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Im Jahr 1988 eröffnete Konrad Baumgartner zusammen mit Werner Rück in Verbindung mit Ludwig Mödl, Josef Müller und Ehrenfried Schulz die Reihe "Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge". Sie sollte wissenschaftliche Dissertationen, Habilitationen und vergleichbare Forschungsarbeiten der Öffentlichkeit zugänglich machen. Nach fast 30 Jahren können die aktuellen Herausgeber den Jubiläumsband 100 präsentieren, der wichtige Publikationen aus der Reihe noch einmal aktualisiert. Dabei wird der Seelsorgebegriff angesichts gewandelter Kontexte genauso in den Blick genommen wie einzelne Handlungsfelder und Orte in der Seelsorge. Beispielhaft seien genannt: Hospiz- und Krankenhausseelsorge, Notfallseelsorge, Seelsorge angesichts größerer pastoraler Räume, Interkulturelle Seelsorge sowie geänderte Anforderungsprofile an Seelsorger/innen. Ein Schaufenster für aktuelle Diskurse in der Seelsorgetheorie und eine Einladung zu weiteren Veröffentlichungen.
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Seitenzahl: 268
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Erich Garhammer, Hans Hobelsberger,
Martina Blasberg-Kuhnke,
Johann Pock (Hgg.)
Seelsorge: die Kunst der Künste
Zur Theologie und Praxis von Seelsorge
Studienzur Theologie und Praxisder Seelsorge
100
Herausgegeben vonErich Garhammer und Hans Hobelsbergerin Verbindung mitMartina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock
Erich Garhammer, Hans Hobelsberger,
Martina Blasberg-Kuhnke,
Johann Pock (Hgg.)
Seelsorge: die Kunst der Künste
Zur Theologie und Praxis von Seelsorge
echter
Für Konrad Baumgartner
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2017
© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter.de
Gestaltung: Hain-Team (www.hain-team.de)
Druck und Bindung: CPIdirect, Leck
ISBN
978-3-429-04382-7
978-3-429-04931-7 (PDF)
978-3-429-06351-1 (ePub)
Inhalt
Vorwort
Prolog
Erich Garhammer: Seelsorge – Bilder. Eine Einführung
Jörg Seip: Pastoral und Seelsorge. Eine diskurskritische Relektüre
Seelsorge: Felder und Anforderungen
Dorothee Haart: Neue Entwicklungen der Krankenhausseelsorge im ökonomisierten Gesundheitswesen
Benno Littger: Christliche Hospiz- und Palliativkultur und ihre Qualitätsmerkmale
Gerhard Dittscheidt: Seelsorge im Notfall – eine grundsätzliche Herausforderung für Seelsorge heute
Thomas Schüller · Michael Böhnke: Zeitgemäße Nähe – aktueller denn je und doch nicht neu. Pastorale Beobachtungen
Martin Lörsch: Zukunft der Seelsorge für eine künftige Sozialgestalt der Kirche. Systemische Strategieentwicklung am Beispiel der Synode im Bistum Trier (2013–2016)
Christine Schrappe: Seelsorge mit Blick auf die Personalentwicklung
Johann Pock: Können Priester noch Seelsorger sein? Überlegungen zu den aktuellen Veränderungen des Berufsprofils
Katharina Karl: Seelsorgebiografien im Fluss – Herausforderungen für die Identitätskonstruktion von Seelsorgenden
Hildegard Wustmans: Hybride Lebenslagen. Pastoral im Stresstest. Interkulturelle Seelsorge
Katharina Ganz: Vulnerabilität und Seelsorge
Epilog
Martina Blasberg- Kuhnke: Seelsorge in einer kultur- und religionspluralen Gesellschaft: ein Ausblick
Literaturverzeichnis
Herausgeber und Autoren
Vorwort
„Seelsorge: die Kunst der Künste“ Zur Theologie und Praxis von Seelsorge
Im Jahr 1988 eröffnete Konrad Baumgartner zusammen mit Werner Rück in Verbindung mit Ludwig Mödl, Josef Müller und Ehrenfried Schulz die Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“. Sie sollte wissenschaftliche Dissertationen, Habilitationen und vergleichbare Forschungsarbeiten der Öffentlichkeit zugänglich machen. Nach fast 30 Jahren können die aktuellen Herausgeber Erich Garhammer und Hans Hobelsberger zusammen mit Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock den Jubiläumsband 100 präsentieren, der wichtige Publikationen aus der Reihe noch einmal ajouriert.
Dabei wird der Seelsorgebegriff angesichts gewandelter Kontexte genauso in den Blick genommen wie einzelne Handlungsfelder und Orte in der Seelsorge. Beispielhaft seien genannt: Hospiz-, Krankenhaus- und Notfallseelsorge, Seelsorge angesichts größerer pastoraler Räume, interkulturelle Seelsorge sowie geänderte Anforderungsprofile an Seelsorger/innen.
Der Band will ein Schaufenster sein für aktuelle Diskurse in der Seelsorgetheorie und zugleich Geschmack machen, in dieser Reihe zu veröffentlichen. Gleichzeitig formuliert er ein Programm: Seelsorge ist „Kunst der Künste“. Dieser Begriff von Gregor dem Großen aus der „Regula pastoralis“ formuliert einen Anspruch: Seelsorge ist Kunst, sie verknüpft Leidenschaft und Professionalität.
Die Herausgeber:
Erich Garhammer, Prof. für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg.
Hans Hobelsberger, Prof. für Pastoraltheologie und Rektor der Katholischen Hochschule NRW.
Martina Blasberg-Kuhnke, Prof. für Praktische Theologie: Pastoraltheologie und Religionspädagogik an der Universität Osnabrück.
Johann Pock, Prof. für Pastoraltheologie an der Universität Wien.
Würzburg, Juli 2017
Prolog
Erich Garhammer
Seelsorge-Bilder
Eine Einführung
Seit 1999 bin ich Mitherausgeber der Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“ (ab Band 37) und seit 2004 Schriftleiter der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“. Die Zeitschrift wurde 1949 von Dr. Alfons Fischer, damals Dozent für Pastoraltheologie an der Fachhochschule Freiburg, und Alfred Weitmann, dem späteren Rottenburger Domkapitular gegründet. Beide hatten auf dem Bochumer Katholikentag diese Idee geboren. Dazu kam noch der Kamillianerpater Josef Schulze. Die Zeitschrift wurde 1969 mit dem „Oberrheinischen Pastoralblatt“ – begründet 1899 – vereinigt, wozu der Freiburger Erzbischof Schäufele seine Zustimmung gab.
Die Programmatik der Zeitschrift war: den Seelsorgern in den Umbrüchen der Zeit geistige und geistliche Begleitung anzubieten. Viktor Schurr (Seelsorger in einer neuen Welt. Eine Pastoral der Umwelt und des Laientums) und der in Wien lehrende Pastoraltheologe und Homiletiker Bruno Dreher gehörten lange der Redaktion an. Die Lebendige Seelsorge war über Jahrzehnte hinweg ein Organ, das vor allem von Priestern gelesen und für sie gemacht wurde. Dementsprechend war auch der Seelsorgebegriff formatiert.
Im Jahre 1974 übernahmen Professor Dr. Lothar Roos und Prof. Dr. Werner Rück die Schriftleitung. Sie holten in ihr Redaktionsteam so bekannte Namen wie Karl Lehmann, Dieter Emeis, Joseph Sauer, Heinrich Pompey und Josef Müller. Letzterer hat lange Zeit für die Redaktion des „Oberrheinischen Pastoralblattes“ gearbeitet und schließlich dazu beigetragen, dass diese Zeitschrift sich mit der „Lebendigen Seelsorge“ zusammenschloss.
Das „Oberrheinische Pastoralblatt“ erschien noch bis 1974 als eingeheftete Beilage im Umfang von acht Seiten in der „Lebendigen Seelsorge“. Der denkwürdige Ort, an dem die Vereinigung beider Organe vollzogen wurde, war das Priesterseminar St. Peter in Freiburg. Daraus kann man ablesen, dass die „Lebendige Seelsorge“ stark in Freiburg verwurzelt war und ihm auch verpflichtet blieb (Quisinsky). Die „Lebendige Seelsorge“ wechselte ab dem Jahrgang 2004 nach Würzburg. Der Leiter des Echter Verlages Thomas Häußner trug mir nach meinem Wechsel von Paderborn nach Würzburg die Schriftleitung der Zeitschrift an. Vorausgegangen war schon die Hineinnahme in das Herausgeberteam der im Echter-Verlag erscheinenden Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“ ab Bd. 37. Initiator der Reihe war mein akademischer Lehrer Prof. Dr. Konrad Baumgartner. Mit dieser Reihe und der Zeitschrift hat der Echter Verlag prägenden Einfluss auf den Seelsorgediskurs der vergangenen Jahrzehnte genommen – und nimmt ihn noch heute. In dieser Zeit haben sich die Rahmenbedingungen für die Seelsorge erheblich verändert. Dem sollte sowohl durch die neue Reihe als auch durch das neue Konzept der Zeitschrift Rechnung getragen werden.
Seelsorge – gestern und heute
Die Gründung der neuen Reihe und das Konzept und die neu entwickelte Heft-Dramaturgie der Zeitschrift sind zu verorten in den Veränderungsprozessen von Seelsorge und Pastoral in den letzten Jahrzehnten. Bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Situation tauchen stets die Begriffe Pluralisierung, Individualisierung und Erlebnisorientierung auf. Wie soll Seelsorge darauf reagieren und wie kann sie in solch dominanten Kontexten überhaupt noch agieren?
Zwei Programmschriften – die eine aus dem evangelischen, die andere aus dem katholischen Bereich – geben darauf folgende Antworten: Hans Ulrich Gehring hat in seiner Habilitationsschrift mit dem Titel „Seelsorge in der Mediengesellschaft“ den Befund der Pluralisierung erweitert zur „reflexiven Pluralisierung“, d. h. Pluralisierung wird nicht einfach als Fortschrittsvorgang verbucht, sondern das Schattige und Ambivalente von Pluralisierung wird durchaus gesehen und wahrgenommen.
Seelsorge benötigt auf diesem Hintergrund zwei Kompetenzen: zum einen die Fähigkeit, mit differenten Erfahrungen umzugehen; zu dieser Fähigkeit zur Differenz und zur Differenzierung muss sich immer mehr eine andere Kompetenz gesellen, nämlich die Fähigkeit zur Kohäsions-Arbeit, d. h. das Vermögen, Verknüpfungen herzustellen und Übergänge zwischen dem Differenten und Disparaten zu bilden.
Doris Nauer hat in ihrer Habilitationsschrift mit dem Titel „Seelsorge im Widerstreit“ den Versuch gemacht, die pluralen Konzepte von heutigen Seelsorgeansätzen zu bündeln und zu ordnen. Dabei unterscheidet sie drei Hauptrichtungen: Seelsorgekonzepte mit theologisch-biblischer, mit theologisch-psychologischer und mit theologisch-soziologischer Perspektivendominanz. Diesen Hauptperspektiven werden dann einzelne Seelsorgekonzepte zugeordnet. Auch wenn sich über die Zuordnungskriterien trefflich streiten ließe, ist doch ein Überblick über aktuelle Seelsorgekonzepte sowie eine inhaltliche Beschreibung über Zielsetzung und Relevanz von Seelsorge gelungen.
Entspricht also der Pluralisierung der Lebenswelt nach dem Motto „Jeder ist ein Sonderfall“ eine Pluralität von Seelsorgeansätzen und kann man unter diesen wie in einem Supermarkt auswählen? Die Neukonzeptionierung der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ realisierte hier einen anderen Weg: es geht nicht um eine Addition von Ansätzen, sondern es geht um ein Gespräch und einen produktiven Streit zwischen den Ansätzen und vor allem um ihre Praktikabilität.
Seelsorge hat Zukunft
So hat gleich das erste Heft mit dem programmatischen Titel „Seelsorge hat Zukunft“ eine nachhaltige Kontroverse angestoßen. Die Frage lautete: Wird die Seelsorge in Zukunft mehr orts- und gemeindebezogen sein oder soll sie sich als Kommunikationspastoral, als Pastoral der Zwischenräume verstehen? Zwei dezidierte Positionen lagen dazu bereits vor: auf der einen Seite Jürgen Werbick mit seinem Buch „Warum die Kirche vor Ort bleiben muss“, das für eine Verörtlichung von Seelsorge plädiert. Auf der anderen Seite Michael N. Ebertz, der einer erweiterten Ort-Suche von Seelsorge das Wort redet. Das Erstaunliche war, dass beide noch nicht miteinander in das Gespräch und den Austausch getreten waren. Das ist das Konzept der neuen Lebendigen Seelsorge, solche Gespräche, solche in der Luft liegenden Kontroversen auszutragen, aufzugreifen, zu ermöglichen und ihnen einen Platz zu geben. Dabei sollen keine schnellen Antworten erreicht oder gar harmonisierende Vermittlungen erzwungen werden. Eher soll es um Suchbewegungen gehen, aber auch um die Formulierungen und Präzisierung der Konsequenzen, die sich ergeben, wenn man sich auf eines der Konzepte einlässt. Es geht also um die Frage: Welche Praxis folgt aus den jeweiligen spezifischen theoretischen Optionen von Seelsorge?
Jürgen Werbick kritisierte am Ansatz von Ebertz eine undurchschaute und latente Hierarchisierung von Kirche – das soziologische Design bei Ebertz verwische diesen ekklesiologischen Aspekt – sowie eine Virtualisierung von Seelsorge. „Gute Orte zum Ein-und Ausgehen, zum Bleiben und Ausruhen; Orte der einladenden und möglichst wenig ausschließenden, niederschwelligen Glaubenskommunikation; wenn man will: Stützpunkte und Treffpunkte, an denen Kirche sich antreffen und sich auch als ‚Stütze‘ in Anspruch nehmen lässt, an denen sie feiert, woraus und wofür sie lebt: Wer meint, diese Orte mehr und mehr virtualisieren zu können oder zu müssen, etwa weil die Problematik der Gemeindeleitung und des SeelsorgerInnenmangels unlösbar geworden scheinen, der gibt die Kirche als ‚Leib Christi‘ an der Basis auf.“ (Werbick 2004, 6)
Ebertz dagegen konstatierte bei Werbick einen Wohn-Territorialismus – wobei sich sehr schnell die Assonanz von Wohnort und Milieu-Terror einstelle. Er attestierte den meisten Gemeinden Milieuverengungen mit exkommunizierenden Tendenzen gegenüber anderen Milieus und ihrem Selbstverständnisstil. Viele Menschen finden das pastorale Angebot ihrer Gemeinden längst nicht mehr attraktiv. Es sei seiner Meinung nach an der Zeit, die Augen zu öffnen und wahrzunehmen, dass sich die meisten Menschen – trotz Wohnraumnähe – schon längst nicht mehr in die pfarrheimlich verlängerten Wohnzimmer begeben wollen und keine Lust auf die auf Frohsinn und Harmonie getrimmte Pfarrcommunio hätten (Ebertz 2004, 17).
Die Zeitschrift wählt also den Weg der „transversalen Vernunft“: sie bringt ins Gespräch, schürt dabei nicht die Kontroversen um der Kontroverse willen, sondern will durch das Gespräch Positionen klären und Theologie im Dialog betreiben. Dabei sollen auch einseitige Zitationskartelle aufgebrochen und einseitige theologische Richtungen oder Schulbildungen vermieden werden. Gab es früher ein Schisma zwischen den Zeitschriften „Diakonia“ und „Lebendige Seelsorge“, so schreiben in der neuen Lebendigen Seelsorge Autoren aller Richtungen und Positionen. Einzige Voraussetzung ist Kompetenz für ein bestimmtes Thema.
Albrecht Grözinger hat in seinem Survey über „Zehn Jahre Zeitschrift Pastoraltheologie“ (2003) festgestellt, dass in den theologischen Zeitschriften kaum noch gestritten werde, dass alles viel zu höflich – man könnte sogar friedhöflich sagen – zugehe. Mehr Streit würde er sich wünschen, denn die aktuellen Herausforderungen lohnen nicht nur den Streit, sie brauchen ihn auch.
Die Lebendige Seelsorge beherzigt das: in Gesprächen, Projektberichten und Praxisbeiträgen zeigt sie etwas vom Plural und den unterschiedlichen Realisationsformen von Seelsorge an verschiedenen Orten. Entwicklung in der Kirche geht ja nie linear: sie geht – so der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner – nach dem Prinzip der Echternacher Springprozession: „Man macht zwei Schritte nach vorn, aber dann braucht man zur Erholung wieder einen Schritt zurück. Dann kommen wieder zwei Schritte nach vorn … Auch auf diesem Weg gelangt man letztlich in eine Zukunft, die bleibt.“ (Zulehner 2004, 33; Garhammer 2016, 156)
Der Blick in die Geschichte (Wolf 2004) ist ein Beweis für diese Springprozession: im Jahre 1926 wurde das Priesterwerk „Amici Israel“ gegründet. Weltweit gehörten der Vereinigung 19 Kardinäle, 278 Bischöfe und an die 3000 Priester an. Angesichts der zunehmenden antisemitischen Agitation setzte sich die Vereinigung zum Ziel, die Karfreitagsbitten grundlegend zu ändern. Der Präsident, Benediktinerabt Gariador, stellte am 2. Januar 1928 bei der Ritenkongregation die Petition, die Begriffe „perfidus“ und „perfidia“ zu streichen. Ferner sollte auch die Kniebeuge eingeführt werden, um diesen Anti-Gestus der rituellen Verweigerung zu beenden. Die Kniebeuge entfiel ja deshalb, um nicht das Andenken an die Schmach zu erinnern, mit der die Juden um die neunte Stunde den Heiland durch Kniebeugungen verhöhnten. Der von der Ritenkongregation beauftragte Gutachter stellte sich voll hinter diese Anliegen. Die liturgische Kommission der Ritenkongregation kam am 18. Januar 1928 zu dem Entschluss, dem Vorschlag der „Amici Israel“ zu folgen. Zwei Tage später wurde der Vorgang ans Heilige Offizium weitergeleitet: dort nahm er allerdings eine völlig andere Wendung. Der päpstliche Hoftheologe Marco Sales OP betrachtete die Vereinigung „Amici Israel“ als eine private Angelegenheit. Wenn man aufgrund einer einfachen Petition einer Vereinigung damit beginnen würde, die alte und ehrwürdige Liturgie zu ändern – so seine Argumente – käme man an kein Ende und würde der Willkür Tür und Tor öffnen. Außerdem hätten die Juden die Verantwortung für die Kreuzigung Christi mit dem Vorwurf „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ (Mt 27,25) übernommen. Papst Pius XI. stimmte nicht nur dieser Wertung zu, sondern ordnete auch die Auflösung der Vereinigung „Amici Israel“ wegen schwerwiegender Irrtümer an. Er bemängelte vor allem die Umfunktionierung von einer Gebetsbrüderschaft für die Konversion der Juden zu einer kirchenpolitischen pressure group. In die Formulierung des Aufhebungsdekretes, das am 25. März 1928 in den Acta Apostolicae Sedis erschien, griff er selber ein. Er würdigte darin die Verdienste der „Amici Israel“ als Gebetsgemeinschaft für die Konversion der Juden; sie sei jedoch durch ihre aktuelle Vorgehensweise vom „sensus ecclesiae“ abgewichen und habe sich angemaßt, die heilige Liturgie zu verändern. Die Kirche habe aber stets jede Form von Antisemitismus abgelehnt und Israel ausdrücklich in das kirchliche Liebesgebot eingeschlossen. Im Anschluss daran wird der Hass gegen das einst von Gott erwählte Volk, den man auch Antisemitismus nennt, nachdrücklich verurteilt. Die Leiter von „Amici Israel“ unterwarfen sich mit dem Hinweis, dass der Papst damit den Antisemitismus entschieden verurteilt habe, „besser als wir es jemals gekonnt hätten.“ Abt Schuster, der auch der Gruppierung angehört hatte, wurde von Papst Pius XI. ein Jahr danach zum Erzbischof von Mailand berufen, später zum Kardinal ernannt. 1996 hat ihn Papst Johannes Paul II. selig gesprochen.
Papst Johannes XXIII. schließlich hat bei der Karfreitagsliturgie die Wörter „perfidus“ und „perfidia“ im Jahre 1959 einfach ausgelassen und damit den entscheidenden Anstoß gegeben für die Änderungen im neuen Messbuch 1970. Die „Amici Israel“ hatten sich also doch noch durchgesetzt – trotz vorherigen Aufhebungsdekrets! So geht Änderung römisch-katholisch: nach der Ordnung der Echternacher Springprozession.
Seelsorgeverständnis heute
Der Kölner Jesuit Friedhelm Mennekes, der im Gespräch zwischen Kirche und Künstlern seit Jahrzehnten eine führende Rolle einnahm und lange die Kunst-Station St. Peter in Köln leitete, hat von dem englischen Künstler Martin Creed eine Turminstallation an St. Peter vornehmen lassen (Schlimbach, 286). Sie trägt den Titel „Don’t worry“. Neonschriftzüge in vier Sprachen sind auf den vier Turmseiten angebracht. Den Besuchern des gerade neu eröffneten Agrippa-Bades mit seiner ausgedehnten Wellness-Landschaft leuchtete dabei hauptsächlich die Schrift „DON’T WORRY“ entgegen. Die meisten assoziierten damit natürlich „Don’t worry, be happy“ – das Lebensgefühl der Erlebnisgesellschaft.
Wer sich aber die Mühe macht, die Aufschrift auf den anderen Turmseiten zu entdecken, der kann dort lesen: „NOLI SOLLICITÜS ESSE“, „MH MERIMNA“ und „SORGE DICH NICHT.“ Es handelt sich dabei um ein Wort Jesu aus der Bergpredigt: „Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. Sorgt euch vielmehr um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit und alles andere wird euch dazugegeben“ (Mt 6,25 f).
Diese Installation ist eine Intervention: Seelsorge soll zunächst wahrnehmen, dass wir uns viele Sorgen machen, aber in einem Punkt allzu unbesorgt sind, nämlich was die Reich- Gottes-Sorge angeht. Reich-Gottes-Sorge beinhaltet zwei prinzipielle Dimensionen: Gratuität und Barmherzigkeit. Gratuität, d. h. das Wichtigste können wir nicht selber machen und uns auch nicht verdienen, d. h. wir alle leben aus der Vergebung und die einzig zulässige Hierarchie, die es geben kann, ist das Mehr an Barmherzigkeit – eine Dimension von Seelsorge, die vor allem Papst Franziskus wieder anmahnt (Garhammer 2017).
Seelsorge im Sinne von Reich-Gottes-Sorge ist also kein Aktivismus, kein Verschulungsprogramm, keine Beschäftigungstherapie, sondern Eröffnung eines Raumes, wo ich und die anderen Luft bekommen und atmen können, ganz im Sinne von Reiner Kunzes Gedicht „Pfarrhaus“:
Wer da bedrängt ist findet
mauern, ein
dach und
muß nicht beten
(Kunze, 118)
Seelsorge ist also zunächst Schutzraum, Asylort ohne Nötigungsdruck zum Frommsein und ohne Bekehrungshintergedanken. Seelsorge ist Ermöglichung zum Aufatmen, zum Luftholen, wo eigentlich alle Zeichen auf Durchdrehen stehen (Zerfaß). Seelsorge treibt die Dämonen aus, den Dämon: „du musst funktionieren“, den Dämon „du musst okay sein“, überhaupt den Dämon „du musst“. Seelsorge bietet Raum für die Gottes-Herrschaft, sie öffnet den Raum für Menschen in der Krise.
Eines tages wird uns in der seele frösteln,
und die landschaft wird uns zu knapp sein,
um sie zusammenzuziehen
über der brust
Dann werden wir die säume abgreifen,
ob etwas eingeschlagen ist
(Kunze 2003, 283; Garhammer 2011)
Menschsein bedeutet nach diesem Gedicht von Reiner Kunze: in Krisen geraten. Das ist eine Dimension des Anthropologischen, der conditio humana, die in allen momentanen Reformdiskussionen politisch und universitär kaum zur Sprache kommt. Der Mensch ist ein Wesen der Krise und vor allem: er ist endlich. Es gibt Situationen, in denen uns in „der Seele fröstelt“, oder wie es Paul Gerhardt in dem Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ ausgedrückt hat: „Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein“. Man braucht dabei nicht nur an das Sterben zu denken, es gibt auch andere Situationen, wo uns nichts mehr wärmt, wo wir die Säume abgreifen, ob etwas eingeschlagen ist. Hier entscheidet sich, ob der Seelsorger/die Seelsorgerin selber solchen Gefühlen Raum geben kann, weil er/sie sie kennt und um sie weiß. Von daher scheint mir der Begriff vom verwundeten Arzt, den der Theologe Henri Nouwen ins Spiel gebracht hat, sehr hilfreich zu sein. Nur wer mit eigenen Wunden umgehen gelernt hat, kann wirklich heilen. Die therapeutische Kompetenz ist nicht nur eine Methode, sondern sie hat wesentlich auch mit eigener Erfahrung zu tun.
Der Passauer Pastoralpsychologe und Caritaswissenschaftler Isidor Baumgartner hat in seiner Pastoralpsychologie den Emmausgang als Summarium seelsorgerlichen Handelns gedeutet: das Mitgehen Jesu geschieht nicht aufdringlich, sondern mit-gehend und zu-hörend, stehen-bleibend, allerdings nicht statisch, sondern prozessorientiert und vertiefend. Lösend ist dabei gerade das Sich-Lösen-Können. „Er tat so, als wollte er weitergehen.“ (Lk 24,28) Im lateinischen Text heißt es: „finxit se longius ire.“ Für Papst Gregor den Großen war dies in einer Osterpredigt eine Betrachtung wert: hat Jesus hier mit den Enttäuschungen und Ängsten der Jünger gespielt? Gregor gibt zur Antwort: mitnichten. „Nichts tat die einfache Wahrheit in Zweideutigkeit, vielmehr zeigte sie sich ihnen im Leibe so, wie sie bei ihnen im Geiste war.“ (Gregor der Große 421). Als Eindeutigen hätten die Jünger Jesus nicht wahrnehmen und ertragen können, aber als Mitgehenden, der sogar bereit war ganz zu gehen, ging er ihnen auf. Seelsorge hat etwas von dieser mitgehenden und loslassenden Kompetenz. Sie spannt einen Raum auf, sie schützt und gibt frei.
Kunst und Seelsorge
Es gibt ein Kunstwerk, das diese Geste eingefangen hat. Es stammt von Alberto Giacometti. Vor dem Betrachter steht eine nackte Frau von annähernd menschlicher Größe und Erscheinungsform. Was man für Augen halten könnte, sind zwei Räder, das eine intakt, das andere zerbrochen. Sie hat die Arme vor der Brust erhoben, sie scheinen sehr behutsam etwas Unsichtbares zu halten. Man hat den Eindruck, die Figur sei gerade dem Abgrund entstiegen. Giacometti erzählt, diese Figur sei ihm plötzlich fertig eingefallen. Er stellte sie am Grab seines Vaters auf. Interessant sind ihre unterschiedlichen Bezeichnungen: „L’object invisible“ (Der unsichtbare Gegenstand) oder „Mains tenant le vide“ (Hände, die die Leere halten). Beim Hören ergibt der Ausdruck eine lautgleiche Äquivalenz zu: „Maintenant le vide – Jetzt die Leere.“ Die Bedeutung von „le vide“ ist vielschichtig: Leere, Zwischenraum, Tiefe, Abgrund. Was aber halten die Hände?
In den Zeiten, in denen Giacometti in Paris in seinem Atelier arbeitete, besuchte er häufig den Louvre. Eines seiner Lieblingsbilder war ein Marienbild aus dem Freskenzyklus von Cimabue. Vor allem beeindruckte ihn die „Wahrheit der Hände“ der Madonna. „Man kann die Hände nicht echter und dichter gestalten“, so Giacometti. Die Hände seiner Skulptur sind den Händen auf dem Marienbild sehr ähnlich – nur halten sie kein Kind, keinen Jesus, sondern die Leere. Der Raum zwischen den Händen ist eine Leer-Stelle. Er wird aufgespannt, aber nicht gefüllt. „Kunst interessiert mich sehr – aber die Wahrheit interessiert mich unendlich viel mehr … und die Wahrheit ist einzig das Leben“, so hat es Giacometti formuliert (Steinmeier 2003, 198–203).
Man könnte diese Figur auch „Seel-Sorge“ nennen. Aus dem Abgrund aufsteigend, schauend und verletzt, spannt sie die Arme auf, um zu bergen und doch freizugeben. Eine Reihe und eine Zeitschrift, die im Titel den Begriff „Seelsorge“ führen, dürfen natürlich zwischen den beiden Buchdeckeln nicht die Leere aufspannen, aber etwas von diesem Bewusstsein soll in jedem Exemplar wach gehalten werden: im Aktivismus allein liegt nicht die Lösung.
Theologie und Praxis von Seelsorge wollen etwas von diesem Paradox der Seelsorge inszenieren: Handeln ist kein Erdrücken, Freiraum geben aber auch keine interesselose Distanz. Seelsorge ist ein Paradox: das Junktim zwischen Naivität des Herzens und Professionalität der Methode (Garhammer 1989).
Jörg Seip
Pastoral und Seelsorge
Eine diskurskritische Relektüre
„‚Wenn ich ein Wort verwende‘, behauptete Hampti Dampti hochmütig, ‚dann hat es genau die Bedeutung, die ich haben will – nicht mehr und nicht weniger.‘
‚Die Frage ist‘, wandte Alice ein, ‚ob man das einfach machen kann, einem Wort so viele verschiedene Bedeutungen geben.‘
‚Die Frage ist‘, korrigierte Hampti Dampti, ‚wer das Sagen hat – das ist alles.‘“ (Caroll 1998, 719)
Eine Frage der Verortung
„Pastoral“ und „Seelsorge“ sind Begriffe, die das Christentum seit seinen Anfängen begleiten und von diesem stets neu adaptiert und transformiert werden. Beide gehen und gingen dabei Mesalliancen mit der jeweiligen Zeit und ihren Bedingtheiten ein. Das zeigen schon die Fundorte, die Topik der beiden Begriffe: während das Wort „Pastoral“ über die altorientalischen Bilder vom Hirten (pastor, lat.) auf die jüdisch-christliche Antike zurückgeführt wird, entstammt das mit der Selbstsorge (epimeleia heautou, gr.) verbundene Wort „Seelsorge“ der griechisch-römischen Antike. Die semantische Offenheit beider Begriffe war in der Folgezeit nie ein Makel, denn sie ermöglichte situative und diskursive Aneignungen und Umstellungen, die einerseits unterschiedliche theologische Konzeptbildungen und Differenzierungen zur Folge hatten und andererseits dennoch schlichtweg sämtliche Handlungsweisen und -träger christlicher Gemeinschaften bezeichnen konnten. In dieser freigegebenen, doppelten Aneignung und Benutzung liegt geradezu der Reiz und möglicherweise ein unterscheidendes Merkmal zum Begriffsgebrauch anderer theologischer Disziplinen, etwa der systematischen oder biblischen. Die Praktische Theologie operiert mit von der Alltagssprache besiedelten Begriffen. Ihre Begriffe werden im Alltagsgebrauch ständig überschrieben. Dass ein solcher Gebrauch die institutionellen bzw. professionellen Definierungen unterläuft, regt die Praktische Theologie nebenbei an, dem kritisch nachzugehen, was man Definitionsmacht nennt. Die Doppelheit von professionalisiertem und alltagspraktischem Bezeichnen schaut auf die Mikropraktiken der Macht und führt zu anderen Praktiken im Umgang mit Begriffen und Fundorten: die Praktische Theologie kann viel weniger als andere theologische Disziplinen eine Norm oder Definition voraussetzen, sondern sie findet bzw. erfindet solche erst in den Konstellationen der Praktiken. Das ist aus Sicht der Diskursforschung gesagt (Angermüller u. a. 2014): Praktische Theologie nimmt ihren Anfang bei den Praktiken und darunter fallen unter anderem nun eben auch Normen, Definitionen oder Prinzipien, aber nicht so sehr in Hinsicht auf das, was sie sagen, sondern auf das, was sie tun und was deren Gebrauch zeigt (Seip 2009, Gärtner u. a. 2014). Insofern ist die doppelte Aneignung der Begriffe „Pastoral“ und „Seelsorge“ keineswegs ein zu begradigender Lapsus oder gar eine zu behebende Unschärfe, der man quasidekretiv mit Definitionen beizukommen hätte, sondern sie ist der originäre Ausgangspunkt pastoraltheologischen Denkens. Mit anderen Worten: es geht um das Zwischen oder Neben (pará, gr.), d. h. um jenen dritten Raum in actu, der beim Bezeichnen und Überschreiben entsteht (Seip 2017 a). Denn der Definitionsmacht schiebt sich ständig „etwas“ dazwischen. Insofern ist das Zwischen der Fundort der Praktischen Theologie.
Dieser Essay geht darum auch weniger rekonstruktiv den historischen oder gegenwärtigen Konfigurationen der beiden Begriffe nach, sondern sucht – im Sinne einer anregenden Lektüreeröffnung – eine Art diskursive Verortung (in) der ebengenannten, stets mitlaufenden Doppelheit pastoraltheologischer Praktiken. Unter „Diskurs“ verstehe ich dabei verkürzt gesagt die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsbedingtheiten: m. a. W. es geht nicht um das Was, sondern um das Wie, nicht um die Aussage, sondern um die Art und Weise des Aussagens, nicht um die Bedeutung des Was, sondern um die Modalität bzw. Erscheinungsweise des Was.
So wird das heuristische Potential der Praktiken aufgegriffen, die unter Bezeichnungen wie „Pastoral“ und „Seelsorge“ erscheinen. In diesem Zuge könnten auch allegorisierende Verwendungen offengelegt werden, die nicht selten eine Verschleierung (kirchen)politischer Strategien sind. Solche treten beispielsweise offen zutage im pejorativen Gebrauch, der „Pastoral“ und „Seelsorge“ lediglich als nette Anwendungen benutzt oder in die Funktion von Steigbügelhaltern drängt für die hehren, andernorts ausgedachten Prinzipien, die durch sie bloß noch zu akkomodieren oder zu illustrieren wären (Garhammer 2005). Das Problem hierbei ist die Ortsfrage: „Pastoral“ und „Seelsorge“ sind eben nicht als Zielorte, sondern als Fundorte der Theologie zu denken (Haslinger 2015, 386–387). Sie umschreiben jenen diskursiven Raum in actu, in dem Theologie weder vordiskursiv gesetzt ist noch nachträglich korrigierend eingreift, sondern, simultan in Denken und Tun, geschieht, gefunden wird und entsteht. Diese normative Aussage impliziert folgende Fragen: Wer autorisiert den Gebrauch? Von wo aus kritisiere ich den Gebrauch?
Zwischen wissenschaftstheoretischen Strategien und alltagspraktischen Taktiken
Professionalisierung und Alltagsgebrauch scheinen einander zu widerstreiten. Daß „Pastoral“ und „Seelsorge“ spätestens um das Zweite Vatikanische Konzil herum eine wissenschaftstheoretische Professionalisierung erfuhren, wiewohl es im Christentum schon früh erste Professionalisierungstendenzen gab (Schöllgen 1998), ist ebensowenig fraglich, als dass diese mittlerweile abgegeben, zumindest aber mit anderen Disziplinen geteilt worden ist, allen voran mit den im 19. Jh. sich herausbildenden Humanwissenschaften (Certeau 2009). Wer daraus allerdings den Schluss zöge, dass man die strategischen, also institutionell in der Wissenschaft gewonnenen neuen Erkenntnisse und Entwürfe der Praktischen Theologie nun bloß nur noch umzusetzen bräuchte, hat nicht mit den Taktiken der Gläubigen gerechnet. Der Gebrauch schiebt sich dazwischen und so findet sich die Praktische Theologie in einem spannungsreichen Gefüge bzw. vor einer Unterscheidung. Die in der Fachgeschichte herausgearbeitete Spannung zwischen Deskriptivem und Normativem bzw. zwischen Ist und Soll realisiert sich in spätmodernen Ansätzen als Spannung zwischen Praktiken und Aussagen bzw. zwischen Alltagsgebrauch und Epistemik. Im Sinne einer Gretchenfrage formuliert: Nun sag, wie hast du es mit diesen dreien, mit wissenschaftsstrategischer Differenzierung, taktischem Gebrauch und akkomodierender Anleitung?
Die Alltagspraktiken, das hat Michel de Certeau in Bezug auf die Stadt analysiert (Certeau 1988), unterlaufen die Pläne jener, die den Alltag allzu gerne kartographieren. Aus dieser Sicht wird Praktische Theologie als Anleitungswissenschaft nicht funktionieren, denn zum einen wissen die Fußgänger schon selber, welche Wege sie einschlagen und wo sie Umwege erfinden. Und zum anderen ist das, was Praktische Theologie tut, keineswegs so etwas wie das Weiterreichen einer Karte, sondern, das haben die handlungs- und wahrnehmungswissenschaftliche Ausrichtung seit den 1970er bzw. 1990er Jahren unhintergehbar gezeigt, ein kommunikatives Handeln, das in actu einer Kommunikation jene Subjekte und sujets, um die es geht, erst ausbildet. Diese Lesart bringt die Positionen von Jürgen Habermas und Michel Foucault zusammen, insofern sie mit Foucault vom normativen Subjektbegriff bei Habermas entlastet (Subjekte in actu ihres Entstehens und nicht vordiskursiv gesetzt) und zum anderen mit Habermas an einem normativen Kern festhält, nämlich der Kommunikation als einer Beziehung bzw. Relation.
Akkomodationen und Anleitungen haben demgegenüber kein Sensorium für Subjekte, für Menschen und Texte: Anleitungen behandeln diese als Objekte. Der Anleitung wohnt auf unterschiedliche Weise ein panoptischer Standort inne: statt um lokale Räume mit ihren unsichtbaren Wegen und Finten geht es ihr um den Hochsitz. Kurz: die Anleitung weiß zuviel. Sie setzt den immergleichen Ort (voraus) und verhandelt ihn nicht.
Der Gebrauch ist nach Certeau frei von solcherart Anleitungen. Er macht eine Diasporisierung oder Streuung und gibt ein „Mehr“ zu denken: er vollzieht ein Gehen, Flanieren und Wandern, das eine kartierte oder katalogisierte Aufzeichnung mit ihren klaren Linien planiert, denn:
„Bei der Aufzeichnung von Fußwegen geht genau das verloren, was gewesen ist: der eigentliche Akt des Vorübergehens. Der Vorgang des Gehens, des Herumirrens oder des ‚Schaufensterbummels‘, anders gesagt, die Aktivität von Passanten wird in Punkte übertragen, die auf der Karte eine zusammenfassende und reversible Linie bilden. Es wird also nur noch ein Überrest wahrnehmbar, der in die Zeitlosigkeit einer Projektionsfläche versetzt wird. Die sichtbare Projektion macht gerade den Vorgang unsichtbar, der sie ermöglicht hat. Diese Aufzeichnungen konstituieren die Arten des Vergessens. Die Spur ersetzt die Praxis. Sie manifestiert die (unersättliche) Eigenart des geographischen Systems, Handeln in Lesbarkeit zu übertragen, wobei sie eine Art des In-der-Welt-seins in Vergessenheit geraten läßt.“ (Certeau 1988, 188–189)
Den Gebrauch, den die Karte der Anleitung vergessen macht, zu analysieren und zu unterscheiden, was nichts anderes heißt als Kritik, ist der Praktischen Theologie aufgegeben. Der Gebrauch geschieht in actu und auf doppelte Weise: über Alltagspraktiken und deren wissenschaftlicher Reflexion. Beide Modi stehen nicht in einem Über-, Nach- oder Nebeneinander, sondern sind miteinander verschränkt in der Weise eines „unvermischt und ungetrennt“. Es geht um ein „hier und da“ (Certeau 1988, 191), um ein Hin-und-Her-Gehen bzw. -Flanieren (discurrere, lat.). Das fängt dann aber schon mit den hier bedachten Begriffen Pastoral und Seelsorge an.
Pastoral als Haltung und als Relationsbegriff
Der Gebrauch des Wortes „Pastoral“ reicht von der Umschreibung dessen, was die Kirche tut (deskriptiv) oder tun müsse (normativ) bis hin zum Synonym für die Relation von Kirche und Welt. Als problematisch kann sich dabei jene materiale Verwendung von „Pastoral“ erweisen, die den Begriff auf eine Innenbeschreibung und -normierung reduziert. Zwar wird der Außenbezug durch humanwissenschaftliche Exkurse, also durch ergänzende soziologische, psychologische u. a. Erhebungen behauptet, manchmal scheint diese Behauptung (einer Profession) jedoch eine Alibifunktion zu haben. Die Radikalität des Verfahrens Sehen-Urteilen-Handeln erscheint dann gekappt, wenn das Sehen die Bedingungen und Bedingtheiten der Urteils- und Handlungsstrategien nicht selber wirklich in Frage stellt und transformiert. Insofern wohnt diesem materialen Pastoralbegriff ein vordiskursives Moment inne, das den Prozess des Verhandelns einer besseren Praxis nicht wirklich offen gestalten läßt, sondern das diesen Prozess vorab rahmt und beschneidet. Dass es stets vordiskursiv gesetzte Elemente geben wird, ist hierbei nicht die entscheidende Frage, es wird in der „Pastoral“ immer unhintergehbare christliche Setzungen geben: Könnte eine solche und damit ein angemessener materialer Pastoralbegriff nicht ausgehen von der Anerkennung des Anderen?
Damit würde sich die Pastoraltheologie spannenderweise an ethisches Fragen zurückbinden – das tat sie wissenschaftspraktisch schon im 17./18. Jh. und damit soll nun nicht die Ausdifferenzierung zurückgenommen werden, vielmehr hat sie einen eigenen Weg zu suchen bei der materialen Bestimmung des Pastoralbegriffs. Der Begriff „Anerkennung“ scheint mir insofern zentral und anschlussfähig, als er gegenwärtige Wissensformationen nach dem postcolonial turn nicht überspringt. Das Konzept der Anerkennung findet sich in Ansätzen von Édouard Glissant, Homi K. Bhabha, Judith Butler und Seyla Benhabib ebenso wie in biblischen, jüdisch-christlichen Schriften, die man als Narrative der Differenz oder als „Schule der Liebe zum Fremden und des Antirassismus“ (Levinas 1996, 126) begreifen könnte. Mithilfe hermeneutischer Formationen ist die Perspektive der Anderen eingebracht worden in diakonisch formatierten Konzepten (Haslinger 1996, 491–503).
Die kriteriologische Frage wäre, auch bei der Rede von Anerkennung und Verletzbarkeit, welche vordiskursiv gesetzte Bedingungen wie, woraufhin und von wem eingesetzt worden sind. Das betrifft auch die Weitung und Operationalisierung des Pastoralbegriffs in der zweiten Kirchenkonstitution Gaudium et spes. Deren Fußnote erfindet den Pastoralbegriff im Sinne einer kontinuierlichen Tradierung neu. Sie verbindet ihn zum einen material mit dem, was sie – überdies ist dies ein Hauptbegriff des Konzils – „Haltung“ („habitudinem“) nennt, und sie qualifiziert ihn zum anderen als Relationsbegriff: „pastoral“ meint danach die „Haltung der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute“ („habitudinem Ecclesiae ad mundum et ad homines hodiernos“; Fußnote zu GS).
Andere Worte für Haltung oder Relation wären Beziehung (Boschki 2003), Resonanz (Rosa 2016), Differenz (Bhabha 2000) oder Balance (Wustmans 2011). Allen gemein ist das Durchbrechen und Außerkraftsetzen binärer Kodierungen und dichotomischer Praktiken. Es geht um so etwas wie Botengänge (Serres 1995). Die Konzilstexte des Zweiten Vatikanum spielen dies auf vielfältige Weise durch: schon im Titel von Gaudium et spes wird Kirche auf Welt hin relationiert und in die Zeit eingebettet statt von ihrer quasiessentialistischen Größe auszugehen, die doch nur wieder ein binäres Ranking zur Folge hätte. Damit bricht der neue Pastoralbegriff und öffnet einen Raum für Melangen und Mischungen, die derzeit in der relationalen Theologie von Papst Franziskus weiterentwickelt werden, beispielsweise in der Dekonstruktion des Zentrums (einhergehend mit der Ermutigung zu peripheren Praktiken) oder der theologischen Aufwertung situativer Bezüge als loci theologici (einhergehend mit der Kritik „katalogisierender“ Praktiken in Amoris Laetitia 2016), fußend auf der grundlegenden, verschiebenden Relationierung von GS 4.1 als einer „Relecture des Evangeliums aus der Perspektive der gegenwärtigen Kultur“ (Franziskus 2015). Eine solche Raumeröffnung für Melangen und Mischungen wirkt der selbstverschuldeten Exkulturation des Evangeliums entgegen.