Schwarzer Regen - Karl Olsberg - E-Book
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Schwarzer Regen E-Book

Karl Olsberg

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Beschreibung

Es ist nicht die Frage, ob es passiert, sondern wann …

Der Horror wird Realität – ein tödlicher Anschlag auf eine deutsche Großstadt. Auch der Sohn des Ex-Kommissars Lennard Pauly ist unter den tausenden von Opfern. Als Pauly bei einem Überwachungsjob auf brisante Informationen stößt, beginnt er, an der offiziellen Erklärung eines islamistischen Attentats zu zweifeln. Während das Land von einem Feuer aus Hass und Gewalt verzehrt wird, sucht er die Wahrheit. Ist es möglich, dass die, die vom Zorn über den Anschlag profitieren, die eigentlichen Drahtzieher sind?

Vom Autor der Bestseller "Das System" und "Mirror".

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Seitenzahl: 512

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Über Karl Olsberg

Karl Olsberg promovierte über Anwendungen Künstlicher Intelligenz. Er war Unternehmensberater, Marketingdirektor eines TV-Senders, Geschäftsführer und erfolgreicher Gründer mehrerer Start-ups. Heute arbeitet er als Schriftsteller und Unternehmer und lebt mit seiner Familie in Hamburg.

Bislang erschienen im Aufbau Taschenbuch seine Thriller »Das System«, »Der Duft«, »Schwarzer Regen«, »Glanz« sowie »Die achte Offenbarung«.

Mehr vom und zum Autor unter: www.karlolsberg.de

Informationen zum Buch

Der größte Horror wird Realität – ein tödlicher Anschlag auf eine deutsche Großstadt. Unter den zahllosen Opfern ist auch Ben, der Sohn des Ex-Kommissars Lennard Pauly. Bei einem Überwachungsauftrag stößt der Privatdetektiv auf Informationen, die ihn an der offiziellen Aufklärung des Attentats zweifeln lassen. Während das ganze Land von einem Feuer aus Hass und Gewalt verzehrt wird, sucht er nach der Wahrheit. Ist es möglich, dass die, die jetzt vom Zorn über den Anschlag profitieren, die eigentlichen Drahtzieher sind?

Nach den großen Erfolgen von »Das System« und »Der Duft« legt Karl Olsberg mit »Schwarzer Regen« sein bisheriges Meisterstück vor.

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Karl Olsberg

Schwarzer Regen

Thriller

Inhaltsübersicht

Über Karl Olsberg

Informationen zum Buch

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Prolog

t-

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

t0

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

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Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Epilog

Leseprobe aus: Karl Olsberg – Mirror

Weitere Informationen zur Leseprobe

Impressum

Für meine SöhneKonstantin, Nikolaus und Leopold.Möge in ihrer Welt niemalsschwarzer Regen fallen.

»Auch der Hass gegen die Niedrigkeit

verzerrt die Züge.

Auch der Zorn über das Unrecht

macht die Stimme heiser.«

Bertolt Brecht

1964 veröffentlichte der japanische Schriftsteller Masuji Ibuse einen Roman mit dem Titel »Schwarzer Regen«, in dem er die Katastrophe von Hiroshima und ihre Folgen schildert. Die deutsche Übersetzung erschien im Aufbau-Verlag. Der gleichlautende Titel dieses Buches ist eine Verbeugung vor diesem großen Werk und vor allen, die mit den Folgen der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki leben mussten und müssen – den Hibakusha. Ihr Leid darf niemals in Vergessenheit geraten.

Karl Olsberg

»Die größte Sorge aller Sicherheitskräfte ist, dass innerhalb des terroristischen Netzwerkes ein Anschlag mit nuklearem Material vorbereitet werden könnte. Viele Fachleute sind inzwischen überzeugt, dass es nur noch darum geht, wann ein solcher Anschlag kommt, nicht mehr, ob.«

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble,

16. September 2007,

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Prolog

In der Mitte des leeren Hangars stand ein einzelner Tisch wie eine Insel des Lichts in einem Meer von Dunkelheit. Trotz der runden Brille und des pausbäckigen Gesichts wirkten die Züge des Mannes, der daran saß, im Licht der Stehlampe hart, beinahe dämonisch. »Oberst Markov, setzen Sie sich bitte!«

Markov warf einen misstrauischen Blick auf das mit einem schwarzen Tuch verhüllte, rollbare Metallgestell, das neben dem Schreibtisch stand. Sein Gegenüber liebte offenbar melodramatische Auftritte.

Er löste sich von den beiden Militärpolizisten, die ihn hierher eskortiert hatten, als sei er ein Spion, und machte zwei Schritte vor. »Was soll das?«, schnauzte er. »Was fällt Ihnen ein, mich so zu behandeln? Immerhin bin ich immer noch der Kommandant dieses Stützpunkts! Diese Respektlosigkeit wird Sie teuer zu stehen kommen!« Dass er eigentlich seit gestern im Urlaub sein wollte und seinem Enkelsohn Maxim für heute versprochen hatte, mit ihm angeln zu gehen, erwähnte er nicht.

Ein dünnes Lächeln umspielte die schmalen Lippen des Mannes. Er konnte kaum halb so alt sein wie Markov, aber er schien nicht im mindesten beeindruckt. »Setzen Sie sich!«, wiederholte er ruhig.

Markov war nervös, obwohl er keinen Grund dazu hatte. Die Föderale Agentur für Atomenergie Russlands, genannt Rosatom, überprüfte seinen Standort regelmäßig, und es hatte nie Beanstandungen gegeben. Er hatte seinen Laden im Griff. Es hatte im letzten Jahr nicht mal eine ernste Schlägerei gegeben, geschweige denn grobe Verstöße gegen die Vorschriften. Was also sollte dieses Schmierentheater?

Wahrscheinlich war der Grünschnabel da vor ihm neu in der Behörde und spielte sich bloß auf, um sich Respekt zu verschaffen. Vielleicht wollte er Markov auch erpressen. Selbst wenn alles in Ordnung war, konnte die Behörde eine Menge Scherereien machen. Möglicherweise hoffte er auf ein Schweigegeld. Aber da war er bei Markov, der Bestechlichkeit aus tiefster Seele verabscheute, an den Falschen geraten. Sollte die Rosatom ruhig die ganze Einheit auf den Kopf stellen – die Erbsenzähler aus Moskau würden nicht mal eine leere Wodkaflasche finden.

Er überlegte kurz, ob er die Anweisung ignorieren und stehen bleiben sollte, aber das hätte nur wie eine alberne Trotzreaktion gewirkt. Also setzte er sich auf den einfachen, unbequemen Holzstuhl. Er bemühte sich, entspannt zu lächeln. »Also, was wollen Sie von mir?«

»Über wie viele nukleare Gefechtsköpfe verfügt Ihre Einheit?«, fragte der Mann von der Rosatom. Er hatte es bisher nicht für nötig befunden, seinen Namen mitzuteilen. Aber das machte nichts – Markov würde auch so herausbekommen, wie der Typ hieß, und ihm die Hölle heiß machen. Er hatte sehr gute Kontakte ins Ministerium.

»Neunzehn«, antwortete er ohne zu zögern und sparte sich den Hinweis, dass selbst die CIA und die Internationale Atomenergiebehörde IAEO diese Information besaßen.

Der Mann von der Rosatom sah auf einen Zettel, als müsse er die Zahl überprüfen. Er nickte langsam. »Und in welchem Zustand sind diese Waffen?«

Markov erlaubte sich ein Lächeln. »In einem einwandfreien Zustand. Er wird regelmäßig überprüft.«

»Wann ist der einwandfreie Zustand der Waffen zuletzt überprüft worden?«

»Heute Morgen 6:30 Uhr. Die Sicherheitskontrollen finden zweimal täglich statt.«

Der Mann nickte wieder. »Was genau wird bei diesen Sicherheitskontrollen überprüft?«

»Einsatzbereitschaft und Schutz vor unberechtigtem Zugriff«, sagte Markov wie aus der Pistole geschossen. Das war das Mantra, das er seinen Leuten permanent einbläute. Immerhin hatten sie es hier mit den gefährlichsten Waffen zu tun, die es gab. Seine Einheit verfügte über 19 Langstreckenraketen des Typs Topol-M, von denen jede eine Reichweite von mehr als 10000 Kilometern hatte und mit einem nuklearen Gefechtskopf ausgestattet war. Ihre Aufgabe war es, im Fall eines Nuklearangriffs eine schnelle und effektive Antwort zu garantieren und so einen Aggressor abzuschrecken – so unwahrscheinlich dieser Fall seit dem Ende des Kalten Krieges auch geworden sein mochte.

»Wie wird die Einsatzbereitschaft überprüft?«

Erleichterung machte sich in Markov breit. Er fühlte sich ein wenig wie in einer Prüfung auf der Militärakademie. Offenbar wollte die Rosatom nur wissen, ob er es mit den Sicherheitskontrollen auch wirklich genau nahm. Sie befragten ihn und sein Personal unabhängig voneinander, um sicherzugehen, dass einheitliche Standards herrschten. Das ganze Theater mit dem abgedunkelten Hangar diente nur dazu, seine Leute zu beeindrucken.

»Die Waffen sind an ein elektronisches Kontrollsystem angeschlossen. Der Zustand der Zündelektronik wird automatisch überprüft.« Er erlaubte sich ein Lächeln, kaum weniger dünn als das des Moskauers vorhin. »Immerhin können wir ja nicht ausprobieren, ob die Sprengköpfe noch explodieren, oder?«

»Und das Plutonium?«

Markov blinzelte kurz. Worauf wollte der Mann hinaus? »Was soll damit sein? Erwarten Sie von mir, dass ich überprüfe, ob es noch radioaktiv ist? Das Zeug hat eine Halbwertzeit von vierundzwanzigtausend Jahren!«

Anstatt eine Antwort zu geben, stand der Mann auf und zog das schwarze Tuch von dem Gestell neben dem Schreibtisch. Darunter kam ein Metallgerüst auf Rollen zum Vorschein, in das eine komplizierte, konisch zulaufende Apparatur eingehängt war. Markov erkannte sofort die Zündelektronik, deren Schutzabdeckung entfernt worden war, und die Drähte, die zu den Sprengzündern führten. Im Einsatzfall brachten sie konventionellen Sprengstoff am Rand einer kugelförmigen Hülle zur Explosion, der den äußeren Plutoniummantel implodieren lassen und das hochangereicherte Material im Sprengkopf bis weit über die kritische Masse hinaus verdichten würde. Eine nukleare Kettenreaktion mit einer Sprengkraft von 550000 Tonnen TNT, beinahe dem Fünfzigfachen der Hiroshima-Bombe, wäre die Folge.

Markov sprang auf. »Sind Sie vollkommen wahnsinnig?«, schrie er. »Sie haben gegen mindestens fünfzehn Sicherheitsvorschriften und drei Gesetze verstoßen, indem Sie den Gefechtskopf hierher in einen ungeschützten Flugzeughangar gebracht haben! Was, wenn der Standort jetzt angegriffen wird? Was, wenn Terroristen hier eindringen und den Gefechtskopf stehlen? Und außerdem strahlt das Zeug wie ein Politiker vor der Wahl, verdammt noch mal! Ich habe keine Lust, kurz vor meiner Pensionierung noch an Leukämie zu erkranken!«

»Setzen Sie sich bitte«, sagte der Mann von der Rosatom ohne das geringste Zeichen der Beunruhigung. Entweder war er völlig naiv und blöde, oder …

Schweißperlen traten auf Markovs Stirn, als ihm die Bedeutung der Anwesenheit der Bombe und der merkwürdigen Fragen des Mannes klar wurde. »Das … das ist eine Attrappe, oder?«

Der Mann aus Moskau nickte nur, ohne zu lächeln.

»Und warum haben Sie die hierhergebracht?«

»Sie sind ein intelligenter Mann, Oberst. Sie kennen die Antwort längst.«

Markov schluckte. »Wie viele?«

»Drei.«

Er zuckte zusammen. Drei! »Wann?«

»Ich hatte gehofft, das von Ihnen zu erfahren.«

Markov stützte den Kopf auf die Hände. Er schwieg einen Moment. Er brachte es nicht fertig, den Mann anzusehen. »Ich … ich hatte keine Ahnung«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang dünn und brüchig.

»Ich glaube Ihnen«, sagte der Fremde. Seine Stimme klang beinahe bedauernd. »Aber ich fürchte, das wird Ihnen wenig nützen.«

Markov fühlte sich, als sei sein Körper bereits vollkommen verstrahlt. Ihm war übel, und ein tonnenschweres Gewicht schien ihn in den harten Holzstuhl zu drücken. »Ich … ich bin seit dreieinhalb Jahren der Kommandant hier«, erklärte er, obwohl er sicher war, dass die Rosatom das genau wusste. »Vor mir war es Generalmajor Oljakov. Er leitet jetzt die Abteilung für strategische Planung im Verteidigungsministerium.«

»General Oljakov hat sich vor drei Tagen umgebracht«, sagte der Moskauer ohne spürbare Emotion. »Zumindest deuten die äußeren Umstände auf Selbstmord hin. Wir schließen ein Fremdverschulden aber nicht aus.«

»Deshalb also die unangekündigte Überprüfung«, sagte Markov.

Der Mann nickte. »Wir halten es für wahrscheinlich, dass die Gefechtsköpfe bereits vor mehr als fünf Jahren ausgetauscht wurden.«

»Trotzdem wird man mich zur Rechenschaft ziehen«, sagte Markov mehr zu sich selbst. »Ich hätte jede dieser verdammten Höllenmaschinen bei meinem Dienstantritt auseinanderbauen und hineinsehen sollen! Was haben die da rein getan, damit die Gewichtskontrolle nicht anschlägt? Blei?«

»Schwach angereichertes Uran. Selbst mit einem Geigerzähler kann man die Attrappe kaum von einem echten Sprengkopf unterscheiden.«

Also strahlte die Attrappe doch radioaktiv. Der Mann aus Moskau hatte entweder gute Nerven, oder er trug unter seinem glattgebügelten Anzug einen Bleischutz. Verdammtes Arschloch!

»Kann ich jetzt gehen?«

»Oberst Markov, Sie stehen ab sofort unter Arrest. Ihnen wird vorgeworfen, gegen die Vorschriften zur Sicherung nuklearer Waffen sowie gegen das Waffengesetz verstoßen zu haben.«

Markov sprang auf, so dass sein Stuhl polternd umfiel. Das Geräusch hallte in dem leeren Hangar lange nach. »Aber Sie haben doch gerade gesagt, Sie glauben mir, dass ich von der Sache nichts wusste! Dass Oljakov sich umgebracht hat! Dass der Austausch der echten Gefechtsköpfe gegen diese Attrappen lange vor meiner Zeit hier geschehen ist!«

»Das ist bis jetzt meine Theorie. Aber die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen, und das Militärgericht wird sich am Ende ein eigenes Urteil bilden.« Der Mann aus Moskau nickte kurz den beiden Militärpolizisten zu, die die ganze Zeit unbeteiligt hinter Markov gestanden hatten. »Nehmen Sie den Oberst in Gewahrsam!«

t-

1.

Lennard Pauly hob das Fernglas. Er war durch einen Vorhang und eine große Topfpflanze vor Blicken von außen geschützt. Von seiner Position aus konnte er den Innenhof des wie ein U geformten Wohnblocks und die Fenster des gegenüberliegenden Flügels gut überblicken.

Im achten Stock saß die alte Frau Zengeler an ihrem Küchenfenster und löste wie immer ein Kreuzworträtsel. Sie tat es mit einer verbissenen Ernsthaftigkeit, als hinge ihre Rente davon ab, dass sie auch den letzten Begriff herausbekam. Sie sah nie in ein Lexikon, rief nie jemanden an, um zu fragen. Manchmal saß sie eine Viertelstunde reglos da und starrte auf die Zeitschrift vor sich, bis sie endlich den Stift in die Hand nahm und etwas hinkritzelte. Dann löste sich ihre Anspannung für einen Augenblick, und über das runzlige Gesicht floss ein zufriedener Ausdruck, der jedoch nie länger als ein paar Sekunden anhielt.

In der Etage darunter hängte eine Frau die Wäsche für ihre siebenköpfige Familie auf den Balkon. Sie waren erst vor kurzem hergezogen, und Lennard hatte sich den neuen Namen auf dem Klingelschild noch nicht notiert. Die Frau war nicht gerade hübsch, mit plumper Figur, dunkler Haut und krausen schwarzen Haaren, die sich durch das Gummiband an ihrem Hinterkopf kaum bändigen ließen. Doch ihre Bewegungen waren schnell und geschickt, zeugten von der Kompetenz einer Mutter, die ihr enormes Arbeitspensum nur bewältigen konnte, wenn sie äußerst effizient vorging. Sie schaffte es immer, den Haushalt in Ordnung zu bringen, bevor ihre fünf Kinder aus der Schule und ihr Mann von der Frühschicht nach Hause kamen. Danach ging sie selbst arbeiten, wohin, wusste Lennard noch nicht. Ihr Mann verbrachte den Rest des Tages meist vor dem Fernseher, während die Kinder ihre Hausaufgaben machten, draußen Fußball spielten oder sich zankten. Eine ganz normale, intakte Familie.

Ganz anders ihre Nachbarn, ein junges Paar, das sich permanent stritt. Die junge Frau hatte oft blaue Flecken an den Armen und im Gesicht. Vor geraumer Zeit hatte Lennard sie im Supermarkt angesprochen. Sie hatte sich wortlos abgewandt, aber ihm waren die Tränen in ihren Augen nicht entgangen.

Seine Augen wanderten wieder hinab zur Grünanlage mit dem kleinen Spielplatz. Eine Frau Anfang dreißig mit olivfarbener Haut und langen, lockigen schwarzen Haaren tollte mit ihrem etwa sechsjährigen Sohn herum. Fabienne Berger. Sie arbeitete halbtags als Verkäuferin in einem Blumengeschäft.

Ein warmer, nicht unangenehmer Schmerz durchdrang Lennards Brust, als er die Fröhlichkeit auf ihrem hübschen Gesicht sah, während sie mit dem Kleinen Fangen spielte. Ihre Bewegungen waren anmutig wie die einer Tänzerin. Selbst ihre gespielte Ungeschicklichkeit, wenn sie zum Schein stolperte und der Länge nach auf den Rasen schlug, wirkte elegant. Lennard glaubte, ihr helles Lachen bis hinauf in seine Wohnung hören zu können.

Fabienne Berger tobte mit ihrem Sohn in der Sandkiste herum, als sich eine weitere junge Frau näherte. Sie hieß Nora Linden, war blond und etwas pummelig, bei weitem nicht so hübsch wie Berger. Die beiden waren eng befreundet und halfen sich oft gegenseitig bei der Beaufsichtigung ihrer Kinder. Linden hatte eine Tochter im selben Alter wie Bergers Sohn.

Berger stand auf, klopfte sich den Sand von der Jeans und ging lächelnd auf ihre Freundin zu. Doch als die beiden sich einander näherten, schien ein Schatten über ihr Gesicht zu fallen. Sie redeten miteinander. Nora Linden wirkte aufgeregt – etwas musste vorgefallen sein. Berger legte eine Hand auf die Schulter ihrer Freundin, wie um sie zu beruhigen.

Lennard griff nach dem Richtmikrofon, das neben ihm auf der Heizung lag, schaltete es ein, steckte sich die winzigen Hörer in die Ohrmuscheln und öffnete das Fenster einen Spalt weit. Es dauerte einen Moment, bis er das stabförmige Mikrofon so ausgerichtet hatte, dass er über die Hintergrundgeräusche hinweg verstehen konnte, was die beiden sagten.

»… schon gemacht. Aber da ist … sie auch nicht.« Das war Nora Lindens Stimme. Ihre Worte wurden von kurzen Aussetzern unterbrochen, Schluchzer wahrscheinlich. »Ich hab … wirklich schon überall … rumgefragt.«

»Was ist mit deinem Ex?«, fragte Fabienne Berger. Selbst durch das stark verzerrende Mikrofon klang ihre Stimme weich und melodisch. Eine Sängerin und Tänzerin hätte sie sein sollen, anstatt Blumen zu verkaufen.

»Daran hab ich natürlich auch sofort gedacht. Ich habe mehrmals versucht, ihn anzurufen, aber er geht nicht ran. Ich hab ihm auf die Mailbox gesprochen, aber du kennst ihn ja. Er ist so ein unzuverlässiger Mistkerl! Er hat Yvi schon mal unangemeldet von der Schule abgeholt. Damals hab ich mir auch schreckliche Sorgen gemacht.«

»Na siehst du! Bestimmt ist sie bei ihm, und die beiden sind zu Hagenbeck gegangen oder so.«

»Aber was ist, wenn nicht?« Nora Linden brach in Tränen aus. »Wenn es … wenn sie nun …« Sie brachte es nicht über sich weiterzusprechen.

Fabienne Berger nahm ihre Freundin in den Arm. »Warst du schon bei der Polizei?«

Es dauerte einen Moment, bis Linden antwortete. »Ja. Sie haben gesagt, ich soll erst mal überall rumfragen.« Sie schluchzte. »Sie sagen, über neunzig Prozent … der verschwundenen Kinder tauchen … tauchen nach ein paar Stunden von selbst wieder auf. Vor heute Abend können sie nichts machen, hat der Beamte gesagt. Oh, Fabienne, ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll!«

Berger hob den Kopf und ließ den Blick über den Wohnblock schweifen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien sich ihr Blick mit Lennards zu kreuzen, und obwohl er wusste, dass sie ihn hinter seinem Vorhang nicht sehen konnte, zuckte er zusammen. »Komm, wir gehen jetzt erst mal rein, und dann überlegen wir noch mal systematisch, wo sie sein könnte.«

Die beiden Frauen gingen Arm in Arm zurück ins Haus. Der kleine Junge folgte ihnen mit verunsichertem Blick. Lennard sah ihnen nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Dann legte er Fernglas und Richtmikrofon auf ihren gewohnten Platz auf der Fensterbank und ging zu dem kleinen Schreibtisch im Schlafzimmer.

Die dunklen Vorhänge waren wie immer zugezogen, das Bett unordentlich. Schmutzige Wäsche lag vor dem Schrank auf dem Boden. Er hatte ein leicht schlechtes Gewissen beim Anblick der Unordnung, obwohl es niemanden gab, der ihn dafür hätte kritisieren können. Er setzte sich an den Schreibtisch und warf einen Blick auf die über hundert Farbausdrucke, die fast die ganze Wand bedeckten: Bilder von seiner Digitalkamera in unterschiedlichen Größen. Sie waren aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen – von oben, von der Seite, von hinten oder von schräg unten; einige mit dem Teleobjektiv aus so großer Entfernung, dass die Bilder seltsam flach wirkten. Sie zeigten Menschen beim Herausbringen des Mülls, beim Gassi gehen mit dem Hund oder schwer beladen mit Einkaufstüten. Manche Bilder waren durch geöffnete Wohnungsfenster hindurch aufgenommen worden und zeigten die Bewohner beim Kochen, beim Bügeln, beim Staubsaugen oder vor dem Fernseher. Keiner der Fotografierten lächelte in die Kamera.

Da war die alte Zengeler beim Kreuzworträtsellösen, den Bleistift in den Mundwinkel gedrückt, die Augenbrauen in Konzentration herabgezogen. Dann die junge Frau mit dem unaussprechlichen Namen aus Portugal, die im Erdgeschoss wohnte und sich ihr Studium als Callgirl finanzierte. Sie trug auf dem Bild einen billigen Kunstpelz. Ihre blondierten Haare bildeten einen unnatürlichen Kontrast zu ihrer dunklen Haut.

Auf einem Foto dicht neben dem Türrahmen sah Herr Herder aus dem Fenster seiner Dachgeschosswohnung im neunten Stock. Das war alles, was er den ganzen Tag tat. Er hatte seine Frau und zwei Kinder bei einem Autounfall verloren. Er war selbst gefahren und trug die Schuld an dem Unfall, das hatte er Lennard mit tonloser Stimme erzählt, im Aufzug, eine Tüte mit leeren Flaschen für den Glascontainer in der Hand. Er erzählte es jedem; es waren die einzigen Worte, die die anderen Hausbewohner von ihm zu hören bekamen. Seine Stimme war dabei klar und deutlich wie die eines Nachrichtensprechers, ohne jegliches Zittern, doch seine Augen waren leer wie ausgetrocknete Teiche. Warum er sich nicht schon längst umgebracht hatte, wusste Lennard nicht.

Fabienne Bergers lächelndes Gesicht war der Kontrapunkt zu Herders Verzweiflung. Es tauchte auf mindestens einem Dutzend Bildern auf. Auf einem davon stand sie neben ihrer Freundin bei einer spontanen Grillparty auf dem Rasen, in der Hand einen Plastikbecher mit Rotwein. Lennard erinnerte sich, dass es eine Menge Ärger mit der Hausverwaltung gegeben hatte, weil irgendein Betrunkener den Grill umgekippt und die Kohle einen hässlichen schwarzen Brandfleck auf dem Rasen hinterlassen hatte. Auf einem anderen, wegen der Entfernung etwas unscharfen Foto warf sie ihren Sohn, damals drei Jahre alt, in die Luft. Das musste gewesen sein, kurz nachdem ihr Mann sie verlassen hatte. Trotzdem wirkte sie auf dem Bild ausgelassen, unbeschwert. Es war eines seiner Lieblingsfotos. Es erinnerte ihn daran, dass es bei aller Trübsal glückliche Momente im Leben gab. Momente, in denen man vergaß.

Sein Blick blieb an einem schlaksigen Mann Mitte dreißig mit langem, fettigem Haar hängen. Lennard hatte ihn im Verdacht, mit Drogen zu handeln, doch er war ihm noch nicht auf die Schliche gekommen.

Dann war da dieser Junge, Jonas Dinkel. Er musste etwa Bens Alter haben. Er tauchte auf zwei Fotos auf: einmal als Elfjähriger mit langen Haaren, wie er mit ein paar Freunden auf der Grünfläche Fußball spielte; ein zweites Mal vor etwa einem Monat, als er mit einer Gruppe von Glatzköpfen in Springerstiefeln eine junge dunkelhäutige Frau mit Kinderwagen anpöbelte, eine zerbeulte Bierdose in der Hand.

Von Ben hing kein Bild an der Wand, ebenso wenig wie von Martina. Sie hätten in die Kamera geblickt, gelächelt – vor dem Weihnachtsbaum, am Strand, beim Spaziergang in den Alpen. Es hätte zu weh getan.

Er senkte den Blick auf das blasse Glühen seines Laptops. Das Gespräch der beiden jungen Frauen hatte etwas in ihm ausgelöst. Eine Erinnerung, schwach und schemenhaft, irgendwo tief in seinem Gedächtnis vergraben. Er hatte sie nur flüchtig wahrgenommen, wie eine Bewegung am Rand des Blickfelds. Doch je mehr er darüber nachdachte, je gezielter er danach suchte, desto weiter schien sich der Gedanke zu entfernen. Er wusste nur, dass er irgendwann etwas gesehen hatte, etwas Wichtiges.

Die Fotos auf seiner Festplatte waren chronologisch abgelegt, für jeden Monat ein Verzeichnis. Daneben gab es auch Ordner für einzelne Personen, in denen er Kopien der Bilder ablegte. Insgesamt befanden sich mehr als siebentausend Fotos auf seinem Laptop und ein Mehrfaches davon auf den Archiv-DVDs in der Schreibtischschublade.

Er ging unsystematisch vor, sprang in der Zeit vor und zurück, klickte wahllos auf die Miniaturansichten der Bilder, um sie einen Moment bildschirmfüllend zu betrachten und kurz darauf das Fenster in die Vergangenheit wieder zu schließen. Er hoffte, auf diese Weise die flüchtige Erinnerung aus den Tiefen seines Gedächtnisses hervorlocken zu können, wo sie sich wie ein scheues Tier verborgen hielt.

Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er zusammenzuckte, als es an der Tür klingelte.

2.

Das gewaltige Säulenportal der Villa wirkte einschüchternd. Vor über hundert Jahren hatte sie ein Hamburger Reeder bauen lassen, der mit dem Import von Kaffee, Tabak und Gewürzen ein Vermögen gemacht hatte. Der Zweck dieses Hauses war es von Anfang an gewesen, Normalsterblichen vor Augen zu führen, wie klein und unbedeutend sie gegenüber seinem Besitzer waren.

Doch die Zeiten hatten sich geändert. Die Schönen und Reichen waren alles andere als bessere Menschen – niemand wusste das so genau wie Corinna Faller. Sie war hier, um einen Blick hinter die Fassade zu werfen, und sie war sicher, dass sie auch diesmal etwas finden würde, irgendein Stück Schmutz, auf das sich ihre Leser stürzen würden wie die Fliegen auf Hundekot. Nichts liebten die Käufer des Wochenmagazins Rasant mehr, als mit anzusehen, wie ein gefeierter Promi von seinem Sockel gestürzt wurde.

Sie warf einen kurzen Blick zu Andreas, dem Fotografen, wie um sich zu vergewissern, dass er bereit war für einen erneuten Angriff auf die Privatsphäre reicher Schnösel. Dann klingelte sie. Ein tiefer, melodischer Gong erklang – ein echter aus Metall, nicht so ein modernes, quäkendes Elektroding. Nur wenige Sekunden später öffnete sich die Tür.

Es war Heiner Benz selbst, der sie hereinbat. Er trug eine Jeans von Boss, ein Ralph-Lauren-Polohemd und eine Breitling-Uhr. Hochwertige Markenprodukte, aber nichts Extravagantes.

»Guten Tag, Frau Faller.« Der Druck seiner großen Hände war herzhaft, aber nicht zu fest. Auch Andreas begrüßte er mit einem jovialen Lächeln. »Kommen Sie bitte herein.«

Widerstrebend musste sich Faller eingestehen, dass ihr Benz nicht unsympathisch war. Er wirkte offen, uneitel, charmant. Er war groß, hatte eine breite Statur und einen deutlichen Bauchansatz, aber sein Lausbubenlächeln und das krause nussbraune Haar ließen ihn noch jünger wirken als seine gerade mal neununddreißig Jahre. Nichts an ihm deutete darauf hin, dass er einer der reichsten Männer Deutschlands war.

Er führte sie durch eine großzügige Diele. Dahinter lag ein Wohnzimmer mit hohen Wänden und altem Holzfußboden. Bodentiefe Sprossenfenster boten einen eindrucksvollen Blick auf einen weitläufigen Garten, nein, eher einen kleinen Park. Dahinter erstreckten sich die Elbe und das Krangewirr des Hamburger Containerhafens.

Moderne, helle Sofas bildeten einen reizvollen Kontrast zu einem uralten Eichenschrank mit aufwändigen Wappenschnitzereien. An einer Wand stand ein schlichtes weißes Bücherregal, das ohne weiteres von IKEA hätte stammen können. Die Dekoration war sparsam, nur drei weiße Orchideen und ein goldener Buddha standen auf niedrigen Tischen. Ein abstraktes Gemälde mit knallbunten, organisch geschwungenen Formen dominierte die Wand. Nirgendwo war auch nur die geringste Spur von Kitsch zu finden. Andererseits hatte das Zimmer auch nicht die sterile Schöner-Wohnen-Atmosphäre, die Innenarchitekten und professionelle Raumgestalter oft hinterließen. Wer diesen Raum gestaltet hatte, besaß Geschmack und lebte offensichtlich gern hier.

Auf dem flachen Tisch lagen ein paar abgegriffene Zeitschriften: Vogue, Der Spiegel, The New Yorker. Die Rasant war nicht dabei. Diese Leute hatten es nicht nötig, sich einer Klatschjournalistin anzubiedern.

»Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich sage meiner Frau Bescheid. Möchten Sie Kaffee?«

»Nein danke, nur ein stilles Wasser«, sagte Faller. Sie bedeutete Andreas mit einem Kopfnicken, ein paar Fotos von dem Raum zu machen, bevor das Interview begann. Besonders von dem Bild – sie würde später den Kunstexperten in der Redaktion fragen, wer es gemalt hatte und wie teuer es war.

Kurz darauf kam Benz mit einem Tablett zurück, gefolgt von seiner Frau Eva. Der Raum schien sich subtil zu verändern, als sie eintrat, so als habe bisher etwas Entscheidendes gefehlt. Faller kannte sie natürlich von den Titelseiten der Magazine und aus dem umfangreichen Dossier in der Redaktion, aber sie war ihr nie zuvor persönlich begegnet. Jetzt begriff sie plötzlich, warum Eva Benz einmal zu den schönsten Frauen der Welt gezählt hatte. Auch Jahre nachdem sie ihre Modelkarriere beendet hatte, war sie noch immer eine mehr als eindrucksvolle Erscheinung.

Das Faszinierendste waren ihre Augen. Wie zwei lupenreine, sehr helle Smaragde schienen sie das Licht einzufangen und von innen zu leuchten. Das lange rotblonde Haar und ihre sommersprossige Haut, ihr einfaches, beigefarbenes Sommerkleid waren nur der Rahmen, eine schlichtschöne Fassung für diese beiden Juwelen. Schminke oder Schmuck hätten davon nur unnötig abgelenkt. Ihr Lächeln schien die Anwesenden zu berühren wie eine zärtliche Hand.

Faller lächelte ebenfalls, fast gegen ihren Willen. Sie wusste, dass sie mit ihren schwarzglänzenden, schulterlangen Haaren und den großen braunen Augen selbst ziemlich attraktiv aussah, doch gegen Eva Benz verblasste sie wie eine Primel neben einer Orchidee. Früher hatte sie selbst von einer Modelkarriere geträumt, doch es hatte nur zur »Miss Eckernförde« gereicht.

Das vertraute Gefühl von Neid stieg in ihr auf. Sie verdrängte es rasch und ergriff Eva Benz’ ausgestreckte Hand. »Vielen Dank, dass Sie unseren Lesern einen kleinen Blick in Ihr Privatleben gewähren!«

Eva Benz lächelte schüchtern, als könne sie nicht verstehen, warum sich irgendjemand für ihr Privatleben interessierte. »Setzen Sie sich doch!«

Faller folgte der Aufforderung und stellte ein kleines Diktiergerät auf den Tisch. Das Spiel begann.

Nach ihrer Erfahrung gab es zwei Kategorien von Prominenten: Anfänger und Profis. Diejenigen, die erst vor kurzem zu Reichtum und Berühmtheit gelangt waren, genossen die Aufmerksamkeit der Presse, kannten die Fallstricke noch nicht. Sie trugen auffällige Kleidung, teuren Schmuck, intensives Parfüm. Sie ließen sich Haare und Fingernägel modisch aufpeppen, fuhren Autos, die sonst nur Zuhälter fuhren, lachten laut und oft, ließen sich in der Öffentlichkeit bewundern und feiern und hielten sich insgesamt für unbesiegbar. Ganz anders die Profis – Politiker, der Hochadel, ältere, erfahrene Stars aus Film und Musik: Sie achteten auf jedes Wort, jede Bewegung. Sie bemühten sich, tiefzustapeln, ihren Reichtum oder ihre Berühmtheit nicht zu offen zur Schau zu stellen. Sie waren dezent, freundlich, aufmerksam, gaben dem Gegenüber das Gefühl, wichtiger zu sein als sie selbst, und wussten, dass sie damit ihre eigene Bedeutung erst recht hervorhoben. Ihre Masche war subtiler, aber für eine erfahrene Journalistin genauso durchsichtig. Sie respektierten Faller, wie man einen bissigen Hund respektiert.

Heiner Benz und seine Frau waren eindeutig Profis. Es würde nicht leicht werden, ihnen einen verwertbaren Satz zu entlocken.

Faller eröffnete mit einer Standardfrage. »Würden Sie unseren Lesern verraten, wie Sie sich kennengelernt haben?«

Eva Benz sah ihren Mann an, ließ ihm den Vortritt. Das sagte einiges über die Machtverhältnisse in ihrer Beziehung aus. »Das war in München, auf einer Benefizveranstaltung«, sagte er. »Mir wäre beinahe das Sektglas aus der Hand gefallen, als ich Eva das erste Mal sah.« Er grinste.

»War es Liebe auf den ersten Blick?«

»Bei mir schon.«

Eine wunderbare Vorlage! Faller wandte sich demonstrativ zu Eva Benz um. »Und bei Ihnen?«

»Ehrlich gesagt, fand ich Heiner zuerst ziemlich langweilig«, sagte sie in fröhlichem Plauderton. Ihr Mann stieß ein kurzes, dröhnendes Lachen aus. Faller stimmte pflichtschuldig ein. »Aber Heiner ist sehr hartnäckig. Wenn er etwas haben will, bekommt er es früher oder später auch. Das hat mir imponiert!« Sie setzte sich demonstrativ näher zu ihm, küsste ihn auf den Mund. Andreas’ Kamera klickte mehrfach.

Nach dem Himmel auf Erden klang das nicht gerade. Aber Eva Benz’ entwaffnende Offenheit machte es schwierig, einen Keil zwischen die beiden zu treiben und über einen Streit zu den wahren Menschen hinter der Fassade vorzudringen. »Haben Sie ihn deswegen geheiratet?«, fragte Faller mit der winzigsten Andeutung von Skepsis in ihrer Stimme.

»Ja«, sagte Eva Benz rundheraus.

Faller entschied, das übliche harmlose Geplänkel zu überspringen und direkt zum Angriff überzugehen. »Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt frage. Haben Sie sich nie Kinder gewünscht?«

Es war eine provozierend indiskrete, eine geradezu unverfrorene Frage, der durch die vorausgehende Entschuldigung kaum die Schärfe genommen wurde. Immerhin konnte es ja sein, dass Benz oder seine Frau unfruchtbar waren. Aber es war auch eine gute Möglichkeit, die beiden aus der Reserve zu locken, falls der Grund war, dass einer von beiden Kinder wollte und der andere nicht. Nach Fallers Erfahrung gab es in einer Beziehung kaum ein Thema, das so schnell die Emotionen hochkochen ließ.

Heiner Benz’ Gesicht verspannte sich leicht. Treffer! Doch nach einer halben Sekunde des Zögerns entschärfte seine Frau die Situation gekonnt. »Wir sind uns selbst genug!«

Er legte seinen Arm um sie und grinste zufrieden.

Faller entschied, einen Gang zurückzuschalten. Wenn ihre Überrumpelungstaktik nicht funktionierte, musste sie versuchen, die beiden einzulullen. Sie stellte Fragen zu Eva Benz’ steiler Modelkarriere, zum geschäftlichen Erfolg ihres Mannes, den dieser mit einer 1997 gegründeten Internetfirma erzielt hatte. Die beiden tauten spürbar auf, als sie über ihre gute Seite schwadronieren konnten. Faller wusste, dass nichts von dem, was in dieser halben Stunde gesprochen wurde, verwertbar war – die Rasant-Leser wussten das alles schon. Sie wollten etwas Überraschendes, Neues. Bisher war das Interview in dieser Hinsicht eine Pleite.

Sie versuchte es mit Politik – neben Religion und Sex eines der Tabuthemen für ein belangloses Plaudern, und damit umso interessanter für eine Journalistin. »Ich nehme an, Sie haben davon gehört, dass das Bundesverfassungsgericht gegen den Bau einer Moschee in Moosenheim entschieden hat. Was halten Sie von diesem Urteil?«

Faller hatte keine wirkliche Hoffnung, dass die Antwort auf diese Frage interessant ausfallen würde. Umfragen hatten gezeigt, dass sich die weitaus meisten Deutschen über das Urteil freuten, während es in der moslemischen Bevölkerung wütende Proteste hervorrief. Doch kaum jemand gab seine Ablehnung des Islam offen zu. So erwartete sie ein butterweiches, politisch korrektes Statement. Doch die Veränderung in Benz’ Gesicht zeigte ihr, dass sie sich geirrt hatte.

»Das Urteil war überfällig«, sagte er und ignorierte den warnenden Blick seiner Frau. »Ich habe nichts gegen Ausländer. Allein in meiner Firma beschäftige ich Menschen aus fünfzehn Nationen, unsere Niederlassungen auf der ganzen Welt nicht mitgerechnet. Aber das heißt ja nicht, dass wir Deutschen unsere kulturelle Identität aufgeben müssen. Fliegen Sie mal nach New York: ein Schmelztiegel von Menschen aus aller Herren Länder, und dennoch spürt man jede Sekunde die alles durchdringende Identität Amerikas, den unglaublichen Stolz der Menschen auf ihr Land. Wenn Sie mich fragen, dann haben wir Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg viel zu viel Angst davor, deutsch zu sein. So als sei das etwas Schlimmes, bloß weil wir mal einen irren Diktator hatten. Schauen Sie sich an, was die Russen in Sibirien angestellt haben oder die Amerikaner mit den Schwarzen und den Indianern. Haben die deswegen etwa einen kollektiven Minderwertigkeitskomplex? Kein bisschen!«

Sieh mal einer an, dachte Faller und unterdrückte ein Grinsen, Heiner Benz, der Wohltäter, der sich so gern in der Öffentlichkeit als großzügiger Spender feiern ließ, war ein verkappter Nationalist! Faller grinste innerlich. »Sie sind also der Meinung, dass Türken in Deutschland leben und arbeiten dürfen, aber ihre Kultur und Religion besser zu Hause lassen sollen?«

»Das habe ich nicht gesagt!« Benz’ Gesicht lief rot an. Er wandte sich an seine Frau. »Habe ich das etwa …?«

»Was mein Mann meint, ist …«, sprang sie ein, doch Benz unterbrach sie.

»Was ich meine, ist: Türken oder Rumänen oder Albaner sollen gerne in Deutschland leben. Aber sie müssen unsere Kultur respektieren und sich ihr auch ein Stück weit unterordnen. Ich habe nichts dagegen, dass sie hier ihrer Religion anhängen, und auch nichts gegen Moscheen in Deutschland. Aber die Bürger einer deutschen Stadt müssen schon darüber entscheiden dürfen, ob sie eine Moschee vor der Nase haben wollen oder nicht! Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht ja nicht gesagt, dass da keine Moschee gebaut werden darf. Sie haben nur klargestellt, dass die Bürger der Stadt das Recht haben, darüber zu entscheiden. Da ist doch wohl überhaupt nichts gegen zu sagen! Wenn sich dann einige Moslems entscheiden, nicht in dieser Stadt leben zu wollen, ist das ihr gutes Recht. Letztlich ist das Angebot und Nachfrage – will ich als Stadt in Deutschland mit einer Moschee Ausländer als günstige Arbeitskräfte anlocken oder nicht?«

Das war eine ziemlich zynische Sichtweise. Faller empfand ein Hochgefühl. Aus dieser Aussage würde sich sicher etwas machen lassen. »Aber was ist mit den Moslems, die schon lange in Moosenheim leben?«, fragte sie. »Wollen Sie die jetzt nach Hause schicken?«

»Natürlich nicht! Aber die sind doch bisher auch ohne Moschee ausgekommen. Warum soll das in Zukunft nicht möglich sein?«

»Soweit ich weiß, wurde die alte Moschee abgerissen, weil sie in einem asbestverseuchten Gebäude untergebracht war.«

»Na, dann müssen die eben eine neue Lösung finden, die mit dem Stadtbild von Moosenheim vereinbar und im Stadtrat mehrheitsfähig ist!«

Faller beglückwünschte sich selbst. Das Thema war eine Goldmine! »Nach meinen Informationen hat die islamische Gemeinde mehrere Entwürfe eingereicht, davon sogar einen, der von außen überhaupt nicht als Moschee zu erkennen gewesen wäre, ohne Minarette oder andere äußere Kennzeichen. Sie sind alle abgelehnt worden.«

Bevor sich ihr Mann weiter in Rage reden konnte, sprang Eva Benz ein. Ihre hellgrünen Augen blitzten – sie hatte genau begriffen, was Faller vorhatte. »Das Bundesverfassungsgericht hat sich bestimmt sehr ausführlich mit den Fakten beschäftigt. Die Richter haben sicher gute Gründe, dem Stadtrat recht zu geben.«

Faller nickte. »Das Bundesverfassungsgericht sagt in der Begründung ausdrücklich, dass das Urteil nicht bedeute, die Ablehnung der Baugenehmigung durch den Stadtrat sei baurechtlich oder moralisch korrekt. Sie weisen lediglich die Verfassungsbeschwerde der islamischen Gemeinde zurück und verweisen auf das lokal gültige Baurecht.«

»Na sehen Sie!«, sagte Heiner Benz.

»Wir wissen beide sehr wenig über den Fall«, warf seine Frau ein. »Und ich bin sicher, dass sich Ihre Leser kaum für unsere politische Meinung interessieren!« Ihr Tonfall war immer noch freundlich, aber die unterschwellige Warnung war unüberhörbar: Wenn Faller jetzt nicht das Thema wechselte, war das Interview beendet.

»Natürlich nicht«, stimmte sie zu, obwohl sie wusste, dass ihre Leser sich sehr wohl dafür interessierten, vor allem, wenn sie Benz’ Aussagen in ihrem Bericht noch etwas zuspitzte. »Kommen wir wieder zurück zu Ihrem Privatleben. Herr Benz, hat es Sie eigentlich nie gestört, dass Ihre Frau früher Sexfilme gedreht hat?«

Keine zwei Minuten später standen Faller und ihr Fotograf auf der Straße außerhalb des Grundstücks. Sie konnte ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken. Nach ihrer letzten Frage war Heiner Benz hochgegangen wie eine Bombe. Mit knallrotem Kopf hatte er sie angebrüllt, sie des Hauses verwiesen und ihr juristische Schritte angedroht, falls sie es wagen sollte, auch nur ein Wort über die Sache zu schreiben. Eva Benz hatte mit versteinertem Gesicht und Tränen in den Augen dagesessen. Sie hatte Faller in diesem Moment beinahe leidgetan.

Bis zu diesem Moment hatte Faller gar nicht gewusst, ob die Gerüchte über die Sexfilmchen tatsächlich stimmten. Sie hatte einfach einen Schuss ins Blaue gewagt. Das Thema war eigentlich auch nicht besonders interessant – solange man nicht Bilder aus den Filmen abdrucken konnte, war es bestenfalls ein winziges Skandälchen, das kaum jemanden hinter dem Ofen hervorlocken würde. Ein im Internet kursierender Filmausschnitt zeigte eine Frau beim Sex, die Eva Benz ähnlich sah, doch ihr Gesicht war darin nicht eindeutig zu erkennen. Original-DVDs waren nicht einmal mehr auf dem Schwarzmarkt aufzutreiben. Wenn es sie wirklich gegeben hatte, musste Benz sie aufgekauft haben.

Die Frage hatte nur dazu gedient, ihn zu provozieren. Wie gut das funktioniert hatte! Für einen kurzen Moment hatte Faller das wahre, jähzornige Gesicht des Milliardärs zu sehen bekommen – das Antlitz eines Mannes, der seine Feinde mit rücksichtsloser Brutalität bekämpfte.

»Meinst du, wir können die Geschichte bringen?«, fragte Andreas, als sie im Auto saßen.

Faller grinste. »Na klar!«

»Aber er hat uns ausdrücklich untersagt, Bilder und Aussagen aus dem Interview zu verwenden.«

»Na und? Die beiden sind Personen öffentlichen Interesses, oder etwa nicht? Seit wann lassen wir uns von unseren Interviewpartnern vorschreiben, welche Aussagen wir drucken dürfen?«

»Du weißt, Dirk hat gesagt …«

»Mit dem rede ich schon, mach dir deswegen keine Sorgen!« Der neue Chefredakteur war ein echtes Weichei. Er wollte die Rasant offenbar in ein richtiges Yellow-Press-Magazin umwandeln – die heile Welt des Hoch- und Geldadels, kombiniert mit Mode, Lebenshilfe und ein paar Rätseln. Keine Provokationen mehr, hatte er gesagt. Wenn wir nicht damit aufhören, Promis zu ärgern, kriegen wir bald überhaupt keine Interviewtermine mehr.

Was für ein Quatsch! Die Rasant hatte schon immer von ihren Skandalberichten gelebt, und Faller war eine zuverlässige Lieferantin solcher Geschichten. Die Promis fürchteten sie zwar, lechzten aber auch nach der Aufmerksamkeit der Presse. Vielen war eine negative Berichterstattung lieber als gar keine. Manche inszenierten Skandale sogar gezielt, um in die Schlagzeilen zu kommen und so ihre CDs oder Bücher besser verkaufen zu können. Faller spielte dieses Spiel schon seit über zehn Jahren, und es hatte nie Probleme gegeben, Interviewtermine zu bekommen. Die Rasant hatte seit Jahren mit Auflagenproblemen zu kämpfen und verschliss durchschnittlich einen Chefredakteur pro Jahr. Faller würde noch immer die Ressortleiterin »Persönliches« sein, wenn Dirk Braun längst nicht mehr da war. Vielleicht würde sie sogar irgendwann selbst an seine Stelle treten – immerhin war sie das »beste Pferd im Stall«, wie ihr der Verlagsleiter einmal gesagt hatte. Ihr fehlte eigentlich nur noch ein großer Wurf, die eine Geschichte, die es bis in die Abendnachrichten schaffte. Dann hätte sie ihr Ziel erreicht.

Das heutige Interview war sicher keine so bedeutende Sache. Zwar war Heiner Benz ausgerastet und hatte sich ein paar Sprüche geleistet, die man mit etwas Geschick als ausländerfeindlich darstellen konnte. Aber ein richtiger Skandal war das noch lange nicht. Immerhin, es war ein Anfang. Sie spürte, dass ihre erste Begegnung mit Heiner Benz nicht die letzte gewesen war.

3.

Fabienne Berger hatte versucht, gegenüber Nora einen ruhigen, zuversichtlichen Eindruck zu machen, um ihre Freundin nicht noch mehr aufzuregen. Doch sie war innerlich aufgewühlt. Erst vor zwei Wochen war am Elbstrand bei Geesthacht die Leiche eines achtjährigen Mädchens gefunden worden. Vergewaltigt, erwürgt und dann einfach in den Fluss geworfen. Vom Täter fehlte bisher jede Spur.

Es war eine entsetzliche Vorstellung, dass der kleinen Yvi etwas passiert sein könnte. Sie war nur ein halbes Jahr älter als Max. Die beiden kannten sich fast seit ihrer Geburt und spielten praktisch jeden Tag miteinander.

Fabienne hatte ihren Sohn bei Frau Kröger untergebracht, einer zuverlässigen Rentnerin, die als Tagesmutter mehrere Kinder aus dem Block betreute. Jetzt kniete sie vor der Kommode im Schlafzimmer. Ihre Hände zitterten leicht, als sie in der untersten Schublade herumwühlte, zwischen alten Fotoalben, Briefen und ein paar Bilderrahmen aus der Zeit, in der sie noch eine halbwegs glückliche Ehe geführt hatte. Irgendwo hier musste es doch sein.

Endlich fand sie das alte, schmucklose Holzkästchen und holte es mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Misstrauen hervor. Ohne es aufzuklappen, kehrte sie in Noras Wohnung zurück.

Nora stand mit verquollenen Augen in der Küche, in einer Hand das Telefon, in der anderen eine Zigarette. Fabienne hatte keine Ahnung, wo sie die her hatte – ihre Freundin hatte das Rauchen vor Jahren aufgegeben. Vor ihr auf der Anrichte lag eine Liste der Telefonnummern von Yvonnes Klassenkameraden. »… nein … ich wollte nur mal fragen … ja, vielen Dank! Auf Wiederhören!« Sie legte auf.

»Was ist das?«, fragte sie, als Fabienne sich an den Küchentisch setzte und das Kästchen aufklappte. Es enthielt abgegriffene, vergilbte Spielkarten.

»Ein Tarotspiel. Sehr alt. Ich habe es von meiner Großmutter, und die hat es angeblich als Jugendliche von einer Zigeunerin geschenkt bekommen.«

»Du … du willst doch nicht ernsthaft …«

»Lass es mich einfach versuchen, ja? Früher konnte ich es ziemlich gut. Ich habe die Karten schon lange nicht mehr benutzt, aber …«

»Und du meinst, du kannst Yvi finden, indem du Karten legst?«

»Ich weiß es nicht. Manchmal bringen einen die Karten auf die richtige Idee.«

Nora warf ihr einen Blick zu, als zweifle sie am Verstand ihrer Freundin. Doch sie nickte. »Na schön, versuch’s. Es kann ja nicht schaden.« Sie wählte die nächste Nummer auf der Liste.

Fabienne nahm die Karten aus dem Kästchen. Sie waren glatt und weich. Sie hatte das Gefühl, die tausend Hände spüren zu können, durch die das Spiel geglitten war. Sie hielt Nora die Karten hin. »Du musst sie mischen.«

»Moment.« Nora lauschte einen Moment in den Hörer. »Guten Tag, hier ist Nora Linden«, sagte sie. »Ich wollte nur fragen, ob meine Tochter Yvonne bei Ihnen ist. Bitte rufen Sie mich schnellstmöglich zurück, falls Sie wissen, wo sie ist.« Sie nannte ihre Nummer und legte auf. »Schon wieder keiner da! Verdammt!«

Sie starrte die Karten an, als sei sie nicht sicher, ob Fabienne es wirklich ernst meinte. Schließlich nahm sie sie und mischte sie so umständlich, dass Fabienne Sorge hatte, sie könne eine der wertvollen Karten zerknicken. Sie nahm Nora das Päckchen ab und legte die obersten fünf Karten in Form des Schicksalskreuzes aus: zuerst eine in der Mitte für die Ausgangssituation, dann die linke für die Vergangenheit, rechts die Zukunft, unten den Grund oder die Wurzel und oben die Chance oder Krone.

Einen Moment betrachtete sie die Rückseiten der Karten. Eine seltsame Vorahnung beschlich sie. Es war ihr, als hätten die Karten lange darauf gewartet, dass Fabienne wieder ihre Stimmen vernahm.

Sie konnte beinahe wieder die vom Lungenkrebs geschwächte, raspelnde Stimme ihrer Großmutter hören: »Du musst den Karten vertrauen, meine Kleine. Sie sind deine Freunde. Sie belügen dich nie. Doch wenn du nicht richtig hinhörst, wenn du nicht das in ihnen siehst, was sie dir zeigen, sondern das, was du sehen willst, dann können sie dich in die Irre führen. Sei vorsichtig – die Wahrheit zu sehen ist eine gefährliche Sache!« Sie hatte das Kästchen in Fabiennes Hand gedrückt und ihre faltigen, kraftlosen Hände um ihre Finger geschlossen. »Hier, nimm sie!«

»Nein, Omi, das darfst du nicht«, hatte Fabienne mit tränenerstickter Stimme gerufen. »Es sind deine Karten! Du musst sie behalten!«

Ihre Großmutter hatte sanft gelächelt. »Ich habe mein Schicksal gesehen. Dort, wo ich hingehe, brauche ich sie nicht mehr.«

»Aber … aber ich kann es doch nicht ohne dich!«

»Doch, mein Schatz. Du hast die Gabe von mir geerbt, so wie ich sie von meinem Großvater geerbt habe. Dein Vater hat sie auch, aber er wollte nie etwas davon wissen. Die Wahrheit ist eine dornige Blume, aber man muss sie pflücken, sonst entsteht großes Unglück!«

Ihre Großmutter hatte Fabienne schon als Kind alles beigebracht, was sie über Tarot wusste. Zu Anfang war es nur ein Spiel gewesen, doch als sie vierzehn wurde, hatte Fabienne zum ersten Mal gespürt, dass die Bilder ihr tatsächlich etwas sagten.

Ihr Vater war zu DDR-Zeiten ein hochrangiger Verwaltungsbeamter in Berlin gewesen. Ihre Mutter hatte er während einer diplomatischen Mission in Mittelamerika kennengelernt und sie nach Ostdeutschland mitgenommen, wo sie eine steile Karriere als Tänzerin und Sängerin gemacht hatte. Im Zuge des Zusammenbruchs der DDR war er auf nie ganz geklärte Weise zu einem kleinen Vermögen gekommen. Nach der Wende hatte er sein Geld in einen Autohandel investiert.

An jenem Tag – Fabienne hatte eigentlich nur wissen wollen, ob ihr damaliger Freund ihr treu bleiben würde – hatten die Karten ihr einen dramatischen Umbruch in ihrem Leben vorausgesagt. Auf eine seltsame Weise hatte sie gewusst, was passieren würde: Ihr Vater würde sein Vermögen verlieren, ihre Mutter sich von ihm trennen, er würde dem Alkohol verfallen und in einen Strudel stürzen, aus dem er sich nie mehr würde befreien können.

Und so war es gekommen.

Fabienne hatte die Bilder in ihrem Kopf nicht wahrhaben wollen. Sie hatte sie ignoriert, verdrängt. Doch als sie zwei Tage später spürte, wie angespannt ihr Vater war, wenn er aus dem Geschäft nach Hause kam, hatte sie ihm davon erzählt. Er hatte sie ausgelacht und zornig seine Mutter angerufen, ihr Vorwürfe gemacht, dass sie seiner Tochter esoterische Flausen in den Kopf setze. Er hatte Fabienne verboten, jemals wieder Tarotkarten zu legen. Er hatte wohl geahnt, dass die Karten recht hatten.

Zehn Jahre später war er gestorben, hatte sich einsam in einer kleinen Sozialwohnung zu Tode gesoffen. Fabienne hatte weder ihrer Mutter noch sich selbst jemals verziehen, dass sie ihn allein gelassen hatten.

Seit damals hatte sie die Karten mit großem Respekt behandelt und sie nur selten benutzt. Einmal hatten sie ihr gesagt, dass ihr damaliger Freund sie betrog – sie hatte daraufhin mit ihm Schluss gemacht. Als sie ihren späteren Mann Hans kennenlernte, hatten die Karten sie vor einer Enttäuschung gewarnt, doch sie hatte die Warnung ignoriert.

Hans hatte sich immer über die Karten lustig gemacht, und sie hatte sich bald nicht mehr getraut, sie zu legen. In der schmerzhaften Phase ihrer Trennung hatte sie sich so sehr vor dem gefürchtet, was die Karten ihr mitteilen würden, dass sie das Kästchen tief in der untersten Schublade ihrer Schlafzimmerkommode vergraben und irgendwann vergessen hatte.

Bis heute.

Die Erinnerungen lasteten schwer auf ihr, als sie mit zitternden Fingern die mittlere Karte umdrehte.

Der Tod. Grimmig ritt er in schwarzer Rüstung auf seinem Schimmel über die Leichen der Vergangenheit, während die Menschen in Demut vor ihm niederknieten. Es gab unter den 78 Karten des Tarotdecks keine, die besser zu Yvis Verschwinden gepasst hätte.

Nora machte ein erschrockenes Gesicht. »Was … was bedeutet das? Heißt das … Yvi ist tot?«

Fabienne lächelte. »Nein, nein. Der Tod kennzeichnet einen Verlust, etwas Einschneidendes, aber auch die Lösung von bestehenden Bindungen. Das kann durchaus etwas Positives bedeuten. Die Karte in der Mitte symbolisiert das Jetzt, die Ausgangslage. Yvi ist verschwunden, mehr sagt sie uns nicht.«

Nora wirkte nicht gerade beruhigt. »Mach weiter.«

Fabienne deckte die linke Karte auf, die Vergangenheit.

Der Narr. Ein buntgekleideter Wanderer, der munter auf den Abgrund zuschritt, das Gesicht dem Himmel zugewandt, das warnende Gebell seines Hundes ignorierend. Unbeschwertheit und Lebensfreude. Leichtsinn.

Ihre Hand glitt zur rechten Karte, der Zukunft. Doch sie zuckte zurück und drehte stattdessen die untere Karte um – die Wurzel, den Grund für die gegenwärtige Situation.

Der Teufel. Schon wieder eine der 22 großen Arkana und die vielleicht unfreundlichste Karte im ganzen Deck. Der Teufel stand für Illusionen, Lügen, Täuschung, die Bindung an Laster und negative Angewohnheiten. Es war ziemlich schwer, in dieser Karte etwas Positives zu sehen. In Zusammenhang mit dem Tod konnte sie aber auch bedeuten, dass bestehende Illusionen und Täuschungen losgelassen wurden. Trotzdem gefiel Fabienne überhaupt nicht, was sie sah.

Sie zögerte, bevor sie die obere Karte aufdeckte, die Krone, die Chance und Hoffnung symbolisierte. Sie betete, dass es eine mächtige Karte sein möge.

Der Eremit. Einsamkeit, Isolation, die Zeit der Reife. Doch der einsame Mann mit Stab und Lampe symbolisierte auch die Weisheit – vielleicht etwas oder jemanden, der ihnen in dieser schwierigen Situation helfen konnte.

»Nun mach schon. Dreh die fünfte Karte um.« Trotz ihrer Skepsis bebte Noras Stimme vor Anspannung.

Fabienne zögerte. Sie fürchtete, schon zu wissen, was dort lag. Sie schluckte und deckte die rechte Karte auf, die Zukunft.

Der Turm. Der Zusammenbruch der bestehenden Ordnung.

Fabienne fühlte sich, als sei sie selbst von dem Blitz getroffen worden, der auf der Karte in den Turm einschlug. Flammen leckten aus den Fenstern, brennende Menschen stürzten sich in die Tiefe. Vor ihrem geistigen Auge erschienen plötzlich die schrecklichen Bilder des elften September 2001. Ihr Herz krampfte sich zusammen.

Fünf Karten. Fünf große Arkana. Ihre Großmutter, die Zahlenspielereien liebte, hatte ihr einmal gesagt, dass es etwas ganz Besonderes sei, sollte sie jemals fünf große Arkana ziehen. Das komme nur einmal in achthundert Ziehungen vor.

»Was … was bedeutet das?« Nora schluchzte. »Es ist etwas Schlimmes, oder?«

Mit einer entschlossenen Handbewegung schob Fabienne die Karten zusammen, legte sie in das Kästchen und klappte es zu. Sie rang sich ein Lächeln ab. »Nein, überhaupt nicht. Tarotkarten sehen manchmal etwas düster aus, aber das sind sie nicht. Sie haben nur gezeigt, was wir schon wussten: Es ist etwas Einschneidendes passiert, ein Problem, aber wir werden es lösen!«

Nora sah sie mit glasigen Augen an. »Das stimmt nicht. Du sagst mir nicht die Wahrheit!«

»Hey, das ist nur bedrucktes Papier. Pass auf, du rufst weiter die Eltern an, und ich frage in der Zeit noch mal die Hausbewohner. Vielleicht hat ja jemand etwas gesehen. Kannst du mir ein Foto von Yvi geben?«

»Okay.«

Eine halbe Stunde später klingelte sie enttäuscht und frustriert an der ungefähr hundertsten Tür. Es dauerte eine Minute, bis eine mürrische alte Frau aufmachte. »Ja?«

»Entschuldigen Sie bitte, Frau Lehmann. Ich suche dieses Mädchen.« Sie zeigte das Foto, das Nora ihr gegeben hatte.

»Und?«, fragte die Frau an der Tür. »Was hab ich damit zu tun?« Dieselbe kalte Gleichgültigkeit, die Fabienne schon so oft entgegengeschlagen war. Kaum jemand hatte sich interessiert oder gar besorgt gezeigt.

»Bitte, sie ist heute nicht aus der Schule zurückgekehrt. Es könnte sein, dass sie noch mit dem Schulbus hierhergefahren ist und dann irgendwo auf dem Weg von der Haltestelle bis zum Wohnblock … vom Weg abgekommen ist. Das sind nur etwa zweihundert Meter. Haben Sie vielleicht irgendetwas beobachtet?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gesehen. Und jetzt hab ich zu tun.« Ohne ein weiteres Wort schlug sie Fabienne die Tür vor der Nase zu.

Blöde Zicke, wollte sie rufen, riss sich aber zusammen und ging zur nächsten Tür. Auch nach mehrmaligem Klingeln öffnete niemand. Bei den nächsten beiden Wohnungen hatte sie ebenfalls kein Glück. Sie notierte sich die Namen auf einem Zettel. Sie würde später noch einmal versuchen, dort anzurufen.

»Moment, ich komme gleich«, rief eine männliche Stimme von innen, als sie an der nächsten Tür klingelte. Nach einer Weile öffnete ein dunkelhaariger Mann, ein paar Jahre älter als sie, nicht sehr groß, mit einer drahtigen Figur und dunklen Augen unter buschigen Brauen. Sie hatte ihn ein paarmal gesehen, aber bisher nie ein Wort mit ihm gewechselt.

»Was kann ich für Sie tun?« Etwas an seinem Tonfall war seltsam, aber Fabienne hätte nicht sagen können, was.

»Haben Sie dieses Mädchen gesehen?« Sie hielt ihm das Foto hin.

Er betrachtete es genau. »Ja, warum?«

Fabiennes Herz machte einen Sprung. »Wann? Und wo?«

»Gestern. Sie war unten auf dem kleinen Spielplatz. Aber sie hatte etwas anderes an, so ein blaues Kleid.«

Fabienne hätte sich ohrfeigen können. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie bisher kein einziges Mal erwähnt hatte, welche Kleidung Yvonne heute trug. Sie wusste es nicht einmal selbst, hatte vergessen, Nora danach zu fragen.

»Heute nicht?«

»Nein, leider.«

»Gut. Vielen Dank.«

»Keine Ursache. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte. Aber Sie werden sie bestimmt finden.« Er lächelte aufmunternd.

Fabienne bemühte sich zurückzulächeln.

Er schloss die Tür. Gedankenverloren ging sie zum Treppenhaus, um den nächsten Stock in Angriff zu nehmen.

Die verdammten Karten gingen ihr nicht aus dem Kopf. Fünf große Arkana. Ihre Botschaft schien ziemlich dringend zu sein. Doch was wollten sie ihr sagen? Dass Yvi umgebracht worden war?

Nein. Sie wusste nicht genau, warum, aber sie war sicher, dass das nicht die Botschaft gewesen war. Stattdessen sah sie immer wieder die Turm-Karte vor sich, den Blitz, die brennenden Menschen, die sich in die Tiefe stürzten. Es war erschreckend, wie sehr die Karte den Fernsehbildern des brennenden World Trade Center glich. So, als hätte die Künstlerin, die die Karten fast hundert Jahre zuvor entworfen hatte, bereits diese Katastrophe vor Augen gehabt. Aber was sollte das Bild bedeuten? Wovor warnten die Karten?

Sie verdrängte die Gedanken an Tarot und dachte über das Gespräch gerade eben nach. Etwas war merkwürdig gewesen. Nach all den vorherigen Zurückweisungen hatte der Mann überraschend freundlich reagiert. Er war nicht misstrauisch gewesen wie die anderen, die in Fabienne zunächst vielleicht eine Trickbetrügerin oder Bettlerin vermutet hatten. Es war beinahe, als habe er sie erwartet. Und die Präzision seiner Beobachtungen! Er hatte genau gewusst, was Yvi gestern angehabt hatte. Er war sich seiner Sache ganz sicher gewesen. Er kannte sie offenbar gut.

Zu gut.

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als ihr klar wurde, dass sie möglicherweise gerade mit Yvonnes Entführer gesprochen hatte.

4.

Polizeimeister Ewald Sikorsky sah auf die Uhr. Nur noch eine Viertelstunde bis zum Feierabend. Wie jeden Mittwoch war er auch heute Abend zur Skatrunde verabredet. Mit seinen beiden Skatbrüdern trainierte er für die Teilnahme an den Frankfurter Meisterschaften im Herbst. Er rechnete sich allerdings nur geringe Chancen aus. Lothar hatte immer noch nicht gelernt, wie man mitzählte, und Klaus überreizte ständig, weil er unbedingt das Spiel machen wollte, egal wie klein seine Gewinnchancen auch waren. Sikorsky selbst hatte als Einziger begriffen, worum es beim Skat ging. Vielleicht war es an der Zeit, sich ein paar kompetentere …

Die Tür zum Revier öffnete sich, und ein Mann kam herein. Er wirkte verwahrlost, mit langem, ungekämmtem Haar und einem verfilzten Bart. Sein grünes T-Shirt war fleckig und schlabberte um seinen dürren Körper. Seine grauen Augen hatten eine fast beängstigende Intensität. Sikorsky wusste sofort, dass der Typ anstrengend werden würde. Und das ausgerechnet jetzt!

»Ich … ich möchte eine Meldung machen.«

»Name?«, fragte Sikorsky.

»Was?«

Sikorsky seufzte. »Ihr Name, bitte?«

»Ach so. Langen. Friedhelm Langen.«

Der Polizeimeister tippte den Namen in die Bildschirmmaske. »Wohnhaft?«

»Claudiusstraße 17. Dritter Stock.«

»Geboren?«

»17.12.1970.«

»Und was möchten Sie melden?« Sikorsky tippte auf eine verdächtige Beobachtung, die sich bei Nachprüfung wahlweise als Ehekrach, harmloser Kinderstreich oder Sinnestäuschung herausstellen würde. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Typ etwas besaß, das stehlenswert gewesen wäre.

»Es wird etwas geschehen!«, sagte Langen.

Sikorsky betrachtete den Mann vor sich genauer. Etwas gefiel ihm nicht an der Art, wie er das sagte. Sein Blick wirkte gehetzt. Irgendetwas trieb den Mann. Vielleicht wollte er die Polizei vor dem warnen, was tief in seinem Inneren tobte. Während eines Seminars über Täterpsychologie hatte Sikorsky gelernt, dass man vermeintlich harmlose, wirre oder verrückte Signale besonders ernst nehmen sollte.

»Was wird geschehen?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht genau. Eine schreckliche Katastrophe. Die Explosion eines Atomkraftwerks vielleicht, oder ein Terroranschlag.«

Also doch nur ein Spinner, wahrscheinlich bis obenhin zugedröhnt mit Drogen. Sikorsky hatte zwar absolut keine Lust, den Mann jetzt noch zur medizinischen Untersuchung dazubehalten und sich den damit einhergehenden bürokratischen Aufwand aufzuhalsen, aber einfach so laufen lassen konnte er ihn auch nicht, falls sich der Verdacht bestätigte. Aber vielleicht hatte er ja Glück, und der Typ war einfach nur durchgeknallt. »Was soll das heißen, Sie wissen es nicht genau? Wie wollen Sie etwas melden, von dem Sie gar nicht wissen, was es ist?«

»Ich habe … Anhaltspunkte«, sagte Langen und starrte Sikorsky auf eine Weise an, die ihm eine Gänsehaut verursachte. Entweder war der Mann wirklich vollkommen verrückt, oder er hatte schreckliche Angst und einen guten Grund dafür.

»Was für Anhaltspunkte?«

»Ich bin Mathematiker. Ich habe alles genau analysiert.«

»Analysiert? Was denn?«

»Den Text.«

Der Polizeimeister verlor allmählich die Geduld. »Was für einen Text? Können Sie vielleicht versuchen, mir in zusammenhängenden Sätzen zu erklären, von was Sie eigentlich reden?«

Statt der Aufforderung zu folgen, legte Langen ein zerknittertes Papier auf den Tresen. Es war mit einer Art Gedicht bedruckt:

Arglist, Verschwörung und hinterhältiger Anschlag:

Die große Stadt wird prompt und überraschend angegriffen.

Menschenfleisch, für den Tod zu Asche gemacht,

Schloss, Palast im Flammenmeer.

Gleißendes Feuer wird man am Himmel erblicken,

Wolke lässt zwei Sonnen erscheinen.

Sogleich schießt eine große, ausschlagende Flamme hervor,

während der Himmel so übermäßig donnern wird.

Überall in der Umgebung der großen Stadt,

bei den Schwaben und den umliegenden Orten

übrigbleiben wird lebendiges Feuer und versteckter Tod,

in den schrecklichen Kugeln, entsetzlich.

Spektakulärer Tod, der Stolze entkommt.

Durch verborgenes Feuer, durch Hitze, großer Ort entzündet sich.

Die große Stadt wird sehr verwüstet,

lange Zeit wird unbewohnt sein.

»Sehen Sie? Es ist ganz deutlich, oder? Dabei ist dieser Text über vierhundert Jahre alt!«

»Woher haben Sie das?«

»Ich sagte doch schon, ich habe es selbst analysiert. Wie Sie sicher wissen, hat Nostradamus über tausend vierzeilige Verse geschrieben, Prophezeiungen, die er in Zenturien zu je hundert Versen gruppiert hat. Seit Jahrhunderten versuchen die Menschen, einen Sinn aus diesen Versen herauszulesen. Doch der Text blieb immer rätselhaft und unverständlich. Das liegt daran, dass Nostradamus ihn verschlüsselt hat. Das ist seit langem bekannt, aber niemandem ist es bisher gelungen, den Code zu knacken. Auch ich habe Jahre gebraucht, bis ich dahintergekommen bin. Dabei ist es im Grunde ganz einfach: Man muss die Zeilen einfach nur umsortieren, und zwar nach einer ganz bestimmten mathematischen Formel. Die Zeilen, die Sie da lesen, stehen ursprünglich nicht in dieser Reihenfolge. Erst, nachdem ich sie umgeordnet hatte, wurde mir klar, was Nostradamus vor so langer Zeit gesehen hat. Und das Erstaunlichste daran ist, dass man mit derselben mathematischen Regel auch die exakten Daten bestimmen kann, wann die Voraussagen eintreffen werden. Ich habe das für verschiedene Ereignisse überprüft, und es ist wirklich verblüffend. Er hat die Französische Revolution auf den Tag genau vorhergesagt, den Friedensvertrag von Versailles, den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Und nun das hier. Das … das Datum, an dem die Katastrophe eintritt, die Nostradamus hier beschreibt, ist genau heute in drei Wochen!«

Die Worte des Mannes waren über Sikorsky hereingebrochen wie ein Platzregen. Jetzt durchströmte ihn eine gewisse Erleichterung. »Nostradamus! Sie reden von diesem angeblichen Propheten?«

»Ja, richtig. Sehen Sie, er gibt den Ort der Katastrophe ziemlich präzise an: ›Die große Stadt‹, ›bei den Schwaben‹, ›Schloss, Palast im Flammenmeer‹. Es kann sich eigentlich nur um Stuttgart handeln.«

»Hören Sie, das hier ist die Polizei und nicht das Diskussionsforum für esoterische Kaffeesatzleserei!«, sagte der Polizeimeister in, wie er fand, noch relativ freundlichem Tonfall. »Gehen Sie ins Internet, da finden Sie bestimmt Gleichgesinnte, mit denen Sie Ihre Theorien austauschen können!«

Langen starrte ihn an, als könne er nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. »Aber … aber Sie müssen doch etwas tun! Haben Sie das nicht gelesen? ›Gleißendes Feuer wird man am Himmel erblicken. Wolke lässt zwei Sonnen erscheinen.‹ Und dann hier: ›Übrigbleiben wird lebendiges Feuer und versteckter Tod, in den schrecklichen Kugeln, entsetzlich.‹ Das ist ganz eindeutig die präzise Beschreibung einer atomaren Explosion, inklusive der radioaktiven Verstrahlung, die Nostradamus den ›versteckten Tod in den schrecklichen Kugeln‹ genannt hat! Genauer kann man es in der Sprache des 16. Jahrhunderts doch wohl nicht formulieren! Begreifen Sie denn nicht? Hunderttausende Menschen sind in Gefahr! Sie müssen Stuttgart evakuieren! Es bleiben nur noch drei Wochen!«

Nun war es an Sikorsky, sein Gegenüber fassungslos anzusehen. »Sie erwarten ernsthaft, dass wir eine ganze Stadt evakuieren, weil irgendein Spinner vor vierhundert Jahren vorausgesagt hat, dass bald die Welt untergeht? Sie machen mir Spaß!« Er lachte schallend.