Schwaben-Prinzessin - Klaus Wanninger - E-Book

Schwaben-Prinzessin E-Book

Klaus Wanninger

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In Schönheit sterben … Wunderschön sieht sie aus, die Orchideenprinzessin, die tot am Rand des Wacholderhangs auf der Schwäbischen Alb gefunden wird. Doch weder ihr prächtiges, in kräftigen Blau- und Rot­tönen leuchtendes Gewand noch ihr blondes, zu Zöpfen geflochtenes Haar können darüber hinwegtäuschen, dass sie einer Gewalttat zum Opfer fiel. Die blutverkrustete Wunde an Katrin Reickles Hinterkopf spricht eine deutliche Sprache. Kommissar Steffen Braig, der in die kleine Alb-Gemeinde beordert wird, findet rasch heraus, dass die junge Frau es verstand, ihr Leben zu genießen. Im Verlauf seiner Ermittlungen wird immer deutlicher, in welch illustren Kreisen sich die bildhübsche Werbebotschafterin bewegte. Ist ihr eine ihrer Affären zum Verhängnis geworden? Oder ist der Täter im Umfeld ihres heillos zerstrittenen Heimatortes zu finden? Immerhin wurden ihre sterblichen Überreste auf dem Grund und Boden einer Person gefunden, die schon einmal verdächtigt wurde, ein Verbrechen begangen zu haben …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 312

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Klaus Wanninger

Schwaben-Prinzessin

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Schwaben-Rache

Schwaben-Messe

Schwaben-Wut

Schwaben-Hass

Schwaben-Angst

Schwaben-Zorn

Schwaben-Wahn

Schwaben-Gier

Schwaben-Sumpf

Schwaben-Herbst

Schwaben-Engel

Schwaben-Ehre

Schwaben-Sommer

Schwaben-Filz

Schwaben-Liebe

Schwaben-Freunde

Schwaben-Finsternis

Schwaben-Träume

Schwaben-Fest

Schwaben-Teufel

Schwaben-Donnerwetter

Schwaben-Nachbarn

Schwaben-Zukunft

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, lebt in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte bisher 41 Bücher.

Seine überaus erfolgreiche Schwaben-Krimi-Reihe umfasst nun 24 Romane in einer Gesamtauflage von über 720.000 Exem­plaren.

Klaus Wanninger

Schwaben-Prinzessin

Originalausgabe

© 2024 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-685-1

E-Book-ISBN 978-3-95441-694-3

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig.

1. Kapitel

Die junge Frau am unteren Ende des Wacholderhangs schien zu schlafen. Ihr schlanker, von einem langen, blau-roten Kleid umhüllter Körper tauchte in den letzten Strahlen des verlöschenden Tages aus dem Dämmer hervor. Sie hatte kurze, blonde Zöpfe, ein schmales, von einer Stupsnase geprägtes Gesicht.

Im ersten Moment glaubte Braig, er habe sich verirrt; die Worte des Kollegen falsch verstanden, seine Ortsangabe: »Ungefähr 20 Meter. Am Fuß der Wacholderheide«, nicht korrekt befolgt. Vielleicht hatte ihn die aus der Ferne hörbare Musik, der an- und abschwellende Sound verschiedener Blaskapellen abgelenkt, vielleicht war er von den fast unerträglichen Temperaturen dieses Sommertags auch derart erschöpft, dass er nicht mehr zur gewohnten Konzentration finden konnte. Das knorrige, dicht gewachsene Gehölz um ihn herum vereitelte jede Chance auf korrekte Orientierung.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, musterte die bildhübsche, junge Frau, beugte sich zu ihr nieder. Ein zarter, etwas bleicher Teint, schmale Wangenknochen, silbrig glänzende Perlenohrringe. Die blutverschmierte Wunde an ihrem Hinterkopf war erst bei genauerem Hinsehen zu erkennen. Ein kleiner, kreisrunder Fleck. Braig wusste aus langjähriger Erfahrung als Kriminalhauptkommissar des Stuttgarter Landes­kriminalamtes, was das bedeutete: Er war doch am richtigen Ort angelangt.

Eine weibliche Leiche, nach ärztlicher Diagnose Fremdverschulden, hatte man ihm mitgeteilt, nachdem er bereits zwei Stunden vorher ins Vorland der Alb gerufen worden war, um die völlig demolierten Überreste einer großen Limousine auf einem abgeernteten Acker neben der Bundesstraße zu begutachten. »Sie finden sie keine zehn Kilometer von Ihrem derzeitigen Aufenthaltsort entfernt, am Rand von Brechtlingen.« Er hatte verfolgt, wie sich die Experten verschiedener lokaler Feuerwehren laut fluchend mit immer neuen Verrenkungen bemühten, mehrere kaum mehr identifizierbare Körper aus dem Wrack zu schneiden, hatte seine Beobachtungen dann mithilfe seines Notebooks dokumentiert. Der uniformierte Kollege, der ihn zu seinem neuen Einsatzort chauffieren sollte, war nur unter großer Mühe imstande gewesen, seiner Aufgabe nachzukommen. Zuerst hatte er sich verfahren, dann war er von heftigen Attacken in seinem Unterleib dazu gezwungen worden, anzuhalten und sich im nahen Gestrüpp zu erleichtern. Der untersuchende Arzt jedenfalls hatte den Fundort der Leiche längst verlassen, als Braig endlich am Ortsrand Brechtlingens eingetroffen war.

Ein uniformierter Beamter hatte ihn in Empfang genommen und sich als Franz Melk vorgestellt, ihn dann über eine steinige Wiese zu einem mit rot-weißem Flatterband abgegrenzten Areal hinter einem dem Tal folgenden Feldweg begleitet. Obwohl von dem Weg außer den Absperrungen nichts zu sehen war, hatten sich bereits mehrere Gaffer eingefunden. Die meisten waren der sommerlichen Hitze entsprechend mit T-Shirts und kurzen Hosen bekleidet, viele mit Fahrrädern unterwegs. Eine junge Polizistin hatte alle Hände voll zu tun, sie am Zutritt zu hindern.

Melk signalisierte ihm weiterzugehen, eilte seiner Kol­legin zu Hilfe. Braig schlüpfte unter dem Flatterband hindurch, erreichte das dichte Gehölz, das den unteren Bereich des Hügels vor neugierigen Blicken schützte. Unzählige schlanke, fast senkrecht in die Höhe ragende Wacholderbüsche schmückten die sanft ansteigende, von Trockengräsern bewachsene Anhöhe – ein Anblick wie in einem Werbefilm des Touristikbüros der Schwäbischen Alb. Selten hatte er eine derart schöne Wacholderheide vor Augen gehabt. Er wusste, dass es sich um keine Naturlandschaft, sondern ein Produkt menschlicher Nutzung handelte. Auf den steinigen Hängen der wasserdurchlässigen Kalkböden der Alb hatten sich nur dünne Bodenauflagen bilden können, die nicht genügend Nährstoffe boten, um anspruchsvolle Pflanzen wachsen zu lassen. Nur wenig Feuchtigkeit beanspruchende Hecken, Gräser und Kräuter konnten hier gedeihen. Fehlte diesen Böden somit das Potenzial, direkt zur Ernährung der Menschen beizutragen, waren sie dennoch nicht vollkommen nutzlos: Schon vor Jahrhunderten war man darauf gekommen, sie von Schafen beweiden zu lassen. Die Tiere fraßen alle saftigen Gräser, Kräuter und Triebe, ließen jedoch die stacheligen Silber- und Golddisteln und die Wacholderbüsche unberührt, was letztendlich das Entstehen dieser einzigartigen Landschaftsform bewirkte. Ein traumhaft schöner, an einen gepflegten Park erinnernder Anblick.

Braig wandte seinen Blick talwärts, bemerkte, dass sich keine hundert Meter entfernt das Wohnhaus und die Stallungen eines Bauernhofs am Ortsrand Brechtlingens erstreckten. Auf den eingezäunten Wiesen um das Anwesen herum weideten mehrere Tiere, deren Blö­ken und Mähen ab und an, wenn das volkstümliche Gedudel aus der Ferne für einige Augenblicke verebbte, deutlich zu vernehmen war. Er sah, dass es sich um eine Kuh und ihr Kalb, dazu unterschiedliche Rassen von Schafen und Ziegen handelte, nahm überrascht die mitten zwischen den anderen Tieren friedlich im Boden wühlenden Schweine wahr. Ein Teil der Herde tummelte sich sogar auf dem Feldweg, der dem ausgetrockneten Bachbett entlang vom Dorf her durchs Tal folgte und jetzt von vielen Radfahrern und Spaziergängern bevölkert war. Beidseits davon sanft ansteigende, von Wacholderweiden und fast schon herbstlich anmutendem Wald geprägte Hügel und Berge. Eine wunderschöne, spätsommerliche Alb-Landschaft wie aus dem Bilderbuch, deren Idylle allerdings von der sich hoch am Himmel auftürmenden dunklen Wolkenwand und dem toten Körper vor ihm infrage gestellt wurde.

Er wandte sich wieder den sterblichen Überresten der jungen Frau zu, musterte ihr farbenfrohes, folkloristisch anmutendes Kleid. Kein Alltagsgewand, wohl auch nicht die Aufmachung eines gewöhnlichen Sonntags, überlegte er, eher die festliche Kleidung für einen besonderen Anlass. Eine Hochzeit zum Beispiel oder einen größeren Geburtstag. Oder hatte es mit den musikalischen Klängen im Hintergrund zu tun? Er lauschte den Melodien einer Blaskapelle, vermutete eines der unzähligen Volksfeste, die in der warmen Jahreszeit an fast jedem Wochenende irgendwo im Land stattfanden. War es am Rand dieser Veranstaltung, etwa unter dem Einfluss zu viel konsumierten Alkohols, zu einer tätlichen Auseinandersetzung gekommen, deren Folgen ihm hier vor Augen lagen?

Das leise Fluchen einer männlichen Stimme wenige Meter oberhalb hinderte ihn daran, seinen Gedanken weiterzuspinnen. Er trat aus dem Schatten des Gestrüpps, sah eine in helle Schutzkleidung gehüllte Person aus dem Unterholz eines Wacholderbuschs kriechen und sich mühsam aufrichten. An der Aufmachung war deutlich zu erkennen, dass es sich um einen Spurensicherer eines der regionalen Reviere handelte.

»Oh, Sie sind da«, schnaufte der Mann. Er lockerte seine Muskeln, folgte dann dem Hang abwärts.

Braig stellte sich vor, glaubte, den Kollegen von früheren Einsätzen her zu kennen.

»Meiser, Spusi Reutlingen. Wir sind uns vor ein paar Jahren schon mal begegnet«, bestätigte der Mann seine Vermutung. Er streckte eine durchsichtige Plastiktüte in die Höhe, wies auf ihren Inhalt. »Sie haben die Wunde am Hinterkopf bemerkt? Hier, ich schätze, das ist das Tatwerkzeug.«

Braig nahm überrascht den grauen, an mehreren Stellen rotbraun verfärbten Stein wahr, den ihm der Spurensicherer präsentierte. Eine etwa handtellergroße, grob-­kantige Felsabsplitterung, zum Gestein der Umgebung passend. »Wo haben Sie den her?«

»Im Gras neben dem Wacholderbusch.«

»Sie haben den ganzen Boden abgesucht?«

Meiser nickte. »Der Arzt sprach von einem harten, kantigen Gegenstand. Was liegt da näher als ein Stein?«

»Alle Achtung. Sie sollten sich beim LKA bewerben.«

»Na ja, das war nicht so schwer. Der Täter wollte ihn so schnell wie möglich loswerden, das ist logisch. Also warf er ihn einfach weg. Der Brocken ist voller Kanten und Spitzen. Wenn wir Glück haben, finden wir Reste von seiner DNA.«

»Sie sind wirklich clever«, anerkannte der Kommissar.

»Danke. Aber das hilft ihr auch nicht mehr ins Leben zurück. So ein Jammer!« Er wandte sich den sterblichen Überresten der jungen Frau zu, ließ einen Seufzer hören. »Manchmal habe ich keine Lust mehr.«

Braig wusste sofort, wovon der Kollege sprach. »Wem sagen Sie das!« Die Crux unseres Berufs, überlegte er. Tag für Tag nur Elend, Leid und Tod. Manchmal war das Übermaß an schlimmen Ereignissen kaum mehr zu ertragen. Die Gefahr, sich in depressiven Ängsten zu verfangen, lauerte Tag und Nacht.

»Sonst kann ich Ihnen leider nichts präsentieren«, erklärte Meiser. »Der Boden ist staubtrocken. Kein Wunder, es hat ja seit Wochen nicht geregnet. Schauen Sie sich das Bachbett dort unten an: kein Tropfen drin. Keine Chance auf einen Fußabdruck oder das Profil einer Sohle. Höchstens eine Stofffaser oder ein Hautpartikel hier an einem der Büsche. Blätter hat es genug. Aber die alle zu untersuchen …«

Braig wollte sich gerade nach der Identität der Toten erkundigen, als er begleitet von ständigem Hupen das laute Heulen eines Automotors hörte. Er kletterte ein paar Schritte den Hang hoch, sah ein großes Fahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit den Feldweg entlang auf sie zurasen, den zahlreichen Radfahrern und Fußgängern in waghalsiger Manier ausweichend. Das Auto schoss an den schimpfenden Menschen vorbei, kam erst unmittelbar vor der uniformierten Beamtin, die ihm heftig winkend den Weg versperrte, zum Stehen.

Die Eltern, ging es Braig durch den Kopf. Sie haben vom Schicksal ihrer Tochter gehört und sind jetzt in Panik.

Er sah, wie ein kräftiger Mann mittleren Alters aus dem Fahrzeug sprang und allen Versuchen der jungen Kollegin, ihn aufzuhalten, zum Trotz die Begrenzung und die dichten Hecken durchbrach und direkt auf ihn zuhielt.

»Sie sind endlich der Kommissar?«, dröhnte seine Stimme nervend laut.

Wie ein viel zu weit aufgedrehter Lautsprecher, überlegte Braig. Der war wirklich völlig außer sich.

Er musterte die nicht allzu groß geratene Gestalt, deren schwarz glänzende Haare in Unmengen von Gel zu ertrinken schienen. Die Nachricht vom Tod der jungen Frau schien den Mann völlig aus der Fassung gebracht zu haben, sein Gesicht glühte in ungesund kräftigem Rot, er schnaubte und keuchte vor Anstrengung.

Braig hasste Situationen dieser Art. Angehörigen ums Leben gekommener Menschen gegenübertreten zu müssen und ihnen das Schicksal ihrer Partner, Eltern oder gar Kinder mitteilen oder bestätigen zu müssen, war das Schlimmste, was ihm sein Beruf abverlangte. Normalerweise blieb ihm wenigstens etwas Zeit, sich darauf vorzubereiten, jetzt aber …

Der Mann baute sich vor ihm auf, streckte ihm die Hand entgegen. Braig suchte nach Gedanken des Trostes, hatte Schwierigkeiten, Worte zu finden.

»Herzlich willkommen im wunderschönen Brechtlingen, unserer einzigartig reizvollen Alb-Metropole«, polterte sein Gegenüber plötzlich los. »Natur in unvorstellbarer Pracht, Blumen und Blüten in einer Vielfalt und einem Farbenrausch wie sonst nirgends auf der Welt. Und mittendrin unser traumhaft schönes Brechtlingen, den kühnsten Fantasien entsprungen und Wirklichkeit geworden: unsere Alb-Metropole. Ganz schön was los heute, wie? Menschen von nah und fern, Besucher aus allen Ländern: Unser wunderbares Fest lässt alle Herzen schneller schlagen. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anfahrt?«

Braig glaubte, unter einer heftigen Bewusstseinsstörung zu leiden, sah sich außerstande, auch nur ein Wort zu äußern. Er wusste nicht, was der Clown hier von ihm wollte, bemerkte, wie sich der Spurensicherer genervt von ihm abwandte. Eine intensive Bierwolke ging von dem üppig Gegelten aus, stach ihm fast schmerzend in die Nase. Angewidert trat er zwei Schritte zurück. Trotz der nach wie vor ausgestreckten Rechten des anderen verzichtete er auf einen Handschlag, musterte ihn stattdessen mit zunehmend kritischer Miene. »Darf ich wissen, was Sie hier …?«

Der Mann fiel ihm mitten ins Wort. »Mein Name ist Waller. Ich bin der Bürgermeister dieser wunderbaren Gemeinde. Wir haben ein prächtiges Fest und einen wunderschönen Tag.«

»Sie vielleicht schon. Die junge Frau hier wohl kaum.«

Der Bürgermeister schien plötzlich einem Asthma-­Anfall zu erliegen. »Oh, mein Gott, ja.« Sein heftiges Schnaufen ließ ihn für einen Moment verstummen. »Das ist, das ist …«

Braig sah Melk mit fragender Miene zu ihm herschielen. Er signalisierte ihm mit der Andeutung eines Kopfschüttelns, dass er seine Hilfe nicht benötigte. Obwohl er keine Lust auf eine Unterhaltung mit dem Mann verspürte, beschloss er, den Kontakt für seine Ermittlungen zu nutzen. »Sie kennen die Frau?«

Waller fand augenblicklich zu alter Lautstärke zurück. »Ob ich sie kenne?«, polterte er los. »Ob ich sie kenne? Das wollen Sie wirklich wissen?« Er holte tief Luft, starrte mit hochroter Miene zu seinem Gesprächspartner. »Unsere Orchideenprinzessin«, dröhnten seine Worte dann weit in die Umgebung. »Die Königin unserer Alb-Metropole.«

»Was jetzt?«, brummte Braig. »Königin oder Prinzessin?«

»Mehr als alles! Unsere einzigartige Orchideenprinzessin!«

Braig wusste um die Bemühungen vieler Gemeinden und Regionen, durch die Proklamation junger Frauen zu Königinnen mediale Aufmerksamkeit für den jeweiligen Ort oder die Gegend zu erlangen, um Tages- oder Langzeitgäste anzulocken oder heimische Produkte besser zu vermarkten. Inzwischen gab es kaum eine Stadt, die nicht über eine eigene Königin oder gar mehrere Hoheiten verfügte. Mochte der Titel noch so absurd, manchmal auch peinlich anmuten, er musste herhalten, um in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu erregen. Braig hatte von Kartoffelköniginnen gehört, von Braunviehhoheiten und Exzellenzen, die provinzielle Bier- oder Schnapsmanufakturen präsentierten. Im Vergleich dazu erschien ihm der Titel Orchideenprinzessin geradezu wohlklingend; eine Bezeichnung, die – jedenfalls bei ihm – angenehme Assoziationen erweckte. Auch wenn er nicht wusste, was die exotische Pflanze mit dem kleinen Ort hier auf der Schwäbischen Alb zu tun haben sollte. »Orchideen?«, hakte er nach.

»Die schönsten Blüten der Welt. Wunderwerke der Natur. In unübersehbarer Vielfalt hier bei uns.« Der Bürgermeister reckte seinen rechten Arm weit von sich, drehte sich im Kreis, wies auf die Hügel, Wacholderweiden und Wälder der Umgebung. »Die Menschen kommen von überall her, um sie anzuschauen. Aus Köln, aus Hamburg, aus Berlin. Auch aus Frankreich, aus England, aus Holland, aus Amerika. Sogar aus Brasilien strömen die Besucher in unsere Alb-Metropole. Obwohl die dort ihren riesigen Urwald haben.«

So riesig ist der nicht mehr, die holzen ständig weiter ab, ging es Braig durch den Kopf, wurde von den unaufhaltsam weiter sprudelnden Ausführungen seines Gesprächspartners aber daran gehindert, seine Gedanken laut zum Ausdruck zu bringen.

»Asien nicht zu vergessen. Dort wird das Interesse an unserer Orchideen-Metropole immer größer. Besonders in China. Die wollen alle zu uns.«

»Aha. Und wie heißt die Orchideenprinzessin mit bürgerlichem Namen?«

»Mit …« Der Bürgermeister schien nicht zu verstehen. »Bürgerlicher Name. Ach so.« Er starrte auf den leblosen Körper vor ihnen, holte tief Luft. »Katrin. Katrin Reickle.«

Braig zog sein Handy vor, gab den Namen ein. »Sie stammt von hier?«

»Nein. Sie kommt aus Heilbronn. Vor vier Jahren bewarb sie sich auf die freie Stelle in unserer Verwaltung. Die Zukunft der einzigartig reizvollen Alb-Metropole mitgestalten. Sie fühlte sich sofort angesprochen.«

»Seitdem lebte sie aber hier im Ort?«

Waller hatte ungewohnte Schwierigkeiten, Worte zu finden. Er räusperte sich schwerfällig, benötigte mehrere Anläufe. »Es ist nicht einfach, bei uns eine Wohnung zu finden. Brechtlingen ist sehr begehrt. In unserer Alb-Metropole leben zu dürfen, hier zu arbeiten und sogar zu wohnen, ist nicht jedem Menschen vergönnt …«

»Wohnte sie jetzt hier oder nicht?«

»Also, wenn Sie mich so fragen, ja. Wir haben ihr im Januar eine Gemeinde-eigene Wohnung zukommen lassen können.«

»Wie steht es mit den familiären Verhältnissen von Frau Reickle? Sind sie Ihnen bekannt?«

»Allerdings.« Der Bürgermeister fand endgültig wieder zu seiner ursprünglichen Lautstärke zurück. »Unsere Orchideenprinzessin ist solo. Noch zu haben. Es gibt allerdings viele Interessenten. Und«, er trat zwei Schritte auf Braig zu, grinste anzüglich, »die junge Frau lässt nichts anbrennen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Eine intensive Bierwolke hüllte den Kommissar ein. Sie lässt nichts anbrennen, wiederholte er im Stillen. Er war sich der Bedeutung dieser Behauptung – sofern sie auf realen Hintergründen beruhte – sofort bewusst. Lag hier das Motiv der Tat? Die Eifersucht eines verschmähten oder abgelegten Liebhabers, die außer Kontrolle geraten und in eine gewaltsame Auseinandersetzung eskaliert war?

Er versuchte, der Bierfahne des Gegelten auszuweichen, überlegte, inwieweit er den Aussagen des Mannes Glauben schenken konnte. Hatte der Bürgermeister wirklich Einsicht in das Privatleben der jungen Frau, oder wiederholte er nur, was die Dumpfbacken des Dorfes in ihrem Stammtisch-Geschwurbel so von sich gaben? »Sie glauben, Frau Reickle hatte wechselnde Beziehungen?«

»Nicht: Ich glaube«, gab Waller zu verstehen. »Mit glauben hat das nichts zu tun. Unsere Orchideenprinzessin ist keine Kostverächterin. Sie liebt das Leben. Und alles, was Hosen anhat.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Woher ich das weiß?« Das kräftige Lachen des Bürgermeisters dröhnte über den halben Hang. »Sie kennen sie nicht, sonst würden Sie das nicht fragen.«

»Dann benötige ich die Namen und die Anschriften der Herren. Sämtlicher infrage kommender Herren. Der aktuellen und der verflossenen.«

»Die Namen und Anschriften? Ja, glauben Sie, ich führe Buch über das Liebesleben unserer Rathaus-Angestellten?«

»Was jetzt?«, maulte Braig. »Gerade haben Sie noch behauptet, über die Beziehungen Frau Reickles Bescheid zu wissen. Es ist doch in Ihrem Interesse, möglichst schnell zu erfahren, wer für die Gewalttat an Ihrer Orchideenprinzessin verantwortlich ist. Oder etwa nicht?«

Zum ersten Mal im Verlauf ihrer Unterhaltung schien der Bürgermeister seine Sprache verloren zu haben. »Gewalttat?« Er starrte ungläubig zwischen der toten jungen Frau und dem Kommissar hin und her. »Sie wollen doch nicht sagen, dass …«

»Was denn sonst?«, fiel Braig ihm ins Wort. »Glauben Sie, der Stein, mit dem sie erschlagen wurde, fliegt von selbst durch die Luft?«

Waller schien erneut einem Asthma-Anfall zu erliegen. »Ich … ich dachte, ein Unfall beim Joggen«, brachte er schwer schnaufend hervor. »Dass sie unglücklich gestürzt sei …«

»Joggen?« Braig schüttelte den Kopf. »In diesem Kleid?«

Der Bürgermeister beugte sich nach vorn, kämpfte um Luft. »Sie joggt immer hier in der Gegend. Das ist ihr Revier. Fast jeden Abend. Von ihrer Wohnung zum Wacholderhang und zurück.« Er wies in die Richtung des Dorfes. Im gleichen Moment zuckte ein greller Blitz über die dunkle Wolkenwand.

Braig starrte zum Himmel, wurde mitten in seiner Frage: »Das wissen Sie so genau?«, von kräftigem, kaum enden wollendem Donnergrollen unterbrochen.

»Das wissen alle«, versuchte der Bürgermeister, die Naturgewalt zu übertönen.

»Aber sie joggt doch nicht in diesem Kleid«, wiederholte Braig.

Waller starrte auf den leblosen Körper vor ihnen, musterte seinen Gesprächspartner dann mit verwundertem Gesichtsausdruck, als hätte er die festliche Bekleidung der Toten gerade erst wahrgenommen. »Nein, nicht in diesem Kleid. Das trägt sie zu offiziellen Anlässen. Bei ihren Auftritten als Orchideenprinzessin. Heute, bei unserem wunderbaren Fest.«

»Wann war das?«

»Den ganzen Mittag. Bis gegen 18 Uhr.« Der Bürgermeister verstummte. »Das darf nicht bekannt werden«, erklärte er dann plötzlich. »Das muss unter uns bleiben.« Seine Stimme schwoll zu alter Lautstärke an.

»Wie bitte? Was muss unter uns bleiben?«

»Unsere Orchideenprinzessin. Opfer einer Gewalttat. Oh nein«, stöhnte Waller. »Nicht bei uns in der wunderschönen friedlichen Alb-Metropole. Bei uns ist es nicht so wie sonst überall. Bei uns gibt es keine Gewalt. Das darf nicht bekannt werden. Unser Ansehen. Unser Renommee. Bei uns ist es friedlich. Immer und überall. Das weiß die ganze Welt. Deshalb kommen die Menschen zu uns. Weil sie die Schönheit unserer Alb-Metropole so schätzen. Und die friedliche Atmosphäre, die sie hier erleben. Das muss unter uns bleiben. Ich verlange Diskretion. Verstehen Sie?« Er baute sich breitbeinig vor dem Kommissar auf, musterte ihn mit entschlossenem Blick.

Langsam dämmerte Braig, wovon der Clown da sprach. »Diskretion? Sie haben Humor.« Er wusste nicht, ob sein Gegenüber voll bei Sinnen war. Glaubte der allen Ernstes, die Gewalttat an der jungen Frau vertuschen zu können, um die Mär der heilen Welt, für die sein Kuhkaff anscheinend stand, aufrechtzuerhalten? »Ihre Orchideenprinzessin ist in Ihrem Dorf bekannt, nehme ich an. Und in einigen Ortschaften in der Umgebung wohl auch. Mit diesem Ziel haben Sie ihr doch den Titel verliehen. Glauben Sie, die Leute verlangen nicht nach einer Erklärung, wenn die junge Frau plötzlich von einem Moment auf den anderen verschwindet? Und dann ihre angeblichen Affären. Sie behaupten, es handle sich um mehrere Männer. Haben Sie eine Ahnung, welches Aufsehen das erregen wird, wenn wir die der Reihe nach befragen und auf ihr Alibi überprüfen?«

Waller stöhnte laut auf, wedelte aufgeregt mit beiden Armen durch die Luft. »Sie werden doch nicht sämtliche Typen …«

»So lange, bis wir den Täter ermittelt haben«, fiel Braig ihm mitten ins Wort. »Tut mir leid, aber dazu gibt es keine Alternative. Auch wenn ich mir die Arbeit gerne ersparen würde.« Er griff in seine Tasche. »Hier sind meine Daten. Handy-Nummer und Mail-Adresse. Ich benötige die Liste innerhalb der nächsten Stunden. Heute Abend noch. Möglichst vollständig.« Er sah, wie der andere nach Luft schnappte und lauthals protestieren wollte, winkte mit seiner Rechten ab. »Je früher, desto besser. Und wie erwähnt: vollständig. Wenn Sie nicht alle parat haben, hören Sie sich um. Sie sind so ein tüchtiger Bürgermeister, Sie schaffen das!«

Braig wandte sich demonstrativ von dem Mann ab, lief zu seinem Kollegen. Der Spurensicherer kniete einen Meter von der Toten entfernt auf dem Boden und machte sich im trockenen Gras zu schaffen.

»Haben Sie noch etwas entdeckt?«

»Leider nicht«, erwiderte Meiser, »es war nur ein Versuch.«

»Was ist mit dem Handy der jungen Frau?«

»Einen Moment. Ich habe es in Gewahrsam genommen.« Der Spurensicherer erhob sich, lief zu einem silbernen Metallkoffer, entnahm ihm eine durchsichtige Plastikkladde. »Hier, bitte.«

Braig zog sich Handschuhe über, nahm das Handy entgegen. »Vielen Dank. Haben Sie schon überprüft, ob es gesichert ist?«

»Per Gesichtserkennung, ja. Ich habe es aktiviert.«

»Oh, Sie denken wirklich an alles. Danke. Dann werde ich es mir gleich vornehmen. Hatte sie weitere Gegenstände bei sich?« Er wandte sich um, weil er einen Motor aufheulen hörte, sah durch eine Lücke zwischen den Hecken, wie der Bürgermeister seinen Wagen umständlich wendete und dann Richtung Dorf davonfuhr.

»Eine kleine Tasche. Sieht aus wie ein Brillenfutteral. Enthält aber nur Kosmetikartikel. Hier, sehen Sie?«

Braig musterte das schmale, weiße Behältnis, das in der Tat einem Brillenfutteral ähnelte, entdeckte einen kleinen Parfümflakon, zwei Abdeckstifte und mehrere Sicherheitsnadeln. »Sie trug es bei sich?«

Der Spurensicherer wies auf die Überreste der jungen Frau, nickte.

»Sonst nichts?«

Meiser schüttelte den Kopf.

»Wer hat sie eigentlich entdeckt?«

»Keine Ahnung. Das müssen Sie die Kollegen fragen.«

Braig folgte der Kopfbewegung des Mannes, drückte sich durch das Buschwerk. Er sah Melk und die junge Beamtin neben mehreren laut schimpfenden Radfahrern und anderen Passanten am Rand des Weges stehen und der Staubfahne des davoneilenden Wagens hinterher starren.

»Rücksichtsloser Dreckskerl, elender«, schallte es zu ihm her. »Rast einfach den Radweg entlang.«

Er winkte dem Kollegen. »Der Weg hier ist für Autos gesperrt?«, nahm er die Bemerkung auf.

»Unser Alb-Radweg. Ein Touristen-Magnet. Sie glauben nicht, wie viele Leute hier vor allem am Wochenende unterwegs sind. Die Straße verläuft dort vorne. Sie wissen es ja.« Melk wies in die Richtung, aus der Braig zuvor gekommen war.

»Aber das interessiert diesen Bürgermeister nicht. Woher wusste er überhaupt Bescheid? Vom Tod der jungen Frau, meine ich. Da ging doch noch nichts an die Medien, oder?«

Der Kollege wandte den Blick verlegen zur Seite, kratzte sich am Hinterkopf. »Soweit ich weiß, nichts, nein. Und was unseren Bürgermeister betrifft …«

»Ja?«

»Ich habe ihn verständigt, vorhin, als wir auf Sie warteten. Ich weiß, das ist nicht ganz korrekt. Aber er ist eben der Bürgermeister, und bei uns informiert man den halt auch.«

Braig ließ einen lauten Seufzer hören. Derlei Kungelwirtschaft auf dem Land war er längst gewöhnt, konnte sie ein Stück weit auch nachvollziehen. Die Kollegen waren nicht nur als Polizeibeamte unterwegs, sie lebten auch privat in demselben Umfeld. Man kannte einander, traf sich in denselben Vereinen, war vielleicht sogar befreundet. Und der Herr Bürgermeister wollte und sollte Bescheid wissen, was sich in seinem Reich so abspielte – so war das seit jeher.

Er winkte ab, wollte den Kollegen nicht unnötig verärgern, konzentrierte sich auf sein eigentliches Anliegen. »Sind wir darüber informiert, wer die Tote gefunden hat?«, fragte er in gedämpftem Ton.

Melk nickte. »Eine Gruppe Radfahrer. Sie waren auf dem Weg zum Fest, wollten sich kurz vor dem Ort noch schnell erleichtern. Dort, hinter dem Gebüsch. Einer von ihnen jedenfalls. Da sah er sie dort liegen. Sie informierten uns per Handy. Eine volksfeststylisch aufgemachte Frau, erklärten sie. Die hatten nicht begriffen, um wen es sich tatsächlich handelt.«

»Die Namen der Radfahrer sind bekannt?«

»Alle vier. Sie haben versprochen, im Festzelt auf uns zu warten. Wenn Sie wollen, begleite ich Sie.«

»Gerne. Ich möchte vorher nur noch kurz das Handy von Frau Reickle überprüfen.«

Braig hörte, wie der Mann einen weiteren Beamten zur Unterstützung seiner Kollegin anforderte, bat den Spurensicherer, sich um den Abtransport der Leiche zu kümmern, sobald er die notwendigen Untersuchungen beendet hatte, warf dann einen Blick auf das Mobiltelefon der Toten.

Vier Anrufe am späten Nachmittag, der letzte um 18.11 Uhr, von derselben Nummer, von der aus man sie schon um 17.35 Uhr zu erreichen versucht hatte; erst beim zweiten Anlauf erfolgreich. Ein kurzes Gespräch, um 18.13 Uhr war es bereits beendet.

»Wissen Sie zufällig, wann genau die Radfahrer den Fund der Frau meldeten?«, wandte er sich wieder Melk zu.

»Moment. Das haben wir gleich.« Der Kollege konzentrierte sich kurz auf sein Handy, hatte die gewünschte Antwort dann parat. »18.55 Uhr.«

Sofern Katrin Reickle den Anruf um 18.11 Uhr wirklich selbst entgegengenommen hatte, war es also in der Zeit zwischen 18.13 Uhr und 18.55 Uhr passiert. In den 42 Minuten dazwischen. Sie mussten unbedingt die Identität des letzten Gesprächspartners der jungen Frau ermitteln. Vielleicht hatte die Person mitbekommen, ob Katrin Reickle in dem Moment einem anderen Menschen begegnet war.

Braig nahm sein eigenes Mobiltelefon zur Hand, verlangte bei den zuständigen Kollegen des Landeskriminalamtes schnellstmöglich Auskunft über die Identität der Anrufer dieses Nachmittags. »Die letzte Nummer bitte sofort.«

Keine zwei Minuten später ging die Mail ein.

»Ein Kevin Behrer«, las er den Namen laut vor. »Kennen Sie den Mann zufällig?«

Melk schüttelte den Kopf. »Nie gehört.«

»32 Jahre alt. Wohnt in Münsingen. Installateur von Beruf. Vielleicht der Freund der Frau oder einer ihrer Verehrer?«

Er griff nach dem Handy der Toten, versuchte, Behren zu erreichen. »Mailbox«, sagte er. »Ich muss es später noch einmal versuchen.«

Zwischen 18.13 Uhr und 18.55 Uhr also, rief er sich die mögliche Tatzeit noch einmal in Erinnerung. Das bedeutete, dass sich auch die Suche nach potenziellen Augenzeugen jetzt leichter eingrenzen ließ. Eine gute halbe Stunde kam als Tatzeit infrage, am frühen Abend zwar, des Sommers und des bisher wolkenfreien Himmels wegen aber bei vollem Tageslicht. Dazu die vielen Besucher des zumindest in der unmittelbaren Umgebung bekannten Festes …

»Wie viele Menschen waren hier auf dem Weg am späten Nachmittag unterwegs?«, überlegte er laut. »Festbesucher, oder?«

Melk nickte. »Radfahrer und Spaziergänger. Eine ganze Menge.«

»Schon irgendwie seltsam, ich meine, die vielen Passanten. Kann eine derart auffallend zurechtgemachte junge Frau hier wirklich völlig unbemerkt getötet werden?«

»Auf dem Weg wohl kaum. Jedenfalls nicht an einem Fest-Nachmittag. Es ist aber wohl dort hinter den Hecken passiert?«

»Davon sollten wir ausgehen, ja.«

»Ein beliebter Treffpunkt von Liebespaaren«, meinte Melk. »Mit verschiedenen Zugängen.«

Braig musterte ihn mit fragendem Blick.

»Es gibt eine Art Trampelpfad. Vom Treidleshof her immer im Schutz des Gebüschs. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Er wies zum Fundort der Toten, wartete, bis Braig das Mobiltelefon in seinem kleinen Rucksack verstaut hatte, schob sich dann vor ihm durch das Dickicht.

Der Spurensicherer kniete auf dem Boden, schaute irritiert zu ihnen hoch.

»Alles in Ordnung«, erklärte der Kommissar. »Lassen Sie sich nicht stören.« Er bemerkte Melks Fingerzeig, folgte ihm am unteren Ende des Wacholderhügels entlang in die Richtung des Dorfes. Trockene Gräser und Kräuter bedeckten den Boden, dichtes, wohl an die zwei Meter hohes Gestrüpp schirmte sie von den talseitigen Wiesen und dem parallel verlaufenden Feldweg ab.

»Wenn sie hier entlangkam …«

»… werden wir wohl vergeblich nach Augenzeugen suchen«, ergänzte Braig. Er blieb stehen, gab die Nummer des Spurensicherers ein, bat ihn, sich auch auf dem Pfad umzusehen, dem sie gerade folgten.

»Wenn mir noch die Zeit bleibt«, brummte der Kollege.

Braig musterte die dunkle Wolkenwand am Himmel, verstand Meisers Bedenken. Lange würde es wohl nicht mehr trocken bleiben.

»Die Tote«, wandte er sich wieder an seinen Begleiter. »Sie kannten die junge Frau?»

»Die Orchideenprinzessin?» Melk brauchte nicht lange zu überlegen. »Die kennt jeder hier in der Umgebung.«

»Na ja, der Radfahrer, der sie dort entdeckte, anscheinend nicht. Wenn es wirklich stimmt.«

»Der war in Feierlaune, wollte pinkeln und sah sich plötzlich einem leblosen Menschen gegenüber«, gab der Kollege zu bedenken. »Unter diesen Umständen …«

»Sie haben recht«, räumte Braig ein. »Ich wollte nur wissen, ob sie bei diesem Fest irgendwelche Verpflichtungen hatte. Der Bürgermeister behauptete, sie sei den ganzen Mittag bis gegen 18 Uhr dabei gewesen. War das privater Natur, oder gab es bestimmte Aufgaben für sie? War sie allein dort oder mit Begleitung?«

»Sie müssen mit Frau Weiss sprechen, der rechten Hand des Bürgermeisters. Sie kümmert sich um alles, was in der Gemeinde wichtig ist, auch um die Organisation und den Ablauf sämtlicher Veranstaltungen. Die kann Ihnen bis ins Detail erklären, was die beiden Prinzessinnen zu erledigen hatten.»

»Es gibt noch eine Prinzessin?«, wunderte sich Braig.

Melk wich der Wurzel einer weit verzweigten Dornenhecke aus, winkte mit der Rechten ab. »Nicht der Rede wert. Die Rulaman-Prinzessin. Seit letztem Jahr. Sie ist noch kaum bekannt.«

»Rulaman? Nach dem sagenumwobenen Höhlen-­Menschen?«

»Sie kennen die mythologische Gestalt? Die Prinzessin danach zu benennen, war eine Idee unseres Bürgermeisters. Er will darauf aufmerksam machen, dass am Rand seiner wunderbaren Gemeinde eine Höhle existiert, in der Relikte von Steinzeit-Bewohnern entdeckt wurden. Ein weiterer Grund, die Alb-Metropole zu besuchen.«

Braig sah das verschmitzte Grinsen seines Kollegen, nickte. »Ein cleverer Mann, Ihr Bürgermeister. Aber diese Frau Weiss, wo finde ich sie, heute am Sonntagabend?«

»Wo wohl?«, lachte der uniformierte Beamte. »Am Prominententisch direkt vor der Bühne im großen Zelt.«

»Auch heute Abend noch?«

»Garantiert.«

Ein greller Blitz schoss aus der dunklen Wolkenwand über weite Teile des Himmels. Sie hatten die Gebäude des landwirtschaftlichen Anwesens am Ortsrand unmittelbar vor sich, hörten das heftige Grollen des Donners. Die Wacholderheide wurde hier von steil ansteigendem Wald begrenzt, der Trampelpfad teilte sich: Die schmalere Version folgte dem Waldrand hinter den Stallungen, der ausgetretenere Weg bog vor den Ausläufern des Bauernhofes nach rechts ab direkt auf den Feldweg zu. Sie nahmen den letzten, sahen eine große Gruppe sportlich gekleideter Radfahrer, die sich dorfauswärts bewegte.

»Wer wohnt hier?«, erkundigte er sich. »Sie kennen sich aus? Wir sollten die Leute fragen, ob sie heute Abend Frau Reickle oder eine andere Person auf dem Pfad dort beobachtet haben.«

Melk grinste. »Ja, ich kenne mich hier aus. Brechtlingen gehört zu meinem Revier. Und ich wohne keinen Kilometer entfernt.« Er wies in den Ort. »Das Anwesen hier wird von zwei Frauen bewirtschaftet. Maybritt Kaiser. Vielleicht sagt Ihnen der Name etwas?«

Sie drückten sich an mehreren Schafen und Ziegen vorbei, die mitten auf dem Feldweg weideten, sahen die begeisterten Gesichter mehrerer Kinder, die die Tiere streichelten.

»Maybritt Kaiser«, wiederholte Braig. Irgendwoher kam ihm der Name tatsächlich bekannt vor.

»Journalistin und Gerichtsreporterin. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen. Macht auch Reportagen fürs Fernsehen. Der Hammermörder zum Beispiel oder Hungertod im reichen Remstal.«

»Hungertod im reichen Remstal?« Braig blieb auf der Stelle stehen, musterte den Kollegen. Er wusste sofort, um was es ging. »Das sagt mir etwas, allerdings. Hungertod im reichen Remstal. Ich war der ermittelnde Kommissar. Gemeinsam mit meiner Kollegin. Einer unserer schockierendsten Fälle.« Der ihn heute noch aufwühlte, wenn er davon hörte. Er verschwieg diesen Sachverhalt aber, um nicht noch mehr an das Geschehen erinnert zu werden.

Der Hungertod eines von seinen Pflegeeltern vernachlässigten Jungen hatte sie nach Beutelsbach gerufen, wo sie auf zwei weitere physisch und psychisch völlig verwahrloste Brüder des Verstorbenen gestoßen waren. In der Wohnung eines als Sozialarbeiter ausgebildeten Ehepaares, das für die Betreuung der Kinder vom Jugendamt gut bezahlt worden war. Er wusste noch allzu gut, wie sehr Neundorf und ihn der Anblick und der Hungertod des Jungen getroffen hatten. Und er erinnerte sich, später, anlässlich des Gerichtsprozesses, den überraschend einfühlsamen Bericht Frau Kaisers gelesen zu haben.

Melks lauthals geäußerter Kommentar riss ihn aus seinen Gedanken. »Sie waren damals damit beschäftigt? Oh Gott, können Sie noch ruhig schlafen?«

Braig holte tief Luft, versuchte sich mit einem gequälten Lachen. »Nicht immer, nein«, antwortete er, winkte mit seiner Rechten ab. »Aber bitte, lassen Sie uns nicht unnötig …« Er brach mitten im Satz ab, bemerkte an der ernsten Miene des Kollegen, dass er ihn verstand. »Diese Frau Kaiser wohnt hier?«

»In diesem Kaff, ja. Sie hat das Anwesen von Tante und Onkel geerbt, den sogenannten Treidleshof. Gemeinsam mit ihrer Cousine. Corona hat sie veranlasst, sich hierher zurückzuziehen. Und jetzt ist sie geblieben. Weil sie sich mit ihrer Cousine so gut versteht. Und um ihren Traum von einem Gnadenhof für vernachlässigte Tiere zu verwirklichen. So erzählt man es sich jedenfalls.«

Sie erreichten das Hauptgebäude des Anwesens, ein zweistöckiges Haus, dessen Fassaden frisch hergerichtet wirkten. Das Dach war auf der Südseite ebenso wie das des nur einen Stockwerk hohen Anbaus komplett mit Solarmodulen bestückt. Unmittelbar daneben erstreckten sich zwei etwas baufällig wirkende Ställe, deren offen stehende Tore genau wie ein großer Teil des eingezäunten Hofes von friedlich weidenden Schafen, Ziegen und Schweinen gesäumt wurden. Braig las das auf einem großen Baumstamm neben dem Eingang eingravierte Treidleshof, bemerkte die Verkaufstheke im rechten Eck des Anbaus, um die sich mehrere Menschen scharten. Eine kräftige Frau um die fünfzig hievte gerade leere Kisten auf eine Sackkarre und fuhr sie zum Ausgang.

»Das ist sie«, erklärte Melk.

Braig steuerte auf die Frau zu, erreichte sie in dem Moment, als sie die wacklige Fracht auf den Hof balancierte. »Frau Kaiser«, rief er. »Ich will Sie nicht bei Ihrer Arbeit stören, aber …«

Sie blieb stehen, wandte sich ihm zu.

»Braig ist mein Name. Ich bin Polizeibeamter.«

»Das kann ich mir denken, wenn der dabei ist«, schleuderte sie ihm in abfälligem Ton entgegen, auf Melk weisend, der mehrere Meter hinter ihnen zurückgeblieben war. Sie hatte eine tiefe, rauchige Stimme, war mit einem blauen Arbeitsanzug bekleidet. Ihr von einer frischen Verletzung auf der linken Wange geprägtes Gesicht spiegelte pures Misstrauen.

Braig war die offen zur Schau gestellte Skepsis gegen seinen Beruf nicht neu, wunderte sich dennoch über die unfreundliche Reaktion der Frau. Er war noch nicht einmal dazu gekommen, sein Anliegen zu formulieren, sah sich dennoch mit ihrer unverhohlenen Ablehnung konfrontiert. Hatte das mit ihrer Arbeit als Gerichtsreporterin zu tun?

Er beschloss, ihr seltsames Verhalten zu ignorieren und stattdessen direkt zur Sache zu kommen. »Es geht um Frau Reickle. Ich nehme an, dass Sie sie kennen?«

»Frau Reickle?« Mit vor der Brust verschränkten Armen starrte sie an ihm vorbei in die Richtung, wo er seinen Kollegen vermutete.

Er wandte sich zur Seite, sah, dass Melk den Hof wieder verlassen hatte und auf den Feldweg getreten war.

»Sie kennen sie?«, wiederholte er.

»Was wollen Sie von ihr?«

»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»Pah.« Maybritt Kaiser schüttelte den Kopf, wies in die Höhe. »Was geht Sie das an? Spätestens in fünf Minuten öffnet der Himmel alle Schleusen. Glauben Sie, ausgerechnet jetzt habe ich Lust auf irgendwelchen Tratsch?«

»Wir sind auf der Suche nach Frau Reickle«, versuchte es Braig mit einer Notlüge. »Angeblich soll sie heute Abend hier in der Nähe gesehen worden sein.«

»Sie suchen Katrin?«

Überrascht nahm er wahr, dass die Frau den Vornamen des Mordopfers benutzt hatte. »Sie kennen sie näher?«

Sein Gegenüber zeigte keine Neigung, ihre abweisende Haltung zu ändern. »Ich habe sie heute Abend noch nicht gesehen. Das arme Ding muss wieder den ganzen Tag das Gegeifer dieser geilen, alten Säcke über sich ergehen lassen. Bei diesem Massenbesäufnis. Dort sollten Sie nach ihr suchen.« Sie wies in die Richtung des Ortskerns, wandte sich ihren Kisten zu.

»Der schmale Pfad an ihren Weiden entlang zum Wacholderhang. Haben Sie jemanden beobachtet, heute am späten Nachmittag?«

Maybritt Kaiser schüttelte den Kopf, packte die Sackkarre, marschierte zum nahen Stall. »Sie wissen doch, was heute hier los war. Wir haben geschuftet. Da blieb keine Zeit für romantische Naturbeobachtungen.«

Braig schaute ihr nach, bis sie, mehrere Tiere liebkosend, im benachbarten Gebäude verschwand, wandte sich zum Ausgang, wo sein Kollege in einer Runde feixender Männer auf ihn wartete. Der Tod der Orchideenprinzessin schien sich tatsächlich noch nicht herumgesprochen zu haben, der anzügliche Ton der Unterhaltung der teilweise angetrunkenen Schar war jedenfalls nicht zu überhören. Braig vernahm mehrfach Begriffe wie Titten und vögeln, bemerkte, dass Melk es offenkundig eilig hatte, sich von der Runde zu lösen, bevor er bei ihm angelangt war.

»Nicht besonders gut gelaufen?«, empfing er ihn.

»Die Frau scheint Vertreter unseres Berufes nicht gerade zu lieben«, antwortete er.

»Das ist bekannt«, erklärte Melk. »Die würde Stein und Bein darauf schwören, Reickle noch nie gesehen zu haben, selbst wenn sie gerade zehn Tage mit ihr zusammen war. Nur um uns zu täuschen. Haben Sie übrigens ihre Verletzung gesehen?«

»Auf ihrer linken Wange?«

»Genau.«

»Wieso erwähnen Sie das? Glauben Sie, Frau Kaiser könnte etwas mit dem Verbrechen …« Braig hielt inne, schielte auf seinen kleinen Rucksack, aus dem die Melodie eines bekannten Popsongs zu hören war.

»Taylor Swift.« Melk grinste über beide Ohren. »Ganz schön fetzig.«

»Für mich alten Knochen, meinen Sie?« Braig schüttelte den Kopf, kramte das Handy der Toten hervor. »Das Gerät der Orchideenprinzessin. Eine WhatsApp, nehme ich an.« Er zog sich erneut die Plastikhandschuhe über, öffnete die App. Noah Weiner, dem kreisrunden Foto nach ein gut aussehender, junger Mann Mitte zwanzig, schien über das Schicksal Katrin Reickles nicht informiert.

Wo bist du? Wann kommst du endlich?

Oder er machte auf unwissend, um seine Tat zu verschleiern, ging es Braig durch den Kopf. »Ein Noah Weiner«, sagte er laut, seinem Kollegen das Display mit dem Porträt des Absenders entgegenstreckend. »Stammt er von hier?«

Melk musterte das Foto, hob abwehrend beide Hände. »Mir ist er nicht bekannt. Aber das will nichts heißen. Wir haben verschiedene Neubaugebiete in der Umgebung. Mit etlichen neu Zugezogenen.«

»Sein dritter Versuch heute Abend, die junge Frau zu erreichen.« Braig studierte die Zeitangaben.

Bin auf unserem gemeinsamen Platz im kleinen Zelt. Bis gleich. 19.32 Uhr.

Was ist mit dir? Freddy und Miles, zwei alte Freunde, sind da. Kommst du bald? 19.48 Uhr.

Und jetzt um 20.18 Uhr sein dritter Versuch.

»Er wartet im kleinen Zelt. Sagt Ihnen das etwas?«