17
Doch ist das “ist” nach Heidegger keineswegs in der Aussage (der “apophansis”) selbst ursprünglich vorverstanden. Die Aussage führt nur die reine Beschaffenheit des Ausgesagten vor und zeigt in es in seiner essentia, nur das “Als-solches” auf. Dieses Aufzeigen des Seienden nur als etwas “Vorhandenes” isoliert es aus der Erschlossenheit eines Bedeutungszusammenhanges und lässt es nur sichtbar sein. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang auch vom reinen “Anstarren” des Nur-noch-vor-sich-Haben von etwas als Nicht-mehr-Verstehen.18
WAHRNEHMUNG BEI MAURICE MERLEAU-PONTY
Das Sehen ist wie bei einer Straßenkreuzung
das Zusammentreffen aller Aspekte des Seins.19
Maurice Merleau-Ponty hat sich in all seinen Werken und seiner ganzen philosphischen Schaffensperiode hindurch der “aisthesis” gewidmet und wie kaum ein anderer Philosoph unterschiedlichste Dimensionen der Wahrnehmung sichtbar gemacht. Seine Beschäftigung mit dieser Thematik beginnt mit der kritischen Bestandsaufnahme psychologischer, experimenteller und philosophischer Wahrnehmungstheorien seit 1933 und findet seine Grundlegung in dem Werk “Phänomenologie der Wahrnehmung".20
Im Gegensatz zu Husserl geht es bei Merleau-Ponty nicht um eine Analyse von Bewusstseinszuständen oder den Nachweis eines transzendentalen Bewusstseins, sondern um den Nachweis einer “vorgängigen Einheit mit der Welt” bzw. um die “Gründung des Seins”21auf der Grundlage der Wahrnehmung. Existenziell ist die Wahrnehmung insofern sie nicht nur eine Welt erschließt, sondern weil sie in allen menschlichen Bereichen des Lebens wiederkehrt (Geschlechtlichkeit, Geschichtlichkeit, Sprache, Kultur, Kommunikation usw.) und dort mehr als nur ein Teilaspekt des menschlichen Daseins ist. Wahrnehmung ist aber nicht auf dieselbe Stufe menschlicher Bewusstseinsweisen wie Urteilen, Erklären, sich Erinnern usw. zu stellen; sie liegt allen Bewusstseinsweisen voraus und ist demnach “originär”, “ursprünglich” oder “primordial”.22
In seiner Philosophie bildet der Leib den zentralen Gesichtspunkt seines Philosophierens. Er ist kein beliebiger, kein zufälliger, sondern der notwendige Gesichtspunkt, da der Leib bei jeder Wahrnehmung und Betrachtung der Welt stillschweigend ,,dabei ist” und der Grund unseres ,,Zur-Welt-Seins” überhaupt ist. Ohne ihn nehmen wir nichts wahr, sehen wir nichts; er erst eröffnet uns eine Welt – aber er schränkt auch unsere Sicht ein, indem er uns nur innerhalb begrenzter Möglichkeiten sehen lässt, uns eine bestimmte Perspektive aufzwingt.23
Auch die Werke nach der “Phänomenologie” haben die Wahrnehmung zum Thema philosophischer Analyse. Vor allem wird diese im Umfeld der Malerei zum Leitfaden. In seiner Referenz auf die bildende Kunst bezieht sich Merleau-Ponty vorzugsweise auf Cézanne, da Vinci, Renoir, Matisse, Van Gogh, Klee, Tintoretto und Rodin und hat darin Möglichkeiten gesehen, in Malerei eine Nähe zur Philosophie herzustellen, wobei insbesondere Cézannes Gemälde eine Attraktion auf den Philosophen ausgeübt haben.24Für diese Auseinandersetzung sind vor allem drei Texte Merleau-Pontys von Bedeutung: ,,Der Zweifel Cézannes”, ,,Die indirekte Sprache und die Stimmen des Schweigens” und ,,Das Auge und der Geist”.
,,Das Auge und der Geist” ist Merleau-Pontys letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk. Schon die Wahl des Titels zeigt an, dass die Wahrnehmung auch in diesen späten Reflexionen von speziellem Interesse bleibt. Aber das ,,Auge” steht nun mehr für eine metaphorische Kategorie und gegenüber dem Begriff Wahrnehmung wird nun mehr das ,,Sehen” und das Sichtbare hervorgehoben. Mit diesem Aufsatz will der Philosoph zeigen, wie die Malerei in metaphysische Überlegungen eingreift und gerade dem Metaphysiker das Gefühl einer tiefen Unstimmigkeit einbringt, wenn er das Universum des klassischen Denkens mit den Ergebnissen der modernen Malerei konfrontiert.25Es geht ihm um nichts anderes, als die Ontologie (Lehre vom Sein) aus der Malerei herauszuziehen.
Ein Bild ist demnach weder ein Ding noch eien Kopie eines Dinges, sondern das ,,Innen” eines ,,Außen.”26Der Maler praktiziert eine ,,magische Theorie des Sehens”27Er bildet die Welt nicht ab, sondern er ,,befragt” sie vielmehr. Anhand der Überlegungen über die Tiefe, die Linie, die Bewegung und die Farbe will Merleau-Ponty sagen, dass die Wahrnehmung nicht bloße Reproduktion und nicht bloße Produktion von feststellbarem Sinn ist, sondern dass der Sinn und die Wahrnehmung einem Ereignis des Zwischen entspringen.28
DAS DRITTE AUGE IM SCHAFFEN ADALBERT STIFTERS
Ich sah aber nicht mehr als die vier ganz gleichen
schwarzen Augen sich in dem Spiegel umwenden.29
Adalbert Stifter ist sehr oft als der “Augenmensch” bezeichnet worden und man hat auch erkannt, dass in seiner Dichtung sehr viel “gesehen” wird. Stifters Erzählpersonal betrachtet, beobachtet, besieht sich eine Sache oder wirft einen Blick auf eine andere. Doch die Art, wie Stifters Figuren sehen beziehungsweise sehen sollen, ist nicht nur obsolet, sondern – anthropologisch gesehen – auch atypisch.30
Dabei ist Stifter anthropologisches Denken durchaus nicht fremd. Beeinflusst wurde der Dichter dabei vor allem von der Sprachtheorie Herders, der der Auffassung ist, dass der Mensch die Welt als diffusen, komplexen Gegenstandsbereich, der als Flut von Sinneseindrücken auf ihn eindringt, erlebt. Angesichts dieser chaotischen Reizüberflutung seiner Sinne ist der Mensch zum Handeln gezwungen. Deshalb schafft er sich, wie Arnold Gehlen in Anlehnung an Herder sagt, was er zum Überleben braucht. An die Stelle einer bedrohlichen Umwelt tritt eine gezähmte Kulturwelt. Die Grundvoraussetzung dafür ist, dass der Mensch die auf ihn einströmenden Reize abfängt und einordnet, mit dem Ziel, Komplexität abzubauen. Je reizentleerter er seine Umgebung hält, desto eher wird sie der ordnenden Gestaltung zugänglich.
Einen wesentlichen Beitrag zu diesen Reduktionen leistet die Wahrnehmung. Ihre maßgebende Funktion besteht Gelen zufolge darin, dass der Mensch nicht mehr von allen auf ihn wirkenden Sinnesreizen in Beschlag genommen wird, sondern sich davon absetzen kann. In diesem Zusammenhang ist auch die Sprache von großer Bedeutung. ,,