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Ein Dialog, der Generationen und Welten umspannt: Nationalsozialismus, DDR, Wiedervereinigung, politisches Engagement, Freundschaft, Verrat, Liebe, Enttäuschung, Literatur, Emanzipation, Geld, Sex und Erfolg. Es beginnt im Sommer 1998 – die Enkelin ist 25, wird gerade Journalistin und fängt an, ihre Großeltern über die Vergangenheit zu befragen. Über zehn Jahre hinweg sprechen Jana Simon und ihre Großeltern Christa und Gerhard Wolf über das politische Engagement des Schriftstellerpaars, die Kämpfe der Großeltern, die in ihrer Radikalität und Existenzialität für die Enkelin kaum noch zu begreifen sind, sowie über verlorene Freundschaften und Verrat. Es geht um Herkunft und Familie, den Nationalsozialismus, die DDR und immer wieder um das, was heute ist. Es geht um die mehr als sechzig Jahre andauernde Liebe des Ehepaars Wolf. Und es geht um das Schreiben, das gemeinsame Glück und Unglück im neuen vereinten Land. Die Gespräche reichen bis zum Tod Christa Wolfs 2011 und darüber hinaus. Am Ende treffen sich Enkelin und Großvater noch einmal allein.
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Seitenzahl: 331
Jana Simon
Sei dennoch unverzagt
Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf
FISCHER E-Books
Für Nora
9 Vorwort
15 Berlin-Pankow, 22. August 1998
73 Woserin, 31. Juli 1999
111 Woserin, 22. März 2008
163 Woserin, 25. März 2008
205 Berlin-Pankow, 18. Mai 2008
239 Woserin, 18. Juli 2012
257 Familienübersicht
259 Wichtige Daten und Veröffentlichungen Christa und Gerhard Wolf
263 Anmerkungen
283 Dank
»Liebe Jana, dies wird vielleicht ein etwas selbstsüchtiges Weihnachtsgeschenk, aber ich denke mir, Du bist (so gut wie) erwachsen, und da wird es langsam Zeit, Dich mit meinem Geschriebenen zu behelligen.« Zu Weihnachten 1988 bekam ich ein Geschenk von meinen Großeltern, die Bücher meiner Großmutter, ihr Werk, elf Bände lagen unter dem Weihnachtsbaum im Berliner Amalienpark. Heiligabend verbrachte die Familie immer bei ihnen, die Tanne reichte bis zur Decke, und mein Großvater kochte für die ganze Familie Reh oder Kaninchen. Auf die ersten Buchseiten hatte meine Großmutter jeweils mit schwarzem Kugelschreiber kleine Texte an mich geschrieben – was sie in jener Zeit bewegt, was sie gedacht und was sie gefühlt hatte. Ich war damals 16 und von dem Geschenk nicht gerade begeistert. Eine Madonna-Platte hätte mir besser gefallen.
Zu Hause wuchtete ich die elf Bände in mein Regal, und dort blieben sie. Ab und an zog ich eines der Bücher heraus, wog es in meiner Hand, und manchmal las ich es auch. Am meisten berührten mich diese kleinen Texte. Ich empfand sie als Angebot meiner Großeltern, mir etwas über sich zu erzählen, auch wenn ich das in jener Zeit noch nicht zu schätzen wusste.
Damals, 1988, lebten wir in der DDR, in Ostberlin. Es war das letzte Weihnachten, bevor dieses Land untergehen sollte, und meine Großmutter hatte gerade eine lebensbedrohliche Bauchfellentzündung überstanden.
Auf den ersten Seiten von Der geteilte Himmel schrieb sie: »Ich war zwischen dreißig und vierunddreißig Jahre alt, in vielem naiver, als selbst ihr sechzehnjährigen es heute seid …« Dieser Satz wird sich wie ein Motiv in verschiedenen Variationen durch unsere Gespräche ziehen, die wir viele Jahre später führen.
Ein Jahrzehnt nach jenem Weihnachten, 1998, fing ich an, mich mit meinen Großeltern zu treffen, um mich mit ihnen über ihr Leben zu unterhalten. Die DDR existierte nicht mehr – das Land, mit dem meine Großeltern eng verbunden waren und das ich nur noch bei seinem Zusammenbruch beobachtet hatte.
Im Jahr 1998 war ich 25 Jahre alt, meine Großeltern waren fast siebzig. Ich hatte das Gefühl, zu wenig von ihnen zu wissen, die Zeit nach dem Mauerfall erschien mir wie eine atemlose Abfolge von Monaten und Tagen, ein Dasein im Rausch. Ich war gereist, hatte studiert und gerade angefangen, als Reporterin beim Berliner Tagesspiegel zu arbeiten. In jener Zeit telefonierte ich oft mit meinen Großeltern, meist mit meiner Großmutter, da mein Großvater eine Abneigung gegen längere Telefongespräche hegt. Wir hielten uns auf dem Laufenden, über das Gegenwärtige. Was meine Großeltern tatsächlich bewegte, was ihr Leben ausmachte, über ihre Kämpfe der Vergangenheit erfuhr ich wenig. Damals dachte ich, wenn ich einmal Kinder hätte, wüsste ich gern mehr über meine Herkunft, über unsere Familie, über die Konflikte. Über zehn Jahre hinweg trafen wir uns immer wieder, unterbrochen von langen Pausen. Als 2008 meine Tochter Nora geboren wurde, brachen die Gespräche ab. Im Juli 2012 redete ich noch einmal mit meinem Großvater allein.
Zu Beginn dachte ich nicht an eine Veröffentlichung, diese Idee entstand erst im Laufe der Jahre. Es war als privates Familienprojekt geplant. Später wurde mir bewusst, dass meine Fragen vermutlich Fragen sind, die viele Enkel an ihre Großeltern haben: Fragen an eine Generation, die den Krieg, die Flucht und zwei Diktaturen erlebt hat, an eine Generation, die es bald nicht mehr geben wird.
Meine Fragen sind nicht objektiv und können es nicht sein. Ich frage als Enkelin, nicht als Journalistin. Ich bereitete die Gespräche auch nicht besonders vor, las zuvor keine Bücher, Artikel oder Interviews, aus denen ich schlau hätte zitieren können. Es sollte privat bleiben. Tatsächlich hatte ich nicht jeden Schritt meiner Großeltern genau verfolgt, hatte nicht jedes ihrer Bücher studiert, und wir waren nicht immer einer Meinung. Manche Themen streiften wir nur oberflächlich, manche gar nicht, andere besprachen wir ausführlicher und mehrmals. Gespräche sind selten vollkommen, aber sie können ein Bild geben, einen Eindruck vermitteln.
Über die Jahre entsteht aus meinen Fragen ein Dialog der Generationen – auch wenn es auffällt, dass meine Großeltern weniger von mir wissen wollen als ich von ihnen. Ein bisschen liegt das in ihrem Verdacht begründet, meine Generation sei unpolitisch und somit nicht sehr interessant. Während sie sich ihr Leben lang politisch einmischten, mitmischten.
Beim Verfassen der Anmerkungen für dieses Buch bemerkte ich, wie viele Bekannte, Freunde oder Kollegen meiner Großeltern unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, entweder im KZ, im Exil oder im Widerstand gewesen waren und wie viele von ihnen danach in der DDR wieder in große Konflikte gerieten. Diese Kämpfe der Vergangenheit, wie sich Schriftstellerkollegen, Freunde, enge Vertraute gegenseitig anfeindeten, aus ideologischen Gründen, sind für mich Nachkommende in ihrer Radikalität und Existentialität kaum noch zu begreifen.
»Du warst unser erstes Enkelkind, ich ging mit Dir in Kleinmachnow spazieren, Du hattest eine Schaukelmanie, hängtest Dich an jede Stange: Laukeln, Laukeln!«, schrieb meine Großmutter 1988 auf die ersten Seiten von Kindheitsmuster über die frühen siebziger Jahre. Im Prinzip nehmen diese kleinen Textstücke unser späteres Projekt vorweg. Es sind Versuche, Erfahrungen für die nächste Generation zu bewahren. Erinnerungsfetzen.
Ich sehe meine Großeltern in Neu-Meteln in ihrem Mecklenburger Sommerhaus, das sie ausgebaut haben. Ich bin vielleicht drei, vier Jahre alt, trage rote Gummistiefel und fürchte mich vor den vielen Schmetterlingen im Hof. Meine Oma schreibt auf einem Podest unter dem Dach, von ihrem Tisch blickt sie auf die Obstbäume im Garten, ein idealer Arbeitsplatz. Mein Opa sitzt ein Stockwerk darunter neben dem Kamin und tippt auf seiner Schreibmaschine. Abends kommen Freunde zu Besuch, wir essen an langen Tafeln. Unbeschwerte, heiße Sommer. Scheinbar. 1983 brannte das Haus in Neu-Meteln ab.
Ich erinnere mich, wie ich ihnen einmal mit zehn ein etwas pathetisches Gedicht schenkte mit dem Titel »Wozu lebt man«, das nur aus Fragen bestand. Meine Großeltern zeigten sich begeistert. Es war das erste Mal, dass ich die bestärkende Kraft des Geschriebenen spürte.
Als Teenager besuchte ich in den achtziger Jahren oft mit Freunden ihre Wohnung in der Berliner Friedrichstraße. Meine Eltern besaßen einen Schlüssel. Meist waren meine Großeltern nicht da, aber sie hatten einen Videorekorder und das berühmte Schubfach in einer Kommode, gefüllt mit Schokolade. Sie waren stets sehr beschäftigt, keine Großeltern, die auf ihre Enkel mit Pudding und Kuchen warteten, obwohl besonders mein Großvater bis heute ein grandioser Gastgeber ist.
Unvergessliche Momente: der Blick meines Großvaters, als er entdeckte, dass eine meiner Freundinnen in Michael-Jackson-Bettwäsche schlief. Die erste gemeinsame Westreise mit meinen Großeltern 1990 nach Brüssel und Amsterdam. Der Sommer 2001, in dem ich bei ihnen im neuen Sommerhaus Woserin mein erstes Buch schrieb über einen Freund, der sich das Leben genommen hatte. Ihre goldene Hochzeit, zu der sie sich von mir eine Eismaschine zur Herstellung von »Eisschnee« wünschten, um ihren Lieblingscocktail Margarita zu vervollkommnen. Die vielen Tabletten auf dem Frühstückstisch meiner Großmutter und das zunehmend besorgte Nachfragen meines Großvaters nach ihrem Befinden. Meine Tochter Nora, ihr erstes Urenkelkind, bei ihnen im Pankower Wohnzimmer, meine Großmutter singt: »Wie das Fähnchen auf dem Turme«. Die diamantene Hochzeit im Sommer 2011, die unanfechtbare Beziehung meiner Großeltern, noch einmal versammelt sich die Familie in Woserin. Jeder erzählt eine Geschichte über sie.
Im Herbst 2011 besuche ich meine Oma im Krankenhaus, als es ihr schon sehr schlecht geht. Es ist ein schöner, warmer Tag. Sie liegt im Bett, zur Unselbständigkeit gezwungen, und hält das Zeit-Magazin mit einem Artikel von mir über Los Angeles in der Hand. In dieser Stadt hat sie in den Jahren 1992/93 einmal gelebt, und ich wohnte dort mit meiner Familie 2010/2011. Meine Großmutter fragt nach, hat Formulierungen unterstrichen, die ihr gefallen. Wir nehmen uns vor, einmal ausführlicher über die USA, über Los Angeles zu reden, ein letztes Gespräch. Dazu kommt es nicht mehr.
Am Ende meines Besuches sagt sie, die Familie wünsche, dass sie sich bemühe weiterzuleben, sie wisse aber nicht, ob sie noch könne. Darauf kann ich nichts erwidern. Natürlich möchte ich, dass sie versucht weiterzuleben, aber ich möchte auch nicht, dass sie sich weiter quälen muss in einer Existenz, die ihr nicht mehr entspricht. Meine Oma lächelt mich an. Gern hätte ich sie gefragt, was ihr durch den Kopf geht, denkt sie an den Tod? Und wenn ja, was? Hat sie Angst? Ich traue mich nicht, diese letzten Fragen zu stellen. Ich mag ihr nicht zu nahetreten. Das Thema Tod spielt in all unseren Gesprächen kaum eine Rolle.
Am 1. Dezember 2011 stirbt meine Großmutter. Kurz darauf stehe ich vor meinem Regal, dort im obersten Fach liegen die Werke meiner Großeltern. Seit 1988 sind einige Bände hinzugekommen. Ich sehe mir die Bücher an und lese noch einmal die kleinen Texte von meiner Oma darin, um mich auf die Trauerrede vorzubereiten. Zu ihrer Beerdigung hat mein Großvater eines der Lieblingsgedichte meiner Großmutter von Paul Fleming ausgesucht: »Sei dennoch unverzagt«.Dieses Buch trägt diesen Titel. Ich finde, er passt zu meinen Großeltern, und er trägt auch als Gedanke für ihre Enkel – trotz Schwierigkeiten und Widerständen weiterzumachen, nicht aufzugeben.
Zu Weihnachten 1988 schrieb mir meine Großmutter bedauernd in ihren Essayband Die Dimension des Autors: »So gebe ich mich widerwillig mit dem Gedanken zufrieden, wie vieles zu seiner Zeit Wichtige in jedem Leben auf Nimmerwiedersehen verlorengeht …« Etwas davon bleibt nun erhalten.
Das erste Mal treffen wir uns in der Wohnung meiner Großeltern im Nordosten Berlins. Es ist früher Nachmittag, die Sonne scheint, die hohen Bäume des Amalienparks tauchen die Zimmer in schummriges Licht, werfen Schatten auf die Pflanzen, die Gemälde an der Wand und die Bücherregale, die bis zur Decke reichen. Wir sitzen im Wintergarten, es gibt Kuchen, Kaffee und Tee. Alle paar Minuten hören wir das laute Dröhnen der Flugzeuge im Landeanflug auf Tegel. Meine Großmutter hat auf einem Korbstuhl Platz genommen, sie trägt eine Seidenbluse, ihre schwarzen Haare reichen bis zum Kinn, neben ihr wartet mein Großvater; die Brille auf seine Nasenspitze gerückt, betrachtet er mich über die Gläser hinweg. Meine Großeltern sind fast siebzig, ich bin 25. Gerade habe ich begonnen, als Journalistin zu arbeiten. Das Aufnahmegerät liegt vor mir, eines, das mit Kassetten funktioniert. Meine Großeltern schauen mich erwartungsvoll an, sie wissen nicht genau, was ich vorhabe. Ich hatte angekündigt, dass ich mit ihnen über ihr Leben sprechen will.
JS Ich weiß gar nicht viel über euch, über eure Vergangenheit.
CW Dann lies einfach Kindheitsmuster!
JS Das habe ich. Aber da steht nicht alles drin, und ich würde es gern von euch hören.
GW Ich wollte mit deinem Cousin Anton[1] dieses Jahr nach Thüringen, nach Bad Frankenhausen zur 1000-Jahr-Feier fahren und ihm meine alte Heimatstadt zeigen, aber wir haben keine Zeit. Damals, als ich ein Junge war, hatte Bad Frankenhausen 8000 Einwohner, ein Sole-Schwimmbad, ein Heim für Asthmakranke, das nach dem Krieg ein Kinderheim war und von Christas Vater, Opa Ihlenfeld[2], geleitet wurde. Bei Frankenhausen gibt es den berühmten Schlachtberg, wo 1525 die aufständischen Bauern besiegt wurden.
Mein Vater war in der Partei gewesen und Buchhalter beim Reichskriegerbund. Nach dem Krieg durfte er nicht mehr in seinem Beruf arbeiten. Er musste auf einer Domäne in der Landwirtschaft helfen. Die brauchten Arbeiter, und die kleineren Nazis wurden dorthin geschickt. Danach kam er in eine Knopffabrik, Knöpfchen drehen, später wurde er dann wieder Buchhalter.
JS Wie war das für dich, dein Vater war NSDAP-Mitglied, und du warst nicht in der Hitlerjugend, oder?
GW Doch. Im Gegensatz zu Christa war ich aber kein begeisterter Hitler-Anhänger. Ich passte nicht in die Hitlerjugend. Damit verknüpfe ich eher traumatische Erinnerungen: Einmal führte uns der Fähnleinführer ins Schwimmbad und warf alle Nichtschwimmer einfach ins Wasser, wo sie absoffen. Die Fähnleinführer, das waren große, kräftige Kerle, und ich war ein kleiner, dünner, blonder Junge. Manche lernten dann mit Eifer schwimmen, aber ich weigerte mich, hatte so eine Abwehrhaltung, die sich noch verstärkte, als mein Vater im Krieg wieder heiratete. Meine Mutter war 1938 an Brustkrebs gestorben, da war ich zehn. Und mein Vater hatte seine neue Frau Felicitas, genannt Feechen, durch einen Feldpostbrief kennengelernt. Das war eine richtige Nazi-Frau, sie trug das goldene Sportabzeichen und wollte mich auch gleich wieder zum Schwimmen schleppen. Aber ich machte nicht mit.
JS Was hat dein Vater gearbeitet?
GW Mein Vater gehörte wie Opa Ihlenfeld zu den Jahrgängen, die noch im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten. Er war ganz jung und Kriegsfreiwilliger gewesen. Dann fiel ihm gleich das Maschinengewehr auf den Knöchel, fortan saß er immer in Schreibstuben. Übrigens wollte er einmal Journalist werden, der Einzige in der Familie. Die anderen waren alle Handwerker, mehrere Generationen Büchsenmacher in Suhl. Die waren nie im Krieg, sondern haben Gewehre gebaut. In den Sommerferien besuchte ich meine Onkel, die nahmen mich mit in die Fabrik, und mit einem Cousin habe ich dort einmal Gewehre eingeschossen. Da saß ich in so einem Graben, über mir knallten die Schüsse hinein, und ich zeigte an, wo sie hingingen. Das hat mir sehr imponiert. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde mein Vater in das Hunderttausend-Mann-Heer übernommen, war Unteroffizier in einer Schreibstube, später war er im Stahlhelmbund, eine Organisation von Frontkämpfern, die dann in der SA aufging. Da hatte mein Vater schon eine kleine Stelle als Angestellter im Finanzamt. Und er war ein sehr guter Stenolehrer.
CW Ich habe bei ihm Steno gelernt.
GW Er hat damit Preise gewonnen. Er war der typische kleine Mann, der in der SA landete. Das war seine Partei. Er war Jahrgang 1896, machte wie Christas Vater im Zweiten Weltkrieg den Polenfeldzug mit und war ganz kurz in Frankreich. Danach wurden sie als alte Herren zunächst entlassen.
CW Mein Vater blieb Soldat in der Schreibstube des Bezirkskommandos, aber er konnte abends nach Hause kommen. Über seine graue Soldatenhose zog er einen weißen Kittel und ging noch in unseren Kaufmannsladen in Landsberg, um meiner Mutter zu helfen, die das Geschäft im Krieg weiterführte.
JS Wie hast du das erlebt, Opa, dass plötzlich eine neue Mutter in die Familie kam?
GW Sie war streng. Alles war sehr reglementiert. Einer musste Schuhe putzen, der andere staubsaugen. Wir haben neulich übrigens einen ganz untertänigen Brief von mir an sie gefunden. Das muss ich gemacht haben, damit ich einen guten Stand bei ihr hatte.
JS Du mochtest diese neue Frau nicht besonders?
GW Nein, aber mein Bruder Dieter[3] hat ebendiesen Brief gefunden, in dem ich die »neue Mutti« begrüße. In dem ich schreibe: »Gut, dass wir wieder eine Familie sind.« Ziemlich brav und unterwürfig.
CW Ganz gefühlstriefend.
GW Was mich selbst erstaunte, weil es ja nicht der Wahrheit entsprach. Sie bekam dann 1942 noch ein Kind mit meinem Vater. Das war der Halbbruder Helmut, der 1987 bei einem Autounfall tödlich verunglückte.
JS Von ihm hast du mir noch nie erzählt. Bist du mit ihm aufgewachsen?
GW Nicht mehr richtig. Ich ging bald weg. Mit 15 Jahren wurde ich als Luftwaffenhelfer eingezogen. Wie jung wir da waren! Mein Vater war Buchhalter beim Kyffhäuserbund geworden, und deshalb zogen wir auf das Rathsfeld nahe Frankenhausen. Da hatten wir zum ersten Mal eine schöne Wohnung in einem alten, modern renovierten Haus mit Bad und Wassertoilette. Das war dort damals selten.
JS Augenblick mal, das geht mir zu schnell. Du wurdest mit 15 in den Krieg geschickt, wo wurdest du eingesetzt?
GW Zuerst in Erfurt, am Rande der Stadt standen 4er-Flakbatterien gegen Tiefflieger. Es gab einen großen Angriff, dabei wurden ein paar Jungs verwundet. Dann wurden wir an die Saale-Talsperre verlegt. Die Engländer hatten zuvor im Westen die Edertalsperre mit einem Torpedo zerstört, und nun sollten alle anderen Talsperren geschützt werden. Wenn Alarm ertönte, nebelten sie das ganze Tal ein, so dass man nichts sehen konnte. Wir saßen auf den Bergen ringsherum, und von Bergkuppe zu Bergkuppe hing ein Netz mit kleinen Sprengkörpern darin. Dort passierte nicht viel. Bis Januar 1945. Dann wurden wir alle an die Front, an die Oder geschmissen. Hier standen viele Flakbatterien großen Kalibers, die hatten aber kaum Munition. Die Russen hatten mit einem Brückenkopf schon die Oder überquert, sonst war sie die Frontlinie. Da war Stillstand bis zum großen Angriff am 16. April, bei dem sie mit dem größten Trommelfeuer des Zweiten Weltkriegs auf uns schossen. Ich lag vor Bad Freienwalde, und wir flohen nördlich an Berlin vorbei zu den Amerikanern.
JS Hast du da noch an einen Sieg Deutschlands geglaubt?
GW Nein. Die Amerikaner waren schon in Thüringen. Es gab aber noch Einzelne, die erzählten: »Der Führer hat die Wunderwaffe! Da ist noch was! Der Krieg kann doch nicht verloren sein!« Und dann geriet ich in Gefangenschaft. Oben in Mecklenburg, noch auf östlicher Seite der Elbe. Alle strömten dorthin. Es hieß: Weg von den Russen, hin zu den Amerikanern. Es ging über Eberswalde bis hoch nach Mecklenburg, immer parallel zu den Flüchtlingstrecks. Wir saßen auf einem alten Feuerwehrwagen. Gewehr und Stahlhelm warf ich weg. Als die Amerikaner uns gefangen nahmen, hatte ich schon nichts mehr. Die Amerikaner ließen uns ein improvisiertes Lager aufbauen und Stacheldraht um ein Kiefernwäldchen ziehen. Es gab zuerst ein Frühstückspäckchen – Kekse und Zigaretten – für drei Mann. Wir hatten aber noch ein paar Konservenbüchsen im Rucksack. Nach 14 Tagen wurden wir jungen Burschen auf die umliegenden Bauernhöfe verteilt, um zu helfen. Dort kriegten wir ordentlich Bratkartoffeln und Milchsuppe. Wir waren drei Thüringer und brachen dann eines Morgens nach Hause auf. Wir haben uns quasi selbst befreit. Uns hat auch keiner aufgehalten, weil wir wirklich junge Bürschchen waren. Das war im Mai 1945 …
CW Wieso, am 8. Mai war doch erst die Kapitulation.
GW Davon erfuhren wir auf dem Weg nach Hause.
JS Warst du erleichtert, dass der Krieg vorbei war?
GW Ja, man wollte nach Hause. Viele, die früh nach Hause kamen, wurden von den Russen noch einmal geschnappt und gerieten erneut in Gefangenschaft. Es herrschte großes Durcheinander.
JS Hast du an Hitler geglaubt, du hast im Krieg für ihn gekämpft?
GW Ich war Telefonist, richtig gekämpft habe ich also nicht. Das ist hochinteressant, einige Jahre später arbeitete ich als Dramaturg an dem Film Ich war neunzehn von Konrad Wolf[4] mit. Seine Familie hatte in Russland im Exil gelebt, und er kämpfte auf Seiten der Russen. Im Krieg lagen wir beide uns 1945 an der Oder gegenüber, und ich hörte deren Agitation über Funk, die spielten deutsche Schlager und forderten uns auf, die Waffen niederzulegen. Diese Parolen trafen bei uns auf völlig taube Ohren. Sollten wir über die Oder schwimmen oder was?
JS Und mit wem hast du immer telefoniert?
GW Ich habe Strippen gezogen, Leitungen zwischen den einzelnen Abteilungen gelegt. Manchmal wurden wir dabei auch von den russischen Fliegern beschossen. Und unsere Batterie hatte einen Decknamen … (überlegt) nicht Birke. Nein, Weide!
JS Das heißt, du hast damals an den Nationalsozialismus geglaubt?
GW Du, das ist eine komische Frage! Was heißt geglaubt? Wir haben uns an der Front darüber unterhalten, dass die Amerikaner schon in Eisenach standen, fragten uns: Was soll das eigentlich alles noch? Wie kommen wir nach Hause? Was ist los? Das waren die Fragen, die uns bewegten.
JS Hattest du Angst um dein Leben?
GW So eine richtige Urangst hatte ich eigentlich nie. Ich saß im Trommelfeuer in einem Erdbunker, und ich hatte keinen Stahlhelm auf, hatte mir nur so einen Brattiegel über den Kopf gestülpt. Ich dachte, der schützt irgendwie. Bis 16. April 1945 war es ruhig gewesen. Als es dann losging, zog sich die ganze Batterie sofort zurück. Ich weiß gar nicht mehr, ob es überhaupt noch Befehle gab. An eine Begebenheit kann ich mich erinnern, aber nicht mehr an den Ort, an dem das geschah. Da haben wir uns eingegraben und Geschütze aufgestellt. Mich stellten sie sogar an ein Maschinengewehr, womit ich mich überhaupt nicht auskannte. Dann kamen die Russen, liefen in Reihen auf uns zu, und die Kugeln surrten. Gott sei Dank gab es den Befehl, dass wir Fernsprecher wegrücken sollten. Ich war froh, wir rannten, und die Kugeln pfiffen um uns herum. Unserer Batterie passierte aber nicht viel, die gaben ein paar Schüsse ab, sprengten die Kanonen und setzten sich ab. Ich saß in einem Funkwagen, neben mir verblutete ein Mann, er war ganz bleich im Gesicht, und das Blut sickerte aus seinem Arm. Dann erschien ein Ritterkreuzträger und wollte uns alle aufhalten. Er schoss in die Luft, schrie, wir sollten uns verteidigen. Es war ein völliges Durcheinander. Die Flucht war sehr abenteuerlich.
Als ich 1945 nach Hause kam, wurden wir vom Rathsfeld vertrieben. Die Russen machten ein Lazarett aus dem Schloss. Innerhalb eines Tages mussten wir unsere Wohnung räumen und alles auf den Anhänger eines Treckers laden. Wir hausten in Frankenhausen wie Flüchtlinge ein halbes Jahr in einem Klassenraum.
JS Wusstest du zu dieser Zeit, dass es Konzentrationslager gab? Hattest du davon irgendetwas mitbekommen?
GW (überlegt) Das ist sehr schwer zu beantworten.
CW Ich wusste es.
GW Da müsste ich sehr genau überlegen. Gesprochen wurde darüber sicher kaum.
CW Bei uns hießen die KZs, wenn die Erwachsenen darüber sprachen – Konzertlager.
JS Wieso Konzertlager?
CW Meine Eltern führten ein Lebensmittelgeschäft, in dem sehr viele Menschen ein und aus gingen und miteinander redeten. Vieles sollte ich als Kind natürlich nicht mitkriegen. Es muss 1935 oder 1936 gewesen sein, dass ich das erste Mal dieses Wort hörte. Mein Vater sagte es selbst: Ein Kunde, der Mann von Soundso, der sei jetzt aus dem Konzertlager gekommen, aber die dürften ja nichts erzählen. Das merkte ich mir, weil es von einem Geheimnis umgeben war und von etwas sehr Ungutem. Man spürte es daran, wie leise die Erwachsenen darüber sprachen, sie flüsterten. Dass es KZs gab, das wusste man.
JS Konntet ihr euch etwas Konkretes darunter vorstellen?
CW Nein, überhaupt nicht.
GW Das ist ganz schwer genau nachzuvollziehen. Ich weiß noch, dass wir gleich nach dem Krieg mit Freunden in Bad Frankenhausen in das Stück des Schriftstellers Günther Weisenborn Die Illegalen[5] gingen. Darin verarbeitete er seine Zeit im Widerstand gegen die Nazis. Darüber lachten wir nur.
CW Ja?
GW Wir hatten nach dem Krieg aber gute Lehrer, der eine, der Deutschlehrer, ein Sozialdemokrat, war in Buchenwald gewesen. Da wusste man dann, dass es so etwas wie das KZ Buchenwald gab. Vor dem Krieg war das kein Gesprächsthema. Es ist ganz schwer zu sagen, was man rational wusste oder was man vielleicht auch nicht wissen wollte. Das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler sickerte zum Beispiel durch. Ich war ja Fernsprecher. Es war sehr geheimnisvoll und merkwürdig, wie sich die Offiziere verhielten. Dass sie keine Stellung nahmen. Das war so ein lufttoter Raum, das weiß ich noch ganz genau.
CW Also der 20. Juli verlief bei uns so. Mein Vater war noch im Wehrbezirkskommando und bekam abends einen Anruf mit irgendeinem Codewort. Ich weiß, dass er sehr erschrocken reagierte und sagte, er müsse sofort los, es sei etwas Schlimmes passiert. Zwei Tage später wurden wir alle – Hitlerjugend, Jungmädel, BDM – auf dem Marktplatz meiner Heimatstadt Landsberg an der Warthe[6] versammelt. Wir standen dort in einem Riesenkarree, und die Sturmbannführer hielten ihre Reden: Der »Führer« sei gerettet, die Vorsehung habe uns den »Führer« erhalten. Die Attentäter stellten sie als Verräter hin.
JS Alles andere habt ihr erst nach dem Krieg erfahren? Wie haben diese furchtbaren Enthüllungen auf euch gewirkt? Das muss doch ein Schock gewesen sein!
CW Es war vernichtend. Na pass mal auf, was ich zum Beispiel vorher wusste oder ahnte, ist, dass die Juden verfolgt wurden. Meine Tante Grete hatte nach damaliger Einschätzung einen jüdischen Touch – dunkle Haare, gebogene Nase. Sie war eine aparte Frau und hatte einen Mann, den sie wahnsinnig liebte. Aber der hatte eine Geliebte. Deshalb trennte sich Tante Grete von ihm. Eines Tages kam sie zu uns und sagte: »Stellt euch vor, diese Geliebte verbreitet, dass ich Jüdin bin!« Das war in den dreißiger Jahren eine Katastrophe. Ich war noch klein, vielleicht sieben Jahre alt, und bekam einen furchtbaren Schreck. Ich ging in die Küche, setzte mich auf den Kohlenkasten. Meine Mutter fragte: »Was ist denn?« Ich sagte: »Ich will keine Jüdin sein.« Da sagte meine Mutter: »Um Gottes willen, woher weiß das Kind, was eine Jüdin ist.« Ich will damit nur andeuten, es lag etwas in der Luft. Aber ich könnte heute nicht sagen, woher ich mit sieben Jahren wusste, dass es gefährlich ist, Jüdin zu sein.
GW Bei uns gegenüber wohnte Fräulein David, die ich sehr mochte, weil sie mir Bauklötzchen geschenkt hatte. Sie war plötzlich nicht mehr da. Darüber wurde aber nicht gesprochen. Und in Frankenhausen lief ein Ehepaar mit dem gelben Stern herum, ältere Leute, sie taten einem leid, und es war merkwürdig …
JS … eben das meine ich, man muss sie doch gesehen haben!
GW Man sprach nicht darüber.
JS Aber man muss doch die Läden mit der Aufschrift »Jude« gesehen haben und die Menschen mit dem Stern.
CW Du, Jana, ich habe niemals einen Menschen mit einem Stern gesehen.
GW Ich nur dieses eine Paar. Als ich einmal auf Urlaub von der Front kam, fuhren wir mit dem Bus vom Rathsfeld nach Bad Frankenhausen zum Einkaufen. Im Bus saß ein älterer Mann mit einem Judenstern. Der Bus war voll, und meine Stiefmutter Feechen sagte laut: »Na, die deutschen Frauen können ja stehen, wenn die Juden sitzen!« Ich fand das grässlich. Das war doch ein alter Mann.
CW Ich habe gesehen, wie die Synagoge in Landsberg brannte. Es ist mir heute noch unbegreiflich, wie ich davon erfuhr. Diese Szene habe ich auch in Kindheitsmuster beschrieben. Jedenfalls bin ich in die Altstadt gegangen. Ich trug einen Trainingsanzug, und da brannte die Synagoge. Das Bild, das ich behalten habe: Männer in langen Gewändern, mit Schläfenlocken und Käppis auf dem Kopf, die ich zuvor noch nie gesehen hatte, retteten Gegenstände, goldene Fässchen, aus der brennenden Synagoge. Es wurde nie wieder darüber gesprochen. Als ich vor kurzem noch einmal in Landsberg war, sah ich, das ganze Viertel ist weg.
JS Was hast du damals gedacht?
CW Ich hatte Mitleid, ich war ein sehr mitleidiges Kind. In meiner Gegenwart durfte man keine Geschichten erzählen, in denen Unrecht geschah. Ich fing sofort an zu heulen. Als ich Kindheitsmuster schrieb, versuchte ich, die Judenvernichtung für Landsberg einigermaßen zu rekonstruieren. Das gelang mir nur bis zu einem gewissen Grad. Meine Familie war anders als Gerds, wir hatten einen Laden, ein Haus …
GW … ihr standet mehr in der Öffentlichkeit.
CW Wir standen innerhalb des Kleinbürgertums eine Stufe höher. Gerds Vater war ein kleiner Angestellter, meiner immerhin Kaufmann. Im Grunde hatten sie natürlich dieselbe Mentalität. Mein Vater war sehr kommunikativ. Aber meine Eltern hatten eigentlich keine Freunde. Sie luden keine Leute ein oder gaben Essen so wie wir heute. Das gab es bei uns überhaupt nicht.
JS In der Familie wurde nie über Politik geredet?
CW Doch!
GW Na, mit den Kindern nicht. Mein Vater hat mir ja nicht einmal gesagt, dass meine Mutter gestorben ist. Da gab es eine völlige Sprachohnmächtigkeit, und ich war sehr isoliert, habe viel gelesen.
CW Bei uns war es etwas anders. Unsere ganze Familie wohnte in derselben Stadt. Meine Großeltern mütterlicherseits kamen noch weiter aus dem Osten. Meine Mutter wurde in Bromberg geboren. Beide Großväter arbeiteten bei der Eisenbahn, zum Stolz der Familie. Der Großvater, der nach Landsberg versetzt worden war, hatte die großartige Funktion, am Fahrkartenschalter Fahrkarten zu knipsen.
GW Die Eisenbahn, die neuen Bahnlinien waren ein großer Industrialisierungsschub.
CW Meine Großeltern wohnten in der Kesselstraße in einer Baracke, sie waren sehr arm. Meine Oma hat die Familie durchgebracht, sie hat Ziegen und Kaninchen gehalten und geschneidert. Das wurde mir als Kind natürlich nicht gesagt. Der Vater meiner Mutter, Opa Hermann, ging einmal im Monat seine Rente abholen. Eines Tages war ich dabei, als die Oma ihn entließ, sie sagte: »Komm aber gleich nach Hause!« Einen Schnaps durfte er sich genehmigen, er hielt sich aber oft nicht daran. Eine tiefe Verletzung meiner Mutter war, dass sie sich als Kind von dem Eisenbahninspektor demütigen lassen musste, damit ihr Vater nicht entlassen wurde.
Meine Mutter kam in die Mittelschule, sie war begabt. Aber mein Vater war ganz besonders begabt für alles, er war in der Volksschule immer der Primus. Sein Lehrer ging zu meinem Großvater und sagte: »Dein Sohn ist so schlau, der braucht die Mittelschule.« Mein Opa entgegnete, das käme gar nicht in Frage, sein Sohn solle nichts Besseres werden, nicht aus der Familie ausscheren. Er hat es meinem Vater nicht erlaubt, aber er selbst konnte kaum lesen und schreiben. Dieser Lehrer hat meinem Großvater Nachhilfe gegeben. Die Familie meines Vaters stammt aus Westpreußen, die Verwandten hatten alle einen kleinen Tülüteti. Wenn sie uns besuchen kamen, war ich vollkommen von ihnen fasziniert, weil sie lauter Blödsinn veranstalteten. Onkel Heinrich zum Beispiel oder Tante Emmi – wenn wir Geburtstag feierten, dann hatte sie immer so ein Pupskissen. Kennst du das? Sie hat sich daraufgesetzt, und mitten in der Familienfeier ging es Kawufff!
JS Das heißt, dein Vater war nicht auf der Mittelschule. War das ein Problem?
CW Meine Mutter war dort und er nicht. Das hat unterschwellig immer eine Rolle gespielt. Meine Mutter hatte ein bisschen Fremdsprachenunterricht genossen, und wenn mein Vater ein Wort auf Französisch falsch aussprach, hieß es: »Aber Otto!« Er war ja in französischer Kriegsgefangenschaft gewesen. »Bestoß mich doch nicht immer«, war seine Antwort. Ich habe den Eindruck, die Hochzeit der beiden war so etwas wie das letzte Aufgebot für meine Mutter. Als sie ihn heiratete, war sie schon 26, das war für damalige Verhältnisse spät. Mein Vater hatte sich ausgelebt, er war 29. Sie war eine sehr selbständige Frau, Buchhalterin in einer großen Käsefabrik. Sie konnte sich selbst versorgen. Nachdem meine Eltern geheiratet hatten, betrieben sie den Laden.
JS Wo haben sich die beiden denn kennengelernt?
CW Auf einem Fest bei einer Freundin meiner Mutter. Otto hat sich an Hertha herangemacht. Er hat ein bisschen getrunken, und als sie gehen wollte, bestand er darauf, sie nach Hause zu begleiten, aber sie wollte nicht. Er begleitete sie dennoch. Meine Mutter setzte ihn dann auf den Stein in ihrem Vorgarten, und als sie wenig später aus dem Fenster sah, war er schon weg. Aber sie machte sich die ganze Nacht Gedanken: Wo ist der hingegangen in seinem Suff? Er war in den Stadtpark getorkelt und hatte dort auf einer Bank übernachtet. So geht die Familiensaga. Am nächsten Morgen wurde er von einem Polizisten aufgestöbert. Er machte sich nur kurz zurecht, rief von seinem Betrieb aus bei meiner Mutter in der Käsefabrik an und fragte sie, wann sie sich wieder treffen könnten. Das hat meiner Mutter anscheinend imponiert.
GW Erzähl mal die Lechner-Geschichte!
CW Das ist eine Familiengeschichte, die ich erst viel später erfahren habe und die mich sehr beschäftigt hat. Als ich Kindheitsmuster schrieb, befragte ich meinen Vater viel zu unserer Familie, und er erzählte Folgendes: Die Schwester meiner Mutter, Tante Elfriede, eine sprühende Frau, hatte mehrere Fehlgeburten. Das war in der Familie bekannt. Es hieß, sie könne keine Kinder kriegen. Ihr Mann, Onkel Maxe, war Prokurist beim Kohlenhändler Wiedemann. Und auf einmal war sie schwanger. In unserer Familie wurde über Sexualität überhaupt nicht gesprochen. Das kannst du dir heute gar nicht mehr vorstellen, wie man da lauscht und versucht, alles aufzuschnappen. Das Baby war ein Siebenmonatskind. Ich wollte natürlich gern mehr erfahren, aber niemand erzählte mir etwas. Es gab eine Nottaufe. Gerhard, so hieß das Kind, kam durch. Mein Vater ließ später durchsickern, dass bei uns in der Familie das Gerücht umging, dass der Gerhard gar nicht das Kind von Onkel Maxe war, sondern von dem jüdischen Arzt der Tante Elfriede, Doktor Lechner. Ich habe das in Kindheitsmuster nur angedeutet. Ich beschreibe eine Feier, wo Doktor Lechner, den ich Doktor Leitner nenne, neben meiner Tante sitzt. Nach der Veröffentlichung gab es deswegen ein Riesentheater mit einem Vetter. Jahre vergingen, und auf einmal bekomme ich Anfang der achtziger Jahre einen Brief aus Kanada, der beginnt mit den Zeilen: »Und aus seinen Finsternissen tritt der Herr, so weit er kann, und die Fäden, die zerrissen, knüpft er alle wieder an.«[7]
GW Wir suchten noch, von wem das ist! Goethe?
CW »Liebe Christa Wolf«, stand da. »Es schreibt Ihnen Doktor Leitner.« Lechner war 1936 aus Deutschland geflohen. Ich antwortete ihm sofort, schon im zweiten Brief wurde klar, er ist tatsächlich der Vater von diesem Gerhard. Er kam dann extra einmal nach Deutschland, und wir trafen uns in Westberlin. Ein ganz nobler Mensch. Er erzählte, er habe Tante Elfriede immer vor seiner Praxis auf und ab gehen sehen, und eines Tages stand sie vor seiner Tür. Er sagte: »Gnädige Frau, Sie wissen, dass ich Sie nicht behandeln darf.« Seine Praxis war schon vom Marktplatz verdrängt worden, er durfte nur noch jüdische Patienten nehmen. Tante Elfriede habe geantwortet, das mache nichts, ihr Arzt sei auch Jude, aber im Urlaub. Doktor Lechner stellte fest, dass bei Tante Elfriede alles in Ordnung war. Dass sie keine Kinder bekam, hatte psychosomatische Ursachen. Sie war eine unglückliche Frau.
GW Das war verrückt. Die beiden wohnten dann im selben Haus. Bei der Tauffeier vom kleinen Gerhard saß Doktor Lechner auf dem Platz von Onkel Max …
CW … bei der Tauffeier hieß es: Jeder dürfe sich ein Lied wünschen, und die anderen würden es für ihn singen. Doktor Lechner wünschte sich »Am Brunnen vor dem Tore« – also das deutscheste aller deutschen Lieder. Und diese deutsche Familie sang dieses Lied für den jüdischen Arzt. Ich habe meinen Vater gefragt: »War das nicht gefährlich?« Er sagte: »Ach Gott, nein, das war der Arzt von Tante Elfriede, und wir wussten, dass sie ihn sehr schätzt.« Das sei ein sympathischer Mann gewesen, der ihr sehr geholfen habe, das Kind zu kriegen.
Wir müssen alle lachen. Dann ist für einen Augenblick Stille.
JS Wie ging das weiter?
CW Doktor Lechner war in der »Reichskristallnacht« in Berlin, kehrte nach Landsberg zurück, und da waren alle Juden der Stadt in die Turnhalle der Mittelschule gebracht worden. Er musste auch dorthin. In seiner Tasche hatte er aber eine Ausreisegenehmigung für Amerika. Er wurde verhört, dafür waren zum Teil alte SPD-Leute zuständig. Lechner sagte, er habe schon die Überfahrt, ihm fehle nur noch die Schiffsfahrkarte. Man ließ ihn ziehen. Im November 1938 brachte Tante Elfriede ihn zum Bahnhof, und er ging fort. Nach dem Krieg ließ meine Tante ihn durch das Rote Kreuz suchen. Er lebte in Chicago und war inzwischen verheiratet. Sie schrieben sich zwei-, dreimal, dann brach sie den Briefwechsel ab. Sie wollte nicht in seine Familie eindringen. Später schrieb sein Sohn Gerhard ihm und fragte, ob er ihm ein Darlehen für sein Studium geben könne. Lechner schickte ihm tatsächlich Geld und hörte nie wieder von ihm.
JS Was für eine traurige Liebesgeschichte.
CW Ich weiß nicht, wo Gerhard heute lebt. Diesen Briefwechsel müsste man einmal veröffentlichen, aber wegen des Sohnes habe ich es bisher nicht gemacht.
JS Oma, bei dir war es etwas anders als bei Opa, du warst aus Überzeugung Mitglied im Bund Deutscher Mädel.
CW Absolut. Als ich eintrat, wurde die Hitlerjugend gerade Staatsjugend, da musste jeder hinein, aber mich hätte man nicht drängeln müssen. Ich war zehn Jahre alt und wollte dahin.
JS Warum, was war für dich das Faszinierende daran?
CW Mich hat … ja … der »Führer« fasziniert.
JS Die Person oder was er gesagt hat?
CW Ich habe am Radio gesessen und seine Reden gehört – dieses Gebell und dieses Deutsch. Jana, du musst dir vorstellen, ich hatte schon in der ersten Klasse einen überzeugten Nationalsozialisten als Lehrer, einen SA-Mann, der in Uniform in die Schule kam. Er gab Religionsunterricht und hat Jesus Christus als Vorläufer unseres »Führers« dargestellt. Er hat uns beigebracht, dass Deutschland durch Verrat den Ersten Weltkrieg verloren hat, durch den Verrat von Juden und Kommunisten. Dann sei dieses »Schanddiktat« von Versailles gekommen, und jetzt endlich richte sich Deutschland wieder auf. Der »Führer« sei da, um das deutsche Volk zu neuen Höhen zu führen. Ich empfand das als etwas Aufbauendes, als etwas, das einen stolz machen konnte.
GW Mit einem Ruck flaute auch die Wirtschaftskrise ab. Es gab einen Aufschwung. Man hatte das Gefühl, es ging aufwärts, vorwärts, wohin, wusste man ja noch nicht …
CW Na gut, das habe ich als Kind nicht so wahrgenommen. Bei mir kommt eine Eigenschaft hinzu, die bei Gerd viel schwächer ausgeprägt ist. Ich war unglaublich begeisterungsfähig. Ich wollte mich für etwas begeistern, an etwas glauben. Ich erinnere mich, wie ich mich mit einer Freundin, die genauso dachte wie ich, auf dem Schulhof unterhielt: Na ja, die jetzige Generation wird noch nicht so sein, wie der »Führer« sie will. Aber wenn wir erwachsen sind, werden wir so sein, wie der »Führer« uns haben will. So einen Quatsch haben wir erzählt, mit neun, zehn Jahren.
JS Und wie dachtet ihr, dass der »Führer« euch haben will?
CW Als deutsche Frauen und Mütter. Als Menschen, die sich begeistern können, als Menschen, die für Deutschland leben und auch sterben würden. Es gab diese furchtbare Linie im Nationalsozialismus: diesen Todeskult.
JS Es ging darum, sich aufzuopfern?
CW Es gibt ganz düstere Lieder und Gedichte: »Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen«[8], diese Losung hing im Zeichensaal meiner Schule.
GW »Wer leben will, der kämpfe also, und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht – Führerwort«. Das stand in den Poesiealben.
JS Waren das Sprüche, oder hat sich eure kindliche Seele wirklich dafür begeistert, sich aufzuopfern?
GW Darüber dachte man nicht so nach.
CW Zum Kriegsende, als wir 15, 16 Jahre alt waren, gab es welche, zu denen wir nicht gehörten, die noch in den letzten Kampf für Hitler zogen.
GW Es gibt Bilder, auf denen zu sehen ist, wie Hitler ganz kleine Jungen mit dem Eisernen Kreuz auszeichnet.
JS Wie seht ihr das im Nachhinein: Aufbruch in ein neues Deutschland – das klingt, als wärt ihr schon damals sehr politisiert gewesen.
CW Politisiert in einem primitiven Sinn. Wirklich etwas von Politik verstanden habe ich natürlich nicht. Was haben wir überhaupt gewusst? Sieh mal, wenn du in deinem ganzen Umfeld nicht einen einzigen Menschen hast, der dir erzählt, was tatsächlich in der Welt geschieht, wie sollst du als Kind wissen, was vor sich geht? Wir haben im Radio nur die Nazisender gehört, keine ausländischen Programme. Meine Eltern hatten zu große Angst. Und ich habe als Zwölfjährige das Schwarze Korps gelesen, das war eine finstere SS-Zeitung.
GW Das gab es in meiner Familie nicht.
JS Warum gab es das in deiner Familie nicht?
GW Wegen der Sprachohnmächtigkeit. Politik war bis zum Krieg überhaupt kein Thema. Diese neue Mutter, Feechen, wie sie genannt wurde, hatte in einem Heim für behinderte Kinder gearbeitet und erzählte, wie kläglich sie sich bewegten. Für sie waren diese Kinder »unwertes Leben«, die sich nicht fortpflanzen dürften, die man unfruchtbar machen müsse. Sie war sehr mit einem SS-Mann befreundet und führte richtige Nazibücher bei uns zu Hause ein.
CW Volk ohne Raum