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Die Science-Fiction hat seit Langem die Art und Weise, wie wir die Welt sehen und gestalten, maßgeblich beeinflusst. Sie regt unsere Fantasie an, ermöglicht uns, eine utopische Zukunft zu erträumen, die Grenzen des Machbaren auszuloten und Konsequenzen unserer Handlungen für nachfolgende Generationen zu erforschen. Sie stellt komplexe wissenschaftliche, technologische und ethische Fragen, die unsere Gesellschaften im Einzelnen und die Menschheit im Ganzen betreffen. In den letzten Jahrzehnten hat sich dabei eine Reihe von Subgenres entwickelt, von denen jedes seine eigenen einzigartigen Merkmale, Themen und Ästhetik besitzt: die sogenannten Punk-Genres. Natürlich verkörpert das Etikett »Punk« nicht mehr die kulturelle Strömung der 1970er und 1980er, aber auch schwingen in den aktuellen Punkgenres immer noch zwei grundlegende Tendenzen mit: eine äußere Ästhetik und eine innere Haltung. Die Hinwendung zu einer individuellen, möglichst nicht bürgerlichen Ästhetik spiegelt sich in festgezurrten Merkmalen einzelner Subgenres wider, wie im Steampunk oder dem Cyberpunk. Die innere Haltung ist das Kernstück, wenn es um Literatur geht. Sie ist in den Punk-Subgenres deutlich wiederzuerkennen: das Aufbegehren gegen das Vorgegebene, die Revolte gegen den Mainstream, der Kampf für ein selbstbestimmtes Leben. In dieser Anthologie haben wir Geschichten in eine Rahmenhandlung gebettet, die ebenfalls einem Subgenre der SF zuzuordnen ist: der Portal-Fiction. Die Zwillinge Maja und Juna reisen mittels eines Portalschlüssels in andere Dimensionen, Zeiten oder Welten. Dabei entführen sie uns jedes Mal in eine neue Kurzgeschichte, die die Essenz und den rebellischen Geist des jeweiligen Genres einzufangen versucht.
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Seitenzahl: 443
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Tessa Maelle, Mario Franke & Uli Bendick (Hrsg.)
AndroSF 209
Tessa Maelle, Mario Franke & Uli Bendick (Hrsg.)
SCIENCE FICTION GOES PUNK
Ein Streifzug durch die rebellischen Genres der Science-Fiction von Atompunk bis Walpunk
AndroSF 209
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Dezember 2024
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Mario Franke
Illustrationen: Uli Bendick, Mario Franke
Vignetten: Uli Bendick
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat: Tessa Maelle
Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN des Printbuchs: 978 3 95765 434 2
ISBN dieses E-Books:; 978 3 95765 709 1
Das gedruckte Buch verfügt über 22 Farbtafeln mit Grafiken von Mario Franke und Uli Bendick, die hier im im E-Book nicht adäquat abgebildet werden konnten und deshalb nicht enthalten sind. Wer das vollständige Lesevergnügen inklusive der Abbildungen von Uli Bendick und Mario Franke genießen möchte, der möge sich das gedruckte Buch gönnen. Im Buchhandel, im Internet bei den üblichen Verdächtigen – und beim Verlag.
Die Science-Fiction hat seit vielen Jahrzehnten die Art und Weise, wie wir die Welt sehen und gestalten, maßgeblich beeinflusst. Sie regt unsere Fantasie an, ermöglicht uns, eine utopische Zukunft zu erträumen, die Grenzen des Machbaren auszuloten und Konsequenzen unserer Handlungen für nachfolgende Generationen zu erforschen. Sie stellt komplexe wissenschaftliche, technologische und ethische Fragen, die unsere Gesellschaften im Einzelnen und die Menschheit im Ganzen betreffen. Durch das Erzählen von Geschichten über das Unbekannte und das Mögliche trägt die Science-Fiction dazu bei, unser Verständnis der Welt zu erweitern und uns auf die Herausforderungen und Chancen vorzubereiten, die in der Zukunft auf uns warten.
Geschichten aus einer Zukunft, die es nie gegeben hat.
In den letzten Jahrzehnten haben sich dabei eine Reihe von Subgenres entwickelt, von denen jedes seine eigenen einzigartigen Merkmale, Themen und Ästhetik besitzt: die sogenannten Punk-Genres. Natürlich verkörpert das Etikett »Punk« nicht mehr die gleiche Jugendkultur, die angefangen von Musik bis hin zur Kleidung in den 1970ern und 1980ern von vielen Teenagern gelebt wurde – und an die sich manche von uns gut erinnern können –, aber dennoch schwingen in den aktuellen Punkgenres immer noch zwei grundlegende Tendenzen mit: eine äußere Ästhetik und eine innere Haltung.
Die Hinwendung zu einer individuellen, möglichst nicht bürgerlichen Ästhetik spiegelt sich in festgezurrten Merkmalen einzelner Subgenres wider, wie in der Retrofuturistik dampfender Maschinenwesen im Steampunk oder den neongrellen Cityschluchten der einsamen Cybersamurais. Das mag dann und wann stärker von modischen Aspekten als von der Provokation getragen sein, die es ursprünglich beinhaltete.
Doch die innere Haltung ist das eigentliche Kernstück, wenn es um Literatur geht. Sie ist in den unterschiedlichen Subgenres deutlich wiederzuerkennen: das Aufbegehren gegen alles Vorgegebene. Das Revoltieren gegen den Mainstream. Der Kampf für ein selbstbestimmtes Leben. Geblieben ist auch das Entlarven bürgerlicher Behäbigkeit, politischer Machtstrukturen oder den uns und unsere Umwelt verschlingenden Raubtierkapitalismus. Das Gefühl von Sich-nicht-alles-gefallen-lassen, Sich-wehren-müssen, das Gefühl von Macht-kaputt-was-euch-kaputt-macht (Rio Reiser – Ton Steine Scherben) tauchen in nicht wenigen der nachfolgenden Geschichten auf.
In dieser Anthologie haben wir sie in eine Rahmenhandlung gebettet, die ebenfalls einem Subgenre der Science-Fiction zuzuordnen ist: der Portal-Fiction. Unsere beiden Protagonistinnen, die Zwillinge Maja und Juna, reisen mittels eines Portalschlüssels aus ihrer gegenwärtigen Realität in andere Dimensionen, Zeiten oder Welten. Dabei entführen sie uns jedes Mal in eine neue Kurzgeschichte, die die Essenz und den rebellischen Geist des jeweiligen Genres einzufangen versucht.
Ein heißer Sturm fegte über die Ebene und peitschte ihnen die Sandkörner ins Gesicht. »Wir brauchen einen Unterschlupf«, krächzte Maja. »Ich kriege keine Luft mehr.«
»Du gibst immer so schnell auf«, klang es dumpf hinter dem Schal hervor, den sich ihre Zwillingsschwester vors Gesicht gebunden hatte.
Typisch Juna. Selbst in so einer Situation ließ sie keine Gelegenheit aus, auf ihr herumzuhacken.
Aber das war Maja jetzt egal. Von wegen schnell. Schon seit Stunden marschierten sie auf das nächste Dorf zu. Ihren Scans nach lebte dort keine Menschenseele mehr. Wie alle Siedlungen, durch die sie auf ihrem bisherigen Weg vom Landesinneren her gekommen waren, schien es längst von seinen Bewohnern verlassen und bis auf die Grundfesten geplündert worden zu sein. Doch die Schwestern hatten keine Wahl. Sie mussten die Häuser trotzdem durchsuchen. Sie benötigten dringend Vorräte und irgendetwas fand sich immer.
Der Wind wurde noch stärker und trieb die scharfkantigen Sandkörner durch das feste Gewebe ihres Mundschutzes. Maja presste die Lippen zusammen, dennoch drang der Sand überall hin. Es half alles nichts. Sie hustete und würgte, bis ihr ganzer Brustkorb schmerzte. Mühsam schleppte sie sich weiter.
Staub, nichts als Staub.
Wie sie ihn hasste. Ganze Kontinente hatten sich in den vergangenen Jahrzehnten in Staubwüsten verwandelt. Das Leben in den Städten kollabierte zuerst. Auf dem Land dauerte es etwas länger. Mensch und Tier waren in den Jahrzehnten der Dürre, die alle Kontinente der Erde heimgesucht hatten, zuerst verdurstet, dann verhungert. Der Rest hatte sich um die wenigen verbliebenen Quellen geschart, bekriegt und schließlich gegenseitig fast ausgerottet.
Ihre und Junas einzige Hoffnung bestand darin, dass an der Küste Menschen die Trockenheit überlebt hatten. Es kursierten Gerüchte über kleine Kommunen, die es geschafft hatten, dem salzigen Meer Trinkwasser abzuringen. Ihre letzte Chance.
Doch für heute hatte Maja genug. Sie wusste nicht, was mehr brannte, ihre Fußsohlen oder ihre Lungen. Alles, was sie wollte, war ein Dach über dem Kopf und einen Platz zum Schlafen.
»Da!« Juna zeigte auf ein einsames Gehöft, das sich etwas abseits vor dem Dorf in einer Art Senke befand. »Los, dorthin!«
Von außen sah es aus wie ein altes, heruntergekommenes Farmhaus. Innen erfüllte es ein trübes Licht, und der Geruch von Moder hing in der Luft. Von den Wänden blätterte der Putz und vermischte sich mit der Schmutzschicht auf dem Boden. Hier herein hatte schon lange niemand mehr einen Fuß gesetzt.
Trotzdem herrschte eine merkwürdige Atmosphäre. Es schien, als hätten die Bewohner den Raum nur kurz verlassen, um jeden Moment wieder durch die Tür zu kommen. Auf dem Herd stand ein Topf mit Deckel. Der Tisch war sorgfältig für zwei Personen gedeckt, sogar eine Kerze zierte die ehemals weiße Tischdecke, und über der Stuhllehne hing eine Strickjacke. Nur der Staub, der das ganze Ensemble fingerdick überzog, passte nicht so recht ins Bild.
Maja fühlte eine tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen. Es wirkte wie ein Déjà-vu aus einer anderen Zeit und einem anderen Leben. Einem besseren Leben.
»Hier ist nichts.« Juna fegte die Reste an Porzellan aus den Regalen. »Das ist alles nur Plunder. Lass uns weitersuchen!« Sie verließ die Küche und trat in einen Flur. In einer Nische stand eine Kommode. Die leeren Schubladen lagen herausgerissen auf dem Boden verstreut. »Hilf mir mal, das hier vorzuziehen«, befahl sie ihrer Schwester.
Maja gehorchte. Juna hatte einen sechsten Sinn für Verstecke. Bisher hatte sie noch immer etwas zu essen aufgetrieben. Man konnte sich gar nicht genug wundern, an welch seltsamen Orten die Leute ihre letzten Konserven vergraben hatten. Juna fand sie alle. Keuchend wuchteten sie die Kommode aus ihrer Nische heraus.
Der Eingang war ziemlich gut versteckt, aber Juna hatte die Falltür trotzdem entdeckt.
Schmale Stufen führten hinunter in ein Labor. Die Schwestern sahen sich erstaunt um. An den Wänden hingen verstaubte Schautafeln und Pläne, auf den Tischen und Regalen standen Monitore, Pads, Scanner und Reagenzgläser. Das Labor erwies sich als genauso verlassen und verwaist wie die Küche, aber ebenso aufgeräumt. Auch hier wurden die Schwestern das Gefühl nicht los, dass der Besitzer es erst vor Kurzem verlassen hatte. Seine Anwesenheit hing immer noch irgendwie in der Luft.
Zwei Kästchen standen einsam auf einem Tisch. Bei dem ersten gab der aufgeklappte Deckel sofort den Blick ins Innere frei. Am linken und am rechten Rand der Innenverkleidung waren zwei halbkreisförmige Mulden ausgestanzt. Beide leer.
Juna griff nach dem zweiten Kästchen.
»Nicht!« Maja fiel ihrer Schwester in den Arm. »Wer weiß, was dann passiert.«
»Was soll da schon passieren?« Juna verzog ihren Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Meine Schwester, immer ängstlich wie ein Hase.«
»Ja, aber ein sehr lebendiger Hase.« Maja ließ Junas Arm los. Ihre Schwester würde sich sowieso nicht von ihr aufhalten lassen.
Juna öffnete den Kasten.
Auf der Innenseite des Deckels leuchtete die Inschrift Prototyp auf. Auch hier gab es zwei halbkreisförmige Mulden, doch diese waren nicht leer. In jeder schimmerte ein silberglänzendes Objekt, geformt wie die Hälfte einer Münze, die ein Messer im Zickzack durchgeschnitten hatte.
Jede der Schwestern nahm vorsichtig eine Hälfte heraus. In ihren Händen wurde das Metall warm, und seine Oberfläche begann kobaltblau zu schimmern. Es ähnelte nichts, was sie jemals zuvor gesehen hatten.
»Was kann das sein?« Maja runzelte die Stirn. »Da ist ein kleines Loch am Rand, wie für eine Halskette.«
»Die Ränder sehen aus, als würden sie zusammenpassen.« Juna hielt ihre Hälfte hoch.
Maja hielt ihre Hälfte ebenfalls vor sich hin. »Stimmt, das passt genau zusammen. Sieh mal!« Sie schob ihren Teil weiter, bis sie sich mit Junas Zacken zu einem Kreis zusammenfügte.
Schlagartig pulsierten beide Teile synchron. Das Kobaltblau schlug in ein grelles Weiß um. Ein Blitz durchfuhr die Mädchen, und die Welt versank in einem tosenden Wirbel …
ist ein retrofuturistisches Genre, das sich – ähnlich Steampunk und Dieselpunk – mit einer alternativen Zukunft beschäftigt, in diesem Fall aus der Sicht der Populärkultur der 1950er- und 1960er-Jahre.
Die Brüsseler Weltausstellung 1958 mit ihrem Wahrzeichen, dem Atomium, war der offizielle Start Europas in das Atomzeitalter. Die Verwendung der Atomenergie ließ die Menschen optimistisch in die Zukunft blicken. Beliebte Sujets waren Raumfahrt, Roboter, motorisierte Rüstungen und selbst Autos, die von Kernreaktoren angetrieben werden.
Gleichzeitig waren die Atombomben des Zweiten Weltkriegs den Menschen noch im Gedächtnis, und die Gefahren der Radioaktivität und der Kernenergie riefen erneut Ängste hervor. In vielen Geschichten tauchen daher die dunklen Elemente der Atom-Ära auf: die Postapokalypse nach einem Atomkrieg, das Wettrüsten und der Kalte Krieg, Spionage durch Geheimagenten, der Militarismus als Bedrohung der Freiheit oder Krankheit und Tod durch nuklearen Fallout oder Strahlenwaffen.
Die Ästhetik des Atompunks orientiert sich am Mid-Century-Modernismus und zeichnet sich vielfach durch die Verwendung geometrischer Formen, leuchtender Farben und futuristischer Technologien aus.
Beispiele
In Stanley Kubricks Film Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben von 1964, einer Persiflage auf den Kalten Krieg, initiiert ein geistesgestörter US-General den Atomangriff gegen die UdSSR. Während der amerikanische Präsident verzweifelt versucht, die Katastrophe in letzter Minute abzuwenden, träumt der obskure Wissenschaftler Dr. Seltsam von der Erschaffung einer Herrenrasse, die den Atomkrieg überleben könnte.
Die Computer-Spiel-Serie Fallout aus dem Jahr 1997 spielt in einem postapokalyptischen Szenario nach einem Atomkrieg, der im Jahr 2077 weite Teile der Erde zerstört hatte.
Die Zwillinge fühlten sich wie in einem Tornado. Nicht im ruhigen Auge des Orkans, sondern mitten in der wilden Front aus … ja aus was? Der Wirbel bestand aus einem undefinierten, undurchdringlichen, weißen Etwas – irgendwie weich und nachgiebig. So, als ob sie in einer Maschine für Zuckerwatte gelandet wären.
Maja drehte sich der Magen um. »Was zum …? Ich …« Sie strampelte mit den Beinen, um irgendwo im Chaos Halt zu finden.
»Ganz ruhig!«, rief Juna, auch wenn ihre eigene Stimme sich dieser Anweisung widersetzte.
»Ich muss mich übergeben!« Maja sah in der Tat blass aus.
»Bitte nicht in meine Richtung!« Juna drehte sich weg, dabei zog sie unwillkürlich ihren Teil der seltsamen Münze zu sich hin, und die beiden Hälften trennten sich widerwillig voneinander, wie zwei Magnete, die man mühsam auseinanderzog.
Der weiße Nebel wurde wieder blau, als ob jemand Tinte in die Zuckerwatte gegossen hätte.
PLOPP!
Der Wirbel löste sich so schnell auf, wie er entstanden war. Die Welt hatte sie zurück. – Nur nicht die, aus der sie gekommen waren. Nichts mehr da! Doch! Etwas war da, aber es sollte nicht da sein!
Maja bekam große Augen. »Was ist …?« Sie sah Juna ins Gesicht – und auch wieder nicht, denn genau zwischen ihnen spannte sich ein massives Geflecht aus Maschendraht, sodass ihre Schwester aussah, als sei sie aus lauter Puzzleteilen zusammengesetzt.
»Verdammt, was ist das denn?« Juna hatte wohl denselben Gedanken gehabt. Sie streckte die Hand zum Draht aus.
»Nicht!«
Juna verharrte in der Bewegung. »Was denn?«
»Sei vorsichtig!«
»Das ist nur ein blöder Zaun!« Juna sah nach oben. Unglaublich! Der Zaun war mindestens fünf Meter hoch! Aber man würde schon daran herauf klettern können. Oder sie konnte das Mistding einfach durchschneiden. Oder drumherumgehen? Wie auf Kommando sahen die Schwestern nach links und rechts.
Der Zaun erstreckte sich, so weit sie sehen konnten. Und sie konnten sehr weit sehen. Was war das hier für ein Land? Eine Art Steppenlandschaft breitete sich vor ihren Augen aus. Karge Büsche auf sandigem Boden. Ein paar geborstene Baumstümpfe dazwischen.
»Ich versuche, ein Loch hineinzuschneiden. Wenn das nicht klappt, klettere ich einfach zu dir rüber.« Juna stellte das schlicht fest. Es war keine Frage, und Maja konnte auch keine Unsicherheit in Junas Stimme erkennen.
»Warte noch!«
»Worauf?«
»Ich will nur sicher sein …« Maja kramte in ihren Taschen und fand einen Kugelschreiber aus Metall.
»Willst du mir jetzt erst mal eine Zeichnung machen?« Juna grinste.
»Ich … ach schau selbst.« Maja warf den Metallstift gegen den Zaun. Funken stoben, es zischte.
»Ach du Sch…« Juna zog ihren bis dahin immer noch ausgestreckten Arm zurück.
Maja nickte. »So ein Zaun im Nirgendwo macht nur Sinn, wenn er gesichert ist.«
»Verdammt!«
»Ja. Wann waren wir zuletzt getrennt? Das fühlt sich mies an!« Maja schlug die Arme um ihren Oberkörper, obwohl es eher warm war.
»Das sind wir nicht lange, keine Sorge!« Juna blickte sich wieder zu allen Seiten um. »Irgendwo muss es ja einen Übergang geben.« Sie sah zum Himmel. Die Sonne stand noch recht hoch. »Wir müssen ihn suchen!«
»Was heißt hier suchen? Was ist das hier überhaupt? Ich will nicht, dass wir getrennt losziehen.« Maja zog die Stirn in Falten.
»Es muss mit dieser blöden Münze zusammenhängen. Vielleicht kommen wir zurück, wenn wir sie einfach wieder aneinanderhalten.« Juna nickte wie um sich selbst zu bestätigen.
»Einfach?« Maja sah noch einmal zum oberen Rand des Zaunes.
»Okay, nicht ganz einfach.«
»Was, wenn ich dir meine Hälfte rüberwerfe?«
Juna zögerte. »Und was, wenn dann nur ich zurückkomme? Ich lass’ dich hier auf keinen Fall zurück!« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wir suchen eine Passage! Am besten, wir gehen in getrennte Richtungen am Zaun entlang. Wer einen Durchgang findet, kommt auf der anderen Seite hierher zurück. Wer nicht, der dreht …« Sie unterbrach sich und schaute auf die Uhr. »… in zwei Stunden um und kommt auf seiner eigenen Seite hierher zurück.«
»Ich will nicht allein hier rumlaufen. Wo auch immer hier ist. Können wir nicht einen Tunnel graben?«
Juna scharrte mit den Füßen im Sand. Sie fegte mit dem Schuh eine dünne Schicht Körner beiseite und traf auf einen felsigen Untergrund. Seltsam. Fels unter einer Steppenlandschaft? Sie kniete sich nieder und schaute sich das genauer an. Maja sah ihr stirnrunzelnd zu. »Das ist … das ist Glas!« Juna blickte erstaunt auf.
»Kann nicht sein.«
»Prüf selbst!«
Maja schaufelte auf ihrer Seite etwas vom trockenen Boden beiseite und fand ebenfalls eine glänzende Schicht, die aussah wie Glas.
»Keine Chance zu graben«, urteilte Juna.
»Aber was ist das?«
»Keine Ahnung. Sieht fast aus, als wäre etwas geschmolzen …«
»Geschmolzener Sand?«
»Hmm.«
»Was könnte denn …?«
»Vielleicht wollen wir das lieber nicht erfahren. Lass uns jetzt losmarschieren, sonst wird es noch dunkel.«
Maja wollte ganz sicher nicht allein im Dunkeln durch diese seltsame Welt stapfen und meinte widerwillig. »Also umdrehen, nach zwei Stunden?«
Juna nickte. »Oder auf der anderen Seite zurück!«
»Hoffen wir’s!«
Sie liefen los.
Maja ging mit schweren Schritten entlang des Zauns nach Süden, soweit sie das beurteilen konnte. Der Kompass funktionierte nicht, aber der Sonnenstand war ausreichend klar. Verlaufen konnte sie sich ohnehin nicht. Immer am Maschendraht lang! Der Zaun zog sich anscheinend exakt von Norden nach Süden und trennte damit Ost und West. Sie lief auf der Westseite. Sie sah sich um. Juna war bereits nicht mehr zu erkennen. Maja holte tief Luft und stapfte weiter. Eine Stunde war bereits vergangen, da hörte sie ein seltsames Dröhnen, das sich ihr von Westen näherte. Sie blieb stehen und spähte zum Horizont. Dort tauchten am Himmel mehrere kleine schwarze Punkte auf, die langsam größer wurden. Auch das Wummern wurde lauter. Sie kniff die Augen zusammen. Was war das? Propellerflugzeuge? Ein ganzer Schwarm davon! Maja erkannte nun schon deutlich die massigen Rümpfe und die gestreckten Tragflächen, an denen auf jeder Seite vier Triebwerke hingen. Sie stand mit offenem Mund da.
Mit einem Mal tauchte ein Stück vor ihr ein Rohr aus dem Erdboden auf. Nein, kein Rohr, das war eine Art Periskop! Es hatte ein kleines Glasfenster, das aussah wie das Auge eines Ungetüms. Das Ding schwenkte herum, und der Blick des Monsters verharrte genau auf ihr.
»Identifizieren Sie sich!« Die Stimme klang blechern.
»Ich … Was?«
»Identifizieren Sie sich!« Die Worte kamen aus ein paar Löchern im Rohr, hinter denen sich ein Lautsprecher verbergen musste. Es hatte jetzt eindringlicher geklungen. »Nennen Sie Namen, Rang, D-D-Dienstnummer, Missionscode und Befähigung!«
»Ich bin Maja.«
Schweigen.
Sie versuchte es erneut: »Mein Name ist Maja, und ich weiß nicht, wo ich hier eigentlich bin. Ich bin von meiner Schwester getrennt worden und will zurück zu ihr. Einen Rang und so habe ich nicht. Meine Befähigung ist Heilkunde!«
Wieder ein kurzes Schweigen. Dann: »Heilkunde?«
»Ja.«
»Begeben sie sich unverzüglich zu B-B-Bunkereingang XB-17, dreißig Meter zu ihrer Rechten!«
»Ich will nicht … Wohin? Wieso Bunker? Das will ich nicht!«
»Begeben sie sich innerhalb der nächsten sieben Minuten zu B-B-Bunkereingang XB-17, um Schutz vor dem t-t-thermonuklearen Schlag zu finden!«
»Wovor?«
»Der t-t-tägliche t-t-taktische t-t-thermonukleare Präventivschlag steht unmittelbar b-b-bevor. Die atomgetriebene D-D-Drohnenbomberflotte b-b-befindet sich wenige Minuten vor ihrem Ziel auf der anderen Seite der Schutzbarriere.«
»Auf der anderen Seite des Zauns?«
»Der Schutzbarriere der freien Welt, ja. Sie haben noch vier Minuten.«
Maja sah sich wild um. »Das dürft ihr nicht! Meine Schwester!«
»Stellen sie nicht unsere Autorisierung infrage! Wir erfüllen den verfassungsmäßig verankerten p-p-präventiven Schutzauftrag! Noch d-d-drei Minuten.«
Die Bomber waren heran. Das Dröhnen der Motoren war ohrenbetäubend. Der Himmel verdunkelte sich durch die Flut von Flugzeugen.
Maja stolperte in die angegebene Richtung und erspähte eine runde, im Boden eingelassene Metalltür, in deren Mitte ein mächtiges Drehrad prangte wie an einem U-Boot-Schott oder einer großen Tresortür.
Juna fluchte. Sie war jetzt das zweite Mal an einem dieser kleinen dornigen Büsche hängen geblieben. Wütend trat sie nach ihm.
Der Strauch wehrte sich nicht, erweckte aber auch nicht den Eindruck, als hätte sie ihm Respekt eingeflößt.
»Drecksgegend«, murmelte Juna vor sich hin. Sie sah auf die Uhr. Schon über eine Stunde! Hoffentlich ging es Maja gut! Vielleicht hätte ich doch bei ihr bleiben sollen! Dieser verdammte Zaun nahm sowieso kein Ende. Es gab nicht das geringste Anzeichen, dass sich daran auf den nächsten Kilometern etwas ändern würde. Oder auf den nächsten tausend Kilometern! Mist!
Kurz danach kam sie über eine kleine Kuppe. Aus dem Augenwinkel nahm sie einen Lichtreflex wahr. Hatte da weiter im Osten etwas im Sonnenlicht aufgeblitzt? Sie hockte sich hin. Möglicherweise war da jemand zwischen den Dünen und richtete ein Fernglas auf sie. Ein Fernglas oder ein Zielfernrohr! Aber wo Menschen waren, war vielleicht Hilfe. Sie musste es versuchen. Alles besser, als an diesem elenden Zaun entlangzumarschieren! Vorsichtig lief sie geduckt und im Zickzack auf die Stelle zu, an der sie etwas gesehen zu haben meinte.
Irgendetwas dröhnte leise im Westen hinter ihr. Ein Bienenschwarm? Bisher waren ihr keine Tiere begegnet. Menschen sowieso nicht. Sie spähte über ihre Schulter, konnte aber nichts erkennen. Also weiter!
Als sie auf wenige Dutzend Meter heran war, warf sie sich auf den Bauch und robbte sich Stück für Stück voran. Das Brummen im Westen wurde lauter. Bitte jetzt keine Attacke von irgendwelchen Mistinsekten! Noch um den nächsten Busch und dann … Was ist das denn? Vor ihr – mitten im Nichts – erhob sich eine kleine Felsformation. Darin gab es eine Tür aus Metall, das im Sonnenlicht glänzte! Vielleicht ein Eingang in einen Tunnel, der unter dem verfluchten Zaun hindurchführt?
Juna rappelte sich auf und lief zur Tür. Sie zog daran. Nichts. Abgeschossen? Aber ein Schlüsselloch war nicht zu entdecken. Sie wischte den Sand vom Türrahmen. Da! Ein Eingabefeld. Mechanische Tasten. Wie ein schnöder Ziffernblock nur, dass darauf seltsame Symbole standen und es nicht der übliche quadratische Block war, sondern die Knöpfe eine Pyramide formten, oben eine, dann drei, unten fünf. Na toll!
Testweise drückte Juna die jeweils mittlere Taste in jeder Reihe.
Ein Licht oberhalb der Tür flackerte rot auf. »Warnung!«, »Warnung!«, »Warnung!«, erklang von irgendwoher eine computerhafte Stimme.
Juna rief sich einen alten Film ins Gedächtnis, den Maja und sie einmal samt Abspielgerät gefunden hatten. Das Ding erinnerte in Ton und Design an Hal … wie hieß der noch? Hal Irgendeinezahl. So ein fieser Computer, der Astronauten umbrachte. Besser, sie nahm das mit der Warnung ernst.
Denk nach! Okay, das hier war eine mit einem Code gesicherte Tür. Offenbar konnte man nicht ewig herumprobieren. Möglicherweise wurde bei mehrfacher Fehleingabe einfach die Tür blockiert. Beziehungsweise man wurde über den Haufen geschossen … je, nachdem.
Ein Passwort also. Neun Tasten … Welche Kombinationsmöglichkeiten gibt das? Jede Taste kann man drücken oder nicht drücken, also pro Symbol zwei Möglichkeiten … hmmm … macht bei neun Feldern 2 hoch 9, also 1024 Variationen. Moment mal, die Reihenfolge spielt ja auch eine Rolle. Und vielleicht musste man bestimmte Zeichen mehrfach eingeben. Im Grunde gab es unendlich viele Varianten. Verflixt!
Okay, ruhig! Das hier ist auch nur ein Passwort, und die Tür hatte wahrscheinlich eine beachtliche Anzahl von »Usern« … das müsste doch. Juna sah sich um. Ein Busch, der ein paar Meter weiter nahe an der Felswand wuchs, fiel ihr ins Auge. Mal sehen!
Auf dem Fels hinter dem Gestrüpp entdeckte sie tatsächlich eine eingeritzte Folge von sieben Symbolen. Der gute alte Zettel unterm Keyboard! Sie prägte sich die Zeichen ein, wobei das lauter werdende Brummen zusehends störte. Eigentlich war das jetzt schon eher ein Dröhnen. Juna sah nach Westen. Was war das denn? Wie Wespen sahen die Viecher nicht aus. Scheiße!
Sie sprintete zur Tür.
Maja warf den Deckel, oder wie man diese Falltür nennen solle, zu und drehte innen am Rad. Es zischte und dann folgte ein saugendes Geräusch, als ob sich die Luke luftdicht versiegelte. Sie stand in einem kleinen kargen Raum, mehr ein Treppenabsatz, von dem aus eine Metallleiter weiter hinab führte. An den Wänden hingen alte vergilbte Plakate. »Vorsicht! Die Anderen hören mit!«, war da zu lesen und: »Frei ist, wer sicher ist!«
Sie holte tief Luft und kletterte nach unten. Als sie sich am Fuß der Leiter umdrehte, erschrak sie. Ihr gegenüber stand ein rostiger Metallkasten auf Rädern. Orange und grüne Lämpchen blinkten müde auf seiner Vorder- und Oberseite.
Der Kasten ergriff das Wort. Es klang genauso blechern wie vorhin. Das war einfach die Stimmlage des Blechapparates:
»Heilkundige Maja?«, wollte er wissen.
»Äh … jaaaa.«
»Zurück vom Außeneinsatz?«
»Naja … eigentlich …«
»Außergewöhnlich«, stellte der Apparat fest. »Außeneinsatzdauer Captain Maya P-P-Pitroschenka …« Eine kleine Pause. »… dreiundachtzig Jahre, sieben Monate, dreizehn Tage und elf Minuten.«
»Aber auf die Sekunde genau«, versetzte Maja.
»Fast«, bestätigte der Blechmann emotionslos. »B-B-Bitte folgen sie mir zur D-D-Dekontaminierungskammer.« Der Kasten schwenkte herum und begann zu rollen.
»Wohin?«
Mister Rostblech, wie Maja ihn in Gedanken jetzt nannte, stoppte und drehte sich halb herum. »D-D-Die D-D-Dekontamination ist gemäß Satzung des Schutzbunkers, P-P-Paragraph 247, Absatz 3, Vorschrift nach jedem Außeneinsatz. Zu ihrem Schutz und dem ihrer Mitbewohner.«
»Mitbewohner?«
»B-B-Bunker 786-D hat derzeit …« Kurzes Zögern. »1765 B-B-Bewohner. Davon aus der Zeit, als sie den B-B-Bunker für den Außeneinsatz verließen …« wieder unterbrach er sich, als ob er nachrechnen müsste. »… null Personen. Außergewöhnlich. Bitte haben sie einen Moment Geduld, ich scanne die D-D-Datenbank …«
Der Kasten blinkte vor sich hin. Maja biss sich auf die Lippen. Sollte sie dem Ding erklären, dass sie keineswegs diese Maya Pitro-irgendwas war? Eher nicht.
Sie wollte fragen, was es mit den »Bewohnern« auf sich hatte, aber da meldete sich Mister Rost bereits wieder zu Wort: »Ich habe Tessa P-P-Pitroschenka in der D-D-Datenbank gefunden, dreiunddreißig Jahre, Einwohnerin d-d-dritter Klasse und ihre Urenkelin. D-D-Dienstnummer 17-4589-2. Befähigung: Lehrerin. Bitte folgen sie mir nun zur D-D-Dekontamination!« Der Blechmann rollte wieder an, und Maja folgte ihm mit gerunzelter Stirn.
Juna hechtete durch die Öffnung. Hinter ihr ging umgehend zischend die Schiebetür zu, und das auf der Innenseite oben am Rahmen angebrachte Licht, das genauso aussah, wie das äußere, sprang von Grün auf Gelb. Vor ihr schloss sich eine zweite Tür. Es zischte und weißer Qualm drang in den Raum. Verdammt! Juna sah wild um sich, aber da verzogen sich die Dampfschwaden schon wieder, und die Tür vor ihr ging auf. Direkt dahinter führten Betonstufen in die Dunkelheit hinab.
Wirklich ein Tunnel! Sie stolperte die Stufen hinunter. Der Boden unter ihren Füßen begann leicht zu schwanken und sie hörte dumpfe Laute, wie von entfernten Detonationen. Verdammt, was waren das für Flugzeuge gewesen? Hoffentlich war sie hier in Sicherheit. Hoffentlich war Maja in Sicherheit! Sie lief weiter die Treppe hinab. Immer wenn sie einen Absatz erreichte, schalteten sich im nächsten Abschnitt unter ihr mit einem vernehmlichen KLACK die Lichter an und erhellten das Stockwerk. Es war, als würde sie abwärts geleitet. Sie spähte zwischen den sich windenden Stufen hinab in die Tiefe. Ihr wurde ihr schwindelig. Was für ein Abgrund! Sie presste die Kiefer aufeinander.
Der Schacht schien bodenlos, doch schließlich endete die Treppe in einem großen, schmucklosen Raum aus Betonwänden, an dessen hinterem Ende ein ebenfalls aus Beton gegossener Tisch stand, der mit einer durchsichtigen Plastikfolie abgedeckt war. Einige kleine farbige Lichter brannten darunter.
Sie marschierte hinüber.
Das Ganze sah aus, wie eine Schalttafel. Eine dicke Staubschicht auf der Folie deutete an, dass hier schon lange niemand mehr irgendetwas geregelt hatte, aber unter dem Staub blinkten grün, gelb und rot, kleine Lämpchen.
Juna zog die Folie herunter und hustete. Drecksstaub!
In der Mitte der Platte war ein grünlich schimmernder Monitor eingefügt, darauf leuchtete in hellem Grün und einer Art Schreibmaschinenschrift das Wort »Eingabe:«. Unterhalb des Bildschirms befand sich eine Tastatur. Mit normalen Buchstaben diesmal.
Juna sah sich um. Drei Gänge gingen von dem Raum ab. Sollte sie einfach die Tunnel ausprobieren und hoffen, dass sie einen Weg unter dem Zaun hindurch fand? Sie sah auf die Uhr. Zwei Stunden waren bereits vergangen! So eine Sch…! Maja müsste schon auf dem Rückweg zum Treffpunkt sein! Wenn die Bomben, oder was das war, sie nicht erwischt hatten! Oh Gott! Vielleicht konnte sie dieser Maschine einen Plan der unterirdischen Gänge entlocken? Dann müsste sie nicht lange herumirren. Entschlossen tippte sie »Hallo« hinter die Eingabeaufforderung.
Die Lämpchen auf dem Tisch flackerten hektisch. »Hallo!«, blinkte in der nächsten Zeile auf dem Monitor.
Juna dachte nach. Dann tippte sie »Plan bitte!«
Buchstabe für Buchstabe in grün leuchtender Schrift erschien: »Wartungsplan Megavac-18 seit sechsundsiebzig Jahren überfällig. Vordringliche Wartungsarbeiten: Kernelupdate, Bioscheck, Basisfunktionstest, Programmtests Satellitenscan und seismische Kontrolle sowie Simulationslauf finaler Gegenschlag. Vielen Dank für ihre Eingabe. Wartungsplan initiiert!«
Juna hackte ein »stop« in die Tastatur.
»Bitte unterbrechen sie nicht das Update, da es zu unvorhersehbaren Fehlern im Code kommen kann.«
Juna hämmerte auf die Escape-Taste ein.
Ein Piepen kam aus dem Tisch. »Wartungsplan unterbrochen« erschien. Dann wieder: »Eingabe:«
»Karte!«, gab Juna ein.
»Bitte spezifizieren.«
»Optionen?«
»a) Karte der freien Welt b) Karte der identifizierten Startzonen der letzten feindlichen Bomber und des Ursprungs ihres Steuersignals c) Karte der für den finalen Gegenschlag reservierten Raketensilos.«
Verflucht, keine Karte der Tunnel! Am ehesten nützte ihr wohl noch eine Landkarte. »a«, tippte sie ein.
Auf dem Bildschirm erschienen Umrisse eines ihr fremden Landstrichs. Etwa in der Mitte zog sich eine schnurgerade Linie von Nord nach Süd durch die Karte. War das der Zaun?
»Was markiert die gerade Linie?«, gab sie ein.
»Die Linie markiert den Schutzzaun zwischen den bewohnten Landen und der Demarkationszone, die die Abwehrstellungen enthält. Dies ist Abwehrstellung 23.
»Abwehr gegen was?«
»Gegen die Bedrohung der freien Welt«
»Durch wen?«
»Durch die Anderen.«
»Die Anderen?«
»Ja.«
»Wer und wo sind die Anderen?«
»Unklar. Bis vor zweiundneunzig Jahren lagen die Ausgangsorte der Aggressionen im Osten. Seit langer Zeit aber im Westen. Megavac-18 ist in der Lage, die jeweils aktuellen Ausgangspositionen der Angriffe per Satellitenscan zu ermitteln und flexibel darauf zu reagieren!« Juno meinte, so etwas wie Stolz zwischen den Zeilen zu lesen.
»Reagieren?«
»Den finalen Gegenschlag auszulösen.«
»Was bedeutet das?«
»Sollte eine der beiden Auslösebedingungen eintreffen, werden alle 99 Abwehrstellungen aktiviert und steuern ihre jeweils elf Atomraketen mit je drei strategischen Gefechtsköpfen auf den Ort des Ausgangs der Aggression und den Ort des Steuersignals.«
»Was sind die Auslösebedingungen?«
»A – Im Westen wird die Hauptstadt der freien Welt bombardiert oder B – die zentrale Abwehrstellung wird getroffen und zerstört. Dann greift das dezentrale Back-up und löst den Gegenschlag aus.«
»Die Hauptstadt im Westen?«
»Ja.«
»Aber du sagtest, die Angriffe gehen von dort aus …«
»Ja.«
»Wieso liegt die Hauptstadt dort und die Angriffe auf dich gehen von dort aus?«
»Unklar.«
»Du solltest deine Programmierung überdenken.«
Ein dunkelrotes Licht auf dem Schreibtisch ging an. »Warnung! Jeder Versuch der Manipulation der Basisfunktion führt zum unmittelbaren Auslösen des finalen Gegenschlags«, erschien in freundlich grün leuchtenden Buchstaben auf dem Bildschirm.
»Okay, aber es bombardiert also niemand diese Hauptstadt, weil die Angriffe ja von dort kommen?«
»Korrekt.«
»Dann besteht kein Anlass zum Auslösen dieses Gegenschlags?«
»Solange Megavac-18 nicht getroffen wird.«
»Solange du nicht getroffen wirst?«
»Korrekt. Megavac-18 verteidigt die freie Welt. Frei ist, wer sicher ist!«
Juna seufzte.
Maja fühlte sich unwohl. Tessa wirkte freundlich, aber natürlich war auch ihr klar, dass Maja nicht ihre Urgroßmutter war, wie Mister Rostblech annahm. Konnte sie das offen ansprechen und vielleicht sogar auf Hilfe mit dem Zaun hoffen? Maja sah Tessa noch einmal ins Gesicht und entschied sich für die Wahrheit: »Okay, der Elefant im Raum ist, dass ich nicht bin, was dein Blechfreund dir gesagt hat.«
»Elefant?«
»Vergiss es. Ich meine, ja, ich bin Maja, aber nicht die Maya – und du bist sicher nicht meine Urenkelin.«
»Was du nicht sagst.«
»Ich komme von weit her.«
»Von draußen?«
»Ja, aber noch von viel weiter.«
»Sag das lieber den Aufsichtsrobotern nicht.«
»Wem?«
»Den Blechkisten, wie du sie vorhin genannt hast.«
»Was sind die?«
»Die sind schon immer da. Laufen auf Atombatterie. Irgendwann geht ihnen sicher trotzdem mal der Saft aus oder sie verrosten …«
»Klingt, als ob du dir das wünschst.«
»Sie machen seltsame Regeln.«
»Die machen die Regeln?«
»Na ja, sie wurden natürlich programmiert. Aber das ist lange her.«
»Wie lange?«
»Niemand erinnert sich mehr.«
»Geht doch hier weg!«
»Das ist gegen die Regeln. Niemand hinein, niemand hinaus. Frei ist, wer sicher ist!«
»Ich bin hineingekommen.«
»Nur, weil die dachten, du kommst vom Außeneinsatz zurück. Es gibt aber seit fünfzig Jahren keine Außeneinsätze mehr.«
»Aber ihr könnt doch nicht die ganze Zeit hier unter der Erde leben!«
Tessa zuckte mit den Schultern. »Es geht schon. Die Roboter machen die meiste Arbeit. Nur manchmal wünschte ich, sie könnten noch mehr. Und dann ist da ja noch die Bedrohung.«
»Bedrohung?«
»Wir, also die Bewohner der freien Welt, werden von jenseits des Schutzwalls bedroht. Jemand scannt regelmäßig die Startplätze unserer Verteidigungsflotte und das Signal, das sie von diesem Bunker aus steuert. Und die Luftbilder der Drohnen zeigen ganz deutlich Raketensilos auf der anderen Seite.«
Maja wurde schlecht. Juna war schließlich auf der anderen Seite. »Wer ist denn dort?«, wollte sie wissen.
»Die Anderen, wurde uns gesagt.«
»Wer sind die?«
»Keine Ahnung. Niemand, der lebt, hat sie je gesehen. Aber sie müssen da sein und unsere Vorfahren haben ja offenbar deswegen den Schutzzaun errichtet, den wir mit den Periskopen beobachten und den unsere Atomreaktoren unter Strom setzen. Kannst du jetzt bitte meinem Neffen helfen?«, drängt sie.
»Ja, kein Problem«, meinte Maja.
Der fünfjährige Sohn von Tessas Bruder hatte sich beim Spielen an einem rostigen Nagel eine Infektion zugezogen und die Blechroboter waren damit überfordert. Er fieberte stark, und Tessa machte sich große Sorgen um ihren Neffen. Es gab in diesem Bunker auch schon lange keine Heiler mehr, kaum eine Möglichkeit, es zu lernen und erst recht keine Kräuter oder Heilpflanzen von der Oberfläche. Sie gab dem Kind etwas Penicillin, das sie noch vom Plündern einer verlassenen Tierarztpraxis übrig hatte.
»Das sollte reichen.«
»Vielen Dank! Wenn ich dir irgendwie helfen kann …?«
»Ich muss über den Zaun. Meine Schwester ist dort.«
Tessa schüttelte bedauernd den Kopf. »Niemand kann über den Zaun.«
»Du sagtest, der Strom stammt von euren Reaktoren.«
»Sein Vater …«, sie zeigte auf ihren Enkel, »… ist dort Wartungstechniker.«
Juna hatte genug. Die Tunnel der Anlage führten nirgendwohin. Nur in weitere Kammern. Eine war ein Lagerraum und sie durchwühlte hastig die Kisten und steckte das eine oder andere ein, was sie vielleicht noch würden gebrauchen könnten. Der zweite Raum war mit Pritschen als karger Schlafbereich ausgestattet. Es gab aber nicht einmal Matratzen. Egal, nach Ausruhen war ihr ohnehin nicht zumute. Die dritte Kammer war einfach leer. Sackgasse! Sie musste den Zaun anders überwinden. Nur wie? Ihr Blick fiel auf die Plastikfolie, die die Schalttafel bedeckt hatte. Jetzt war es draußen bestimmt schon dunkel. Aber Morgen!
Es war anstrengend, die Folie bis Zaun zu zerren, aber die Verzweiflung beim Gedanken an Maja gab Juna Kraft. Sie sah zum oberen Ende des Maschendrahtes und runzelte die Stirn. Fünf Meter oder mehr! Die Plastikplane war kaum drei Meter lang … Okay, sie war vielleicht breit genug, um sie der Länge nach durchzureißen, sodass sie gerade noch knapp passend war für sie, wenn sie am Zaun emporkletterte.
Juna teilte die Plane sorgfältig in zwei Bahnen und steckte sich eine hinten in den Gürtel. Vorsichtig darauf bedacht, immer eine Isolierschicht aus Folie zwischen ihren Fingern und dem Draht zu haben, stopfte sie die andere Hälfte so hoch wie möglich in die Maschen der Barriere und ließ das Plastik herabhängen.
Sie holte tief Luft und begann den Aufstieg. Nachdem sie ein paar Mal zugegriffen hatte, ohne einen Stromschlag zu erhalten, wurde sie mutiger. Sie benutzte das Reservestück Plastik für den jeweils nächsten Abschnitt und zog vorsichtig die unter ihr hängende Hälfte an sich heran, um sie oben zu nutzen. Noch ein halber Meter! Nur noch einmal umgreifen! Sie zog wieder an der unteren Plane. Die bewegte sich nicht. Verdammt, sie hängt fest! Juna zerrte stärker.
Die Folie riss kurz unterhalb ihrer Hand und trudelte zu Boden, als ob sie sich nie am Zaun verhakt hätte.
Juna hing in viereinhalb Metern Höhe mit ihrem Stück Plane am Draht. Kein Schutz unter ihr, kein Schutz über ihr und keine Reserve mehr im Gürtel. Sie schloss verzweifelt ihre Augen. Nach einigen Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, wurden ihre Fingerkuppen taub. Springen und noch mal von vorn? Ihre einzige Option. Sie sah zweifelnd nach unten. Ihr Magen drehte sich um. Verdammt war das hoch! Ihre Finger krallten sich wieder fest. Sie konnte es nicht.
»Nun kletter’ schon rüber, große Schwester!«
Majas Stimme! Juna riss die Augen auf. Ihre Schwester war keine zehn Meter mehr entfernt und stapfte heran.
»Maja! Es geht dir gut!«
»Sieht so aus. Dir nicht so, wie es aussieht?«
»Ich kann nicht springen und ich komme nicht weiter. Der Strom …«
»… ist aus«, unterbrach Maja sie.
»Wie …?«
Maja klackerte ihren Metallkugelschreiber an den Maschen entlang. Nichts passierte. »Lange Geschichte. Sagen wir, ein Wartungstechniker schuldete mir etwas, nachdem sich sein Kind über Nacht erholt hatte, und ich habe mich aus einem Bunker herauswerfen lassen, aus dem niemand herauskommt, einfach, indem ich die Wahrheit gesagt habe, wer ich bin.«
Juna schüttelte den Kopf, das konnte warten. Sie nahm ihre Kraft zusammen, stemmte sich das letzte Stück hoch und schwang sich über den Zaun. Auf der anderen Seite kletterte sie vorsichtig hinab, ohne nach unten zu sehen.
Sie umarmte Maja. »Ich hatte Angst um dich!«, murmelte sie.
»Und ich um dich!«, erwiderte die. »Die sogenannte freie Welt greift diejenigen an, bei denen du warst.«
»Ich war bei einem Computer genau dieser freien Welt!«
»Aber die sagten im Osten …«
»Ihre eigene Grenzzone mit ihrem eigenen Abwehrsystem.«
»Sie bombardieren es.«
»Und wenn sie ihn eines Tages treffen, löscht ihr eigener Computer sie aus.«
Maja hinterließ noch einen Zettel beim Periskop. Nur für den Fall, dass den Blecheimern eines Tages wirklich der Atomsaft ausginge und die Menschen endlich selber entscheiden würden, was frei und was sicher ist. Sie sollten es wissen. Hoffentlich war es bis dahin nicht zu spät.
Dann steckten sie die Hälften ihrer seltsamen silbrigen Münze wieder zusammen, die zu pulsieren begannen …
»Von atomgetriebenen, schwebenden Autos haben wir geträumt. Und was haben wir nun? Schneeschuhe, Skier und Schlitten.« Wütend trat Alix mit dem schweren Stiefel gegen eine der Kufen des großen Segelschlittens, die eine rotbraune Rostspur in das gräuliche Weiß gezeichnet hatten.
Brikenda nahm etwas Schnee von einer toten Tanne, presste ihn zu einem grauen Ball zusammen und bewarf Alix spielerisch mit dem Klumpen. »Komm schon, immerhin leben wir noch, im Gegensatz zu den …« Sie zögerte. »Milliarden anderen.«
Er stach mit einem Blick nach ihr. »Noch«, zischte er. Seine Atemwolke war im dumpfen Licht des grauverhangenen Himmels kaum zu sehen. »Aber wie lange noch?« Er reffte das Segel, setzte sich auf den Schlittenrand, klappte eine der Kunststoffkisten, die auf dem Schlitten standen, auf, nahm ein Glas Spargel heraus, öffnete den Schraubverschluss und begann, sich die Stangen in den Mund zu schieben.
Brikenda sah ihn angewidert an, griff nach einer Dose weißer Riesenbohnen, riss den Deckel ab, schleuderte ihn hinter sich und ließ sich neben Alix nieder. Es wurde rasch dunkler, sodass die Ruinen in der Ferne kaum mehr zu erkennen waren. Blitze zucken über den Himmel.
»Ein Gewitter«, stellte Cecilie fest. Donner grollte. »Wir sollten uns unterstellen, Bäume gibt’s hier genug. War wohl ein Park.«
»29«, sagte Alix, »ist fast drei Kilometer entfernt, also kein Grund, sich …« Er zögerte und schüttelte den Kopf. »… ›unterzustellen‹«. Er schnaubte. »Beziehungsweise sich niederzukauern und von den Tannen zu entfernen.« Er seufzte und aß weiter. »Gut, ich muss gestehen, der nukleare Winter hat auch V-vorteile«, sagte er kauend nach einer Weile. »Überschwemmungen, Hitzetote, Bundesliga und Denguefieber sind damit passé, keine nervenden Laubbläser oder Rasenmäher mehr. Sicher, die Blizzards sind lästig, und die Lebensmittelversorgung ist ein bisschen kritisch, so ganz ohne Getreideanbau und Kartoffeläcker. Bald werden wir uns von Kakerlaken ernähren müssen. Halten wir f-fest: Atomkrieg ist nicht vegan. Wobei, die Strahlung wird uns wohl davor bewahren, so lange zu leben.«
»Und wem haben wir das zu v-v-v-verdanken?«, imitierte Brikenda übertrieben sein Stottern. Sie streifte den rechten Handschuh ab und löffelte mit den Fingern Bohnen.
Cecilie quetschte sich mit einer Dose Ravioli zwischen sie. »Hört doch endlich mal auf zu streiten«, sagte sie.
»Lass mich raten.« Alix presste die Lippen zusammen. »Dem Patriarchat.« Demonstrativ gähnte er laut.
»Eben!« Brikenda hatte seine Ironie nicht bemerkt, oder sie ignorierte sie bewusst. »Otto Hahn, Fritz Straßmann – Männer, schon dem Namen nach.«
Alix unterbrach abrupt die Kaubewegungen und hob eine Augenbraue. »Dein Ernst?«, sagte er mit vollem Mund, dann schluckte er. »Ich meine, mich zu erinnern, dass auch Lise Meitner nicht ganz unwesentlich zur Entdeckung des Prinzips der nuklearen Kettenreaktion beigetragen hat. ›Frauen sichtbar machen‹, schon vergessen?« Es blitzte. Er verstummte; als sie den Donner hörten, sagte er: »33, das Gewitter zieht f-fort. – Aber das ist weit über hundert Jahre her, ich würde auch nicht unbedingt den Erfinder des Messers verantwortlich machen, wenn ich erstochen werde.«
»Aber den Erfinder des Schwerts, alter Mann!« Eine halbe Riesenbohne flog in weitem Bogen aus Brikendas Mund, sie haschte vergeblich danach und die Bohne versank im Schnee. »Das Manhattan-Projekt war eine reine Pimmelparty: Oppenheimer, Teller, Fermi, Feynman, Bohr …«
»Ach ja? Dann waren Maria Goeppert-Mayer, Chien-Shiung Wu, Leona Woods, Katharine Way, Elizabeth Rona, Joan Hinton wohl Männer? Alle am Manhattan-Projekt beteiligt, einige von ihnen wurden mit dem Nobelpreis ausgezeichnet oder waren dicht dran. Also das mit dem ›Frauen sichtbar machen‹ musst du wohl noch üben. Aber vielleicht habe ich einfach nur ein besseres Namensgedächtnis, nicht? Was soll’s, auch mehr als ein Jahrhundert her.« Er stellte das leere Glas ab, stand auf und reckte sich. »Aber vor allem würde ich die verantwortlich machen, die das Schwert führen. Und das war zunächst immerhin Lakshmi Murmu von den hinduistischen Safran-Faschisten, nicht der erste weibliche Präsident Indiens, aber der letzte indische Präsident überhaupt.« Er drehte sich um und sah Brikenda ins Gesicht.
»Nachdem China angegriffen hat!«, fauchte sie.
»Die einen sagen so, die anderen so.«
»Tsung-Yi Yu war jedenfalls ein Mann, willst du das bestreiten?«
»Aber Julia Romanowa – Russland – eilte China zu Hilfe, mit einem Meisterwerk, gegen das die Zarbombe ein Knallfrosch war, und Pakistan wollte auch mitspielen. Es steht also drei zu eins.«
»Verbieten hätte man sie sollen«, warf Cecilie ein.
»Was?«, fragte Alix. »Die Frauenquote in der indischen Politik?«
»Atome! Denen haben wir das Ganze doch zu verdanken.«
»Atome. Verbieten. Klar.« Alix nickte. »Gute Idee. Am besten Gene gleich mit.«
Nun nickte Cecilie energisch. »Genau, diese ganzen Gene, die sie überall ins Essen gemischt haben.«
Alix schüttelte ungläubig den Kopf, entschied sich aber, ihr nicht zu widersprechen. Stattdessen wandte er sich wieder an Brikenda: »Am Testosteron, an diesem Genfehler, dem männlichen Geschlecht, liegt es ganz und gar nicht. Im Gegenteil, wenn Frauen an der Macht sind, und das waren sie in den letzten Jahrzehnten zunehmend, f-führen sie mindestens so oft Kriege wie Männer, nicht erst in diesem Jahrhundert, sondern seit Jahrtausenden, das zeigt ein objektiver Blick in die Geschichtsbücher; aber, ich weiß, die gefühlte Wahrheit zählt mehr als F-fakten. Ah, jetzt hätte ich doch beinahe die Fratelli d’Italia vergessen, geführt von einer Frau – gut, das waren nur Neutronenbomben, die Menschen und andere Lebewesen durch Strahlung töten, aber Gebäude weitgehend intakt lassen sollten …« Er wies mit einer ausholenden Geste auf die im Dunkeln versunkenen Trümmer der Stadt um sie herum. »Nicht zuletzt die US-amerikanischen S.M.U.R.F.-Biowaffen, die dazu gedacht waren, weltweit fast alle Männer zu eliminieren und die Frauen zu verschonen. SafeguardingMeasures to Undercut Risk Factors, Schutzmaßnahmen zur Unterbindung von Risikofaktoren, das ist selbst mir zu zynisch. Also: F-fünf zu eins. Oder fünf Milliarden …«
Brikenda prustete. »Entwicklung, Produktion und Verwendung von biologischen Waffen, einschließlich Viren, zu militärischen Zwecken sind zudem wirklich verboten.«
»Ja, dann.« Er verdrehte die Augen. »Weil ja weibliche Regierende nie etwas V-verbotenes tun würden, gleich ob in Amerika oder sonst wo.«
»Davon abgesehen hat es nicht geklappt, weil die Smurfette-Viren mutiert sind.«
Er seufzte. »Der gute Wille zählt, nicht?«
»Jedenfalls hat Yu angefangen!« Brikenda warf die leere Dose weg, wischte sich die Hand mit Schnee ab und streifte wieder den Handschuh über, nachdem sie vergeblich versucht hatte, sie warm zu hauchen.
Cecilie schrie auf. Durch den Schrei oder durch Zufall brach ein Teil der Schneelast der nächsten Tanne und polterte neben den dreien zu Boden. »Hört auf, hört endlich auf! Ich ertrage es nicht mehr! Es ist doch klar, dass der Deep State –« Sie verstummte. »Was ist das?« Sie erhob sich und deutete auf zwei in der Ferne verharrende dunkle Gestalten. »Wölfe? Ob sie uns gehört haben?«
»Wenn, dann Werwölfe, dem aufrechten Gang nach zu schließen«, erwiderte Alix ruhig. »Wenn, dann dich.«
»Werwölfe?« Nun flüsterte Cecilie. »Du meinst, es gibt –«
Alix antwortete in normaler Lautstärke scharf: »Nein, ich meine, es sind Menschen.«
»Was, wenn sie infiziert sind?«, flüsterte Cecilie.
»Dann würden sie wohl kaum da stehen, sondern v-verwesen; die wenigen Menschen, die noch leben, dürften immun sein, wir auch.«
Während die drei in aufgeplusterten Schneeanzügen steckten, schienen die beiden Fremden eher leicht gekleidet zu sein, zu leicht, gegen die eisigen Temperaturen nur Decken um die Schultern. Anscheinend unterhielten sie sich gestikulierend, wobei einer die Decke herunterrutschte. Sie fing sie im Fall ab und legte sie wieder um.
»Was sollen wir tun?«, fragte Cecilie. »Wenn sie gefährlich sind …«
Alix schnaubte. »Gefährlicher als …« Er machte eine kreisende Handbewegung, die alles um sie einzuschließen schien. »Gefährlicher als ›das Patriarchat‹?«
»Ich glaube«, sagte Brikenda zögernd, »es sind zwei Frauen.«
»Na also, harmlos«, entgegnete Alix, »wie weiblich benannte Tornados. Natürlich sind es F-frauen, wir Risikofaktoren sind ja, Smurfette sei Dank, weitgehend ausgeschaltet.«
»Sie kommen auf uns zu!«, stieß Cecilie aus.
»Gut. Ich schlage vor, wir errichten hier unser Lager und ziehen erst morgen weiter. Es ist ohnehin schon spät. Ich mache Feuer.« Alix fegte mit den Stiefeln Schnee beiseite, um den Boden freizulegen und so das Schmelzen der Schneedecke und damit ein Einsinken zu verhindern und ringsum, nur zum Schlitten hin offen, einen Windschutz zu errichten.
»Feuer?«, rief Cecilie. »Dann sehen sie uns doch. Wir sollten uns lieber verstecken.«
Alix begann, trockene Zweige von der nächsten Tanne abzubrechen und den Schnee abzuschütteln, um sie in seiner flachen Grube auszubreiten. »Sie haben uns längst gesehen. Waren wir uns nicht einig, weitere Überlebende zu suchen? Umso besser, wenn der Berg zum Propheten kommt. Und so ein gemütliches Lagerfeuer galt schon immer als willkommene Einladung.« Er nahm ein paar kleine, schnell brennende Holzstücke und große Scheite für eine dauerhafte Flamme vom Schlitten und schichtete sie auf dem Bett aus Tannenzweigen wie ein Tipi auf. Während er vorsichtig mit dem Feuerzeug die Anzünder ansteckte, schob Brikenda den Schnee weiter beiseite, um einen größeren Schneewall um das Feuer zu schaffen. Cecilie beobachtete misstrauisch die Fremden.
Die Flammen loderten, Alix streckte die Hände aus, um sie zu wärmen, den Blick auf die sich nähernden Frauen gerichtet. Sein sonst schlaff herabhängendes rechtes oberes Augenlid war beinahe so weit geöffnet wie das linke. Er stellte ein Dreibein über das Lagerfeuer, befüllte den Teekessel mit Schnee und hängte ihn auf.
Die beiden Frauen waren nun keine hundert Meter mehr entfernt und verlangsamten ihre Schritte, dann blieben sie stehen. Sie waren kleiner und kräftiger als Brikenda, aber einen Kopf größer und deutlich schlanker als Cecilie, sahen einander aber verblüffend ähnlich. Lediglich die Haartracht schien sie zu unterscheiden.
Brikenda schlug die Kapuze ihres Schneeanzugs zurück und entblößte so die Stoppeln auf ihrem geschorenen Kopf. Ihr Augenbrauenpiercing glitzerte im Schein der Flammen.
Auch Alix schob die Kapuze nach hinten. Wäre die Halbglatze nicht gewesen, hätte er mit den langen, weißen Haaren und dem weißen Bart in seinem roten Schneeanzug gut einen Weihnachtsmann spielen können, wenn auch einen etwas ausgehungerten. »Kommt ruhig her, wir tun euch nichts«, rief er und murmelte dann kaum hörbar: »Auch wenn ich geschlechtsbedingt ein Risikofaktor bin.«
Brikenda warf ihm einen scharfen Blick zu.
Eine der beiden Ankömmlinge, die die schulterlangen, dunkelbraunen Haare offen trug, schien mit einem Kopfwink die mit den zusammengebundenen Haaren zum Weitergehen aufzufordern. Diese schüttelte energisch den Kopf, sodass ihr Pferdeschwanz wedelte, doch als die Erste sich in Bewegung setzte, folgte sie ihr widerwillig. Ein paar Schritte entfernt hielten sie wieder inne. Sie glichen sich tatsächlich aufs Haar, beide hatten sogar, im flackernden Schein des Lagerfeuers zu erkennen, die gleichen, seltenen grünen Augen.
»Ich heiße Brikenda, das ist Cecilie.«
»Juna«, antwortete die mit den offenen Haaren und warf der anderen einen Blick zu, die leise »Maja« sagte.
Alix hob zwei Kisten vom Schlitten und stellte sie neben das Feuer. »Setzt euch doch und wärmt euch etwas auf. Ihr seid nicht gerade passend gekleidet für dieses Klima. Alix, übrigens.« Er hängte ein paar Teebeutel in den Kessel.
Juna setze sich auf eine der Kisten und reckte die Hände zum Feuer.
Maja folgte zögern ihrem Beispiel. »Wir … sind nicht von hier.«
»Unsere Sachen sind gestohlen worden«, sagte Juna.
Alix lachte. »Nicht von hier? Nicht von diesem v-verdammten Planeten?« Ernst fuhr er fort: »Gestohlen? Dann habt ihr andere Überlebende getroffen?«
»Überlebende?« Juna sah ihn fragend an.
Alix schüttelte irritiert den Kopf. »Zombies werden es nicht gewesen sein.«
»Oh, nein, nein, natürlich nicht«, beeilte Juna sich, zu versichern. »Wir haben hier weit und breit keine Zombies gesehen.«
Wieder lachte er. »Dann bin ich ja beruhigt.« Sein Lachen verflog. »Wobei, sind wir nicht alle irgendwie Zombies, wandelnde Tote?«
Cecilie hatte die Neuankömmlinge die ganze Zeit angestarrt, ohne ein Wort zu sagen. »Seid ihr Klone?«, fragte sie jetzt. »Oder … Mutanten?«
Nun waren die beiden irritiert. »Zwillinge«, erwiderte Juna zögernd. »Wir sind ganz normale Zwillinge.«
»Eineiige Zwillinge«, ergänzte Maja. »Also natürliche Klone gewissermaßen, ja.«
»Oh.« Cecilie schien beinahe enttäuscht. »Tee?«, fragte sie. Sie nickten. Cecilie holte ein paar Tassen vom Schlitten, verteilte sie und goss die dampfende Flüssigkeit ein. Wie einstudiert legten sie alle die Hände an die heißen Trinkgefäße.
»Danke«, sagte Juna. »Wir haben schon länger nichts mehr … gegessen.«
Alix hob die Brauen, kramte zwei Dosen Kidneybohnen aus einer der Kisten und warf sie ihnen zu.
Maja verschüttete, als sie rasch die Hand von der Tasse nahm, um zu fangen, etwas Tee, der sich in den Schnee fraß wie Alleskleber in Styropor. Juna klemmte die Dose zwischen die Knie, um den Deckel abzureißen, Maja dagegen stellte die Tasse neben sich auf der Kiste ab, dann schaufelten beide den Doseninhalt, Kidneybohnen samt Flüssigkeit, in sich hinein, als wären sie am Verhungern. »Danke«, sagte nun Maja, und ihre Schwester schloss sich ihr an.
»Natürliche Klone gewissermaßen«, sagte Alix. »Ich mag deinen Humor, Maja.« Dann verzog er das Gesicht, sprang auf und lief hinter die nächste Tanne. Sie hörten Würgegeräusche, er erbrach sich. Nach einer Weile schlurfte er wieder zurück, spülte den Mund mit Tee aus, legte sich auf den Schlitten und schloss die Augen.
»Ihr seid selbst schuld, wenn ihr keine Globuli nehmen wollt«, sagte Cecilie. »Arsenicum album C30 hilft wunderbar gegen Erbrechen.«
Alix stöhnte. »Ja, weil deine in magischem Wasser getränkten …«, er keuchte, »… f-fuck Zuckerkügelchen dir so gut helfen«, sagte er kurzatmig. »Taugen nicht mal, um den v-verdammten Tee zu süßen. Ah, V-verzeihung, dadurch wären sie ja noch stärker verdünnt und damit ein achtel Molekül enthalten, also v-völlig überdosiert.«
»Allerdings, natürlich helfen sie. Ich habe mich heute erst einmal übergeben.«
»Ich würde es statt mit Placebos auch eher mit Medikamenten versuchen«, sagte Maja vorsichtig.
»Sicher, ich gehe eben mal rasch in die Apotheke«, zischte Alix. »Ich glaube, das mit dem Humor nehme ich zurück.«
»Oder wenigstens Hausmittel«, fuhr Maja unbeirrt fort. »Trockene, stärkehaltige Lebensmittel können Erbrechen vorbeugen, Zwieback, Knäckebrot, Toast, Cracker, Salzstangen … Ein gutes Hausmittel gegen Übelkeit ist Ingwer, egal ob als Ingwertee, frisch gerieben, als Bonbon oder kandiert. Oder Zitronen.«
Alix stöhnte wieder. »Klar, auf dem Weg zur Apotheke schaue ich im Supermarkt vorbei.« Schwer atmend richtete er sich auf. »Das heißt, wir müssten doch noch irgendwo …« Er kramte in einer der Kisten auf dem Schlitten und zog eine fast leere, kleine grüne Glasflasche heraus, schraubte den gelben Verschluss ab und goss den Rest des Zitronensafts in seine noch immer dampfende Teetasse, dann nippte er daran.
Cecilie zog eine Gitarre vom Schlitten und schlug probeweise die Saiten an. Die E-Gitarre klang – ohne Strom – kaum lauter als Mäuschen, die in einem Klavier tanzen. Dennoch begann Cecilie zu singen:
»Die Erde hatte dreimal Krieg.
Der vierte wird der letzte sein.
Gibt nur Verlierer, keinen Sieg.
Das schwere Wasser wahrt den Schein.«
Die Gitarre hätte kaum raschelndes Papier übertönt, umso lauter und klarer klang Cecilies Stimme. Gesangstalent war ihr offenbar angeboren.
»Beherrschst du wirklich nur diese beiden Akkorde?«, fragte Brikenda leise.
Unbeirrt sang Cecilie weiter:
»Die Rüstung sitzt am Tisch der Welt
Statt Kindern, die vor Hunger schrei’n.
Für Waffen fließt das große Geld.
Das schwere Wasser wahrt den Schein.«
Das Feuer hatte das Holz zum großen Teil verzehrt, Juna legte ein paar Scheite nach. Wieder erhellte ein Blitz den Himmel, doch Donner war nicht zu hören.
»Raketen steh’n vor unsrer Tür,
Die soll’n zu unserm Schutz hier sein.
Auf solchen Schutz verzichten wir.
Das schwere Wasser wahrt den Schein.«
Eine kalte Träne rann über Cecilies Wange, sie wischte sie rasch mit dem Handrücken beiseite.
»Die Bombe die kein Leben schont,
Maschinen nur –«
»Hör auf!«, fuhr Alix sie an. »Halt einfach den Mund! Wären die Maschinen, die KIs in den Raketen wirklich auch nur halbwegs intelligent gewesen, hätten sie sich auf die v-verfluchten Regierungen gestürzt!«
Verärgert warf Cecilie die Gitarre auf den Schlitten.
»Entschuldige«, sagte Alix. Sanfter ergänzte er: »›Das schwere Wasser wahrt den Schein‹, weißt du überhaupt, was du da singst?«
Cecilie zuckte mit den Achseln. »Schweres Wasser ist eine Metapher für eine schwere Last auf den Schultern. Man muss den Schein wahren, selbst wenn die Aufgabe oder Verantwortung sehr anspruchsvoll oder belastend ist.«
Einen Augenblick schwieg Alix. »Das Deuteron«, widersprach er dann, »der Atomkern des Wasserstoffisotops Deuterium, enthält zwei Nukleonen: zusätzlich zum Proton ein Neutron. Wasser mit diesem Isotop ist also schweres Wasser. Das Deuteron taucht aber aufgrund der grob abweichenden Frequenz in Kernspinresonanzspektren für Wasserstoffatome nicht auf. Zugabe von etwas schwerem Wasser lässt daher Linien im Spektrum einer Probe verschwinden, die von H-Atomen stammen, welche innerhalb der Relaxationszeit …« Er verstummte. »Egal. Das schwere Wasser wahrt den Schein. Witzigerweise schmeckt schweres Wasser süßlich.« Er starrte in die Flammen. »Ganz davon abgesehen hieß es in der ursprünglichen Fassung des Lieds: …Das weiche Wasser bricht den Stein.‹