Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Schlüssel der Zeit liegt vor uns; lockend und mahnend zugleich. Er ist nur ein Instrument, ein Gegenstand, der uns Möglichkeiten aufzeigt. Er ist eine von vielen Gegebenheiten, die uns im Laufe des Lebens ereilen werden, aber keine Antwort darauf, was wir tun sollten. Es liegt an uns, ob wir ihn an uns nehmen und weitergehen, oder ob wir an Ort und Stelle verharren, ob wir uns gegenüber den Eventualitäten verschließen oder uns öffnen. Das Leben beinhaltet so viele verschiedene Optionen, dass es manchmal nicht so leicht ist, sich zu entscheiden. Wichtig ist nur, dass wir es tun. Der Schlüssel wird nur so lange existierten, solange wir leben.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 183
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Weitere Titel des Autors:
Schwarze Tränen -Seelensplitter
Tränenspiele - Kompass des Lebens
Domenic Blair
Seelenweg
Schlüssel der Zeit
Anthologie
© 2022 Domenic Blair
Umschlag, Illustration, Fotos: Pixabay/Simone vom Feld
Domenic Blair/Thomas Willems
Lektorat, Korrektorat: Domenic Blair
Buchsatz: Domenic Blair/Thomas Willems
Verlagslabel: Thorson
ISBN Hardcover: 978-3-347-80594-1
ISBN e-Book: 978-3-347-81068-6
Druck und Distribution im Auftrag des Autors/der Autorin:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice “, Halenreie 4044, 22359 Hamburg, Deutschland.
Inhalt
Vorwort
Abschiedslied
Öffne deinen Geist
Der Junge und der Baum
Ein wahrer Krieger
Die Legende
Seelenleid
Tradition
Der Spiegel
Die Fanfaren der Sterne
Erdbeermund
Gedanken über Gedanken
Die goldene Feder
Lemminge
Zwischen den Fronten
Absturz ohne doppelten Boden
Marginal
Die Farben des Lebens
Abschied für immer
Abstrakte Kunst
oder der feine Unterschied
Gefährte in der Nacht
Sterne leben nicht ewig, aber sie überdauern vieles
Schlafende Herzen
Alles vergessen
Dunkle Triebe
Der Rabenkönig
Die fünf Elemente
Der Wald
Armageddon
Niemals
Schattenwächter
Fegefeuer
Im Marschschritt vorweg
Der Landstreicher
Die weiße Taube
Dein Lächeln
Der Moment
Tränenspiel
Die Toten
Purple Heart
Mein Lebenselixier
Das Findelkind
Semper Fidelis
Der wahre König
Zeitzeuge
Verstopfte Wege
Das Leben nach dem Leben
Wer sucht der findet
Zukunftsgedanken
Gedanken ordnen
Im Angesicht des Lichtes
Nicht für immer
Alles ist so, wie es ist
Seelenfunken
Strudel der Zeit
Aus deinen Augen
Kleine blaue Murmel
Die Runen der Liebe
Für Draga
Ruhe in Frieden
Deine Stimme
Kaleidoskop der Liebe
Lang lebe die Königin
Nachwort
WIDMUNG
Für die, die ewig in unseren Herzen verweilen
In Gedenken an Claas, einen guten Freund, der viel zu früh von uns gegangen ist.
In Gedenken an Dawid, einen sehr lieben
Menschen, den ich nie vergessen werde.
Vorwort
Das Leben schreibt viele Geschichten. Manche sind melancholisch und erdrückend, und andere wiederum sind aufbauend und erheiternd zugleich. Jede Geschichte hat ihren Weg. Zunächst ist sie bloß eine Idee, ein Buchstabe, der noch nicht ganz weiß, wohin er will, bis er zu einem Wort heranwächst und sich so immer mehr Buchstaben aneinanderreihen. Diese Buchstaben füllen Sätze und erzählen am Ende eine Geschichte. Der Weg dahin ist nicht immer leicht, und man verrennt sich in Ideen, versucht alles, um die Geschichte voranzutreiben, bis man merkt, dass man sich auf dem falschen Weg befunden hat. Und so wie man sich in den Geschichten auf dem falschen Weg befinden kann, so ist es im wahren Leben auch.
Man fällt eine falsche Entscheidung und schon ist man vom Weg abgekommen. Jede Abzweigung, die wir gehen, für die wir uns entscheiden, ist wichtig. Denn nur so lernt man dazu. Mit der Zeit bekommt man zwar ein Gefühl, welche Wege richtig sind, dennoch entscheidet man sich immer wieder anders. Aber das ist nicht schlimm, denn niemand von uns ist perfekt.
Das Leben schreibt viele unterschiedliche Geschichten.
Denn so ist das Leben.
Einzigartig.
Abschiedslied
So lass mich los,
lass mich gehen,
lass meine Tränen dort, wo sie sind.
Deine Hand in meiner,
das ist alles, was ich spüren will,
alles, was mich glücklich stimmt.
So lass mich endlich los,
auch wenn es wehtut, so lass mich gehen,
lass die Tränen dort, wo sie sind.
So viele Jahre haben wir miteinander verbracht.
So viele, bis uns der Tod ereilt.
So halte mich fest in deinen Armen
ein letztes Mal.
So will ich singen, nur für dich,
nur für dich.
Bis in den Tod und wieder zurück,
so lange werde ich auf dich warten.
So lass mich von hier fort,
lass mich schlafen in deinen Armen.
Du bist mein Freund bis zum Ende
und bis darüber hinaus.
So lass mich gehen,
auch wenn es wehtut.
So muss es sein.
Bis in den Tod und wieder zurück.
Wenn du eine gerade Straße langgehst, wundere dich nicht, wenn du
nie ans Ziel kommst. Es sind nicht die geraden Wege, die dich @nt@weiterbringen, sondern die Umleitungen und Trampelpfade.
Denn geradeaus gehen kann jeder.
Öffne deinen Geist
Indem wir unseren Geist öffnen, gewähren wir ihnen Zutritt.
Vage Erinnerungen, die uns lenken. Bilder, aus denen wir noch nie schlau geworden sind, suchen uns heim.
Ein Flüstern, ein Windhauch, der uns ruft, dem wir folgen sollen, da er uns die Wahrheit erzählen kann.
Folgen wir dem Lockruf oder verweilen wir im Grau des Lebens? Jeder Versuch, die Komplexität unseres Selbst zu erkennen, scheitert aufs Neue, aber nur, wenn wir nicht bereit sind, weiterzugehen. Wenn wir jedoch kämpfen und uns daran erinnern, wie groß unsere Seele ist, können wir gewinnen. Dann fechten wir einen Kampf nicht nur mit uns selbst aus, sondern mit all den Seelen, die um uns weilen und darauf warten, uns in den Abgrund zu stürzen, um das eigene Seelenwohl nicht zu gefährden. Sie versuchen, uns zu manipulieren, reden uns ein, dass der Weg, den wir eingeschlagen haben, falsch ist. Doch wenn man sie danach fragt, verstricken sie sich in Unwahrheiten, und ihre Lüge wird aufgedeckt. Diese heuchlerischen Seelen sind es nicht wehrt, dass man um sie weint.
Einst gab es eine Zeit, in der wir an das Alte geglaubt haben, doch diese Zeiten sind schon lange vorbei, fast vergessen, im Strudel der Zeit begraben. Wir trauern ihr hinterher, wissend, dass es nur einen Ausweg für uns gibt.
Findet die Urkraft, die allmächtige Kraft, die in uns und um uns existiert, die für alles Leben verantwortlich ist, und ihr habt euch selbst gefunden. Erst dann seid ihr bereit, über euch hinauszuwachsen, um die weitentfernten Gegenden des Seins kennenzulernen.
Die Reichhaltigkeit der Ernte bezieht sich
darauf, wie viele sie säen.
Der Junge und der Baum
Mein Großvater hatte mir den Setzling einer Eiche, den er in einem himmelblauen Übertopf gepflanzt hatte, zu meinem achten Geburtstag geschenkt. Einer der kleineren Exemplare aus seinem Garten, die besonders schön anzusehen waren.
Er war ein kluger Mann, der zu anderen Menschen immer freundlich und zuvorkommend war. Er lebte nicht wie meine Eltern, mein Bruder und ich in der Großstadt, sondern auf dem Land, wo er Rosen züchtete. Doch die wahre Liebe galt seinen Bäumen. Große, prächtige Bäume, von denen einige sein Haus überragten.
Als er mir die Pflanze schenkte, sagte er: „Gib auf sie Acht und sie verweilt, wenn du Glück hast, dein ganzes Leben an deiner Seite. Sie ist etwas Außergewöhnliches!“
Ich versprach ihm, mich liebevoll, um sie zu kümmern. So wie er es mit den seinen tat, und stellte den Setzling auf meinen Schreibtisch, der am Fenster stand, wo er genügend Sonne bekam. Ich erfreute mich mehrere Jahre an ihm. Bis zu dem Tag, als mein Großvater mit neunundneunzig Jahren von uns ging.
Ab dem Moment schien der Baum, wie ich zu trauern.
Obwohl ich mich aufopferungsvoll um ihn kümmerte, ihn hegte und pflegte, besserte sich sein Zustand nicht. Daher fing ich vor dem Zubettgehen an, mit ihm zu sprechen. Ich erzählte ihm Geschichten über Großvater, wie er mit mir im Zoo war und mir Fahrradfahren beigebracht hatte. Und von den Tagen am Meer, wo er mit mir zusammen Drachen steigen ließ. Ich erzählte ihm von Großmutter und ihrem leckeren Schokoladenkuchen.
Doch all das half nicht. Es wurde eher schlimmer. Ich befürchtete, dass er wie Großvater sterben könnte. Er verlor immer mehr Blätter und ich wusste mir keinen Rat. Ich war so verzweifelt, dass ich am nächsten Tag zum Blumenhändler um die Ecke ging, und ihm von meinem Anliegen berichtete.
Ranshid Parayas, wie der Verkäufer hieß, verkaufte mir seinen Spezialdünger und riet mir, zwei Kappen davon in den Topf zu geben, und das zweimal in der Woche.
Da ich auf Nummer sicher gehen wollte, schüttete ich am Abend vor dem Schlafengehen statt zwei, gleich drei Kappen in den Untertopf. In der Hoffnung, dass es ihm am nächsten Morgen bessergehen würde.
Ich schlief sehr schlecht; ein Albtraum nach dem anderen plagte mich. Ich träumte davon, wie die Äste des Baumes bei bloßer Berührung entzweibrachen. Schluchzend wachte ich auf und traute mich nicht, das Licht einzuschalten. Aus Angst zu sehen, dass es ihm schlechter ging als zuvor. Erstarrt blieb ich liegen.
„Steh auf“, hörte ich eine Stimme flüstern.
Woher war sie gekommen? Ich zögerte und bewegte mich nicht. „Komm her.“
Wer hatte das gesagt?
„Na ich, Jonas, ich bin es, dein Freund, der Baum.“
Wie vom Blitz getroffen sprang ich aus dem Bett und stolperte in Richtung Tisch. Ich war mir sicher, dass ich mir die Stimme einbildete und begann zu lachen.
„Warum lachst du?“
Ungläubig schüttelte ich den Kopf.
„Bäume sprechen nicht.“
Selbstsicher trat ich an den Schreibtisch heran und schaltete die Tischlampe ein.
„Und warum sollten sie es nicht können?“
„Weil das unmöglich ist.“
Ich traute meinen Augen nicht. Der Baum schien sich tatsächlich erholt zu haben. Der Stamm hatte an Umfang zugelegt und die Äste waren stärker geworden.
„Weil sie nicht sprechen, genauso wenig wie es Tiere tun“, sagte ich und berührte eines der Blätter, das am Abend zuvor gelbbraun gewesen war. „Außerdem werden sie über Nacht nicht einfach größer.“ Das Blatt fühlte sich auf der Unterseite weich und flauschig an, und auf der Oberseite war es glatt und erstrahlte in einem kräftigen Grün. Die Adern, die ich durch das Licht erkannte, erinnerten mich an den Weltenbaum, der alle Lebewesen miteinander verbindet. Großvater hatte oft von ihm erzählt. Es war wie ein magischer Moment und mir lief es eiskalt den Rücken hinunter.
„Du bist sehr schlau Jonas“, hörte ich ihn sagen, auch wenn ich immer noch nicht glaubte, dass er derjenige war, der zu mir sprach. Die Stimme klang freundlich, fast schon so wie die Stimme … Nein, das bildete ich mir ein.
Ich sah mir die Blätter ein weiteres Mal an. Dann schoss mir ein irrwitziger Gedanke, den ich außerstande war zu erläutern, durch den Kopf. Wie viele es wohl waren? Ich zählte sie und war überrascht, als ich das Ergebnis hatte.
Neunundneunzig an der Zahl.
Neunundneunzig sattgrüne, neu gewachsene Blätter, deren Adern zu pulsieren schienen.
Sie waren das pure Leben. Energie!
„Und, was siehst du noch?“
Ich öffnete das Fenster und ließ frische Luft herein. Der Baum schüttelte sich, als ob er einen Kälteschauer bekommen hätte, verlor aber keins seiner Blätter. Dann machte es den Anschein, als ob er seine Äste zur Seite strecken, etwas ergreifen würde.
Ich rieb mir mehrmals über die Augen.
„Wieso kannst du sprechen?“
Er schüttelte sich ein weiteres Mal.
„Warum redest du mit mir?“
„Weil ich dich höre!“
„Ja, und ich rede mit dir, weil ich es kann. Siehst du, wir tun beide etwas, was wir können.“
„Aber wieso?“
„Ich weiß es nicht. Ehrlich, ich habe keine Ahnung.“
Er klang aufrichtig.
„Und, was willst du von mir?“
Für einen Moment herrschte Stille, bis er sich ein weiteres Mal zu Wort meldete.
„Bring mich da hin, wo deine Großmutter begraben liegt. Pflanze mich neben ihr Grab. Dort möchte ich verweilen, bis das Leben in mir neu erblüht.“
„Wieso willst du nicht bei mir bleiben?“
Traurig sah ich zu Boden, spürte ich, wie sich Tränen in meinen Augenwinkeln sammelten.
„Das würde ich wirklich gerne, aber ich gehöre zu deiner Großmutter. So viele Jahre sind ins Land gezogen, ohne sie. Ich möchte endlich bei ihr sein.“
Erst da begriff ich den Sinn hinter seinen Worten.
Der Baum war mein Großvater. Er bot seiner Seele ein Heim, bis er wiedergeboren wurde. Damit sie wieder vereint waren, gehörte er auf Großmutters Grab gepflanzt.
Das Bäumchen raschelte mit seinen Blättern, als ob es sich freuen würde.
„Geht es dir gut?“, fragte ich und berührte eines seiner Blätter, das daraufhin zitterte, wie der Flügel eines Schmetterlings.
Schweigen; ein Flüstern, nur noch eine kleine Melodie in meinem Kopf, und ich wusste, dass die Zeit entschieden hatte, ihn zu meiner Großmutter zu bringen.
Den Baum, den Großvater mir vor ein paar Jahren geschenkt hatte.
In der Tiefe liegt das Wort begraben, das du
suchtest, als du von hier weggingst.
In dem Glauben, dass alles besser wird.
Ein wahrer Krieger
Trommelwirbel,
Feuerfunken,
Axtgeheul und Windesrauschen,
Schwert und Pfeil.
Trommelwirbel,
Wasserplätschern,
Schiff und Segel,
Erdengrummeln,
Schild und Helm.
Im hohen Norden
lebt ein ehrenvoller Krieger
mit reinem Herzen.
Er wacht über Hunderte
über sein Volk.
Über Bauern
und Fischer.
Über Schildmaiden und Krieger,
über Junge und Greise.
Trommelwirbel,
Eulengesang,
Wolfsgeheul
und Adlerrufe.
Geboren als Sohn eines Königs,
erzogen, wie das Kind eines Bauern,
herangewachsen wie ein Krieger.
Mit hocherhobenem Haupte
steht er da,
auf seinem Boote,
mit Axt und Schild bewaffnet,
voller Stolz.
Mit Odins Schutz,
Heimdalls Sicht,
Freyjas Liebe
und Thors Kraft.
Trommelwirbel,
Paukenschläge,
Rasseln im Wind.
Trommelwirbel
zum Abschied ein Tanz.
Zum Abschied ein Tanz.
Die Legende
Es ist eine Legende, die man oft gesehen.
Man erzählt sich Geschichten in allen Ländern.
Man trägt sie vor, man spielt sie nach.
Die Legende lebt.
Vieles ist wahr. Anderes ist ausgedacht.
Die Menschen lachen
und sie weinen.
Die Legende lebt.
Sie ist sehr alt und steht in Büchern, in vielen Texten.
Die Legende lebt.
Kann man ihr glauben, sie verstehen?
Kann man verstehen, was man sieht?
Die Legende ist alt, vergesst sie nie,
es sind Geschichten, die leben.
Nutze das, was dir gegeben, behalte das, was
du kannst, – lerne dazu und mach noch mehr
daraus.
Seelenleid
Der Schmerz sitzt tief verankert.
Aus meinem Herzen spricht
das Leid der anderen,
und auch meines.
Die Welt weint leise,
ohne Worte.
Schau nicht weg,
dreh dich nicht um.
Die Zeit bleibt stehen,
ein Moment.
Aus Worten werden Taten,
aus Taten entspringt der Kummer,
das unendliche Leid.
Die Welt weint leise,
ohne Worte.
Bleib stehen,
geh nicht fort.
Das Begreifen fällt schwer,
Nichtakzeptanz.
Die Sinne verschlossen,
ohne Türen,
ohne Schlösser.
Die Welt weint leise,
ohne Worte.
Helfe denen, die leiden,
reiche ihnen deine Hand.
Schau nicht weg, schau genau hin.
Höre zu und verstehe.
Helfe denen, die Leid erfahren,
kümmere dich um das Seelenleid.
Tradition
Der Kimono, den ich trage, ist mir zu groß und ich habe ihn nur aus traditionellen Gründen angelegt, weil es mein Onkel sich gewünscht hat. Mit angespannten Schultern und einem Kribbeln im Bauch folge ich meinem Onkel, den alle bloß Ly nennen. Er ist ein hochgewachsener Mann mit geradem Rückgrat. Er ist wie ein Meister für mich, zu dem man aufschaut, den man respektiert und achtet.
Es ist das erste Mal, dass ich mit ihm zu Besuch bei Ling May bin, das erste Mal, dass ich das Kirschblütenfest besuche. Ling ist eine der bekanntesten Bonsaizüchterinnen in unserem Dorf, gar in der ganzen Region. In ihrem Garten stehen Hunderte preisgekrönte Bäume, wo jeder schöner als der andere ist. Weltweit verzaubern sie die Menschen. Doch ich interessiere mich nicht für die kleinen zurechtgestutzten Bäumchen, sondern für die großen Kirschblüten, in ihrem zarten Rosa, mit ihrem herrlichen Duft, der mich an das Parfum meiner verstorbenen Großmutter erinnert.
Ich atme tief durch, bevor Ly und ich das im alten japanischen Stil erbaute Haus betreten, welches einst einem mächtigen Mann namens Hung Juai gehörte. Den Legenden nach soll es sich um einen einflussreichen Samurai gehandelt haben. Einen Mann, der sehr viel Aufsehen erregt hatte, indem er Hunderte von Soldaten niedergestreckt haben soll. Es soll sogar im Haus selbst zu einem Kampf um Leben und Tod gekommen sein.
„Yai, sei auf der Hut! Alles, was du sagst, findet Gehör“, meint mein Onkel. „Hung Juai ist überall.“
„Was meinst du?“
Ly lacht und legt mir seine Hand auf die Schulter.
„Es ist der Geist des mächtigen Hung Juai, der dich beobachtet. Egal, was du tust, es bleibt ihm nicht verborgen. Es ist Tradition, beim Erscheinen seines Geistes, sein Haupt ehrfürchtig zu senken. Also pass gut auf, mein Junge. Sollte er dir jemals begegnen, denk daran, dich zu verbeugen. Ansonsten blüht dir Böses und du wirst deines Lebens nicht mehr glücklich.“
Ich nicke, obwohl die Zeiten, in denen ich an Geister geglaubt habe, vorbei sind. Als Kind habe ich an solchen Geschichten meine helle Freude gefunden, doch jetzt, mit meinen sechzehn Jahren bin ich längst aus dem Alter heraus, dass ich diesen Erzählungen Glauben schenken kann.
Als sich die große, schwere Holztür auftut, kommt mir ein süßlicher Geruch entgegen. Mandelblütentee mit Zimt und Rosenblättern. Eine besondere Teesorte, die nur zum traditionellen Kirschblütenfest aufgebrüht wird und den Menschen Glück bringen soll. Den Tee gibt es bei Akaya dem Teehändler, zu kaufen. Ein alter Bekannter meines Onkels. Ein strenger Mann, den Ly sehr schätzt und immer dann zurate zieht, wenn ihn Probleme plagen. Akaya ist der Meinung, dass sein Tee der beste von allen wäre und dass jeder, der ihn trinkt, über hundert Jahre alt werden kann.
Bevor wir die Küche betreten, höre ich ein lautes Scheppern und die Stimme einer hysterischen Frau: „Was hast du getan?“
Ich sehe meinen Onkel fragend an.
„Wahrscheinlich ist etwas heruntergefallen.“
„Aber Ling May, ich nichts können dazu! Ich sein hingefallen. Hier schaut. Ich sein über Stein gestolpert“, höre ich einen Mann, der ausländischer Herkunft ist, sagen.
„Hier ist nichts!“, schimpft Ling. „Du musst dich täuschen!“
„Wie ich doch sage, da lag ein Stein. Roter Stein wie Blut …“
Kurz darauf stürmt ein rothaariger kleiner Mann aus der Küche und rennt in Richtung Korridor, aus dem Ly und ich gekommen waren. Er flucht unentwegt und fuchtelt wild mit den Armen herum. „Ich haben ihn eindeutig gesehen. Er da gewesen, ganz sicher.“
Ich bin verwirrt und verstehe kein Wort. Um was geht es hier?
„Ich denke, das war der Geist vom mächtigen Hung Juai“, meint Ly. „Manchmal foppt er die Menschen, um sich an ihnen zu erfreuen.“ Mich schaudert es am ganzen Körper und ich bekomme es mit der Angst zu tun. Gibt es Geister vielleicht doch? Hätte ich den Geschichten meines Onkels mehr Beachtung geben sollen? Ich will gar nicht daran denken, einem Geist wie diesem Hung Juai zu begegnen. Gemeinsam betreten wir die Küche. Ling kniet auf dem Boden, und als sie uns sieht, beginnt sie zu weinen.
„Jetzt können wir die vielen Besucher nach Hause schicken.“ Sie schluchzt und wischt sich die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht. „Die Gäste werden enttäuscht sein und sie werden schlecht über mich reden.“
Ly tritt näher an sie heran und zieht sie vorsichtig an ihren Armen nach oben.
„Aber nicht doch. Sagt nicht so etwas! Niemand wird schlecht über Euch reden.“
Ling schnappt nach Luft, während ihr Tränen in die Augen schießen.
„Oh doch, das werden sie. Mein Glück hat mich verlassen!“
„Bitte, hört auf zu weinen.“
Sie guckt Ly aus geröteten Augen an.
„Wir finden eine Lösung, versprochen.“ Er schließt sie tröstend in die Arme.
„Sicher?“, fragt sie mit zaghafter Stimme.
„Ja, Ihr braucht Euch, um Eure Gäste keine Gedanken zu machen.“ Ich blicke zu Boden. Als erstes fällt mir der Edelstein auf. Und dann sehe ich die Teekanne, die aus feinstem Porzellan besteht. Ihr Hals ist abgebrochen und liegt inmitten einer rosafarbenen Flüssigkeit, die einen süßlichen Geruch verströmt. Kirschblütentee!
Der Mann, der uns entgegengekommen war, hatte die Wahrheit gesagt. Wieso sieht denn niemand den Stein, der zu Ling Mays Füßen liegt? Hat tatsächlich der Geist von Hung Juai etwas damit zu tun? Ling schnäuzt sich die Nase und macht einen niedergeschlagenen Gesichtsausdruck.
„Ihr nehmt einfach eine andere Kanne und alles wird gut.“
Mein Onkel scheint voller Zuversicht zu sein. So wie immer, wenn etwas schief geht. Er war schon immer mehr der Optimist.
„Aber, die Tradition besagt …“ Sie stoppt den Satz und schluchzt. „Das der Tee nur aus dieser Kanne aufgegossen werden soll. Ich kann ihn doch nicht aus irgendeiner beliebigen Kanne anbieten! Das entspricht nicht meiner Familie. Was sollen meine Ahnen von mir halten? Und die Gäste erst!“
„Tradition hin oder her. Ich denke, man muss auch mal andere Wege einschlagen. Irgendwann müssen wir uns eingestehen, dass wir nicht unsterblich sind. Und so, wie wir nicht unsterblich sind, so werden auch die Dinge, die wir lieben, eines Tages nicht mehr existieren. Man muss den Weg gehen, wie er kommt. Denn so, wie man diese Kanne nicht mehr zusammensetzen kann, so flickt man auch uns nicht mehr zusammen, wenn wir alt sind.“
Sie lacht auf.
„Du hast recht. Uns kann auch niemand mehr zusammenflicken“, wiederholt sie und deutet auf ihr faltiges Gesicht.
„Seht Ihr. Alles im Leben findet sein Ende. So ist der Lauf der Dinge. Es gibt nichts, dass es aufhalten kann. Selbst unsere Traditionen verändern sich. Man muss auch mal etwas Neues wagen.“
Ling begibt sich in die Hocke, nimmt ein paar der Scherben und legt sie, in ihrer zu einer Kuhle geformten Hand. Der Stein jedoch bleibt unberührt. Er liegt an ein und derselben Stelle.
„Jede Scherbe bedeutet ein Jahr. Und jedes Jahr bedeutet Leben.“
Ly nickt und zusammen machen sie sich auf, einen neuen Tee zu kochen. Nicht in einer traditionellen, dafür aber in einer genauso hübschen Kanne. Die nicht weniger Aufsehen erregen wird, als die alte. Da bin ich mir sicher. Ich blicke an mir herab und gelange zu dem Entschluss, den albernen Kimono, den ich sowieso nicht leiden kann, auszuziehen. Denn nach der Ansprache meines Onkels, denke ich, muss man das mit den Traditionen nicht so ernst nehmen.
Tradition hin oder her.
Man muss auch neue Wege einschlagen können.
Das Schicksal nimmt eh seinen Lauf. Ob mit oder ohne Kanne.
Die Zeit vergeht wie im Wirbelsturm. Es liegt an uns, ob wir ihn
zähmen wollen.
Und obwohl Wirbelstürme schnelllebig sind, so
können auch sie einen Neubeginn darstellen. Wir entscheiden, wie
schnell wir
vorankommen wollen. Wichtig ist nur, dass wir uns im Auge des
Sturmes nicht verlieren.
Der Spiegel
Du schaust jeden Tag hinein.
Du kannst ihn schlagen, ihn bespucken,
es tut ihm nicht weh,
macht ihm nichts aus.
Er zeigt ein Abbild von dir
und kann dir vieles sagen.
Du findest Wahrheit und Lüge in ihm.
Schau hinein, jeden Tag.
Jeden Tag aufs Neue.
Du kannst ihn hassen,
ihn zerschmettern.
Doch auch das ist ihm egal.
Er kann dir viele Taten zeigen.
Er weint nur, wenn du weinst.
Er lacht nur, wenn du lachst.
Aber er kann nicht hassen, sich zerstören.