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Von der Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung hängt ganz wesentlich ab, ob Schüler/innen beim Lernen gut vorankommen – und ebenso, ob Lehrer/innen nach Jahrzehnten noch gerne unterrichten: Die pädagogische Beziehung ist, so auch die neuere Forschung, die Kernfrage schulischen Gelingens. Worauf kann ich als Lehrer/in achten? Was kann ich tun? Kenntnisreich in Theorie und Praxis beleuchtet Michael Felten alle relevanten Aspekte des Unterrichts- und Schulalltags, vom Stundenbeginn bis zu Klassenfahrten, und erläutert ganz konkret, wie sie beziehungsförderlicher arrangiert werden können. Die Lehrer-Schüler-Beziehung: kein Schicksal, sondern gestaltbar.
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Seitenzahl: 119
Michael Felten
Unterricht ist Beziehungssache
Reclam
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961547-9
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019692-2
www.reclam.de
DER INTERESSIERTEDas glauben Sie doch selbst nicht, dass die zwischenmenschliche Beziehung – überhaupt: was für ein unpräziser Begriff? – den Kern des Unterrichtsgeschehens ausmacht!
DER KUNDIGEWarum fragen Sie denn so aufgeregt, ist etwas passiert?
DER INTERESSIERTENa ja, wenn Ihre Auffassung zuträfe, läge die schulische Verantwortung ja noch stärker bei den Lehrern …
DER KUNDIGESie haben recht, vom Handeln jeden Lehrers hängt enorm viel ab – Tag für Tag. Von dem der Bildungspolitiker natürlich auch.
DER INTERESSIERTEUnd es soll gar keine Bedeutung haben, nach welchen Methoden unterrichtet wird?
DER KUNDIGEDas habe ich niemals gesagt.
DER INTERESSIERTEAber was ist mit der Klassengröße – die spielt Ihrer Meinung nach wohl auch keine Rolle?
DER KUNDIGETatsächlich lassen sich große Klassen durchaus sinnvoll unterrichten. Mit kleineren Lerngruppen ist es für alle Beteiligten jedoch meist befriedigender – und manchmal auch ergiebiger.
DER INTERESSIERTEIch weiß nicht. Und überhaupt: Lehrerpersönlichkeit, pädagogische Emotionen – das kommt doch sicher auch in der Lehrerausbildung vor.
DER KUNDIGESie werden sich wundern: nur am Rande.
[8]DER INTERESSIERTENa ja, aber demnächst läuft ja ohnehin alles digital.
DER KUNDIGEGewiss, Technologien können wunderbare Hilfsmittel sein. Aber Entwicklungswunder vollbringen, das vermögen nur lebendige Menschen – z. B. Lehrer, die mit ihren Schülern intensiv in Beziehung sind.
DER INTERESSIERTEAber was meinen Sie denn eigentlich damit, »intensiv in Beziehung sein«?
DER KUNDIGEWollen wir uns für diese Frage ein wenig Zeit nehmen?
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Unterricht ist Beziehungssache – so der Inhalt dieses Büchleins, in drei Worten zusammengefasst. Gemeint ist: Ob Schüler beim Lernen gut vorankommen, ob Lehrer auch nach Jahrzehnten noch gerne unterrichten, das hängt ganz wesentlich von der Güte der Lehrer-Schüler-Beziehung ab.1
Natürlich ist Unterrichtsqualität auch eine Frage unterrichtlicher Methodik (ob und wie Lehrer den Lernprozess strukturieren) und schulischer Ressourcen (ob es also genug Lehrkräfte und angemessene Räumlichkeiten gibt). Mit dem Topos ›pädagogische Beziehung‹ beleuchtet dieses Büchlein indes eine bislang unterschätzte, dabei höchst bedeutsame Seite der Unterrichtskunst – man könnte getrost vom Kern schulischen Lernens, ja einem Schlüsselbegriff für unterrichtliches Gelingen sprechen.
Landläufig ist der Einfluss des Beziehungshaften im Unterricht eigentlich kein Geheimnis. Wünschten Eltern sonst ihren Kindern zur Einschulung in Zeitungsannoncen »viel Glück mit den Lehrern«? Würden junge Pädagogen sonst im Lehrer-Chat einander empfehlen, jenseits aller Methodik sei es das Wichtigste, dass man einen guten Draht zu seinen Schülern bekomme? Gäbe es sonst in der Literatur – neben den geläufigen Bildern skurriler oder drangsalierender Lehrergestalten – eine Vielzahl von Darstellungen ebenso einfühlsam wie zielstrebig agierender Pädagogen? Man denke nur an Albert Camus’ ausführliche Schilderung seines ersten Lehrers in der algerischen [10]Volksschule, in dem stark autobiografisch geprägten, unvollendet gebliebenen Roman Der erste Mensch. Oder an die emanzipierende Figur des Dorfschulmeisters in Tschingis Aitmatovs Der erste Lehrer.
Auch im Genre Film wird das Thema pädagogische Beziehung immer wieder ausgeleuchtet. So entführt die französische Doku Sein und Haben (Être et avoir, 2002) in den Alltag einer einklassigen Dorfschule in der Auvergne, in die geduldige Arbeit eines alten Lehrers mit einem Dutzend Kinder. Kein Medienzauber, kein Methodenkarussell, stattdessen schulpädagogische Beziehungshaftigkeit pur: viel Verlässlichkeit, große Übersichtlichkeit, ein wenig Freiheit, genügend Ordnung – eine wohldosierte Mischung aus Respekt, Ernsthaftigkeit und guter Laune. Für diesen Lehrer ist jedes der Kinder ein unverwechselbares Einzelnes, den Kindern ist er ein wahrhaft »bedeutungsvoller Erwachsener« (Bruno Bettelheim). Ebenfalls höchst eindrucksvoll: Rhythm is it! (2004), die Aufzeichnung und Reflexion der Probenarbeit von Berliner Hauptschülern für eine anspruchsvolle klassische Ballettaufführung. Der gleichermaßen humorvolle wie strenge Tanzpädagoge Royston Maldoom lässt die Jugendlichen bisherige Grenzen überschreiten und Ansätze zu einem neuen Selbstbewusstsein aufkeimen.
Dieser Band will den Beziehungsaspekt schulischen Lehrens und Lernens in drei Schritten breiter ergründen und in seiner Reichhaltigkeit entfalten. Nicht, um den Lehrer mit einer weiteren Zusatzaufgabe zu befrachten – sondern um sein Wirken zu erleichtern und ergiebiger zu machen. Denn ›Beziehung‹ bleibt auch in Zeiten fortschreitender Digitalisierung ein Zentralschlüssel für Bildung.
Zunächst wird dargelegt, welche Befunde von Seiten der Wissenschaft dazu vorliegen. Ein weiter Bogen spannt sich von der frühen Stimme des Renaissance-Gelehrten Erasmus von Rotterdam (»Der erste Schritt zum Lernen ist die Liebe [11]zum Lehrer«) über das zeitgenössische Diktum des Neurowissenschaftlers Joachim Bauer (»Der Mensch ist für den anderen Menschen die Motivationsdroge Nummer Eins«) bis hin zum empirischen Unterrichtsforscher John Hattie (»Die Lehrer-Schüler-Beziehung gehört zu den wirkungsmächtigsten Einflüssen auf die Lernleistung von Schülern«). Deutlich wird in den Forschungsbeiträgen auch, dass das Beziehungsklima nicht nur anreizförderliche oder gar outputsteigernde Aspekte hat, sondern auch eine störungspräventive Komponente. So riet Alfred Adler, Begründer der tiefenpsychologischen Individualpsychologie: »Man kommt weiter, wenn man nicht mit den Kindern kämpft, sondern ihre Muster wohlwollend durchschaut – und ihre Energie in nützliche Bahnen lenkt.« Ganz allgemein geht es aber auch um eine sensiblere Wahrnehmung und humanere Gestaltung der zwischenmenschlichen Grundlage von Lehren und Lernen.
In einem zweiten Schritt wird die Vielfalt konkreter unterrichtlicher Situationen und Anforderungen auf ihre Beziehungsaspekte hin abgeklopft. Angesichts der Komplexität und Einzigartigkeit pädagogischer Szenen kann daraus natürlich keine Rezeptsammlung erwachsen. Vielmehr wird eine reflektierte Praxisschau entfaltet – gesichtet und gewichtet mit den Augen des langjährigen und forschungskundigen Praktikers: von der Grundstimmung guten Unterrichts über einzelne Schuljahrsereignisse bis hin zum Umgang mit Störungen. Dabei zeigt sich nicht zuletzt, dass die Beziehungsdimension pädagogischen Handelns manch widrigen äußeren Umstand abzuschwächen, ja hintanzustellen vermag.
Den Abschluss bildet ein Plädoyer, das bisherige Brachland ›Lehrer-Schüler-Beziehung‹ in der Aus- und Weiterbildung stärker urbar zu machen, den Lehrberuf also auch in emotionaler Hinsicht zu professionalisieren. Denn im Referendariat geht es zu oft ›nur‹ um Didaktik und Methodik – welche Teile [12]des Fachgebietes man überhaupt für den Unterricht auswählt, wie man fachliche Zusammenhänge altersgemäß erklärt und veranschaulicht, mit welchen Methoden und welchen Hilfsmitteln man den Lernprozess seiner Schüler anregt und organisiert. Die Ebene von Affekten und Kommunikation hingegen wird bislang nur von einem ungenügenden Bruchteil der Ausbildungszeit abgedeckt. Diese Leerstelle bzw. Grauzone muss ebenfalls in der Lehrerweiterbildung gefüllt bzw. geklärt werden – sonst bleibt alle Schulentwicklung technokratisches Stückwerk.
Im Übrigen kann man nur zu diesem Beruf raten. Lehrerin, Lehrer sein ist zwar harte Arbeit – aber auch eine sehr schöne, auf eigentümliche Art erfüllende. Zwischenmenschliche Nähe und Fürsorge beinhalten ganz einfach eine Art Glücksangebot. Zudem wirkt man ja aufbauend, arbeitet als freier Menschenbildner, gestaltet Lebendiges mit. Nicht zuletzt beteiligt man sich an einem der letzten Abenteuer in der Wohlstandsgesellschaft. Denn hat nicht jede Unterrichtsstunde auch den Reiz des Ungewissen?
[13] 2
Lehren und Lernen vollziehen sich in einem Feld zwischenmenschlicher Beziehungen und Bedeutsamkeiten, das ist offenkundig, erscheint beinahe als Binsenweisheit. Die Relevanz dieser Emotionen und Interaktionen ist jedoch erst allmählich erkannt worden. Mittlerweile sieht die Forschung sie übereinstimmend als »zentrales Vehikel für positive Outcomes (u. a. Motivation, Lernergebnisse, soziale Anpassung)«. So erzielt einer aktuellen Metaanalyse zufolge »die (affektive) Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung mittlere bis große Effektstärken für schulisches Engagement (und kleine bis mittlere für Leistung)«2. Zentrale Marksteine dieser Klärungsentwicklung seien kurz skizziert.
Die Wichtigkeit der pädagogischen Beziehung ist schon früh von einzelnen Philosophen und Gelehrten erkannt und bedacht worden. Da bis in die Neuzeit aber nur die wenigsten Menschen öffentlichen Unterricht genießen durften, sind solche Stimmen zum Lehrer, seiner Rolle und dem pädagogischen Verhältnis rar. Eine ist die bereits angerissene des schweizerischen Humanisten Erasmus von Rotterdam (1469–1536): »Der erste Schritt beim Lernen ist die Liebe zum Lehrer«. Erasmus [14]stellte dies aber nicht einfach fest, er erklärte auch, warum es so bedeutsam sei: »Im Verlauf der Zeit wird es gewiß geschehen, daß der Knabe, welcher die Wissenschaften um des Meisters willen zu lieben begonnen hatte, später an dem Meister um der Wissenschaft willen hängt.« Hieraus erwachse nun aber für Lehrer eine gewisse Verpflichtung zu freundlicher Grundhaltung – damals anscheinend nicht selbstverständlich: »Es gibt aber einige [Lehrer] von so unliebenswürdigem Wesen, daß nicht einmal ihre Frauen sie gerne zu haben vermögen […].«3
Hier wird allerdings lediglich das anthropologische Grundprinzip intergenerationaler Ausrichtung vorweggenommen. Was der Begriff ›Beziehung‹ indes genau meint, was sich abspielt im Verhältnis zwischen Wissendem und Reifendem und welche erzieherische Haltung für welches Entwicklungsziel die angemessenste wäre – solche Fragestellungen bedurften der Aufklärung, die das Kind als besonderes, eigenständiges Wesen erkannte. In seinem pädagogischen Hauptwerk Émile oder Über die Erziehung (1762) formulierte Jean-Jacques Rousseau erstmals die Notwendigkeit einer autonomen Lehrperson und der spezifischen pädagogischen Beziehung. Diese müsse getragen sein vom Wissen des Erwachsenen um die Charakteristika der kindlichen Entwicklungsphasen und die Bedeutung des Lernens durch Erfahrung.
Hermann Giesecke (21999)4 hat nachgezeichnet, wie unterschiedlich dies von verschiedenen Erzieherpersönlichkeiten im 19. Jahrhundert interpretiert wurde. Der Schweizer Pestalozzi etwa sah seine Zöglinge quasi als Geschwisterkinder einer großen Familie, er praktizierte in seinem Waisenhaus in [15]Stans eine fürsorgliche, beinahe pathetische Väterlichkeit. Dem Italiener Bosco galten alle Kinder zunächst einmal als Geschöpfe Gottes, in seinem Turiner Oratorium bemühte er sich vor allem um liebevolle Akzeptanz. Der Russe Makarenko dagegen nahm in der Gorkij-Kolonie die ursprünglich verwahrlosten Jugendlichen als Kollektivmitglieder wahr, sich selbst betrachtete er als distanzierten Leiter und professionelles Vorbild. Alle hatten sie indes eine Gemeinsamkeit: das klar hierarchisch geordnete Verhältnis von Erzieher und Zögling.
Dies änderte sich mit der reformpädagogischen Wende um 1900: Kinder wurden jetzt nicht mehr als Objekt gutgemeinter Bemühungen gesehen, sie gewannen neuen Stellenwert als Subjekt, als gleichwertiges Gegenüber. Das zeichnete sich bereits in der deutschen Jugendbewegung ab, die das Kind als kleinen Kameraden bzw. Genossen ansah, aber auch bei der KPD, in der Kinder als zukünftige Klassenkämpfer fungierten. Auch der Pädagoge Korczak im Warschauer Waisenhaus Dom Sierot begriff sich nur noch als liebevollen Arrangeur günstiger Umstände für unterdrückte Menschenkinder. Am radikalsten drückte sich diese Subjektorientierung in A. S. Neills Schule Summerhill aus: Er lehnte jede von außen an das Kind herangetragene Erziehungseinwirkung ab; lediglich therapeutische Einwirkung auf Schwierige akzeptierte und vollzog er.
Erst mit der Aufklärung also wurde das Band, die Bindung, die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler(n) allmählich zum Gegenstand genaueren Erfassens und begrifflicher Präzisierung. Heute können wir uns auf Modelle aus (geistes)wissenschaftlicher Pädagogik und Psychologie im 19. und 20. Jahrhundert ebenso stützen wie auf aktuelle Befunde aus Neurowissenschaften und empirischer Unterrichtsforschung.
In den 1920er Jahren unternahm Herman Nohl mit seinem Konzept »pädagogischer Bezug« erstmalig den Versuch, dieses eigentümliche menschliche Verhältnis wissenschaftlich zu modellieren. Dabei charakterisierte er die Beziehung zwischen Zögling und Erzieher als »Bildungsgemeinschaft«5, in der beide – auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus stehend – aufeinander angewiesen seien. Das pädagogische Verhältnis ist demnach das eines reifen zu einem werdenden Menschen: Es beinhaltet zwar persönlich-emotionale Aspekte (»Leidenschaft«), hat aber keine sexuelle Komponente (»hebend, nicht begehrend«). Und es orientiert sich auch nicht unmittelbar an externen Ansprüchen der Gesellschaft, sondern zunächst an der Befindlichkeit und den Bedürfnissen des Zöglings. Zwar sieht Nohl die Pädagogik nicht als bloßen Selbstzweck, sondern auch objektiven Gehalten und Zielen verpflichtet. Allerdings sei der Zögling nicht an gesellschaftliche Rahmenbedingungen anzupassen, sondern diese müssten an ihn vermittelt werden.
»[W]as immer an Ansprüchen aus der objektiven Kultur und den sozialen Bezügen an das Kind herantreten mag, es muß sich eine Umformung gefallen lassen, die aus der Frage hervorgeht: welchen Sinn bekommt diese Forderung im Zusammenhang des Lebens dieses Kindes für seinen Aufbau und die Steigerung seiner Kräfte und welche Mittel hat dieses Kind, um sie zu bewältigen?«6
[17]Der pädagogische Bezug ist für Nohl kein einseitig vom Erzieher auf den Zögling hin ausgerichtetes Beeinflussungsverhältnis, sondern er beruht auf Wechselwirkung. Der Zögling besitze ein Eigenrecht. Das mache pädagogisches Wirken überhaupt erst möglich, und es schließe jede Gehorsamsorientierung aus. Eine solche Beziehung könne im Übrigen nicht erzwungen werden, da auch Momente wie Sympathie und Antipathie wirksam seien, die weder Erzieher noch Zögling beeinflussen könnten. Daher dürfe der Erzieher nicht gekränkt sein oder gar in Vorwürfe verfallen, wenn der Bezug nicht gelinge. Er könne höchstens versuchen, eine konstruktive Bindung des Kindes zu jemand anderem herbeizuführen.
Aus der Behandlung seelisch erkrankter Menschen war schon Ende des 19. Jahrhunderts die Einsicht erwachsen, dass menschliches Verhalten und Erleben auch bei Gesunden maßgeblich durch unbewusste Vorgänge erklärt werden könne. Seitdem haben Impulse aus Psychoanalyse und Individualpsychologie auch das Verständnis von schulischen Lernprozessen bereichert. Die Lehrperson kristallisiert sich dabei als ein ebenso anregendes wie spiegelndes personales Gegenüber heraus, das für kindliche Entwicklungsprozesse höchst bedeutsam ist.
Sigmund Freud hat darauf aufmerksam gemacht, dass (ähnlich dem psychoanalytischen Gespräch) das Setting Unterricht eine besondere Beziehungskonstellation zwischen Menschen schaffe, in der sich unterschwellige Vorgänge abspielen – er [18]nannte sie Übertragung und Gegenübertragung7. Schüler wollten (oder sollten) gewisse Kenntnisse oder Fähigkeiten erwerben (»Das will ich auch wissen!«) – dadurch werde der dies vermittelnde Lehrer zu einem für sie wichtigen Anderen; auf diesen übertrügen sie deshalb unwillkürlich gewisse Emotionen aus ihren Primärbeziehungen – von Zuneigung bis Ablehnung. Umgekehrt sei der Lehrer jemand, der bei der Entwicklungsbeeinflussung der Schüler Erfolg haben wolle (»Da wächst etwas durch mich!«) – diese gerieten für ihn also ebenfalls zu einem bedeutsamen Gegenüber, weshalb auch er automatisch eigene Affekte auf sie rückübertrage – diese könnten ebenfalls bejahend wie distanzierend ausfallen.
Insbesondere wie jemand als Kind den allwissend scheinenden Vater erlebt hat, ob gütig oder streng, warmherzig oder abweisend, das projiziert er demnach im Unterricht auf das nun institutionelle personale Gegenüber – von diesem erhofft es sich ja jetzt Zugang zu weitergehendem Wissen. Freud erläuterte das einmal in Erinnerung an die Lehrer der eigenen Schulzeit: