Schwarzenberg - Stefan Heym - E-Book

Schwarzenberg E-Book

Stefan Heym

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Beschreibung

1945: Der Krieg ist zu Ende, und die Siegermächte machen sich an eine Neuordnung Deutschlands. Doch ein kleines Fleckchen Erde namens Schwarzenberg wird dabei einfach vergessen. Die Einwohner nutzen die Chance, ihre Zukunft selbst zu gestalten – und so entsteht in der kargen Landschaft des Erzgebirges eine kleine freie deutsche Republik. Doch der Versuch, auf Dauer eine Demokratie einzurichten, die diesen Namen verdient, glückt nicht: Nur allzu bald wird die Republik Schwarzenberg von der Politik der Großmächte eingeholt.
Ein faszinierendes und packend erzähltes Gedankenspiel und eine Utopie, die beinahe Wirklichkeit geworden wäre.

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Zum Buch:

1945: Der Krieg ist zu Ende, und die Siegermächte machen sich an eine Neuordnung Deutschlands. Doch ein kleines Fleckchen Erde namens Schwarzenberg wird dabei einfach vergessen. Die Einwohner nutzen die Chance, ihre Zukunft selbst zu gestalten – und so entsteht in der kargen Landschaft des Erzgebirges eine kleine freie deutsche Republik. Doch der Versuch, auf Dauer eine Demokratie einzurichten, die diesen Namen verdient, glückt nicht: Nur allzu bald wird die Republik Schwarzenberg von der Politik der Großmächte eingeholt. Ein faszinierendes und packend erzähltes Gedankenspiel und eine Utopie, die beinahe Wirklichkeit geworden wäre.

Heyms visionärere Roman, bei C. Bertelsmann erstmals erschienen 1984, nun auch Teil der digitalen Werkausgabe.

»Stefan Heyms schöne literarische Utopie aus der verfehlten deutschen Geschichte macht höchst nachdenklich.«

Stuttgarter Zeitung

»Mit seiner rhetorischen Energie fesselt Schwarzenberg bis zum Schluß.« FAZ

Zum Autor:

Stefan Heym, geboren 1913 in Chemnitz, floh als kritischer jüdischer Intellektueller vor der Nazidiktatur nach Amerika. Während der McCarthy-Ära verließ er das Land und siedelte sich 1952 in der DDR an. Er war ein international hoch geschätzter Schriftsteller und streitbarer Publizist, der zu den bedeutendsten und erfolgreichsten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur zählt. Er starb 2001 auf einer Vortragsreise in Israel.

Außerdem von Stefan Heym als E-Book lieferbar:

Die Architekten

Ahasver

Nachruf

Immer sind die Weiber weg

König David Bericht

Die Kreuzfahrer

Wege und Umwege / Einmischung

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Stefan Heym

Schwarzenberg

Roman

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 1984 Inge Heym

Copyright © dieser Ausgabe 2021

C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Sabine Kwauka, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27827-4V003

www.cbertelsmann.de

Zwo gewaltige Nationen ringen

um der Welt alleinigen Besitz,

aller Länder Freiheit zu verschlingen,

schwingen sie den Dreizack und den Blitz.

Ach, umsonst auf allen Länderkarten

spähst du nach dem seligen Gebiet,

wo der Freiheit ewig grüner Garten,

wo der Menschheit schöne Jugend blüht.

Schiller

Der Antritt des

Neuen Jahrhunderts

Vorbemerkung

Der Ich-Erzähler, der in längeren Abschnitten dieses Buches zu Worte kommt, ist der Genosse Ernst Kadletz aus der Stadt Schwarzenberg, der seine Erinnerungen aus der Zeit der Republik und seine Gedanken dazu für mich auf Tonband sprach. Als ich, nach Beendigung der Arbeit, mit ihm eine etwaige zukünftige Verwendung der Aufnahmen erwog und die Rechte erwähnte, die sich daraus für ihn oder seine Erben ergeben könnten, blickte er mich zunächst verständnislos an; dann winkte er ärgerlich ab und sagte: »Geschenkt!«, und nach kurzer Pause: »Ich habe mir das alles jetzt von der Seele geredet, und ich will nichts mehr damit zu tun haben.«

Im übrigen hinterließ er, wie meine Nachfragen ergaben, keine Erben. Die Tonbänder wurden später abgeschrieben und die Abschriften bis zum Tod von Kadletz an sicherem Orte aufbewahrt. Erst danach machte ich mich daran, das Vorhandene zu sichten und zu ordnen, Überlappendes zu schneiden und die Redeweise, wo nötig, mit aller Behutsamkeit zu ändern.

In den anderen Kapiteln, in denen der sogenannte allwissende Erzähler die Fäden in der Hand hat, ist der Text mein eigener.

S. H.

1

Aufzeichnung Kadletz:Allgemeines

Die Republik Schwarzenberg ist nicht mehr auffindbar. Selbst das Gebiet, das einst zu ihr gehörte, ist aufgeteilt worden. Fast scheint es, als hätten gewisse Personen ein Interesse daran gehabt, alles Gedenken an sie auszulöschen, so als wäre diese kleine Republik, geleitet von wohlmeinenden und ehrlichen Leuten, keiner von ihnen hat sich in jenen Hungertagen auch nur um eine Krume Brot bereichert, etwas Schlimmes gewesen, eine Art Krankheit, eine Pestbeule, die man ausbrennt. Sie ist, wie soll man sagen, ein Nicht-Ereignis geworden; kein Wort über sie wird laut im Schulunterricht; und versuchen Sie einmal, an die Archive heranzukommen, die, durch die Zeit damals bedingt, sowieso nur Dürftiges enthalten.

Ich kann mich auch täuschen, wenn ich hinter dieser Verdrängung eines Stücks Geschichte eine Absicht vermute, welche, das liegt in der Natur der Dinge, eine politische gewesen sein müßte. Vielleicht waren die Gründe für die bald nach ihrer Besetzung erfolgte administrative Umstrukturierung der Republik und die Unterschlagung sogar des Namens Schwarzenberg durch die Neubezeichnung ihres Territoriums als Landkreis Aue auch wirklich nur verwaltungstechnischer Art, und die spätere Aufspaltung selbst dieser Verwaltungseinheit in die nunmehr viel kleineren Kreise Aue, Johanngeorgenstadt, Schwarzenberg und Schneeberg mag einfach damit zu erklären sein, daß durch eine solche Neueinteilung anstelle eines einzigen Behördenapparates ihrer vier entstehen konnten, die nun das Vierfache an Funktionärsstellen boten, mit zugehörigen Gehältern und Privilegien und zugehörigem Leerlauf. Im übrigen haben auch diese neugeschaffenen Behörden heute kaum irgendwelche Bedeutung, weil das ganze Gebiet dem Herrschaftsbereich der Wismut zugeschlagen wurde, die wie ein Staat im Staate ist, einschließlich eigener Sicherheitsorgane, und sogar einen eigenen Parteibezirk bildet, und die, nach außen hin eine Aktiengesellschaft mit fünfzig Prozent ihrer Aktien in Sowjethand, von einem sowjetischen Generaldirektor geleitet wird.

Sie wissen ja, was hinter der Firmenbezeichnung Wismut sich verbirgt: Uran, Kernenergie, die Bombe. Wenn ich mir vorstelle, wie anders die Geschichte der Republik vielleicht verlaufen wäre, hätten die Amerikaner gewußt, was da unter schwarzenbergischem Boden lagerte! Dabei hätten sie es wissen können, denn waren die Bergleute, die in früheren Zeiten in dieser Gegend nach Silber und Zinn gruben, nicht immer wieder auf Pechblende gestoßen, und waren die radioaktiven Quellen im Umkreis nicht ein bedenkenswerter Hinweis? Aber wie der Sergeant Whistler, der unter Lieutenant Lambert bei der amerikanischen Militärregierung in dem unserer Republik benachbarten Städtchen Auerbach seinen Dienst versah, während eines kleinen Beutezugs durch Schwarzenberger Photogeschäfte beiläufig vernehmen ließ, läuft das militärische Denken zumeist nur in einer Richtung, die noch dazu häufig die falsche ist. Heute beißen sich die Amerikaner in den Bauch, denn das Material für die erste Atombombe, die unsere sowjetischen Freunde zündeten, kam aus dem Territorium der Republik Schwarzenberg, und diese, im Besitz solcher Bodenschätze, hätte trotz ihres geringen Umfangs ein finanziell gesundes, wenn nicht gar wohlhabendes Staatswesen werden können, hätte man sie nicht eines Tages okkupiert und der Ostzone, wie sie damals hieß, einverleibt.

Zur Zeit ihres Endes gehörten zum Gebiet der Republik der ehemalige Landkreis Schwarzenberg und die kreisfreie Stadt Aue; kreisfrei hieß, daß diese Stadt, wir sprechen von der Periode vor Mai 1945, verwaltungsmäßig nicht dem Landrat in Schwarzenberg unterstand, sondern direkt der sächsischen Landesregierung in Dresden und, politisch, dem Gauleiter Mutschmann.

Nun werden Sie fragen, wie die Republik Schwarzenberg überhaupt entstanden ist. Geplant war ihre Gründung nicht, soviel ist sicher. Es konnte damals von irgendwelchem Planen auch gar nicht die Rede sein; die Menschen handelten in einer Art von Schock, und nur ganz wenige, wie etwa Max Wolfram oder Erhard Reinsiepe, dachten über den nächsten Tag hinaus. Dazu kam, daß in diesem Teil des Landes noch völlig unklar war, wer kommen und das Dorf oder die Stadt besetzen würde, die Russen oder die Amerikaner; die Mehrzahl der Leute, das war sogar unter den Fremdarbeitern und erst recht bei den Flüchtlingen spürbar, hoffte, es möchten die Amerikaner sein, weil diese aus einem bekanntlich sehr reichen Lande kamen und daher größere Vorräte mit sich führen würden, an die sich eventuell herankommen ließe, während die Russen, ebenso arm wie unzivilisiert und ungezügelt, und dazu rachsüchtig, die geringen Werte, die einem geblieben waren, plündern, die Weiber vergewaltigen und Gott weiß was noch für Schandtaten begehen würden.

An die Möglichkeit, daß gar keine Besatzer einrücken könnten, dachte niemand.

2

Militärisches Zwischenspiel

Sergeant James McNeill Whistler, ein Nachkomme des bekannten amerikanischen Malers James Abbott McNeill Whistler, dessen Bild »Whistler’s Mother« im Louvre zu finden ist, dient zur Zeit beim Stab einer US-Panzerdivision, wo man ihn, in der Annahme, Talent sei vererbbar, als Kartenzeichner verwendet, gelegentlich aber auch, und wiederum seines Namens wegen, als Begutachter von Gemälden und anderen Kunstwerken, welche die Offiziere der Division sowie rechts und links anschließender Einheiten im Kriegsgetümmel mitgehen ließen, ohne deren Wert oder Unwert genauer zu erkennen.

Der Stab liegt an diesem 3. Mai des Jahres 1945 in einem romantisch anmutenden thüringischen Dorf, während die Spitzen der Division auf breiter Front, und ohne ersichtliche Eile, sich in Richtung Zwickau vorarbeiten, des Geburtsortes des Komponisten Robert Schumann, um von da aus auf die größtenteils zerstörte Industriestadt Chemnitz vorzustoßen. Vor Chemnitz soll dann, wie man beim Stabe erfahren hat, die ganze Bewegung zum Halten kommen, denn der in der Nähe der Stadt verlaufende 13. Längengrad ist als die vorläufige Trennlinie zwischen den sowjetischen und amerikanischen Besatzungszonen vorgesehen.

Whistler betritt, lässig grüßend, die Bauernstube, in welcher Lieutenant Lambert an einem Holztisch sitzt und, während er aus einer angeschlagenen grünen Keramiktasse Kaffee trinkt, versonnen auf ein in seiner Brieftasche steckendes, schon etwas verblaßtes Photo eines Mädchens blickt. Lieutenant Leroy Lambert, Whistlers direkter Vorgesetzter, ist der Sohn eines aus Leipzig stammenden lutherischen Pastors im Staate Wisconsin; er hat Germanistik studiert, drei Semester davon in der Heimatstadt seines Vaters, wo er eine junge Jüdin namens Esther Bernhardt kennen und lieben lernte. Seiner Deutschkenntnisse wegen ist er bereits zu einer Abteilung der amerikanischen Militärregierung abgestellt, hat aber seine Marschorder noch nicht erhalten und tut daher, wenn auch ohne großes Interesse, seinen Dienst im Divisionsstab weiter. Seit er, dicht hinter der kämpfenden Truppe, Deutschland wieder betreten hat, haben sich in seinem Wesen Änderungen vollzogen, über deren Ursachen und Auswirkungen er sich nicht ganz klar ist, die aber, ahnt er, mit einem Schuldgefühl gegenüber dem Mädchen auf dem Bilde, eben jener Esther, zu tun haben mögen. Whistler räuspert sich.

Lieutenant Lambert verstaut Brieftasche samt Photo in der Jacke seiner Uniform. »Probleme?« erkundigt er sich.

Whistler breitet, nachdem er die grüne Kaffeetasse beiseite geschoben hat, eine Karte auf dem Tisch aus. Auf dieser Karte, erkennt Lambert, hat Whistler mit blauem Farbstift eine punktierte Linie eingetragen, die westlich an Chemnitz vorbeiführt und unmittelbar nördlich der kreisfreien Stadt Aue abbricht. »Die oben«, bemerkt Whistler, »haben schon wieder Mist gebaut.«

»Inwiefern?« sagt Lambert, im Kopf noch immer die Frage, wie man in diesem wirren Deutschland oder auch weiter östlich ein lange schon verschollenes Mädchen auffinden könnte: am besten wahrscheinlich über die Militärregierung, bei der er ja arbeiten wird.

»Wie soll es von hier aus weitergehen?« sagt Whistler, auf die Stadt Aue weisend.

»Das wird Ihnen doch wohl mitgeteilt worden sein!« erwidert Lambert und versucht, sich auf die Eintragungen auf der Karte zu konzentrieren.

Whistler legt seinem Lieutenant eine auf schlechtem Papier vervielfältigte Direktive vor. »Da steht: an der Grenze des Landkreises Schwarzenberg entlang«, sagt er.

Lambert starrt auf die Karte.

Sergeant Whistler beugt sich über den Tisch. Mit seinem bläulich beschmierten Zeigefinger verfolgt er den Umriß des Landkreises Schwarzenberg, der einem etwa gleichschenkligen Dreieck ähnelt, mit dem Erzgebirgskamm bei Johanngeorgenstadt als Basis. Dann spreizt er Daumen und Mittelfinger, so daß deren Spitzen jeweils auf einem der Schenkel zu ruhen kommen. »An der Grenze entlang«, sagt er. »Aber an welcher Grenze? Der östlichen oder der westlichen?«

Lieutenant Lambert beginnt zu erkennen, in welch mißliche Lage er durch die unklare Direktive seiner vorgesetzten Stelle geraten ist, und er verflucht den umständlichen Dienstweg, auf dem seine Marschorder zur Militärregierung stecken geblieben sein muß. Er hat Visionen von Vorausabteilungen, russischen und amerikanischen, die sich in dem gebirgigen Gelände zwischen Aue, Schwarzenberg und Johanngeorgenstadt ineinander verstricken werden, wenn er Whistler die blaue Linie entlang der östlichen Grenze dieses verdammten Landkreises weiterführen läßt und die Sowjets zugleich mit den Panzern seiner Division dort einrücken. Wählt er aber die westliche Grenzlinie, und der Teufel will’s, daß die Russen ihrerseits an der östlichen stehen bleiben, so kann es passieren, daß sich in diesen Bergen ein Widerstandsnest bildet, ein Drittes Kleinstreich sozusagen, das, einstweilen von keiner Seite bedroht, zum Asyl für allerhand hartnäckige Nazis und zum Ausgangspunkt ihrer unschönen Aktionen werden würde.

»Was meinen Sie denn, Whistler?« sagt er. »Wie würden Sie verfahren?«

»Ich«, sagt Whistler, »bin nur ein kleiner Sergeant.«

Lambert nimmt seine Brille ab und massiert die Druckstellen auf seinem Nasensattel. Man könnte versuchen, überlegt er, mit dem Korps in Verbindung zu kommen und Major Pembroke zu fragen, was der und seine Leute sich gedacht haben bei ihrer Direktive, und wenn sich, was er stark vermutet, herausstellt, daß sie dort gar nicht auf den Gedanken gekommen sind, daß jedes geschlossene Gebiet, mag es auch noch so klein sein, von Natur aus nach mehreren Himmelsrichtungen hin begrenzt ist, so ließe sich anregen, daß sie vielleicht erkunden könnten, wo die Russen haltzumachen gedenken.

Major Pembrokes Abteilung beim Stab des der Division übergeordneten Korps ist an diesem Morgen nur bedingt aktionsfähig, da die Herren in der vorhergehenden Nacht größere Mengen erbeuteten Champagners, gemischt mit Kognak, vertilgt haben. Major Pembroke, von seiner Ordonnanz aus dem Bett geholt, hängt triefäugig am Telephon und bemüht sich, seine Gedanken zu ordnen, während Lieutenant Lamberts Worte bald stärker, bald schwächer an sein Ohr dringen.

»Schwarzen – was?« ruft er in den Apparat. »Schwarzenberg? Wo liegt denn das? Und was, sagen Sie, ist dort?«

Lambert, am anderen Ende der notdürftig hergestellten Verbindung, versucht zu erklären: Ostgrenze, Westgrenze, die Russen.

Pembroke versteht nicht. »Wieso die Russen? Was haben Sie mit den Russen?«

Lambert setzt ihm die Situation noch einmal auseinander. Er hält seine Sätze simpel, Subjekt, Prädikat, Objekt.

»Und was sollen wir tun?« schreit Pembroke. »Verbindung aufnehmen – mit den Russen? Wir, hier?«

»Yes, Sir«, sagt Lambert.

»Sind Sie verrückt, Mann?« Pembrokes Stimme kippt über. »Nein, wir haben keinen sowjetischen Verbindungsoffizier beim Korps. Beim Armeestab dürfte einer sein, aber für so etwas ist der auch nicht zuständig. Armee müßte über Armeegruppe zum Obersten Hauptquartier gehen; dort werden sie, nehme ich an, einen Draht nach Moskau haben. Doch bevor das alles durch ist und der Rücklauf kommt, haben wir schon den nächsten Krieg.« Pembroke atmet schwer; so viele Worte, wegen so einer Lappalie.

Lambert schweigt.

»Lambert!« brüllt Pembroke. »Sind Sie noch da, Lambert?«

»Yes, Sir«, sagt Lambert und erkundigt sich vorsichtig, was er denn nun tun solle.

Major Pembroke, der meint, genügend gesagt zu haben, wird ungeduldig. »Sie sind an Ort und Stelle, Lambert. Also entscheiden Sie. Ende.«

Lieutenant Lambert legt den Hörer zurück auf das Gerät, sanft.

Sergeant Whistler blickt ihn fragend an.

Lambert erhebt sich. »Sie zeichnen die Karten, Whistler. Also entscheiden Sie. Ende.«

Whistler holt eine 25-Cent-Münze aus seiner Hosentasche. »Kopf«, sagt er, »ist West, Wappen Ost.« Dann wirft er die Münze mit einer geschickten Drehung des Handgelenks in die Luft. Die Münze klirrt auf den Tisch, rollt noch ein kleines Stück und kippt um.

»Kopf«, sagt Lambert.

3

Aufzeichnung Kadletz:Anfänge

Dauernd umgeben von den verschiedensten Geräuschen, sind wir uns, da werden Sie mir beistimmen, ihrer kaum je bewußt. Wirklich wahrnehmen werden wir sie nur dann, wenn wir aus einer inneren Unruhe heraus oder auch aus einer Art wissenschaftlichem Interesse unser Augenmerk auf sie richten oder wenn ein ungewöhnlicher Laut unser Ohr trifft, ein besonders schrilles Klingeln, ein Schrei, ein Krachen – oder wenn sie plötzlich aufhören. Ganz verstummen sie natürlich nie; immer bleibt ein fernes Echo, ein verhallender Schritt, oder war es der eigene, der die Stille, die da eingetreten ist, um so auffälliger werden läßt.

Frieden.

Nach wie langer Zeit … Denn wann dieser Krieg eigentlich angefangen hatte, das wußte schon keiner mehr so richtig, wahrscheinlich begann er bereits mit den Fackelzügen der Uniformierten durch die Städte des Reiches und mit den gellenden Aufrufen der Führer.

Frieden.

Und dann diese unvorstellbare Stille. Aber Sie haben das ja wohl selber miterlebt, wenn auch an anderem Ort und unter anderen Umständen. In der vergangenen Nacht, pünktlich um null Uhr, so hatten sie im Radio angesagt, waren die Feindseligkeiten eingestellt worden – Feindseligkeiten, was für ein außerordentlich zurückhaltendes Wort für so viel Blut. In solcher Stille ist man versucht, nachzudenken: wie alles war und wie es geschehen konnte, auch wie es gekommen sein mag, daß man selbst noch lebt, trotz Verhaftung, Verhören, Konzentrationslager oder, andersherum betrachtet, gerade deshalb. Das nie mehr, hatte Bertha mir gesagt, als ich von dort zurückkam, ich bin deine Frau, hatte sie gesagt, und ich verlange von dir, daß du dich von jetzt an ruhig verhältst, die haben die Macht, das siehst du doch, und es kommt mir kein unbedachtes Wort mehr aus deinem Mund, nichts, was sie reizen könnte, du tust deine Arbeit, wenn du welche kriegst, und wartest, bis sie dich vergessen. Und es gab ja auch keinen mehr, mit dem zusammen sich etwas hätte unternehmen lassen, eine kleine Stadt, dieses Schwarzenberg, keine dreizehntausend Einwohner damals, jeder beobachtete jeden, nicht mal ein Gespräch kam zustande. Da sah ich schließlich ein, so schwer es mir auch fiel, daß Überleben alles war. Es war sogar eine revolutionäre Pflicht: überleben, bis der Tag käme.

Das Sonderbare war nur, ob Sie es mir nun glauben oder nicht, daß der Tag gekommen war, und ich wußte es nicht. Nur diese Stille war um mich, und ich fragte mich, wo sind denn auf einmal die Leute? Und in dem Moment sagte eine Stimme: »Sind Sie nicht Herr Kadletz?«

Der Fragesteller mußte mein Erschrecken wohl bemerkt haben, denn er lachte leise und sagte: »Was starren Sie so, ich bin kein Gespenst.«

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er da stand, vor dem Haus am Marktplatz, dürre Silhouette gegen die hellgrauen blechernen Rolläden, die an dem Tag heruntergelassen waren und so die Kleiderpuppen hinter den Schaufenstern verbargen, und wie er sich auf das Mädchen an seiner Seite stützte, das merkwürdig geistesabwesend zu sein schien und nur lebendig wurde, wenn es ihn anblickte. Ich spürte, daß ich ihn eigentlich kennen müßte, aber in welcher Gestalt hatte ich ihn einst gekannt, gewiß nicht in dieser, mit dem schütteren, an den Schläfen schon ergrauten Haar und dem ausgezehrten Gesicht, in dem die dunklen Augen wie die Höhlen in einem Totenschädel wirkten.

»Paula«, sagte er, »geh hin zum Herrn Kadletz und begrüß ihn.«

Das Mädchen löste sich von ihm und trat auf mich zu in ihren viel zu großen, abgetragenen Männerschuhen, auf welche die Hosenbeine in dicken Querfalten herabhingen, stellte den rechten Fuß hinter den linken und knickste vor mir mit einer Grazie, wie ich sie nur bei den Ballettänzerinnen gesehen habe, vor vielen Jahren einmal, in der Oper in Leipzig.

»Vielleicht heißt sie auch gar nicht Paula«, sagte er. »Vielleicht heißt sie Elisabeth oder Margit oder Undine; wer will das wissen.«

»Weiß sie es denn nicht?« fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Da war das große Feuer in Dresden«, sagte er, und nichts weiter, nichts darüber, was nun hätte folgen müssen: ob und wie er selbst in das große Feuer geraten war, und ob er Paula oder Elisabeth oder Margit oder Undine dort aufgegriffen hatte oder ob sie ihm zugelaufen war, und wo sie sich beide in der Zwischenzeit aufgehalten hatten. Statt dessen, und so als hätte er’s erst jetzt entdeckt, betrachtete er unter rotgerandeten Lidern hervor das breite Ladenschild über den Rolläden, Goldbuchstaben auf schwarzglänzendem Glas, Hermann Reichert,Herren- und Damenkonfektion, und mir fiel das Schild ein, das früher dort gehangen hatte, vor der Nacht, in der die Schaufensterscheiben zertrümmert wurden, ein ganz ähnliches Schild, nur lautete der Name des Besitzers anders, nämlich Noah Wolfram, und in dem Augenblick wurde mir klar, wer da vor mir stand, den Arm schützend um die Schultern des offensichtlich gemütsgestörten Mädchens gelegt: der Max, der junge Wolfram, der vor vierzehn Jahren aus dem Haus hier am Marktplatz von Schwarzenberg fortging, nach Berlin, um dort Philosophie und Sozialwissenschaft zu studieren.

Also auch einer, der’s überlebt hatte. Was sagt man so einem Menschen, an so einem Tage?

Er war weltgewandter als ich, wie er denn überhaupt sich meistens als klüger und weitsichtiger erwies als die anderen. Er umging die Wiedererkennungsszene, indem er sagte: »Ja, der Herr Reichert. Ich hoffe, es ist ihm wohl bekommen.«

»Warum läuten Sie nicht an seiner Tür?« sagte ich. »Verlangen Sie, daß er Ihnen die Differenz erstattet zwischen dem wirklichen Wert des Ladens und dem, was Reichert Ihrem Vater seinerzeit gezahlt hat, nach der Kristallnacht, und nachdem man Ihrem Vater das Haar geschoren und ihn auf den zweirädrigen Karren gesetzt hatte, den Ihre selige Mutter dann den Marktplatz hinauf und durch die Straßen gezogen hat, weil sie ihren Mann nicht allein lassen wollte in einer solchen Stunde, und dabei war sie selbst gar nicht jüdisch gewesen.«

Der Max krümmte sich wie im Schmerz. Offenbar hatte er diese Einzelheiten nicht gekannt. Ich dachte, nun wird er doch bei Reichert an der Tür läuten, aber er sagte: »Wie soll einer zahlen für zwei Menschenleben, und in welcher Währung bitte?« Und dann: »Glauben Sie nicht, Herr Kadletz, daß es jetzt Wichtigeres zu tun gibt, als mit einem Mann wie Reichert abzurechnen?«

Wichtigeres, dachte ich. Gewiß. Reichert war ja nur einer von den Kleinen gewesen, ein Nutznießer, kein Täter. Wichtiger, dachte ich, sind der Ortsgruppenleiter Lippold und der Bürgermeister Dr. Pietzsch und der dicke Scharsich, der Gestapo-Chef, der mir zwei Zähne ausschlug, und der Herr Direktor Münchmeyer, dem die Werkzeugmaschinenfabrik am Orte gehörte und der in diesen Jahren, begünstigt von seinem Freunde Mutschmann, das Geld nur so gescheffelt hatte.

»Das Wichtigste«, sagte Wolfram, als hätte er meine Gedanken gelesen, »das Wichtigste in diesem Augenblick ist die Macht.«

Das Wort Macht, wie Sie wissen, kann in den Köpfen der Menschen sehr verschiedenartige Assoziationen erzeugen, je nachdem, wie man zu ihr steht. In der Zeit, die an dem Tag endete, von dem ich Ihnen gerade berichte, erschien sie in meiner Vorstellung meistens als ein Paar Schaftstiefel, die einen Grashalm zertreten; aus Wolframs Mund aber klang das Wort bereits anders und rief andere Bilder hervor, hatte wohl auch eine andere Bedeutung.

»Die Macht«, verkündete er, »liegt auf der Straße.«

Ich blickte unwillkürlich hinüber zum Ratskeller, wo gestern noch die Kommandostelle des Generals von Trierenberg gewesen war, mit bewaffneten Posten und geparkten Kübelwagen und Meldern, die auf Krafträdern herbeigebraust kamen; jetzt war der Eingang verschlossen und vergittert, und hinter den Fenstern rührte sich nichts.

»Man muß sie nur ergreifen, die Macht!« forderte er mit plötzlicher Intensität; dabei bildeten sich rote Flecken auf der Haut über seinen hervorstehenden Wangenknochen.

Als ob er irgend etwas ergreifen, geschweige denn festhalten könnte in seinem Zustand. »Kommen Sie doch erst einmal mit zu mir, Herr Wolfram«, schlug ich vor, »die Kleine auch.« Zugleich überlegte ich, was wir denn überhaupt in der Küche hätten, Bertha und ich, daß ich es wagen konnte, ihr auch noch Fremde ins Haus zu bringen. Im März und April schon war das dem Menschen laut Lebensmittelkarte Zustehende nicht mehr geliefert worden, nicht einmal dieses wenige, und wer keine Beziehungen zum Bauern und nichts von Wert zu verscheuern hatte, der hungerte eben.

Er setzte sich taumelnd in Bewegung; Paula, oder wie sie auch heißen mochte, stützte ihn wieder, von rechts, während ich seinen linken Ellbogen nahm. »Das ist das Fieber«, entschuldigte er sich, »die Nächte da oben in den Wäldern waren doch noch recht kalt …« Und mit einer Kopfbewegung zu dem Mädchen hin: »Sie hat mich gewärmt, und sie brachte auch immer etwas Eßbares angeschleppt, sie hat eine Nase dafür, wo etwas zu finden ist, und stiehlt hervorragend.«

Der anerkennende Ton schien bis in ihr Bewußtsein zu dringen; die starren Gesichtszüge belebten sich, und sie stieß kleine juchzende Laute aus. »Gute Paula«, sagte er, »brave Paula.« Aber da hatte sie sich schon abgewandt und blickte wieder stumpfsinnig vor sich hin. Es fiel mir schwerer, als ich erwartet hatte, ihn bis zu meiner Wohnung zu bringen, trotz Paulas Hilfe. Seine Glieder bewegten sich wie die einer an zu losen Schnüren geführten Marionette; bei jeder Steigung des Weges lief ihm der Schweiß übers Gesicht; und am Ende mußte ich ihn fast tragen, indem ich seinen Arm mir über die Schulter legte. Warum, fragte ich mich, bemühe ich mich so um ihn? Ich war ihm in keiner Weise verpflichtet; auch seinem Vater nicht, der zwar schließlich Selbstmord begangen hatte, mit dem ich jedoch weder durch Freundschaft noch durch andere Beziehungen verbunden gewesen war und den ich in meiner Schubkastenmentalität sogar der Klasse der Ausbeuter zugerechnet hatte, bis ich ihn dann halb betäubt auf jenem Karren sitzen sah. Warum also? Im nächsten Moment aber wies ich meine Bedenken erschrocken von mir: Wie weit hatten die Menschen sich in der schrecklichen Zeit, die nun hoffentlich hinter uns lag, voneinander entfremdet, daß ein bißchen Menschlichkeit schon Selbstüberredung erforderte?

Hier an diesem Tisch, an dem wir jetzt sitzen, Sie und ich, saßen wir an dem Tag auch; es hat sich vieles verändert in meinem Leben, und ich sehe vieles anders als damals, gerade in bezug auf Max Wolfram; aber das Äußerliche ist geblieben, die Möbel, die alte Tapete, der Vorhang. Bertha, meine Frau, hatte nach dem ersten Schock über die unerwarteten und wenig erwünschten Gäste doch eine Mehlsuppe zustande gebracht, sogar mit etwas Fett darin, und stand nun mit dem Rücken gegen die Anrichte dort drüben gelehnt und sah den zweien beim Essen zu, Wolfram, dem der volle Löffel in der Hand zitterte, und dem Mädchen, das sich den seinen in regelmäßigem Rhythmus in den Mund schob.

Dann klingelte es an der Wohnungstür. Bertha wurde fahl, und ich wußte, was ihr durch den Kopf schoß, denn auch ich hatte im ersten Moment den gleichen Gedanken gehabt: die Polizei. »Bertha«, sagte ich, »beruhige dich; das ist vorbei; sie haben die Macht nicht mehr. Geh, mach die Tür auf.«

»Die Macht«, wiederholte Wolfram seine Formel, »liegt auf der Straße.«

Der Mann, der geklingelt hatte und nun, schwer und bedächtig, in die Stube trat, hieß Kiessling, Fritz Kiessling; jetzt wohnt er in Aue bei seiner Schwester; wenn Sie wollen, können Sie ja auch zu ihm hingehen mit Ihrem Tonbandgerät und sich seine Erlebnisse berichten lassen. Kiessling also kam herein und sagte, gerade als hätte er Wolframs Worte gehört: »Den Scharsich haben sie erschlagen. Oben vor seiner Villa, gerade wie er wegwollte: Fremdarbeiter, sagen die Leute.«

»Der Scharsich«, erläuterte ich Wolfram, »hat hier in Schwarzenberg die Gestapo geleitet«, und ich stellte mir den Dicken vor, wie er dalag, die wasserblauen Augen hervorquellend über den grauen, wulstigen Backen, und das Blut auf dem Trottoir; ich bin ja mehr für das ordentliche Verfahren, aber wahrscheinlich hätte er dem Richter, wenn es je einen solchen gäbe, in aller Aufrichtigkeit erklärt, wie er nur seine Pflicht getan, ein Beamter, Dienst ist Dienst.

»Und was jetzt?« fragte Wolfram und legte seinen Löffel zurück auf den leer gegessenen Teller. »Ergreifen wir nun die Macht?«

»Da ist doch wohl noch der Russe«, sagte Kiessling, »oder der Amerikaner. Einer von beiden wird bald genug hier sein.«

»Und was, wenn keiner von ihnen käme?« sagte Wolfram und zu dem Mädchen: »Geh hin zu dem Herrn und begrüß ihn.«

Paula erhob sich gehorsam, trat vor Kiessling, plazierte den rechten Fuß hinter den linken und knickste auf ihre so graziös anmutende Weise. Kiessling runzelte die Stirn: Anscheinend waren hier alle verrückt, auch Bertha und ich, die wir uns mit solch absonderlichen Wesen abgaben, und an einem solchen Tage.

4

Er war, wie man so sagt, ein Toter auf Urlaub. Der Spruch war lange schon gefällt, die Stimme des Vorsitzenden gezügelt, unterbetont, dennoch mitbebend in ihr der Widerwille gegen den Angeklagten, und lange schon hockte er in dieser Zelle, aus der nur ein Weg hinausführte: hin zum Schafott. Wie oft kann der Mensch sterben? Der Tod selbst ist eine momentane Sensation, danach die Schwärze, das Nichts; das Sterben findet vorher statt, in den Schichten des Bewußtseins, die wiederum auf die einzelnen Organe einwirken, auf Herz, Pankreas, Galle, Blase, Darm, vor allem Darm; welch unglaubliche Mengen hatte er aus sich herausgeschissen in jenen Nächten des Grauens, woher nahm sein Körper das!

Und dann der stellvertretende Staatsanwalt, morgens um vier, jedesmal kam er morgens um vier, die Schläge der Gefängnisturmuhr kaum verhallt: Die Vollstreckung ist verschoben.

Auf wann? – Nie eine Antwort.

Er tobte, schrie Unverständliches.

Der Staatsanwaltsvertreter zog sich zurück, indigniert. Der Wärter blieb noch einen Moment, drohte irgendwelche Strafen an, lächerlich, womit noch konnte man ihn bedrohen, schließlich sagte er: Seien Sie doch froh, Wolfram!

Worauf die Erschöpfung einsetzte, innere Leere, alles in ihm sackte zusammen. Und doch kam der Schlaf nicht, nur der Schmerz dauerte an, der wahnsinnige Druck unter Schläfen und Augen und auf die Brust, so als zöge ein eiserner Reifen sich um seine Rippen zusammen.

War da einer, der sich das ausgedacht hatte, diese exquisite Quälerei? Oder gab es tatsächlich in der bröckelnden Bürokratie noch Gruppierungen, die einander bekämpften und in deren Auseinandersetzung das Leben des Verurteilten irgendwie von Wichtigkeit war? Von Wichtigkeit in dieser Zeit, in der alles bereits zusammenstürzte? Oder vielleicht gerade in dieser Zeit?

Er suchte sich zu erinnern. Wen gab es, der ein Interesse an seinem Schicksal haben könnte, an seinen Ideen, seiner Arbeit? Doch diese sämtlich nicht, deren Denken nicht weiter reichte als ihre stupiden Machtgelüste. Wer hatte damals das Manuskript in die Hände bekommen, und wer war bestellt worden, es zu beurteilen, Soziale Strukturen der Zukunft, Untertitel: Vergleichende Studie utopischer Gedankengänge? Professor Pfleiderer? Oder der Dr. phil. Benedikt Rosswein, der dann den steilen Aufstieg bei der SS machte, nachdem er mit plumpen, bösen Worten das noch unveröffentlichte Buch als ein jüdisches Machwerk verdammt hatte, verfaßt in der Absicht, die Ideale des neuen Staates auf listige Weise in Frage zu stellen und zu subvertieren? Oder noch andere?

Natürlich waren die Strukturen mehr als eine vergleichende Studie gewesen, mehr als eine der üblichen wissenschaftlichen Schriften, die sich mit Aufzählungen und einem geringen Quantum von Interpretationen begnügten; es war ein Programm geworden, entwickelt in der unmöglichsten Periode der Weltgeschichte, da auf allen Seiten, diesseits und jenseits der Ozeane, die Menschen sich anschickten, einander in ihrem Blut zu ertränken, ein Programm, an dem sein Hirn, wie ein Kreisel, der nicht aufhören konnte, sich zu drehen, noch hier in dieser Zelle arbeitete, Staaten erdenkend, in denen die Vernunft regierte, mit Verfassungen, die die Freiheit des Menschen und sein Glück für alle Zeiten garantierten.

Der letzte Aufschub war vor fünf Tagen erfolgt; bald würde es wieder heißen, er möge sich vorbereiten. Es schien da einen Turnus zu geben, nach dem das Spiel vor sich ging, Druck und Gegendruck noch angesichts des von Ost und West her vordringenden Feindes, über dessen Bewegungen der Wärter gelegentlich seine Bemerkungen machte, wobei er stets hinzufügte: »Da werden wir denn doch bald an die Reihe kommen«, leider aber im unklaren ließ, ob das Wir sich auf die noch verbliebenen Teile des Reichs, die Stadt Dresden, dieses Gefängnis oder auf ihn, Max Wolfram persönlich, bezog. Auf jeden Fall, so schien es ihm, konnte das Wechselspiel bei dem allgemeinen Auflösungszustand nicht lange mehr andauern; und alles hing davon ab, welches sein Status sein würde, wenn das Räderwerk rasselnd zum Stillstand kam, und auf welches Feld der Zeiger gerade wies: Aufschub oder Exekution.

Auf Exekution, wie sich herausstellte. Schon der Kalfaktor, der ihm die magere Ration durch die Klappe in der Tür zuschob, flüsterte davon; dann kam der Wärter, umständliches Klirren der Schlüssel, und teilte, kaum in der Zelle, mit, ja, nun wär’s wohl soweit, der Galgen stünde schon, es würden ihrer zweie sein diesmal, er und ein gewisser Röhricht, gleichfalls Hochverrat, es würde ihm aber noch offiziell verkündet werden, und der Pfarrer würde auch noch mit ihm sprechen und ihn trösten wollen; ob er Papier und Stift gebrauchen möchte, ein Abschiedsbrief vielleicht, obwohl er doch schon mehrere geschrieben habe bei vorigen Gelegenheiten, welche alle wohlverwahrt im Büro beim Herrn Direktor lägen, bereits zensiert, und auf ihre Absendung warteten.

Danke, sagte er, es gäbe nichts mehr zu schreiben, und spürte wieder das Würgen im Halse und wie ihm die Knie schlotterten, zugleich aber schien es ihm, daß beides geringer sei als letztes Mal; schon daß er beobachten und sich mit dem Grad seiner Panik befassen konnte, war ein Beweis dafür, daß diese Panik ihn nicht mehr ganz und gar beherrschte; es blieb da Raum zum Denken: wie bedauerlich und zugleich grotesk es doch war, daß er, mit all den Alternativen zur Verbesserung der Welt im Kopf, nach dem Zusammenbruch dieses idiotischen Staates nicht mehr vorhanden sein würde; Raum auch, äußerliche Erscheinungen wahrzunehmen, die plötzliche Taghelle, nein, Helle greller noch als der Tag, in der vergitterten Luke, das schrille Winseln der Sirenen und gleich darauf das tiefe Dröhnen der Bomber, das Rattern der Flak, die dumpf krachenden Explosionen. Wo war der Wärter hingeraten? Die Tür stand offen, niemand blockierte die Öffnung, doch vergingen Sekunden, wie viele, wußte er nicht, bis das Hirn dies alles registrierte; inzwischen füllten die Gänge sich mit Rauch, der staubig stinkend ihm in die Zelle drang; das Gebäude erbebte, einmal, zweimal, Risse wucherten in der Decke, überall knisterte es, Schreie drangen ans Ohr, an den Türen wurde gerüttelt, und dann, betäubende Welle, die Hitze, die ersten Flammen, steil und schwefelgelb. Er durchlief Korridore, in denen es gellte und jammerte, stolperte Treppen hinab, durch deren schwankendes Gerüst Feuer züngelte, geriet in Labyrinthe, in denen immer wieder Gitter glühten; da und dort, wie Silhouetten, Gestalten, ob Sträflinge, ob Wärter, sie unterschieden sich nicht; einer wälzte sich, bereits brennend und heulend wie ein Tier, auf zementnem Boden; anderswo hatten sich welche ineinander verkeilt und schlugen aufeinander ein; jemand begann zu schießen, es klang unernst, lachhaft im Donner der immer noch detonierenden Bomben, der berstenden Pfeiler, der in sich zusammenstürzenden, rauchenden Wände.

Er kauerte, gekrümmt wie ein Fötus, unter einem Stück steinernen Bogengewölbes, ringsum der Dampf und die Flammen; der Galgen stand schon, war ihm gesagt worden; nun stand auch der Galgen nicht mehr, nichts stand mehr, und dennoch war der Tod gekommen, nicht der erwartete, ein anderer, aber nicht gar so viel anders, Erstickung so oder so, ein Toter auf Urlaub, wie oft kann der Mensch sterben?

Oder doch noch einmal ein Aufschub?

Er hob den Kopf, erkannte, über die Trümmer hinweg, ein Stück Himmel, schaurig rot, aber zweifellos Himmel, bis schwärzliche Schwaden, windaufgewühlt, den Ausschnitt wieder verdeckten. Mit letzter Kraft, nur wann ist des Menschen Kraft je seine letzte, raffte er sich auf, zog sich in die Höhe, kletterte über Geröll, das ihm Kleidung und Haut versengte, kroch mit blutenden Händen und Knien aufwärts, aufwärts, erklomm eine Art Gipfel und brach zusammen.

Als er zu sich kam, war das Mädchen bei ihm: unter wirrem Haar ein rußgeschwärztes Gesicht, im lodernden Licht ringsumher die starren Züge zu gespenstischem Leben erweckt. Sie hatte fast nichts am Leibe, ein baumwollenes Hemd, zerschlissen; die nackten Füße bluteten. Sie schüttelte ihn wieder, stieß heisere Laute aus, deren Bedeutung er nicht verstand. Ein Tosen war um sie beide, ein wilder Orgelton: Ein riesiger Sturmwirbel, heiß und funkenerfüllt, trug brennende Äste, Tapetenfetzen, Bilderrahmen, ein Kinderwagenverdeck mit sich in die Lüfte und säte neue Flammen überall. Wolfram sah die Stadt, die schon keine mehr war, orangene Zungen aus schwarzen Türmen, der Fluß ein feuriges Band. Er sah die weit aufgerissenen Augen des Mädchens, das Entsetzen darin, warum lief sie nicht fort, aber sie packte ihn bei den Schultern, wies mit bebender Hand in irgendeine Richtung, weg, nur weg von hier, und wieder die seltsam kehligen, drängenden Laute, ein Bellen fast.

Wie lange sie gelaufen waren, würde er nie sagen können. Irgendwo war dann Gras unter ihren Füßen gewesen, nachtfeuchtes Gras, eine Mulde, nahebei gluckerte ein Bach, ein halboffener Schober, Reste von Heu; über den Gipfeln des Hügels ein goldener Heiligenschein: die Stadt. Das Mädchen lag da, die Augen geschlossen, atmete tief. Dann zog sie ihn an sich.

Leben.

5

Aufzeichnung Kadletz:Der Traum

Bei uns kommt der Frühling später als anderswo. Das macht die Höhe. Wenn unten im Lande die Kirschbäume schon in Blüte stehen und auf den Flächen das Wintergetreide längst grünt, öffnen sich bei uns erst die Krokusse, die Bauernweiber, über die Erde gebückt, stecken die Saatkartoffeln in den kargen Boden der winzigen Acker, die eingebettet liegen zwischen den Steinen der Berge, und in den Wäldern findet sich noch, geschützt vom Schatten der Bäume, grauer Schnee.

Ich beschreibe Ihnen das, damit Sie die Vorfrühlingsstimmung mitempfinden können, die über der Landschaft lag, obwohl man schon Mai schrieb, und die, für mich wenigstens, auch symbolische Bedeutung hatte, obwohl ich gewöhnlich solche gefühlsbeeinflußten Haltungen wenig ernst nehme.

Wir gingen den Waldweg hinauf, der von dem Dorf Bermsgrün zum Arbeiterheim oben auf der Anhöhe führt, Wolfram und ich, und neben Wolfram das Mädchen, das nicht zu überreden gewesen war, daheim bei meiner Bertha zu bleiben; ein ganzes Stück vor uns zogen die Genossen Artur Schlehbusch und Bruno Bornemann und Bornemanns Schwägerin Helene, ein knochiges Mannweib, aber voller Güte, und vor diesen wieder marschierte der Genosse Kiessling, ein Gewehr über der Schulter; er traue dem Frieden nicht, hatte er gesagt, und von Werwölfen geredet, die unweit von Schwarzenberg, in der Gegend von Sosa, gesehen worden wären.

Hauptsächlich um mich auf das Treffen vorzubereiten, zu dem wir uns begaben, wollte ich mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen, was Wolfram gestern abend erklärt hatte, als wir zu sechst beisammensaßen, fünf von uns irgendwie fassungslos, weil es nun deutlich war, daß die Prophezeiung des sechsten, des Ankömmlings aus der großen Welt, sich bewahrheitet hatte und wirklich keiner in Schwarzenberg einmarschiert war, weder der Russe noch der Amerikaner. Wolfram sprach erst, nachdem wir andern unsere ziemlich wirren Gedanken, wie mir schien, geäußert hatten; eine Reihe praktischer Vorschläge, die wir gleichzeitig machten, ergaben insgesamt kein System, wenn sie nicht gar in Widerspruch zueinander standen. Er hustete viel, während er dann redete und so etwas wie ein Programm entwickelte; er hatte eine Art, sich auszudrücken, die überzeugend wirkte, selbst wenn man nicht jeden Punkt, den er vortrug, verstand; erst später tauchten einem die Zweifel auf.

Aber mein Versuch, mir noch vor der Zusammenkunft über alles dies klar zu werden, mißlang. Ich konnte mich nicht konzentrieren, was Sie vielleicht verstehen werden, wenn ich Ihnen von der Geschichte des Arbeiterheims oberhalb von Bermsgrün und meiner Beziehung zu dem Weg, auf dem wir uns befanden, berichte. Warum überhaupt war die Versammlung hier angesetzt worden und nicht unten in der Stadt, etwa im Ratskeller, der zentral genug lag; weder Dr. Pietzsch, der Bürgermeister, noch irgendwelche anderen Behörden würden es mehr gewagt haben, einer größeren Gruppe von Arbeitern, auch wenn sie als Regimegegner bekannt waren, die Benutzung des Lokals zu versagen; aber jeder, den wir gestern oder heute früh noch ansprachen, hielt es für selbstverständlich, daß wir uns im Arbeiterheim treffen würden, auf eigenem Boden gewissermaßen, in dem Haus, das einst mit eigenen Händen erbaut worden war und das die Bermsgrüner Kollegen, auf eigene Faust, vor einigen Tagen erst den Nazis entrissen hatten und seither besetzt hielten. Hier hatte seit 1933 die SA gesessen, und hierher hatten sie uns damals geschleppt, um uns zusammenzuschlagen, in aller Ruhe und Abgeschiedenheit; und wie ich nun den Weg hinaufging an diesem Vorfrühlingstag, rechts und links die hohen Fichten, sah ich in der Erinnerung die Lichtkegel der Scheinwerfer zwischen den Stämmen geistern, während wir auf der offenen Ladefläche des Lastautos standen, zusammengepfercht wie das Vieh, wehrlos, machtlos: wir, die wir geschult worden waren mit Zitaten von Marx und Lenin und Stalin über die Arbeitermacht und die Diktatur des Proletariats, und zusammen mit uns, ihr hastiger Atem sich mischend mit unsrem, die andern, die an solche Zitate zu glauben sich weigerten, dafür aber irgendwelche parlamentarischen Spielregeln zu befolgen gedachten, und die wir darum beschimpft und nach Kräften bekämpft hatten, als wären sie der Feind gewesen.

Sie müssen verzeihen, wenn ich der Reihe nach berichte, so wie ich die Dinge erlebt habe, und da, wo sie mir hinzugehören scheinen, die Gedanken einschiebe, die ich mir zu den Vorgängen machte, und wenn nötig auch etwas über die Personen sage, die in dem Zusammenhang eine Rolle spielen, ihre Herkunft, ihre Tätigkeit, ihren Charakter; ich kann’s nicht anders tun, ich bin kein Reporter und kein Schriftsteller; aber ich bin sicher, Sie werden meine Aussagen schon in die richtige Form bringen. Wir langten also auf dem Plateau an, und auf einmal stand der Bau vor meinen Augen, unverändert in all den Jahren, in denen ich mich von ihm ferngehalten hatte oder von ihm ferngehalten worden war: das Hauptgebäude aus Feldsteinen, sorgfältig geschichtet und verfugt, darüber das hohe Giebeldach und der Quertrakt, Fachwerk; auf dem Pflaster neben dem Flaggenmast lagen die verkohlten Reste der Hakenkreuzfahne, die dort gehangen hatte. Ich schluckte, um das Würgen in der Kehle loszuwerden: Dies Haus und das Stück Berg, auf dem es stand, gehörte wieder uns, wir waren wieder wer, nachdem wir so lange uns geduckt hatten und gekrochen waren, und ich blickte mich um, und die Sonne brach durch die Wolken, ich weiß, ich hätte das nicht erwähnen sollen, es klingt rührselig, aber was kann ich dafür, die Sonne schien tatsächlich aus dem Dunkel hervor, und ich war davon tief berührt, und in der Ferne sah ich Schwarzenberg mit dem Schloßturm und dem Turm der Georgskirche im Licht, und ich dachte, es könnte doch sein, daß Wolfram mit seinen Hoffnungen und Projekten recht hatte.

Inzwischen trafen die anderen Genossen ein, die von mir und Schlehbusch und Kiessling und den beiden Bornemanns eingeladen worden waren; aus Schwarzenberg kamen sie, aus Bermsgrün, aus Raschau, aus Beierfeld, die Ortschaften gehen eine in die andere über, ein Industriegebiet, meistens Metallverarbeitung, das aus dem Bergbau der Gegend und den alten Hammerwerken erwachsen ist, die Arbeiter zum großen Teil Häusler, die noch ein Fetzchen Acker und ein paar Karnickel und Hühner haben, in guten Zeiten auch eine Ziege, ein Schwein oder gar eine Kuh. Ich habe einmal, als ganz junger Mann, eine Aufführung von Schillers Tell gesehen, die Rütli-Szene, da traten sie auch so auf die Bühne, von mehreren Seiten, und grüßten mit Würde; sie hatten wohl auch, ganz wie wir, einander lange Zeit nicht gesehen und wußten, daß ihr Vorhaben etwas Neues und Unerhörtes war, die Schaffung eines Bundes, der in die Geschichte eingehen würde, und der Sturz eines Tyrannen; nur daß unserer bereits gestürzt und tot war und überall sonst im Lande andere Herren das Regiment in die Hand genommen hatten, nur hier in Schwarzenberg und Umgebung nicht, wir waren uns selbst überlassen oder wieder den Nazis; die witterten bereits Morgenluft, der Herr Dr. Pietzsch, der Bürgermeister, war dabei, so hörte man, eine Bürgerwehr zusammenzustellen zwecks Gewährleistung von Ruhe und Ordnung, und wer zu dieser Truppe gehören würde, war leicht zu erraten.

Aber bevor ich auf die Zusammenkunft selbst eingehe, auf die Vorgänge dort und ihre Resultate, kurz etwas über die Teilnehmer. Man muß die Verhältnisse von damals sich vorstellen: was war denn überhaupt an Männern vorhanden, die in der gegebenen Lage aktiv werden konnten? Die Alten und Kranken, die Lahmen und Verkrüppelten, all das, was unter dem Stichwort Wehruntauglich lief; dann eine recht gemischte Gesellschaft von Leuten, die von den Chefs ihrer Firmen als unabkömmlich für die Waffenproduktion reklamiert worden waren, in der Fabrik von Münchmeyer und in den ESEM-Werken machten sie ja bis in den April hinein, bis der Strom ausfiel, Granaten, Spezialgewehre und Torpedoteile; und schließlich wir, die politisch Gebrandmarkten: geheimpolizeilich als nicht genügend gefährlich eingestuft, um in Gefängnisse und Konzentrationslager abgeschoben zu werden, dennoch aber als wehrunwürdig betrachtet und so auch in unseren Papieren bezeichnet. Die Frauen? Unter den fünfunddreißig, höchstens vierzig Anwesenden, die Liste ist verlorengegangen, sonst könnte ich’s Ihnen genauer sagen, befanden sich neben Helene Bornemann ihrer noch zwei oder drei, die aber die ganze Zeit schwiegen; das Mädchen Paula, das zwar einiges Aufsehen erregte, konnte in irgendwelchem politischen Zusammenhang kaum gezählt werden. Daß so wenig Frauen beteiligt waren, ist nicht weiter erstaunlich; trotz der Industrie in diesem Teil des Gebirges, die aber auch nicht eben als Großindustrie gelten konnte, war die Kultur eher dörflich-kleinstädtisch, das Christentum stark pietistisch, die Frau also zweitrangig; Reden, öffentliche vor allem, und politisches Handeln blieb den Männern überlassen. Von diesen nun, soweit sie hier im Vorhof des Arbeiterheims in Grüppchen beieinanderstanden, der Dinge harrend und manche sichtlich bedrückt in dem Gedanken an die Probleme, die sie auf sich zukommen sahen, war etwa die Hälfte Kommunisten, die anderen waren Sozialdemokraten oder Parteilose; all dies Kategorien, die es im alten Sinne gar nicht mehr gab, da sie mit der Vernichtung der genannten Parteien als legale Körperschaften und mit ihrem Versagen als wirksame Faktoren im Untergrund Wesen und Gültigkeit verloren hatten; den Kommunisten allerdings war trotz ihres Unvermögens eine Aura geblieben, eine gespenstische, die, von Goebbels kräftig untermalt, durch die stetig vordringende Rote Armee beträchtliche Realität erhielt.

Man hatte, schien mir, den falschen Raum für die Versammlung gewählt; die Gaststube, in der die Tische, bedeckt mit bierbefleckten Tüchern, noch standen, wäre geeigneter gewesen; so aber nahm die kleine Schar im Versammlungssaal Platz, an dessen kahlen Wänden sich dunkle Vierecke abzeichneten, wo bis vor kurzem noch Führerbilder, Fahnen und kämpferische Spruchbänder hingen; wir hatten eben doch noch nicht richtig Besitz ergriffen von unserer Welt. Ich fror, und die anderen empfanden wohl ähnlich, denn man rückte so eng wie möglich zusammen; dann sagte einer aus Raschau, ich war ihm vor Jahren begegnet, hatte aber seinen Namen vergessen: »Kadletz! Der Kadletz soll die Versammlung leiten!« Als Begründung gab er an, ich wäre schließlich Stadtverordneter gewesen in Schwarzenberg vor 1933. Ob er nun meinte, das Amt von damals verleihe mir heute noch Autorität oder daß ich in dieser Funktion genügend parlamentarische Erfahrungen gesammelt haben müßte, weiß ich nicht zu sagen; auf jeden Fall geschah, was immer geschieht, sobald der kollektive Blick sich auf einen gerichtet hat, von dem zu erwarten ist, daß er die Verantwortung übernehmen könnte, die man selber nicht tragen möchte: der Mann erhält Beifall; und ich war, ehe ich mich’s versah, per Akklamation gewählt. Instinktiv schlug ich für den Posten des zweiten Vorsitzenden, den ich für unbedingt notwendig erklärte, einen gewissen Bernhard Viebig vor, einen farblosen Mann mit grauem Stoppelhaar, der bei der Post arbeitete und, wie ich mich zu erinnern glaubte, Sozialdemokrat gewesen war; auf diese Weise war eine Art Parität gewahrt, und es würde nicht heißen können, daß die Kommunisten schon bei der ersten Gelegenheit alles an sich rissen.

Ich stand nun also an der Stirnseite des Saals, neben dem einzig vorhandenen Tisch, vor mir drei, vier Dutzend Gesichter, von denen ich die meisten noch erkannte, obzwar die Jahre der Verfolgung und des Kriegs sie stärker verändert hatten, als normale Zeiten es getan hätten, und spürte eine peinliche Leere im Gehirn. Früher, wenn ich zu sprechen hatte, und seien es auch nur ein paar einleitende Worte, war alles vorbereitet gewesen, Linie und Marschroute von zentraler Stelle gegeben und über Bezirks- und Kreissekretariate herabgeleitet bis zu der örtlichen Organisation; jetzt war da nichts, woran ich mich halten konnte, nur das Lächeln Wolframs, das zu besagen schien: Mut, alter Junge, zeig ihnen, was du an Ideen hast.

Ob es ihnen ähnlich ergangen sei wie mir, begann ich schließlich, mich meinem Publikum zuwendend; nachdem ich begriffen hätte, daß alles vorbei war, das mächtige Reich, das einst auf tausend Jahre geplant, zerbrochen, der Druck, der so lange auf uns gelastet, von uns genommen, sei ich durch die Straßen gelaufen wie blind, ratlos, was zu tun wäre, und doch in der Erkenntnis, daß etwas getan werden müsse, zugleich aber mich vertröstend mit der Ausrede, da werde eine verständnisvolle Besatzungsmacht uns schon anweisen durch ihre Vorschriften und Verordnungen. Doch jetzt, fuhr ich fort, habe sich herausgestellt, daß die Stadt Schwarzenberg samt näherer Umgebung, und allen Berichten zufolge der gesamte zugehörige Landkreis, vielleicht als einziger in ganz Deutschland, nicht besetzt worden wären, weder von der Roten Armee noch von den Amerikanern, nur in Aue, das ja verwaltungsmäßig auch nicht zum Landkreis gehöre, hätten sich amerikanische Spähtrupps gezeigt, wären aber bald wieder abgerückt, so daß wir hier in Schwarzenberg, nachdem, wie im Rundfunk gemeldet, die Reichsregierung zu existieren aufgehört hätte, nun ohne Staat und Obrigkeit dastünden, dafür aber in unserem Niemandsland Tausende von fliehenden Wehrmachtsangehörigen und zivile Flüchtlinge aller Art und Herkunft vorfänden, dazu Kriegsgefangene, Fremdarbeiter und Vertriebene von da und dort, welche, einschließlich der hier ansässigen Bevölkerung, sämtlich beköstigt und behaust werden wollten, von ärztlicher Versorgung ganz zu schweigen, und welche binnen kurzem zu rauben und plündern beginnen würden, ein allgemeines Chaos herbeiführend, mit Mord und Totschlag verstärkt durch die zu erwartende Tätigkeit von Werwölfen und SS, wenn nicht wir Arbeiter das Nötige unternähmen, um unsere Betriebe und Gemeinden zu schützen und für Ordnung und Organisation zu sorgen.

Dies sei der Grund gewesen, daß wir, die Genossen Kiessling und Schlehbusch, und Bruno und Helene Bornemann und ich, uns an eine Anzahl der hier Anwesenden gewandt und den Vorschlag zu dieser Zusammenkunft gemacht hätten, von der, so hoffte ich, Impulse ausgehen würden zur Bekämpfung der Not und zu einer allmählichen Verbesserung der Lage.

Sie werden mir zugeben, daß meine Ausführungen, deren Details mir erinnerlich sind, weil ich mir noch am gleichen Abend längere Notizen machte, die Schwierigkeiten unserer Situation in keiner Weise vertuschten, ohne daß ich darum vorweggenommen hätte, was zu Recht der Versammlung zustand: Meinungen zu äußern, Vorschläge zu machen, Entscheidungen zu treffen. Allerdings überfiel mich, nachdem ich geendet hatte, die Furcht, daß angesichts der drohenden Katastrophe und unserer totalen Hilflosigkeit, was hatten wir denn schon für Mittel, die Leute sagen könnten: Was geht’s uns an? Hat je einer auf uns gehört? Mögen doch die, die das Unglück uns eingebrockt haben, etwas dagegen tun! Von uns kann jeder nur für sich selber sorgen, sind wir irgend jemandem verpflichtet, sind wir der Staat?

Wahrscheinlich hatte mehr als einer derartiges auch im Sinn, aber er sprach es nicht aus, erdrückt von dem Schweigen, das meinen Worten gefolgt war und das andauerte, bis einer der Bermsgrüner Arbeiter ankündigte, man habe bei der Eroberung des Arbeiterheims mehrere Kasten Bier im Keller gefunden und sichergestellt; vielleicht wäre es angebracht, wenn man diese jetzt heraufbrächte, um die Zungen zu lösen.

Ich weiß noch, wie mir das Zeug die trockene Kehle herunterlief und wie mir auf einmal leichter wurde; aber in dem Moment, da ich die Flasche absetzte, spürte ich wieder die Unruhe, grundlos diesmal, wie ich zunächst meinte, denn das Bier hatte tatsächlich die Hemmungen beseitigt, und es wurden Fragen gestellt, sachliche Fragen, und Antworten gegeben, vernünftige Antworten; die sich da äußerten, waren isoliert gewesen voneinander und verlangten nach Information, wie es dort stünde und wie da, in den Betrieben und außerhalb, ob man von Vorräten wisse, von Kohle und Blechen, von Waffen und in wessen Händen diese wären, und wie sich den Nazis gegenüber verhalten, den großen, den kleinen, und wem man Gehorsam schulde, dem Landrat, dem Bürgermeister, dem Amtsvorsteher, dem Polizisten oder keinem von ihnen. Die Sache lief, ich konnte zufrieden sein, das Durcheinander war nicht beängstigend, ich brauchte nur auf den Tisch zu klopfen, zu sagen, einer nach dem anderen, Kollegen, bitte; aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, mein Denken kreiste um den Mann, der da in den Saal getreten war, ungeladen, weil keiner, ich auch nicht, gewußt hatte, daß er in Schwarzenberg war, und der sich nun in die hinterste Reihe setzte und die Vorhänge im Saal beobachtete, in der Haltung, die ich seit je an ihm kannte, den Kopf ein wenig schief, als lausche er nicht nur auf Worte: Erhard Reinsiepe, Bergbauingenieur und Fachmann für Nichteisenmetalle, später in irgendeiner Funktion, zu der er sich nie äußerte, und mein politischer Mentor, bis er eines Februartages, nach dem Reichstagsbrand, ohne ein Wort des Abschieds verschwand. Ja, ich hätte ihn begrüßen, auf ihn zueilen, ihn zu mir nach vorn holen und den Versammelten vorstellen müssen: Hier war einer, den wir in dieser Stunde brauchen konnten, einer mit langer politischer Erfahrung auch außerhalb unserer Täler, der wohl zu beurteilen imstande war, was zu tun wäre unter den vorhandenen Umständen und wie man vorzugehen hätte; aber ich tat’s nicht, ich weiß nicht genau, weshalb, vielleicht weil noch ein Ressentiment in mir schwelte wegen der Art, wie er verschwunden war und sich der Verantwortung entzogen hatte.

Statt dessen gab ich Max Wolfram das Wort, vor allem, weil ich ihn für fähig hielt, die Vielfalt von Fragen, die sich ergeben, und Fakten, die sich herausgestellt hatten, nach ihrer Priorität zu ordnen und in ein System zu bringen und, darauf aufbauend, Allgemeingültiges zu sagen, das wiederum als Ausgangspunkt für erste Aktionen dienen mochte.

Ich hatte Wolfram noch nie vor einer größeren Anzahl von Menschen sprechen hören und war mir des Risikos bewußt, das ich einging, indem ich ihm, der doch im Grunde wenig mit diesen Arbeitern gemein hatte, eine so schwierige Aufgabe zuschob. Meine Befürchtungen schienen zunächst auch sich bestätigen zu wollen; er sprach leise und unkonzentriert, von einem Fuß auf den anderen tretend, während er dem Mädchen Paula, das neben ihm saß, mechanisch übers Haar streichelte; dann aber faßte er sich, seine Stimme wurde fester, seine Augen begannen zu glänzen, als sei das Fieber, das er am Tag seiner Ankunft gehabt hatte, plötzlich zurückgekehrt, und bald wurde deutlich, daß er eine wohldurchdachte Konzeption vortrug, die er bei unseren Vorgesprächen mit den Genossen Schlehbusch und Kiessling und den beiden Bornemanns entweder noch nicht gehabt oder uns vorenthalten hatte. Er ging aus von der Frage des Schutzes der Betriebe, der Maschinen darin und der dort gelagerten Materialien und Erzeugnisse; aber für wen sollte man sie schützen, für die Herren Münchmeyer von der Maschinenfabrik und Pilz von der Firma ESEM