›Schwierige‹ Schüler. Wer sie versteht, kann ihnen helfen. Reclam Bildung und Unterricht - Michael Felten - E-Book

›Schwierige‹ Schüler. Wer sie versteht, kann ihnen helfen. Reclam Bildung und Unterricht E-Book

Michael Felten

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Beschreibung

›Schwierige‹ Schüler führen Lehrkräfte schnell an ihre Grenzen, können den gesamten Unterricht blockieren. Das muss aber nicht so bleiben. Herausforderndes Verhalten kann sich überraschend beruhigen – wenn man seinen Kern richtig entschlüsselt und angemessen reagiert. An zahlreichen realen ›Fällen‹ aus allen Altersstufen und Schulformen zeigt Michael Felten auf, wie psychologischer Einblick und pädagogisches Handeln ›entstören‹ und befreien kann – und worin die elementaren Aspekte personaler Störungskompetenz bestehen. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 119

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Michael Felten

›Schwierige‹ Schüler

Wer sie versteht, kann ihnen helfen

Reclam

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962148-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014361-2

www.reclam.de

Inhalt

Vorbemerkung

1 Sieben Lehren

2 Zwischenbilanz – die individualpsychologische Perspektive

3 Sieben Klippen

4 Störungskompetenz – über tiefenpädagogische Expertise

5 Sieben Miniaturen

6 Die Klasse als Entwicklungshelfer

7 Eltern als Mitspieler

Ausblick

Literatur und Links zum Vertiefen

Verzeichnis ›Symptome‹

Übersicht ›Auswege‹

Zum Autor

[7]DER INTERESSIERTE:

  Das ist jetzt also so ’ne Art Rezeptbuch?

DER KUNDIGE:

  Nun, Kinder sind ja lebendige Wesen, da kommt man mit Rezepten nicht weit. Interessant sind indes Beispiele, bei denen etwas gelungen ist.

DER INTERESSIERTE:

  Schön und gut. Aber in meiner Klasse sind mindestens zehn Schüler schwierig – ich kann mich doch nicht aufteilen!

DER KUNDIGE:

  Man fängt mal bei einem an. Danach fallen die nächsten beiden schon leichter. Und so weiter. Man gewinnt allmählich ein Grundverständnis, bekommt Einblick in die Kinderseele.

DER INTERESSIERTE:

  Hm, Radau machen, Mitschüler plagen, faul sein – ob ich da mit Verständnis weit komme, das erscheint mir doch reichlich fraglich.

DER KUNDIGE:

  Wir werden ja sehen.

DER INTERESSIERTE:

  Aber ich bin doch kein Sonderpädagoge. Manchen Störenfried wäre ich einfach gern los.

DER KUNDIGE:

  Das ist verständlich. Andererseits: Es ist eine förmliche Krönung – einen Quertreiber zu durchschauen, zu beruhigen und auf einen positiven Weg zu bringen …

[9]Vorbemerkung

Unterrichten, das ist eigentlich herrliche Arbeit – allerdings auch eine fordernde: jungen Menschen immer wieder aufs Neue interessante Blicke auf Natur und Kultur eröffnen, sie zu Bildungsprozessen anregen, ihre Persönlichkeitsentwicklung fördern.

Unterrichten kann Lehrkräfte auch hochgradig belasten – wenn sie auf Schüler1 stoßen, die ihnen immer wieder einen Strich durch die Planung machen, die ständig die Klasse aufmischen, den Lehrer andauernd provozieren. ›Schwierige‹ Schüler können zu spontanen Reaktionen verleiten, die uns im Nachhinein erschrecken, sie können uns an unsere Grenzen führen, ja überfordern – und nicht wenige Pädagogen geben ihretwegen den eigentlich geliebten Beruf vorzeitig auf. Dabei sollte in einer Schulklasse keineswegs Friedhofsruhe herrschen. Eine gewisse Lebendigkeit, eine auf- und abschwellende Unruhe, Störungen aller Art gehören zum Geschäft, sind ein Stück weit normal.

Qualifiziert unterrichten, sensibel das fachliche Lernen begleiten, das können viele Lehrkräfte. Heikler sieht es hingegen aus, wenn es um die Fähigkeit geht, problematische Entwicklungsverläufe richtig einzuordnen und konstruktiv zu beeinflussen. Solches Können erwirbt man bislang in Studium und Lehrerausbildung eher selten – und das Leben in seiner Zufallshaftigkeit lehrt sie auch nicht unbedingt.

Deshalb gibt dieses Buch zunächst Pädagogen eine Stimme, die mal mit diesem, mal mit jenem ›schwierigen‹ Schü[10]ler zurechtgekommen sind. Die ihn aufgefangen, seinem Lernen, ja vielleicht seinem Leben eine günstigere Richtung gegeben haben. Denen das womöglich sogar häufiger gelang. Ihre individuellen Analysen und konkreten Auswege beinhalten eine ermutigende Botschaft: Was bei denen geklappt hat, könnte bei mir ja auch funktionieren! Was heute im eigenen Unterricht noch Probleme macht, lässt sich zukünftig in den Griff bekommen! Auch ich kann ein Händchen für Störungen entwickeln!

Dabei geht es immer um ein einzelnes ›schwieriges‹ Kind, nicht um chaotische Klassen – was einen souveränen und lernförderlichen Umgang des Lehrers mit der Klasse als Ganzes ausmacht, wäre ein eigenes Thema (vgl. Felten 2020). Und es geht nicht nur um manifeste ›Störenfriede‹, sondern auch um unauffälligere Sorgenkinder. Denn Lehrersein ist besonders erfüllend, wenn es einem gelingt, ein ungünstiges Schulschicksal abzuwenden. Also zu verhindern, dass ein eigentlich lebensfrohes Kind durch schulische Abläufe entmutigt wird und als Schulversager endet. Oder zu bewerkstelligen, dass ein bereits vor Schulbeginn mutlos gewordenes oder irritiertes Kind neuen Mut fasst – und später kompetent und selbstbewusst ins Leben tritt.

Zwar gibt es kein Einheitsverfahren, mit ›schwierigen‹ Schülern umzugehen, und dieser Band stellt auch keine Rezeptsammlung dar. Dennoch lassen sich aus den Beispielen konkreten Gelingens wesentliche Grundzüge für den Umgang mit Schwierigkeiten, Störungen, Blockaden im Unterricht destillieren. Deshalb werden zunächst schon ältere, dafür gut dokumentierte Positivbeispiele auf ihre Gelingensbedingungen hin analysiert – und diese Prinzipien dann auf aktuelle ›Fälle‹ angewandt. Dies geschieht ins[11]besondere vor dem Hintergrund der Adler’schen Individualpsychologie, des am stärksten pädagogisch fokussierten tiefenpsychologischen Ansatzes. Sieben Miniaturen zeigen ergänzend, dass auch ohne viel Hintergrundwissen ein erfolgreicher Umgang mit schwierigem Verhalten möglich ist.

Vielen scheint, dass kindliche Entwicklungsprobleme und Unterrichtsstörungen in jüngster Zeit vermehrt auftreten – wegen genereller Veränderungen im familiären Erziehungsalltag, neuer medialer Gewohnheiten, Wandlungen im schulpädagogischen Zeitgeist, veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Und vielleicht haben disziplinlosere Kinder ja auch mit führungsschwächeren Lehrkräften zu tun. Umso wichtiger der Erwerb individueller Störungskompetenz, also der Fähigkeit, förderlich mit Störungen umzugehen. Dies gilt insbesondere angesichts zunehmender inklusiver Beschulung; denn je mehr Durchblick Lehrkräfte bei ›schwierigen‹ Schülern haben, umso eher kann auch Inklusion gelingen.

[13]1 Sieben Lehren

Die Vergangenheit birgt oftmals Schätze, die nach Wiederbelichtung rufen. Ausgehend von der reformpädagogisch inspirierten Schulreform im »Roten Wien« zwischen den Weltkriegen gab es in den 1950er Jahren insbesondere in Süddeutschland eine Vielzahl von Lehrern und Schulpsychologen, die es gewohnt waren, ›Störungen‹ nicht plump zu bekämpfen, sondern hinter die Fassade zu schauen. Dabei gelang es ihnen häufig, auch extrem lernbehinderten oder verhaltensauffälligen Schülern (so die damalige Diktion) zu einer positiven Entwicklung zu verhelfen. Eine Reihe von Fällen ist sorgfältig dokumentiert, einige seien im Folgenden komprimiert vorgestellt. Sie machen auch deutliche, dass viele heutige Probleme im Kern gar nicht neu sind, sich lediglich äußerlich unterscheiden.

Ein destruktiver Typ?

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg: Der junge Pädagoge findet in der neu übernommenen sechsten Klasse den Schüler Max vor. Was der frühere Lehrer berichtet hatte, trifft ein: Der Junge stiftet überall Unruhe und Streit, bekommt Wutanfälle, zerstört Materialien seiner Mitschüler. Weder mit Nachsicht noch mit Mahnungen oder Drohungen ist ihm beizukommen, und nach einer brutalen Attacke auf eine Dreijährige sieht der Novize sein Konzept der Güte gescheitert. Aber auch der Griff zum Rohrstock hinterlässt nicht mehr als mörderisches Geschrei.

Der hinzugerufene Schulberater empfiehlt herauszufinden, warum dieses Kind derart große Nachteile für sich [14]selbst in Kauf nimmt, ja geradezu herausfordert. Der Lehrer findet durch sorgfältige Recherche heraus, dass Max in jungen Jahren schwächlich und kränklich war. Er ist das jüngere von zwei unehelichen Kindern (damals eine Schande), seine Mutter musste die beiden Jungen kurz nach der Geburt weggeben, die Pflegemutter zog den Älteren massiv vor. Der Lehrer versucht sich vorzustellen, wie Max diese Mischung aus Verunsicherung, Entbehrung und Benachteiligung erlebt haben muss; er kann jedenfalls in seinen ersten Lebensjahren kein freundliches Bild von der Welt erworben haben. Als er sechs ist, heiratet die Mutter zwar, er kann zurück nach Hause. Die Ehe verläuft aber unglücklich, die Mutter verbündet sich mit ihm gegen den Vater – und bestärkt ihn in dem Gefühl, dass man niemandem trauen könne, dass man anderen Menschen nur mit größtem Misstrauen begegnen dürfe. In einem solchen Zustand kann man natürlich nicht unbeschwert lernen, es kommt zu Misserfolgen, Bloßstellungen, Demütigungen, Strafen – Max’ Selbstgefühl leidet weiter. Aber niemand erträgt auf Dauer das Gefühl, immer und überall der Dumme, der Unfähige, der Unbrauchbare zu sein. So verlegt Max sich statt aufs Mittun auf Gegnerschaft, er plagt Schwächere und kämpft mit Stärkeren, auch mit dem Lehrer. Und alle Strafen haben nur einen Effekt: Sie bestätigen Max in seinem Erleben.

Der Lehrer richtet nun zunächst eine Schonzeit für den Jungen ein – er stellt also kaum kognitive Anforderungen an ihn, will vorerst nicht weiter an seinem Minderwertigkeitsgefühl kratzen. Sodann findet er eine (damals höchst ehrenvolle) Aufgabe für Max: Er bietet ihm an, täglich das Rad des Lehrers in den Keller zu bringen und wieder herauszuholen. Schließlich beginnt er, behutsam Max’ Stofflücken zu fül[15]len – in einigen Pausen oder nach dem Unterricht. Und als Max einmal länger ins Krankenhaus muss, gelingt es ihm, die Klasse – dem Plagegeist Max gegenüber eigentlich skeptisch eingestellt – als Überbrückungshelfer zu gewinnen: Abwechselnd besuchen die Mitschüler Max zu zweit und berichten ihm vom Unterricht, sprechen mit ihm Aufgaben durch, bringen bisweilen gar Geschenke mit, über Monate. Das beeindruckt sogar die Mutter, die dem keimenden Zutrauen ihres Sohnes zur Schule zunächst argwöhnisch, ja ablehnend gegenübergestanden hatte. Nach etwa einem Jahr hat sich Max so weit beruhigt und gefestigt, dass er probeweise in die nächste Klasse aufrücken kann. Im folgenden Schuljahr wird er als »nett, fleißig und anständig« beschrieben. Und auch der nachfolgende Lehrer, ein eher straffer und unpersönlicher Typ, findet keinen Grund zur Klage.

Was ist da geschehen? Max ist weder mit Reflexionsbögen überfordert noch mit Smileys bestochen worden – und es wurde auch keine zeitfressende, womöglich frontenverhärtende Disziplinarkonferenz einberufen. Stattdessen hat sein Lehrer versucht, die Welt mit den Augen des Störenfrieds zu sehen, das provokante und aggressive Verhalten tiefenpsychologisch einzuschätzen – nämlich als nicht böse, sondern als Akt der Sicherung, eigentlich nachvollziehbar zielstrebig: An seiner Stelle hätte ich vielleicht ebenso gehandelt. Der Lehrer wagte es sodann, trotz Max’ starker Affekte an den richtigen Stellen fürsorglich zu reagieren – nur so vermochte der Junge von seinem bisherigen Muster abzulassen und sich sinnvoller als gewohnt zu verhalten. Über längere Zeit und mit steigender Anforderung konnte sich dann ein neues Bewältigungsmuster einschleifen – nicht per Belohnung oder Strafe, sondern durch psycholo[16]gische Deutung, pädagogische Führung und soziale Gewöhnung.2

Kompensation – (seelisches) Prinzip, eine Minuslage auszugleichen, sei es durch Wachstum und Steigerung, sei es durch Verlagerung und Selbsttäuschung.

Doch nicht geistig behindert?

Als der Lehrer seine neue 3. Klasse betritt, sitzt Fritzl völlig teilnahmslos alleine in der letzten Bank. Sein Vorgänger hatte dem Kollegen nur gesagt: »Ich habe ihn in drei Jahren nicht zum Sprechen und Mittun gebracht. Da er aber nur vor sich hindöst, stört er wenigstens nicht.« Bei ihm sei Schwachsinn diagnostiziert worden, er werde wohl seine gesamte Schulzeit einfach in der untersten Klasse absolvieren.

Der Lehrer weiß, dass solche Diagnosen bisweilen ihre Tücken haben, und will sich ein eigenes Bild machen. Er begrüßt alle Schüler einzeln mit Handschlag – und lädt Fritzl ein, sich weiter nach vorne zu setzen, »du gefällst mir«. Am nächsten Tag soll er etwas aus dem Lesebuch vorlesen, schnattert aber nur auswendig die erste Seite herunter. Die Kameraden beschweren sich, der Lehrer indes meint: »Du kannst die ganze Seite auswendig? Gut!« Später überlässt er Fritzl das begehrte Amt, die Klassenglocke zum Stundenende zu läuten – da er sich selbst Stellvertreter aus der Klasse aussuchen darf, wird er plötzlich von allen umwor[17]ben. Und als Fritzl eine Begebenheit vom Wochenende erzählen soll, schafft der Lehrer es, dass aus einem zunächst undurchschaubaren Gestammel eine witzige Geschichte wird, von der die Kunde durchs ganze Dorf geht.

Aber nach einem ersten Auftauen stagniert die Entwicklung. Deshalb beginnt der Lehrer, Fritzls Vorgeschichte zu erkunden. Der Junge ist ein Nachkömmling, mit 12 Jahren Abstand zum nächstälteren der 5 Geschwister, auf einem Einödbauernhof zur Welt gekommen, kein Wunschkind, anregungsarm aufgewachsen. Der Vater habe ihn im Suff gezeugt, berichtet die Mutter, er sei deshalb wohl »nicht ganz richtig im Kopf«. Und nach dem Tod des Vaters habe man überhaupt keine Zeit mehr für den Jungen gehabt.

Der Lehrer überlegt, ob Fritzl sich vielleicht vorgenommen hat, um keinen Preis aufzufallen – weil er dann am besten über die Runden käme. Er bittet die Mutter, sie und die älteren Söhne möchten sich doch mehr mit Fritzl unterhalten, vielleicht könne man gemeinsam etwas ändern. Er selbst beginnt, Fritzl nach dem Unterricht kleine pfiffige Nachhilfe›stunden‹ zu geben, mal 5 Minuten, mal eine Viertelstunde, immer lustig und mit viel Ermutigung im Detail gestaltet. Nach einiger Zeit darf der Junge seine Fertigkeiten auch vor der Klasse demonstrieren – und erhält für das überraschende Können riesigen Applaus.

Schon zuvor hatte der Lehrer die Klasse eingeladen, ihm bei Fritzls Ermunterung behilflich zu sein, sie hätten da nämlich einiges in der Hand – und umgekehrt brauche er ja auch Zeit für sie. So bekommt Fritzl irgendwann einen Mitschüler als Leselehrer zugeteilt, darf sich bald auch andere Kameraden dafür aussuchen – worum diese sich mittels Süßigkeiten etc. lebhaft zu bewerben beginnen; er wächst [18]allmählich in die Schar seiner Mitschüler hinein. Nach 7 Monaten ist er tatsächlich so weit, in die nächste Klassenstufe versetzt zu werden. Der Amtsarzt, zur Begutachtung angefragt, meint nach gründlicher Untersuchung verwundert, hier handele es sich wohl um einen der seltenen Fälle von »Pseudo-Schwachsinn«.

Ein Wunder? Nun, die ursprüngliche Vernachlässigung Fritzls hat ihn sicher nicht allzu lernfreudig in die Schule eintreten lassen. Aber durch die naiven Begabungstheorien zunächst der Mutter und dann des Schularztes und ersten Lehrers entstanden zumindest weitere Denk- und Leistungsblockaden. Die Schule hat also zunächst nicht alles darangesetzt, ein mutloses Kind mutiger zu machen – erst ein geduldiger, einfühlsamer und einfallsreicher Lehrer konnte den Stillstand der Entwicklung aufweichen.3

Ermutigung – grundsätzliche erzieherische Haltung, die darauf abzielt, das Vertrauen des Kindes in die eigene Kraft zu stärken und seine Furcht vor Misserfolgen zu schwächen.

Falsche Tröstungen

Der dreizehnjährige Leopold ist in der Schule eigentlich ein braver, etwas verträumter Junge. Er fällt nur dadurch auf, dass er mal diesem Mitschüler, mal jenem irgendeine Kleinigkeit entwendet. Im Gespräch mit der Mutter stellt sich indes heraus, dass der Junge zu Hause alles verschwinden lässt, was nicht niet- und nagelfest ist. Man könnte jetzt den [19]Standpunkt einnehmen, die schulischen Vorkommnisse seien Peanuts. Aber die Schilderungen aus der Familie lassen annehmen, dass dies nur die Spitze eines Eisbergs ist, dass der Junge ein Problem hat.

Der Lehrer findet heraus, dass Leopold das einzige Kind seiner Mutter aus erster Ehe ist, zwei jüngere Brüder stammen aus der zweiten Ehe; der Stiefvater steht ihm zurückhaltend, ja ablehnend gegenüber. Es wäre also durchaus naheliegend anzunehmen, dass sich Leopold gegenüber den jüngeren Stiefgeschwistern stark zurückgesetzt fühlt. Indem er sich Eigentum anderer aneignet, rächt er sich quasi dafür, dass man ihm etwas weggenommen hat – nämlich elterliche Zuneigung und Beachtung. Mit den Diebstählen sichert und erhöht er also gefühlsmäßig seinen Selbstwert.

Der Lehrer weiß, dass frühkindliche Entthronung das Vertrauen eines Kindes in seine Mitmenschen elementar erschüttern kann – und dann ist es weder durch Strafen noch mit gutem Zureden bereit, sein Verhalten zu ändern. Er baut deshalb eine neue positive Beziehung zu dem Jungen auf und versucht dann, einen Versöhnungsprozess anzustoßen. Über einen längeren Zeitraum führt er immer wieder Unterredungen mit ihm herbei, inszeniert Gespräche mit der ganzen Klasse, lässt Leopold auch einmal eine längere schriftliche Arbeit verfassen, in der dieser seine Geschichte in Romanform reflektiert, lädt bisweilen auch die Mutter zu Beratungen ein.