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Ein sinnloser Winter im Bademantel - Diagnose: Depression. Die Künstlerseele ist noch umtriebig und ruft: "Alles muss raus!". Schamhaftes Verstecken hinter einem Pseudonym - eine von Demut zerfressenen Kunstfigur. Die Figur ist bissig, verwirrt und wahrhaftig. 'Ki Apfel' schreibt Briefe, die nie ankommen - ein Tagebuch der Depression.
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Seitenzahl: 144
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Horst Grabosch wurde 1956 in Wanne-Eickel geboren und studierte bis 1979 Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft in Bochum und Köln. 1984 schloss er ein Studium zum Orchestertrompeter an der Folkwang-Musikhochschule in Essen ab. Bis 1997 arbeitete er als freiberuflicher Musiker und musste nach einem Burnout diesen Beruf aufgeben. Danach absolvierte er eine Umschulung zum Informationstechnologen bei Siemens-Nixdorf in München und arbeitete als freiberuflicher Informationstechnologe. Heute lebt er als Produzent von elektronischer Musik und Schriftsteller im bayerischen Oberland.
Vorwort
Ki Apfel’s Begriffswelt der ‚Anstalt‘
Meine Intensivgruppe
Alpine Wintersport-Therapie
Lehrer - Gipfel der Schöpfung
4-Schanzen-Tournee
Die aktuelle Gerwaltdiskussion
Bankenwesen für Dummies
Patientenbund auf Reisen
Nachdenker und Häuserplaner
Die Sache mit der Zeit
Ein böser Traum
Internet im Anstaltsnetz
Drei Arten von Glück
Routine mit Sorgenbriefen
Alkohol und Nebenwirkungen
Über Zeitschleifen
Schwarze Löcher
Vom Dschungelcamp
Anstaltswetter
Der Migrationskoch
POBITU als Scheinunternehmer
Farben und Wahlaussagen
Die Dankrede
Das Parlament
Buntschattenseher
Opernball im Himmel
Karneval für Patienten
Party ohne Alkohol
Ärzte und Orden
Arztprotest
Kinderseelen auf Wanderung
Washington, Antimaterie und Seele
Eisberg und Gegenschlag
Die Jubiläumsrede
Nerven wie Drahtseile
Was ist Gott?
Krankheit und ICH
Datenschutz für Bettnässer
Vermurkste Geschäftsgründung
Die Vertriebsidee
CD ohne Musik
Auswirkungen des Klimawandels
Auswahl des Urlaubsortes
Politiker in Talkshows
Plötzliches Hochwasser
Vorteile des Elektrosmogs
Steuereinnahmen durch Rauchzwang
Bleierne Müdigkeit
Naturgenuss auf Trümmerbergen
Kinder der Katastrophe
Ordnung im Chaos
Verdrängte Angst
Everybody’s Darling
Vertriebserfolg mit Toten
Tod oder Anstalt
Stoffhamster für die IKB
Der Fall Golgatha
Osterkampf beim Discounter
Nachwort
Dieses Buch handelt von Depressionen. Zur Jahreswende 2007/2008 hielt mich eine akute Depression fast 4 Monate in einer seelischen Gefangenschaft.
Das Schreiben von Briefen schien mir eine geeignete Therapie neben der Medikation zu sein. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, in meiner oberbayerischen Kleinstadt in einer offenen ‘Anstalt‘ zu weilen. Zur Überhöhung der Texte schuf ich die doch sehr verwirrte Figur Ki Apfel, den fiktiven Autor der Briefe.
Dass ich nicht weit entfernt von einer richtigen Anstalt war, stellte sich zwei Jahre später bei einem schweren Rückfall dar, der mich tatsächlich zur Behandlung in die Psychiatrie zwang. Erst jetzt, mit Hilfe einer intensiven Gesprächstherapie, weiß ich, wie viel Wahrheit in den Briefen steckt. Diese Wahrheit war für mich aber nicht greifbar und zu verarbeiten. Die wahre Krankheit liegt tiefer und verborgener als ich mir jemals vorstellen konnte.
Heute muss ich feststellen, dass das Thema Depression von noch größerer Brisanz ist als neuere Statistiken ohnehin schon andeuten. Durch neue, leicht verfügbare Informationen können wir die Welt immer detaillierter erkennen. Ein Lügengebäude nach dem anderen bricht zusammen und es zeigt sich eine Höllenfratze, die wir immer schon erahnten, aber erfolgreich in den Tiefen unserer Seelen verschüttet haben.
Wenn die Hölle unserer Kindheit und die Hölle der Welt sich vereinen, bricht die tief sitzende Krankheit aus. Das einzige Kraut, das der Krankheit dauerhaft gewachsen ist, müssen wir uns neu erarbeiten.
Es heißt ‘Lust & Liebe‘. Wenn die Lust auf das Leben und die Liebe zum eigenen inneren Kind wieder zur Triebfeder unseres Verstandes werden, sind wir endlich wieder Mensch.
Die Ironie der Briefe signalisiert aber auch eine gewisse Leichtigkeit im Umgang mit den Seelenqualen. Diese Leichtigkeit wünsche ich dem Leser bei aller Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Schmerz.
Organisation -Eine Art Geheimbund der Reichen und Mächtigen. So etwas, wie die ‘High Society‘. Man gehört dazu, oder nicht – man versteht sich.
Patienten- Alle vom Leben Gebeutelten und Gescheiterten. Nicht zuletzt am gesellschaftlichen Status erkennbar. Sie sind das Gegenteil von ‚Freien Bürgern‘.
Freie Bürger- Alle erfolgreichen oder gut situierten Menschen – vergleichbar mit dem so genannten Mittelstand. Sie müssen sich keine Sorgen um ihr Auskommen machen, weil sie bei der Organisation fest angestellt sind.
Neutrinos- Sie sind nicht so recht fassbar und entziehen sich der klaren Einordnung.
Intensivgruppe- Entspricht der Familie. Durch den Geisteszustand des Patienten erscheint sie jedoch seltsam fremd.
Hamsterrad- Ist die Arbeitsstelle von Patienten. Der Lohn entspricht in keiner Weise dem Aufwand der Patienten. Sie haben keine Rechte und werden von der Organisation nach Belieben schikaniert.
schwarze Zahlen–rote Zahlen- Patienten haben gar kein echtes Geld. Es sind nur Zahlen auf dem Bankautomaten, die kaum zum Überleben reichen. Bei Patienten sind sie chronisch rot.
Jungbürger- Wenn die Kinder gerade erwachsen sind, werden sie zu Jungbürgern. Ein augenzwinkernder Hinweis auf das Verhalten von noch in elterlicher Wohnung residierender Neuschlaumeiern – dennoch innig geliebt!
Anstaltsfernsehen- Wenn die Fernsehanstalten der ‘Organisation‘ reale und fiktive Informationen mischen, oder wenn es besonders absurd oder manipulativ wird, ist es Anstaltsfernsehen.
Pobitu- Patient ohne Beschäftigung in therapeutischer Unternehmerfunktion. Eine kritische Betrachtung der Unternehmensgründungen aus Hartz 4 – ICH-AG.
Liebe Mutter,
Du bist schon vor vielen Jahren gestorben. Aber da die anderen Briefe auch nie ankommen, schreibe ich dir trotzdem.
Ich weiß natürlich, dass Mütter sich hauptsächlich für die Familie interessieren. Nun, da muss ich dich einerseits enttäuschen, aber andererseits auch wieder nicht. Also eine richtige Familie mit Streitereien, Fremdgehen, Scheidung und so was, habe ich nicht. Aber eine Intensivgruppe, die einer echten Familie täuschend ähnlich ist. Lass mich doch einfach von meiner Intensivgruppe erzählen.
Ich habe eine Frau und ein Kind in meiner Wohnung. Ein Junge, der für sein Alter schon ziemlich ausgeschlafen ist. Ich glaube, dass er ein Mensch gewordener Alien ist, weil er unentwegt am Computer mit Außerirdischen kommuniziert. Jedenfalls habe ich ihn in mein Herz geschlossen und mache mir auch so richtig Sorgen, wie im realen Leben. Der Unterschied zwischen virtuellem Leben und realem Leben dürfte gerade dir ja nicht fremd sein.
Interessant ist aber das vierte Mitglied. Ursprünglich war er das erste Kind, aber die werden ab einem gewissen Alter zum Jungbürger übernommen. In dieser Übergangsphase werden wir intensiv ruhig gestellt, damit wir das ganze Theater verkraften.
Dann hast du eines Morgens einen jungen Erwachsenen für zwei bis drei Jahre in der Wohnung. Natürlich beansprucht der seinen eigenen Wirkungsraum und schnauzt dich manchmal auch richtig an, aber das ist ja normal bei Jungbürgern.
Ich glaube, dass das eine spezielle Therapiephase ist, wo getestet wird, wie stabil die Patienten sind. Gewöhnlich hören die Jungbürger immer laute Musik, was dir natürlich furchtbar auf den Wecker geht. Sie benutzen dein Rasierwasser und sind sehr raumgreifend.
Aber wir sind ja so behandelt worden, dass wir das ertragen können. Wir wehren uns nicht wirklich, sondern tun nur so, damit wir das Therapieziel erreichen. Wer weiß, was passiert, wenn wir die Prüfung nicht bestehen? Ich habe da schon so manches gehört. Manchmal wird dann auch so etwas wie eine Scheidung inszeniert, und der Patient wird in eine andere Anstalt verlegt.
Ich will natürlich meine Ruhe haben, deshalb mache ich alles geduldig mit. Jungbürger ist in der Anstalt mit Sicherheit die beste Position. Sich so richtig scheiße zu benehmen, gehört quasi zu seinem Job. Natürlich muss die Intensivgruppenfrau seinen ganzen Dreck wegmachen. Das ist einfach so. Und damit wären wir bei der Frau.
Intensivgruppenfrau ist der beschissenste Job, den ich mir vorstellen kann. Stell dir vor, du musst fast lebenslang mit einem Patienten leben und dann auch noch die Kinder betreuen. Da kommst du kaum zur Ruhe.
Ich liebe meine Intensivgruppenfrau wirklich sehr. Damit es nicht zu Übergriffen der männlichen Patienten kommt, werden die aber so im Hamsterrad rangenommen, dass den meisten jede Lust vergeht.
Ich habe natürlich einen Höllenrespekt vor der Intensivgruppenfrau. Meistens nimmt die mich auch im Alltag ziemlich hart ran. Dann muss ich auch im Haushalt helfen, obwohl ich mit meiner Arbeit im Hamsterrad noch nicht fertig bin. Aber was soll‘s, ich kann mich ja abends beim Anstaltsfernsehen erholen.
Hallo Ralf,
lange nicht gesehen. Ich erkläre dir nicht lange meine Situation, das interessiert dich ja ohnehin nicht.
Aber da du dich doch sehr für Sport interessierst, muss ich dir von einem skurrilen Tag in meinem Leben erzählen. Zugegeben hat es viele skurrile Tage in meinem Leben gegeben, aber die meisten hatten nichts mit Sport zu tun.
Wenn dir einige Begriffe seltsam vorkommen, lies einfach darüber weg. Ich bin nämlich in so einer Art offenem Vollzug, einer Anstalt. Das wird dich wohl nicht weiter wundern, hast du doch immer schon gemeint, ich gehörte in eine Anstalt.
Diese Anstalt hat aber nichts mit den geschlossenen Anstalten gemein. Ich erzähle dir vielleicht in einem anderen Brief einmal mehr darüber. Nun zum Thema Sport. Damit wir Patienten nicht ganz einrosten, gibt es hier ab und zu Sport-Therapien. Neulich hatten wir eine alpine Wintersport-Therapie. Natürlich sind Betreuer immer dabei, allein geht nicht.
Wir hatten einige schöne Wintertage in der Anstaltsregion und schon ging es eines Tages ab mit der Intensivgruppe zur Sport-Therapie, in ein Skigebiet. Natürlich eines in der Nähe und auch fluchtsicher in einem Hochtal gelegen. Vor der Zufahrt war sogar ein Schlagbaum, wo man Geld bezahlen musste. Alles ist dort voll durchorganisiert mit Chipkarten und so. Eigentlich sind die Skigebiete den freien Bürgern vorbehalten, aber zur Therapie dürfen wir auch mal mitmachen.
Man kann Patienten und freie Bürger natürlich sofort an der Skiausrüstung erkennen. Ich sah mit meinen alten Skisachen anders aus, als die freien Bürger. Bei denen stehen die Marken auf der Ausrüstung. Vielleicht kennst du einige: Bogner, Head, Boss und so. Ich habe nur ein Schild innen in der Jacke, wo ‘100 % Polyester‘ draufsteht.
Aber meine Skier sind prima. Die sind erst 10 Jahre alt. Ich habe sie von einem Betreuer geschenkt bekommen. Sie sind auch beschriftet, aber die Schrift kann man nicht mehr lesen, weil sich natürlich Betreuer und freie Bürger das Recht nehmen, am Lift über die Skier der Patienten zu fahren.
Der Witz ist ja, dass sie die sofort an der Ausrüstung erkennen und auch weil die viel leiser und scheuer sind. Na ja, als Patient kann man eben keine Ansprüche stellen. Der Schwanz wedelt ja auch nicht mit dem Hund, oder?
Jedenfalls hatte ich, wenn auch in mich gekehrt, viel Spaß an der Therapie. Während die freien Bürger ja diese ‘Alles-geht-Chipkarten‘ haben, konnte ich mir nur eine Patientenpunktekarte leisten, weil man ja aus therapeutischen Gründen die Liftfahrten für die Familienangehörigen auch noch selbst bezahlen muss. Aber ich durfte auch zwei Mal den Berg runterfahren.
Während die anderen mehrere Fahrten machten, musste ich oben auf dem Berg warten. Es war eine wirklich tolle Aussicht. Ich konnte sogar freien Bürgern bei der Brotzeit vor der Skihütte zusehen. Natürlich wird es etwas kalt, wenn man so eine Stunde auf dem Berg steht.
Die Skisachen sind ja auch nicht die Besten. Aber denk doch einmal, zwei Fahrten, das ist doch wirklich schon eine tolle Sache, oder?
Jedenfalls war ich doch etwas durchgefroren, als wir nach 4 Stunden wieder abgeholt wurden. Toll war aber, dass es daheim im Anstaltsfernsehen auch noch Wintersport gab. Ich bin ja jetzt bescheiden geworden und finde Sport im Anstaltsfernsehen fast genauso schön wie echten Sport.
Wahrscheinlich ist das auch das Therapieziel. Wenn du mal ordentlich rangenommen wurdest von den Sportbetreuern, und gefroren hast wie ein Schneider, dann werden deine Ansprüche automatisch reduzierter.
So Sportskanone, jetzt muss ich wieder arbeiten.
Liebe Dubi,
meine Lieblingsveranstaltung ist die Jahreseinführung zum Klassenwechsel. Da treten dann die Lehrer auf. Wenn du aber glaubst, dass die da so richtig selbstbewusst den Larry raushängen lassen, wie man es von einem Lehrer ja erwartet, dann hast du dich getäuscht. Einige nölen da ganz in sich gekehrt etwas von Sporthallenbelegung und so, oder sie nesteln minutenlang am Projektor herum, der den Plan an die Leinwand werfen soll. So gar kein Unterschied zu den Patienten, obwohl sie doch zu den freien Bürgern gehören.
Jedes Jahr tappe ich in die gleiche Falle und denke, dass gleich einer aufsteht und vielleicht so etwas rauslässt:
„Hallo liebe Besorgte eurer Schutzbefohlenen. In diesem Jahr wollen wir die Kinder mal so richtig für Lernen begeistern.
Wir werden mit ihnen in fremden Zungen reden und dabei unendliche Freude haben. Das Universum wird unser bester Freund, weil wir in Chemie, Physik und Biologie den Atem des Lebens spüren werden. In Philosophie und Religion werden wir dem Sinn unseres Daseins auf den Spuren bleiben und in Deutsch werden wir Tränen des Glücks über die Schönheit unserer Sprache vergießen.
Die Mathematik soll uns die Eleganz und Macht unseres Gehirns aufzeigen und im Sportunterricht werden wir einen Riesenspaß an der Bewegung unserer Körper haben. Die Soziologie wird uns das Fremde näher bringen und uns aufzeigen, wie man respektvoll und freundschaftlich miteinander umgeht.
Schließlich werden wir eure Kinder kostenlos das Musizieren lehren und unserer Fantasie in der Malerei freien Raum geben. Im Theater werden wir Stücke einstudieren und die gemeinsame Arbeit an der Menschwerdung wird uns beglücken und für immer und ewig freundschaftlich zusammenschweißen.“
Stattdessen höre ich:
„Morgen wird das Büchergeld eingesammelt. Bitte geben Sie Ihrem Kind 40,- Euro mit. Nächste Woche machen wir eine Klassenfahrt zum Spaßbad. Das kostet 8,- Euro. Überweisen Sie dann 10,- Euro Kopiergeld bis zur nächsten Woche und kaufen Sie 30 Hefte in den vorgeschriebenen Farben.
Falls eine Zahlung versäumt wird, muss das Kind nachsitzen oder 100 Mal irgendeinen Schwachsinn schreiben. Wir können Ihnen jetzt schon garantieren, dass das Kind oft weinend nach Hause kommt, weil wir einen Lehrplan einzuhalten haben. Es wird eine verdammt schwere Zeit für uns alle.“
Das nennen die dann ‘Pädagogik‘. Gott steh uns bei.
Lieber Vater,
es wird dir nicht gefallen, dass ich in der Anstalt gelandet bin, aber du brauchst nicht traurig zu sein. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Alle Patienten sind gut drauf, ruhig und gelassen.
Für unseren Lebensunterhalt ist gesorgt, auch wenn wir unglaublich viel dafür arbeiten müssen. Aber so sind wir von der Straße und kommen auf keine dummen Gedanken. Ich habe jetzt fast gar keine Wut mehr und liebe es, Anstaltsfernsehen anzuschauen. Das beruhigt mich total und versöhnt mich mit dem Universum.
Letztens gab es tolle Sendungen vom Wintersport. Ich weiß ja nie so genau, was auch im Realfernsehen gesendet wird, weil die das hier ganz geschickt mischen. Das ist doch klar. Wenn den Patienten die ganze Zeit bewusst ist, dass sie in der Anstalt leben, kann es schnell einen Aufstand geben. Aber da sind wir weit von entfernt. Die meisten Patienten wissen gar nichts von der Anstalt.
Du kennst mich ja. Ich denke eben gern viel nach und durch die dauernde Grübelei weiß ich etwas mehr als die anderen. Aber ich habe mich hier prima eingefügt. Es ist auch alles eigentlich in Ordnung und die Sendungen von der 4-Schanzen-Tournee waren wirklich toll.
Ob das jetzt echt war, kann ich ja nicht beurteilen, aber dieses Jahr war es nur eine 3-Schanzen-Tournee. Vielleicht ist ein Sponsor abgesprungen, oder etwas anderes. Sie haben es natürlich so gedreht, dass das Wetter nicht richtig war. Bei uns in der Anstalt war das Wetter o.k., aber es war schon etwas windig.
Das Wichtigste beim Skispringen ist ja der Wind. Leider gibt es richtigen Wind und falschen Wind. Das ist wie beim Radfahren. Du kennst das ja. Wenn der Wind von vorne kommt, ist es falscher Wind, wenn er von hinten kommt, ist es richtiger Wind. Das Lustige ist aber, dass es beim Skispringen genau umgekehrt ist.
Wenn der Wind von hinten kommt, plumpsen die wie Kartoffelsäcke auf den Aufsprung und es kommt gar keine richtige Todesgefahr auf. Wie beim Autorennen spielt ja Todesgefahr auch eine wichtige Rolle beim Skispringen. Jetzt wird das ja alles immer sicherer. Hoffentlich verlieren die Zuschauer nicht das Interesse, wenn gar keine Todesgefahr mehr da ist. Aber dann können sie ja immer noch Boxen gucken.
Jedenfalls ist es jetzt wie früher, als sich alle gefreut haben, wenn ein deutscher Springer überhaupt ins Finale kommt. Gewonnen hat übrigens ein alter Finne. Jedenfalls wurde der im Anstaltsfernsehen als uralt verkauft, obwohl er erst 30 Jahre alt ist. Ich finde 30 Jahre ja nicht unbedingt alt, aber Turnerinnen sind ja schon mit 18 steinalt.
Allerdings kann man mit 40 auch nicht mehr zum freien Bürger wechseln, selbst wenn man total lieb ist und 100 Diplome hat. Wer nicht von Jugend an direkt als freier Bürger aufwächst, muss eben draußen bleiben. Wer dann noch frech wird, kommt in die Anstalt, so ist es nun einmal, da kann man nichts machen.
Erinnerst du dich noch an den Engländer, der gar nicht Ski springen konnte. ‘Der Adler‘ wurde er genannt. So kann man es natürlich schaffen, weil der wirklich ständig in Todesgefahr war. So etwas liebt der Zuschauer. Entweder reich oder dem Tod geweiht. War ja im alten Rom schon so.
Jetzt muss ich mal schauen, ob es heute eine Sportveranstaltung mit Todesgefahr im Anstaltsfernsehen gibt. Unsere Therapeuten finden das in Ordnung, dass wir solche Sendungen sehen. Das lenkt prima ab.
Lieber Rolf,
lange nicht gesehen, was? Ich muss dir mal was Wichtiges schreiben. Leider wirst du den Brief nie bekommen, weil er von der Anstaltsleitung abgefangen wird, haha. Ich bin ja wohl einer der Wenigen hier, die das wissen, weil ich so viel nachdenke. Aber die lassen mich machen, ich bin ansonsten auch ganz ruhig.