Seines Bruders Hüter - Charles M. Sheldon - E-Book

Seines Bruders Hüter E-Book

Charles M. Sheldon

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Beschreibung

„Seines Bruders Hüter“ wurde im Winter 1895 geschrieben und zuerst, je ein Kapitel, an auf einander folgenden Sonntagabenden meiner Gemeinde in der Hauptkirche vorgelesen. Die Begebenheiten in den Bergwerksbezirken sind Tatsachen entlehnt, welche sich im Verlauf des großen Streiks im Sommer 1895 unter den Bergleuten der Eisengruben abspielten, und deren Zeuge der Verfasser war. Die Lieder sind genaue Kopien von Liedern, die in der Heilsarmee gesungen werden. Charles M. Sheldon, Autor des Bestsellers „In seinen Fußstapfen“

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Seines Bruders Hüter

Erzählung

Charles M. Sheldon

Impressum

© 1. Auflage 2018 ceBooks.de im Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Charles M. Sheldon

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-187-9

Verlags-Seite und Shop: www.ceBooks.de

Kontakt: [email protected]

 

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Inhalt

Titelblatt

Impressum

Vorwort

Der große Streik

Große Verantwortlichkeit

Die Rettung

Eine Veränderung

Eine aufregende Zeit

Eine denkwürdige Nacht

Gute und schlimme Pläne

Verwicklungen

Enttäuschung

Die Konferenz

Ein Redner

Das Amt eines christlichen Haushalters

Unsere Empfehlungen

Vorwort

„Seines Bruders Hüter“ wurde im Winter 1895 geschrieben und zuerst, je ein Kapitel, an auf einander folgenden Sonntagabenden meiner Gemeinde in der Hauptkirche vorgelesen.

Die Begebenheiten in den Bergwerksbezirken sind Tatsachen entlehnt, welche sich im Verlauf des großen Streiks im Sommer 1895 unter den Bergleuten der Eisengruben abspielten, und deren Zeuge der Verfasser war.

Die Lieder sind genaue Kopien von Liedern, die in der Heilsarmee gesungen werden.

Charles M. Sheldon

Topeka (Kansas), Hauptkirche, 1896.

Der große Streik

„Wie man hört, haben fünftausend Mann der Champion- und der de Mott-Gruben heute früh die Arbeit niedergelegt“, sagte ein Reisender im Zuge zu dem jungen Manne neben ihm, als sie sich langsam der Station näherten.

„Ich bin begierig, näheres darüber zu erfahren“, erwiderte sein Gefährte. „Es scheint etwas Ungewöhnliches vorzugehen. Leben Sie wohl. Hier steige ich aus, das ist meine Heimat.“

Der junge Mann ergriff sein Reisegepäck und sprang auf den Bahnsteig.

Derselbe war ganz leer, nur ein paar Eisenbahnbeamte waren zu sehen. Der junge Mann blickte sich einen Augenblick um, als ob er jemand erwartete. Dann schritt er eilig über den Bahnsteig um die Ecke des Bahnhofsgebäudes. Von der Seite konnte man die Stadt und den Marktplatz überblicken. Als letzterer dem Reisenden zu Gesicht kam, entfuhr ihm ein Ausruf der Verwunderung.

Der Marktplatz bestand aus einer kleinen Anlage mit einer Musiktribüne in der Mitte. Er lag am Kreuzungspunkt mehrerer Straßen, die alle von den Hügeln der verschiedenen Grubenbezirke herab zu kommen schienen. Im Beginn war die Straße ein von den Grubenarbeitern begangener Pfad, der sich mehr und mehr erweiterte. In der Nähe der Stadt schlossen sich zu beiden Seiten schattige Seitenwege an. Schließlich endete der Weg in einer gepflasterten Straße mit zementiertem Bürgersteig; rechts und links standen Läden und Geschäftshäuser.

Vor den Anlagen, der Musiktribüne gegenüber, befand sich eine große Kirche, die mit ihrem Zubehör den ganzen Raum zwischen zwei Straßen einnahm. Die Bahnstation bildete eine Seite des durch das Zusammenlaufen der sieben Straßen gebildeten Siebenecks. Ein anderes kirchliches Gebäude, zwei Straßen vom ersten entfernt, nahm gleichfalls eine Seite ein. Die übrigen Gebäude, gegenüber dem Stadtpark, bestanden aus Läden und Geschäftshäusern der verschiedenen Bergwerksgesellschaften und aus einem großen Hotel.

Gerade hier im Mittelpunkt der Bergbaustadt Champion war am heutigen Morgen, im Jahre des Herrn 1895, die größte Volksmenge versammelt, welche Stuart Duncan jemals dort erblickte. Stuart Duncan war der Sohn Roß Duncans, des größten Grubenbesitzers von Champion. Der junge Mann im Alter von dreißig Jahren hatte soeben seine Studien vollendet und kehrte heute von einem einjährigen Aufenthalt in Europa zurück. Als er sich einen Weg durch den Volkshaufen bahnte, musste er sich sagen, dass er während seiner ganzen Auslandsreise keine derartige Versammlung gesehen hatte.

Kaum befand er sich mitten in der Menschenmenge, als mehrere Stimmen riefen: „Stuart, Junge, gib uns die Hand! Wir freuen uns, Dich wiederzusehen?“ Das ertönte in verschiedenen Akzenten und Mundarten, kornisch, finnisch, englisch, irisch und schottisch. Er bemerkte die ruhige und maßvolle Haltung der Leute.

An der Musiktribüne sah man viele bekannte Gesichter, aber für Stuart Duncan hatte nur eines Interesse, das eines kleinen, aber kräftig gebauten jungen Mannes, der mit unbedecktem Kopf auf der Bank stand, welche an der Innenseite der Tribüne entlang lief. Der junge Mann hatte dichtes, schwarzes Haar, tiefliegende dunkle Augen, dichte Augenbrauen, derbe Gesichtszüge mit freundlichem Ausdruck und einen kurzen, kräftigen Nacken. Seine Haltung war etwas nach vorn geneigt; seine Linke umfasste eine Säule der Tribüne, während die Rechte einen schäbig aussehenden Hut hielt, den er leicht auf- und niederbewegte.

Stuart näherte sich dem Musikstand bis auf Hörweite. Schließlich wurde er durch das Drängen der Leute festgehalten. Mehrere Stimmen begrüßten ihn, alle in ruhiger Weise. Das Interesse der Versammlung schien in der Person da oben konzentriert zu sein, die sich jetzt der Menge zuwandte.

„Was bedeutet das alles? Was gibt’s?“ fragte Stuart einen Umstehenden. „Was macht Erich dort oben?“

Doch bevor der Gefragte antworten konnte, fing der junge Mann auf der Bank zu reden an. Seine Worte kamen sehr langsam heraus, als ob jedes einzelne sorgfältig erwogen worden wäre. Er stand vollkommen ruhig da. Der große Menschenhaufen war so still, dass Stuart an ein Erlebnis in einer großen englischen Kirche dachte, wo viertausend Menschen vor dem Beginn eines besonderen Gottesdienstes niederknieten.

„Brüder“, sagte der Redner, den Stuart Erich zerrannt hatte. „Das ist keine gewöhnliche Bewegung in der Geschichte der Arbeit. Was wir getan haben, und was wir noch tun wollen, ist von den ernstesten Folgen begleitet. Wir haben Löhne gefordert, welche wir zur Ernährung unserer Familien während des Winters bedürfen. Unsere Forderung ist abgelehnt worden, und wir haben die Arbeit in den Gruben niedergelegt, mit dem Entschluss, einen friedlichen aber unwiderruflichen Protest für die Rechte unserer Mannschaft einzulegen.“ Der Redner hielt einen Augenblick inne; Stuart bemerkte, wie seine Hand sich fester um den Pfosten legte. Dann fuhr er fort. Die Menge war, wenn möglich, noch stiller als vorher.

„Brüder, wir brauchen in dieser Zeit mehr als Menschenweisheit. Wir wollen uns beugen und Gottes Hilfe erbitten.“

Alle standen entblößten Hauptes da, als nun des Redners klare und kräftige Stimme also betete:

„Herr, wir brauchen heute deine Hilfe. Wir bitten dich um Weisheit. Tue uns deinen Willen kund. O Herr, bewahre uns vor gesetzlosen Handlungen. Bewahre jeden Mann hier vor Trunkenheit und vor Gewalttätigkeit am Eigentum oder Leben des Nächsten. Wir wollen unsere Rechte als Menschen. Wir verlangen so viel Lohn, dass wir davon sorgenfrei leben können. Zeige uns, was wir tun sollen. Bewahre uns heute vor Bösem. Segne alle Menschen, die ihren Unterhalt durch der Hände Arbeit verdienen. Segne unsere Familien. Wir bitten dich darum um Jesu willen. Amen.“1

Der Redner richtete sein Haupt empor, und die Bergleute setzten wieder ihre Hüte auf. Stuart blickte über die Köpfe der Versammlung auf den Mann, welcher soeben gebetet hatte, und weiter hinüber zu den mit Fichten besetzten Hügeln, die mit den Maschinen- und Zechenhäusern der Eisengruben gekrönt waren. Er sah, dass der Rauch von den Schmelzöfen aufging und die Pumpen noch in Tätigkeit waren.

Die ganze Szene war für ihn voller Leben. Es war alles so ungewöhnlich, so romanhaft, so wenig dem alltäglichen Leben entsprechend.

Erich redete noch einmal. Er ermahnte die Bergleute, ihre Sache der Welt durch ihr Betragen zu empfehlen. Er sprach, wie er vorher auch gebetet hatte, sehr langsam und sorgfältig. Gegen Ende seiner Rede wurde er Stuarts ansichtig.

Einen Augenblick errötete er. Die Blicke beider Männer begegneten sich. Jeder schien zu fragen: „Ob er wohl noch der alte ist?“

Eine Glocke im Turm der größeren Kirche schlug acht. Erich sprang von der Bank, und ein anderer Bergmann nahm seinen Platz ein und redete in einer mehr leidenschaftlichen Art zu den Leuten. Da gab es Ausrufe und Hüteschwenken. Stuart arbeitete sich durch die Menge, häufig von Bekannten aufgehalten. Endlich stand er vor der Kirche mit der Turmuhr, scharf nach den Seinigen umschauend, als die kräftige Stimme eines Mannes, der auf der Kirchtürtreppe über ihm stand, ihm zurief: „Nun, sagen Sie einmal, Stuart, seit wann streiken Sie auch mit?“

„Doktor“, rief Stuart mit einem Lächeln des Willkommens, das sein sinnendes Gesicht wunderschön verklärte. „Nächst Vater und Luise suche ich Sie gerade am meisten. Wo sind sie? Sie wollten mich heute Vormittag vom Bahnhof abholen. Ist das Ganze hier nicht höchst merkwürdig? Sagen Sie mir, was bedeutet das alles?“

Der Doktor zuckte mit den Achseln.

„Sie wissen gerade so viel darüber wie ich. Die Leute verließen heute Morgen ohne Aufsehen die Arbeit. Die Freeport-, Basplaine- und De Mott-Bergleute sind hier alle mit den Champion-Leuten versammelt. Sie kamen in aller Morgenfrühe von den tiefer gelegenen Gruben.“

„Was wollen die Leute?“ fragte Stuart hastig. Er hatte so viel zu fragen.

Der Doktor zuckte wieder mit den Achseln.

„Die Akkord-Bergleute (Hauer) verlangen 2 Dollar per Tag, die Förderer 1 Dollar 75 und die Leute außer der Grube in der Aufbereitung 1 Dollar 50.“

„Wer ist der Führer der Leute?“

„Sie sehen selbst, Erich Basall. Es ist noch nicht lange her, da lieft ihr beiden jungen Leute in Kinderkleidern umher. Und nun ist Erich der Leiter des ausgedehntesten Streiks, dessen man sich unter den Bergleuten erinnern kann und spielt die Rolle eines Propheten und Priesters, und ich weiß nicht, was alles noch, und Sie –“

„Und ich“, unterbrach Stuart lächelnd den Doktor, als derselbe ihn von der Treppe herunterzog, „ich bin eher nichts wert, als bis ich gefrühstückt habe. Ich verstehe nicht, wo Vater und Luise bleiben. Haben Sie sie heute Morgen nicht gesehen?“

„Nein. Steigen Sie in meinen Einspänner. Ich werde Sie nach Hause bringen.“

Des Doktors Wohnung lag in der Nähe, und sein Pferd stand auf dem Platz. Stuart blickte noch einmal auf die Menge, als er und der Doktor in die Straße einbogen.

„Es ist eine auffallende Szene. Ich habe dergleichen draußen nicht gesehen. Seit ich von zuhause fort bin, habe ich mehrere Streiks in England, Deutschland und Frankreich erlebt. Aber ich hörte nie von einem, der mit Gebet eröffnet wurde. Sie, Doktor?

„Nein“, erwiderte trocken der Doktor.

Stuart blickte ihn an. Er fuhr, den einen Fuß außerhalb des Wagens, die Leine nachlässig in der Hand, und jagte wie toll die sandige, eisenbestaubte Straße entlang. Der Doktor fuhr stets in dieser Weise, und Stuart pflegte zu sagen, eine Fahrt mit ihm sei so aufregend wie die Arbeit in einer Pulvermühle während eines Gewitters.

„Wie? Glauben Sie nicht, dass das Gebet aufrichtig war?“ fragte Stuart.

„Aufrichtig genug. Aber was tut das? Wir wissen alle, wie der Streik enden wird, mit oder ohne Gebet.“

„Was ist mit Erich passiert, Doktor? Er war früher nicht religiös, nicht in der Weise.“

„Heilsarmee“, erwiderte kurz der Doktor.

„Oh!“ Stuart sah verwirrt aus; doch hoffte er, von Erich selber Aufklärung zu erhalten. Er wurde beim Weiterfahren seines Vaters und seiner Schwester wegen besorgt. Es war doch sehr auffällig, dass sie ihn nicht auf dem Bahnhof empfangen hatten. Der Streik mochte seinen Vater zurückgehalten haben; seine Ankunft in der Heimat verlief anders, als wie er sich dieselbe ausgemalt hatte.

Sein elterliches Haus stand abseits vom Weg an der Seite des Hügels. Es war ein schönes, massives Gebäude von einem Dutzend riesiger Fichten umgeben. Stuart liebte den Platz. Für ihn war es die Heimat, obgleich er in einem östlichen Staat geboren wurde. In diesem Hause starb seine Mutter, als er 10 Jahre alt war.

Von ihr hatte er die sinnende, romantische, wahrheitsliebende Natur geerbt, von seinem Vater hingegen den unbeugsamen Sinn und den zu Zeiten ungestümen Ausbruch der Leidenschaften. Er gedachte an die glückliche Zeit, die er als Knabe und später als Student in dem alten Haus, in Wohlleben und heiterer Umgebung, verlebt hatte.

Plötzlich fuhr ein Mann aus dem breiten Weg heraus, in welchen er und der Doktor gerade auf das Haus zu einbogen. Beide Männer hielten noch rechtzeitig an, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

„Sind Sie es, Doktor Saxon?“ rief der Mann. „Ich wollte Sie gerade holen. Herr Duncan ist verletzt worden. Die Pferde gingen heute Morgen durch und –“

Stuart wartete nicht, um mehr zu hören. Er sprang aus dem Wagen und legte in größter Eile den Weg bis zum Haus zurück. Dem Doktor entfuhr ein Ausruf, er gab seinem Pferd einen kurzen Schlag mit der Peitsche und fuhr wie der Wirbelwind den Fahrweg hinauf. Am Ende der langen Veranda hielt er kurz an, sprang aus dem Wagen und ließ das Pferd bis zum Schuppen weiter gehen. Er war so flink, dass er Stuart, welcher die Veranda-Treppe hinaufsprang, an der großen Haustür einholte.

„Nun, nun, mein Junge“, sagte der Doktor ruhig, indem er mit seiner großen Gestalt den Weg zur Türe ausfüllte und sich Stuart in den Weg stellte, „regen Sie sich nicht auf, das ist meine Sache, nicht die Ihrige.“

„Lassen Sie mich vorbei!“ rief Stuart, im Gesicht dunkelrot. „Es ist mein Vater! Vielleicht liegt er im Sterben. Was für ein Recht haben Sie, mich aufzuhalten?“

„Sehr gut!“ Der Doktor sprach sanft, fast wie ein Kind. Er trat bei Seite und begann langsam wieder die Veranda-Treppe hinunter zu gehen. „Sie haben die Duncansche Leidenschaft in vollkommenem Maße geerbt, aber wenn Ihr Vater durch den unvernünftigen Ausbruch derselben stirbt, so machen Sie mir keine Vorwürfe.“

Stuart tat einen Schritt vorwärts und ergriff des Doktors Arme.

„Kommen Sie zurück!“ bat er. Seine Leidenschaft war im Augenblick verraucht. „Ich will ein Mann wie Sie sein. Kommen Sie! Sie werden vielleicht meine Hilfe nötig haben.“

Der Doktor blickte ihn scharf an, wandte sich dann und trat mit ihm zugleich ins Haus ein. Dieser Zwischenfall würde ohne Kenntnis dessen, was bei dieser Gelegenheit auf dem Spiele stand, nichts zu bedeuten haben. Aber Dr. Saxon hatte guten Grund zu glauben, dass das Leben des Sohnes in diesem Fall durch die furchtbare leidenschaftliche Erregung, die zeitweilig einem Strom gleich ausbrach, gefährdet war. Den Vater in diesem Zustande mit ihm zusammenzubringen, hätte für beide verhängnisvoll werden können.

Im Innern des Hauses liefen die Dienstboten kopflos durcheinander. Der Doktor hielt einen derselben an und fragte ärgerlich: „Nun, seid Ihr hier alle verrückt? Wo ist Herr Duncan?“

„Man trug ihn in das nach Norden gelegene Zimmer“, lautete die Antwort.

„Zimmer nach Norden! Warum brachtet Ihr ihn nicht gar zum Nordpol, um es gründlich zu machen! Hier Stuart! Lass einen Deiner Leute in meinem Sprechzimmer den Verbandkasten holen, und dann komm zu Deinem Vater.“

„Vater und ich fuhren heute Vormittag zu Deiner Begrüßung nach der Bahn, Stuart. Als wir den Kreuzweg erreichten, der nach der Forge-Grube führt, waren wir zu früh für den Zug, und Vater fuhr in einer Geschäftssache noch nach zum Maschinenhaus. Bei unserer Ankunft dort versammelten sich gerade die Bergleute, um zum Marktplatz zu marschieren. Das waren die ersten Nachrichten von dem Streik, die uns zu Ohren kamen. Vater war erregt und wollte die Leute bewegen, zur Arbeit zurückzukehren. Einige antworteten in der beleidigendsten Weise, sagten, sie wären freie Leute und hätten nicht nötig, für eine Vereinigung von Millionären zu arbeiten und noch mehr dergleichen. Du kennst ja ihre Reden, Stuart, weißt auch, wie sich Vater darüber ärgert, und ich finde das begreiflich. Es ist schrecklich, dass die Leute gerade jetzt, wo ich an der Jacht-Lustfahrt der Vasplaines im Osten teilnehmen wollte, diese Unruhen verursachen. Dieser Streik wird wahrscheinlich die Abreise der Vasplaines verhindern. Dann sprang Vater aus dem Wagen und wollte einem Arbeiter, der ihn beleidigt hatte, einen Denkzettel geben, als die Anderen herankamen und Vater wieder in den Wagen nötigten. Noch nie sah ich den Vater so wütend, und ich war fast zu Tode erschrocken. Wir fuhren zum Kreuzweg zurück, und bei der scharfen Biegung am alten Beury-Schacht stießen wir auf einen Haufen Bergleute, die von den tiefer gelegenen Bezirken in die Stadt marschierten. Sie trugen eine große weiße Fahne mit einem schrecklichen Bild darauf. Die Pferde scheuten, wandten um und liefen spornstreichs dem alten Schacht zu. Ich weiß nicht, was dann geschah, nur dass wir umgeworfen wurden, und es ist ein Wunder, dass ich dabei nicht getötet wurde. Jem, der Kutscher, fuhr uns; er fiel auf einen Haufen Eisenerz. Dann lief er nach Hause, holte zwei andere Pferde und brachte den Vater und mich heim. Ich wurde wiederholt ohnmächtig. Als ich Vater mit dem schrecklichen Riss am Kopf auf dem Bett liegen sah, hielt ich ihn für tot. Stirbt er, so sind die Bergleute schuld daran. Hätten sie sich nicht zu diesem Streik versammelt, so würde dieses entsetzliche Unglück nicht geschehen sein.“

Bei diesem Punkt angelangt, brach Luise in hysterisches Schluchzen aus.

„Meine Liebe, Du bist sicherlich durch den Sturz verletzt worden“, rief Stuart, indem er sie zu trösten versuchte.

„Nein, nein ich bin unversehrt geblieben“, erwiderte Luise und hörte auf zu schluchzen. Sie setzte sich auf dem Sofa aufrecht hin und brachte ihr Haar in Ordnung.

Dr. Saxon schritt ans andere Ende des Zimmers mit eigentümlichem Gesichtsausdruck. Dann drehte er sich um und sagte mit der ihm eigenen Derbheit: „Ich muss nach Hause. Ich habe Anweisung für Ihres Vaters Behandlung hinterlassen. Er ist nicht lebensgefährlich verletzt. Rufen Sie mich, wenn es nötig sein sollte. Fräulein Luise, Sie können dieses Pulver nehmen und müssen sich heute so ruhig wie möglich verhalten.“

Er legte die Medizin auf den Tisch und verließ das Zimmer. Eine Minute später hörte man sein Pferd die Anlagen entlang und die Straße hinunterjagen.

Das war Stuart Duncans Heimkehr, nach einer einjährigen Abwesenheit im Ausland. Er hatte mit Interesse die Hauptstädte Europas besucht, war durch Museen und Gemäldegalerien geschlendert, hatte die fremden Sitten und Menschen, wenn auch nicht gründlich, so doch aufmerksam studiert. Das Jahr war für ihn ein großer Ferientag gewesen. Er hatte nicht nötig gehabt, sich die geringste Einschränkung aufzulegen. Sein Vater war ein vielfacher Millionär und nicht geizig. Er wünschte seinem Sohn und seiner Tochter das Beste von Allem, sowohl was Kleidung und Nahrung, als auch Erziehung und Reisen anbetraf. Für Stuart war daher die Studien- und Reisezeit eine angenehme und genussreiche gewesen. Trotz seines Reichtums lebte er einfach und solide und war dabei sehr gewissenhaft. Gerne erfüllte er den Wunsch seines Vaters, dessen Bergwerk zu übernehmen.

Aus den Galerien und Museen der alten Welt heimgekehrt, war das erste, was ihm entgegentrat, seines Vaters schreckliche Verwundung. In Verbindung damit stand der Streik, der ihn ganz besonders berührte, nicht nur, weil er tief in die Duncanschen Interessen Angriff, sondern auch weil der Leiter desselben, Erich Vasall, sein früherer Spielgefährte und sein Freund war. Je mehr er an Erich dachte, umso klarer wurde ihm der Ernst der Lage. Ihr beiderseitiges Verhältnis konnte für den Streik bedeutungsvoll werden.

Fast eine Woche verging, bevor Roß Duncan aufstehen und an der Unterhaltung teilnehmen konnte. Während dieser Zeit blieb Stuart getreulich zu Hause. Er hatte Erich nicht wieder gesehen, und wie er vermutete, hatte Erich sich auch keine Mühe gegeben, ihn zu sehen. Sein Vater und Luise erforderten seine beständige Aufmerksamkeit. Aber er genoss das Zusammentreffen mit seinem alten Spielgenossen im Voraus mit eigentümlicher Erregung, so oft er an jene Szene auf dem Marktplatz, an das Gebet und dessen Wirkung dachte.

Nach Verlauf einer Woche unterhielten sich Vater und Sohn über die Lage der Dinge. Die Bergleute hatten die Arbeit noch nicht wieder aufgenommen, und der Streik währte fort, ohne Aussicht auf einen Vergleich.

„Ich sage Dir, Stuart“, sagte Roß Duncan, während sein großes, viereckiges Kinn hart und gespannt wurde, „die Gesellschaften werden niemals die Forderungen der Leute gewähren! Ich werde ihnen keinen Zoll breit entgegen kommen, solange sie in ihrer jetzigen Stellung verharren.“

„Meinst Du, dass die Leute zu viel verlangen, Vater?“

„Zu viel! Bei der jetzigen Preislage des Eisens? Beleidigend ist' ihr Verhalten jetzt, wo wir anfangen, wieder empor zu kommen! Der Winter war sehr schlecht und die Geschäftslage fing an, sich für uns vorteilhaft zu gestalten.“

„Aber ich glaubte, das Eisen wäre in die Höhe gegangen. Stellen das nicht die Leute als Ursache ihrer Forderung hin?“

„Narren sind sie!“ Roß Duncan schlug erregt auf das neben ihm liegende Kissen. „Die Gesellschaften besaßen einen Kontrakt für große Mengen Eisen zum alten Preise, ehe dieser Aufstand kam. Der Aufstand wird zu nichts führen, bevor wir nicht unseren alten Kontrakt gelöst haben.“

„Warum sagen das die Gesellschaften den Leuten nicht?“

„Pah, Stuart. Du bist –“ Roß Duncan bezwang sich mit Gewalt. Stuart wurde seinetwegen besorgt. Er erhob sich und trat ans Bett.

„Vater, Du musst Dich nicht so aufregen. Denk daran, was Dr. Saxon gestern sagte. Du darfst nicht mehr über diesen Gegenstand sprechen.“

„Ich will es aber. So, ich kann mich schon beherrschen.“

Wunderbar war die Veränderung, die mit dem Mann vor sich ging. Er spannte seine Muskeln an, ließ sie wieder erschlaffen, öffnete leicht die Hand, die vorher zusammengeballt war und ließ sie dann ruhig auf dem Bett liegen. Hierauf sagte er ohne eine Spur von Erregung:

„Die Gesellschaften sagen es den Leuten nicht, weil diese ihnen kein Wort glauben wurden. Und es gibt doch keinen Mann in den Bergwerken, welcher behaupten kann, dass Roß Duncan ihn um einen Penny betrog oder ihm jemals eine Unwahrheit sagte. Ich sage Dir, Stuart, diese Menschen sind die widersetzlichsten, undankbarsten Geschöpfe. Sieh, letzten Winter unterstützte ich mit Nahrung und Feuerung mehr als ein Dutzend Familien, weil sie krank oder hilflos waren. Und ich wette, gerade diese sind bei dem Streik die Schlimmsten. Die Gesellschaften werden niemals nachgeben.“

Stuart schwieg eine Zeit lang. Dann sagte er: „Glaubst Du nicht, Vater, dass die Leute sehr ruhig und gesetzlich vorgegangen sind? Es ist bis jetzt keine Störung vorgekommen.“

„Warte, bis wir die neuen Arbeiter von Chicago bekommen, und dann sieh!“

„Werden die Gesellschaften das versuchen?“

„Sicherlich, wenn der Streik noch eine Woche anhält. Wir verlieren unseren Kontrakt, wenn wir das Eisen nicht zu dem festgesetzten Preise abgeben können.“

„Ist es nicht sehr auffallend, Vater“, sagte Stuart nach einer Pause, „dass die Leute ihre Zusammenkünfte auf dem Platz jeden Morgen mit Gebet eröffnen?“

Zornig erwiderte Roß Duncan:

„Zu wem beten sie? Zum Teufel?“

„Das Gebet, welches ich am ersten Morgen bei meiner Heimkehr hörte, war so gut, wie nur irgendein in der Kirche gesprochenes.“

„Wer sprach es?“

„Erich“, erwiderte Stuart und errötete ein wenig.

„Er ist der Leiter des ganzen Streikes, heute der gefährlichste Mann in der Grube. Ich rate Dir, mit ihm zu brechen.“

Stuart beugte sich ein wenig vor. „Du erinnerst Dich, Vater, Erich rettete mir das Leben, als das Förderseil im Schacht riss.“

„Nun, das würde jeder getan haben. Du bist deshalb nicht allzu sehr in seiner Schuld.“

Stuart erwiderte nichts. Es wollte leidenschaftlich in ihm auswallen. Deshalb verließ er nach ein paar Fragen in Bezug auf seines Vaters Befinden das Zimmer.

Zum ersten Mal seit seiner Rückkehr ging er an diesem Nachmittag die Hügel hinauf. Er setzte sich in der Nähe eines der Bergwerke nieder und dachte über das Gespräch mit seinem Vater nach. Dann trieb ihn die Unruhe fort, und er kehrte in die Stadt zurück. Als er an das Geschäfts-Bureau kam, ging er hinein und fand einen an ihn adressierten Brief vor. Er steckte ihn in die Tasche und ging über den Marktplatz an dem Musikstand vorbei, kreuzte die Eisenbahnschienen und wanderte eine Straße hinaus, welche sich wie alle Straßen zu einem Fußpfad verengte, bis er ein zu einem Bergwerk seines Vaters gehöriges Gebäude erreicht hatte.

Die Pumpen waren noch in Tätigkeit, obgleich einige der Leute gedroht hatten, sie zerstören zu wollen.

Im Maschinenhaus waren nur sechs Mann bei der Arbeit. Stuart begab sich zu einem Lieblingssitz auf einem großen Stein, der auf dem Hügel hervorragte. Nahebei standen einige von den wenigen alten Fichten, die man noch auf dem Abhang gelassen hatte.

Er setzte sich nieder und zog den Brief hervor. Derselbe war von Erich. Beim Lesen verfinsterten sich seine Züge.

„Lieber Stuart, – der Brief begann mit dem alten traulichen Ton, – „ich schreibe Dir, weil mir der Eintritt in Dein Haus verweigert wurde. In dieser Woche fragte ich zweimal nach Dir, aber die Bedienten ließen mich nicht vor. Ich mache Dir keinen Vorwurf daraus. Die Zeiten stellen uns vor manche ernste Fragen über die Rechte der Menschheit. Ich weiß nicht, ob das vergangene Jahr Dich sehr verändert hat, und ob Du die alte Freundschaft aufrechterhalten willst. Es hängt von Dir ab. Die neuen Verhältnisse mögen auch eine Veränderung in Deiner Stellung zu mir verursachen. Ich tue das, was ich für recht halte. Von Deinem Standpunkt aus mag das alles unrecht sein. Willst Du mich heute Nachmittag am alten Stein bei dem großen Baume treffen? Dein alter Freund Erich.“

Das war ein sehr unangenehmer Brief für Stuart. Dass man Erich das Haus verboten hatte, ärgerte ihn furchtbar. Er konnte es nicht verstehen, es sei denn, dass die Diener nach seines Vaters Anordnung gehandelt hätten. Er wurde blass und rot bei dem Gedanken. So etwas zu tun, sah Roß Duncan durchaus nicht ähnlich. Und doch, er wäre im Stande gewesen es zu tun! Der Rest des Briefes war dem alten Erich von früher nicht gleich, und Stuart hatte Erich doch so sehr geschätzt und Erich mochte ihn noch. Nicht darum, weil Erich ihm das Leben gerettet hatte, er würde ihn in jedem Falle geliebt haben.

Die Jahre hatten Veränderungen herbeigeführt, das letzte Jahr in ganz besonderem Maße.

Er hatte mit gesenktem Kopf gelesen und vor sich hin gebrütet. Als er aufblickte, sah er Erich den Hügel heraufkommen.

Die beiden Männer begegneten einander mit der gewöhnlichen Begrüßung:

„Wie geht es Dir, Erich?“ „Wie geht es Dir, Stuart?“ Sie schüttelten sich ziemlich steif die Hände und ließen sich auf den Fels nieder. Jeder schien etwas scheu vor dem anderen.

Stuart sprach zuerst. Er wusste aus Erfahrung, dass Erich niemals das erste Wort sagen würde.

„Ich habe soeben Deinen Brief gelesen. Dass Dir das Haus verboten wurde, ist ein Irrtum. Vater würde so etwas nie tun, Erich.“

„Davon bin ich nicht ganz überzeugt, aber auch nicht beleidigt, selbst wenn er es täte. Geht es ihm besser?“

„Ja.“ Stuart schwieg. Er wusste nicht, was er sagen sollte; denn es war schwerer, als er sich vorgestellt hatte, die Kluft eines Jahres zu überspringen, die durch den Eintritt Beider ins Mannesalter entstanden war. Dann lachte er gezwungen auf: –

„O Erich, wie töricht von uns, hier gleich Narren zu sitzen, als ob wir uns vor einander fürchteten! Willst Du nicht in Erinnerung an die alten Zeiten Deine Hand auf meine Schulter legen und mich einmal anblicken?“

„Es ist nicht so wie früher, Erich“, fuhr Stuart seufzend fort, und ließ seine Hand von des anderen Schulter gleiten.

„Besser, hoffe ich. Die Zeit hat mich nüchtern und ernst gemacht.“

„Wie, Erich? Haben wir alten Freunde uns so sehr verändert?“

„Nein.“ Erich stieß den Sand mit dem Fuße und schaute über das Tal. Darauf blickte er Stuart frei ins Gesicht und wiederholte sein „Nein“. „Doch Du hast Dich verändert.“

„Ich! Was für eine Veränderung ist denn mit mir vorgegangen?“ fragte Stuart fast zornig.

„Du hast die Welt gesehen. Was kann ich Dir nun sein? Der Unterschied muss mit fortschreitender Zeit größer werden. Du bist ein gebildeter Mann, reich und vornehm, und ich bin ein Arbeiter.“

„Du brauchtest es nicht zu sein, Erich. Du könntest Dir mit Deinen Anlagen und Fähigkeiten im Laufe der Zeit eine höhere Stellung erringen und – und –“

Stuart suchte zum rechten Wort, aber Erich sagte ruhig:

„Ich habe meinen Platz gewählt. Ich bin ein Arbeiter und will einer bleiben, so lange dem Recht Unrecht geschieht, und so lange es Rechte zu erhalten gibt.“

„Aber was hat das alles mit unserer Freundschaft zu tun, Erich? Früher waren wir darüber erhaben.“

„Ja“, erwiderte Erich einfach. „Aber unser Lebensweg geht notwendig auseinander. Die Verhältnisse bringen das mit sich. Hier stehe ich und rate Tausenden von Männern zu einer Handlungsweise, der von Deinem Vater schnurstracks entgegengearbeitet wird und es auch von Dir würde, wenn Du an Deines Vaters Stelle wärest.

Die Zeit wird kommen, wo der Widerspruch zwischen Deinen und meinen Interessen so groß sein wird, dass –“ Stuart sprang aus. „Willst Du damit sagen, Erich, dass wahre Freundschaft und Zuneigung zwischen Dir und mir nur wegen des Unterschiedes im Stande, im Reichtum und in den Verhältnissen nicht bestehen können. Haben wir nicht bereits das Gegenteil bewiesen?“

„Ja“, erwiderte Erich langsam. „Doch ist solche Freundschaft gewissermaßen ein Unding. Du stellst das Kapital vor, ich die Arbeit. Nimm die jetzige Lage des Streikes. Ich glaube, dass es recht, ja sogar christlich ist, so zu handeln wie wir es tun. Im Grunde Deines Herzens verdammst Du uns wegen dieser ganzen Bewegung. Wärest Du an Deines Vaters Stelle, Du würdest genauso wie er darüber denken. Also wie können wir erwarten, dass das alte Verhältnis zwischen uns fortbesteht?“

Stuart saß stumm da; sein Blick schweifte über das herrliche Tal. Die Stadt bot einen schönen Anblick mit ihren Hügelstellen und den dunklen Fichten darauf. Seines Vaters Haus war der stattlichste Wohnplatz. Von dieser Stelle sah es palastähnlich aus. Unten am anderen Ende der Stadt zwischen den Häusern der Bergleute konnte Stuart Erichs Heim erkennen, ein zweistöckiges Hüttchen, von hundert anderen derselben Art nicht zu unterscheiden. Nach einigen Minuten Nachdenkens sagte er:

„Erich, Du sprachst zuerst von dem Unterschied zwischen uns. Wünschest Du jede Beziehung abzubrechen? Ist das Deine Absicht?“

Erichs dunkles, bronzefarbenes Gesicht errötete zum ersten Mal. „Nein“, sagte er. „Ich wünsche nur die Umstände, unter denen wir jetzt leben, festzustellen. Meine freundschaftlichen Gefühle gegen Dich sind unverändert.“

„Auch die meinigen sind es, Erich. Warum legst Du mir alle Verantwortlichkeit auf, als ob ich die Ursache der Veränderung wäre, oder das Bestehen unserer Freundschaft von mir abhängig wäre?“

„Weil es so ist. Bist Du nicht der Repräsentant der Macht, des Reichtums, der Bildung, der Repräsentant der vornehmen Gesellschaft, jener Welt des Wohllebens, der Kultur? Und musst Du nicht darum die Verantwortlichkeit tragen, welche immer auf den Schultern des Starken, des Gebildeten, des Reichen ruht?

Nach einer Weile sagte Stuart hartnäckig: „Wir kommen auf die Frage zurück: kann unsere Freundschaft auf dem alten Grund fortbestehen? Ich kann kein anderer sein, als der, welcher ich bin. Bin ich durch Geburt reich, ein Mann vom Stand; habe ich eine gute Erziehung genossen, darf ich Reisen und dergleichen unternehmen, so kann ich es nicht ändern. Und Du bist, was Du bist, weil Du in Deinen Stand hineingeboren bist und erwählest, darin zu bleiben, obgleich Du wohl weißt, Erich, dass Du Dich, wenn Du nur wolltest, daraus erheben könntest.“

„Es ist nutzlos, über diesen Punkt weiter zu reden“, erwiderte Erich ruhig. „Aber beantworte mir, Stuart, die einfache Frage: Hältst Du diesen Streik für berechtigt?“

„Nein, das kann ich nicht behaupten“, sagte Stuart mit seiner gewöhnlichen Offenheit.

„Sieh! Da liegt schon der Unterschied“, erwiderte Erich traurig. „Die Natur der Lage bedingt einen Bruch in unseren alten Beziehungen zu einander. Ich natürlich halte den Streik für berechtigt, sonst würde ich nicht der Leiter desselben sein.“

„Mir scheint es ein schlechter Weg zur Erreichung eurer Wünsche“, sagte Stuart.

„Bist Du in die Einzelheiten der Bewegung eingeweiht? Kennst Du die Ursachen, welche sie veranlassten?“

„Ich weiß nur, was mein Vater mir darüber gesagt hat. Er behauptet, die Leute hätten die Gesellschaften nicht um Rat gefragt, sondern hätten ohne eine Warnung oder Entschuldigung die Arbeit verlassen.“

Erich erhob sich. „Das ist eine Lüge!“ rief er mit plötzlicher Heftigkeit, die niemand von ihm erwartet hätte, aus.

Stuart erhob sich gleichfalls. „Willst Du damit sagen, dass mein Vater mich hinsichtlich der Tatsachen belog?“

„Ja“, gab Erich zurück, „und er tat es absichtlich.“

Stuart trat einen Schritt gegen Erich vor, und die beiden jungen Leute blickten einander herausfordernd an. Plötzlich wandte sich Erich und schritt ohne ein Wort den Hügel hinab. Einen Augenblick schien Stuart im Begriff ihm zu folgen, oder ihm ein Halt zuzurufen. Aber im nächsten Augenblick schritt er zum Stein zurück und setzte sich wieder. Als Erich hinter einer Baumgruppe verschwunden war, stand auch Stuart aus und ging auf einem anderen Weg heimwärts.

Beim Eintritt ins Haus sagte ihm Luise, dass der Vater ihn sogleich zu sprechen wünsche. Er trat an das Lager seines Vaters, durch die Zusammenkunft mit Erich noch im Innersten erregt. Es war die erste leidenschaftliche Erregung, die seine Selbstbeherrschung zu zerstören drohte. Sein Vater sprach in der gewohnten strengen Weise:

„Stuart, ich wünsche, dass Du im Auftrag der Gesellschaft nach Cleveland gehst. Dieser Streik hat mit unseren örtlichen Agenten Verwicklungen hervorgerufen. Es liegt eine wichtige Sache vor, die ich persönlich erledigen sollte. Kannst Du sofort abreisen? Der Ostzug geht um sechs Uhr ab.“

„Ich stehe zu Diensten, Vater.“

Er dachte noch an das soeben stattgehabte Zusammentreffen mit Erich.

„Hier sind die Papiere. Ich kann Dir die Sache in wenigen Minuten erklären.“

Stuart zog einen Stuhl heran, und sein Vater gab ihm die nötigen Anweisungen. Als Stuart die Papiere in die Tasche steckte, sagte Roß Duncan, auf die Kissen zurückfallend, sein Gesicht und seine Redeweise ein wenig mildernd:

„Stuart, mein Sohn, im Falle dass mir etwas zustößt, weißt Du natürlich, dass ich Dir und Luise meinen ganzen Besitz vermacht habe. Die Bergwerke mit anderem Besitztum und den liegenden Gründen, außer dem New Yorker Besitz und den Obligationen, die nichts mit den Bergwerken zu tun haben, sind über vier Millionen wert. Luise habe ich eine Million hinterlassen. Wenn ich sterbe, wirst Du der alleinige Verwalter von dem allen sein. Natürlich weißt Du doch, dass ich die Gesellschaft repräsentiere. Dieser Streik ist gegen mich gerichtet. Sterbe ich, so wird er sich gegen Dich wenden. Ich glaube mich insofern auf Dich verlassen zu können, dass Du die Millionen, um deren Besitz ich ein Leben lang hart gearbeitet habe, verteidigen wirst“, sagte Roß Duncan. Hierauf fuhr er in seiner alten Weise fort: „Beeil Dich, dass Du den Zug erreichst.“

Stuart erhob sich; widerstreitende Gefühle kämpften in ihm. Einesteils bewegte ihn das, was ihm sein Vater soeben mitteilte, andernteils der Nachmittag mit Erich.

Er wollte seinem Vater vor seinem Fortgehen eine Frage vorlegen.

„Vater“, fragte er fast furchtsam, „sagtest Du nicht, dass die Streikenden ohne eine Nachricht an die Gesellschaft die Arbeit niedergelegt hätten?“

„Ja.“

„Meinst Du, dass sie wirklich niemandem die geringste Andeutung ihrer Absichten kundtaten?“

Roß Duncan erhob sich ein wenig, und sein Gesicht nahm einen finstern, unheimlichen Ausdruck an.

„Ungefähr 14 Tage vor Beginn des Streikes schickten sie mir ihren Vertreter, wie sie ihn nannten, der mit mir über die Löhne verhandeln sollte. Doch ich wollte niemandem das Recht zugestehen, sich in meine Angelegenheiten zu mischen und mir die Löhne vorzuschreiben.“

„Wer war der Vertreter?“ Stuart fragte, obwohl er im Voraus die Antwort wusste.

„Wer es war? Wer anders als Dein betender frommer Freund, Erich Vasall!“ Roß Duncan setzte sich aufrecht hin und die Wunde aus seiner Stirn wurde purpurn. Stuart erschrak bei dem Anblick. Er konnte nichts sagen. Sein Vater sank wieder vom Zorn erschöpft zurück, Stuart ging ohne Abschiedswort fort. Er fühlte in seinem Herzen eine ihm bisher fremde Bitterkeit aufsteigen. Erich hatte also doch Recht von seinem Standpunkt aus. Die Gesellschaft war benachrichtigt worden. Es war ein Versuch zur Beilegung der Differenzen gemacht worden. Als der Zug ihn dahin führte, verwünschte er die ganze soziale Verwicklung der Dinge.

Er erreichte die Stadt, besorgte das Geschäft und kehrte am folgenden Tage nach Champion zurück. Es dunkelte bereits, als er auf den Bahnsteig sprang. Dr. Saxon kam heran, ergriff sein Gepäck und drückte seine Hand kräftig, aber mit nervöser Hast. Feierliche, seltsame Gesichter blickten ihn aus dem Dunkel heraus an.

„Was gibts, Doktor?“ fragte Stuart bei dem Gedanken an eine unbekannte Gefahr zitternd.

„Ihr Vater, mein Junge“ –

„Gehts ihm schlechter?“

„Kommen Sie, mein Wagen ist gerade da. Ich werde Sie nach Hause fahren. Steigen Sie ein.“

Stuart stieg mechanisch in den Wagen. Der Doktor warf sich selbst hinein, und das Pferd eilte in die Dunkelheit hinein.

„Sagen Sie mir die Wahrheit, Doktor.“

Die Antwort kam nach einem Augenblick. „Ihr Vater starb vor einer Stunde, Stuart. Er hatte einen Schlaganfall. Das Herz war nicht in Ordnung. Er litt nicht.“

Einen Augenblick verschwamm alles vor Stuarts Augen. Dann richtete er Fragen an Dr. Saxon, welche dieser beantwortete. Beim Eintritt ins Haus begegnete Stuart zuerst seiner Schwester Luise. Sie kam ihm bis zur Haustür entgegen und warf sich, heftig schluchzend, in seine Arme. Stuart hatte bis jetzt noch keine Träne vergossen. Sie führten ihn in das Zimmer, wo Roß Duncan lag. Der Sohn stand und schaute auf das kalte Gesicht mit jener erst kürzlich entstandenen Narbe auf der Stirn. Er dachte nicht daran, dass er nun der Besitzer von mehreren Millionen sei, sondern an das letzte Zusammensein mit seinem Vater und an seine Abreise ohne ein liebevolles Abschiedswort. Und noch brachten keine Tränen Erleichterung.

Endlich verließ er das Sterbezimmer, erst der Anblick vom Kummer seiner Schwester bewegte ihn zu Tränen. Er weinte mit ihr. Der Doktor blieb eine Stunde, dann verabschiedete er sich. Die Nacht rückte vor. Luise, vom Schmerz erschöpft, hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen. Stuart war endlich allein. Er schickte alle Diener fort; doch der Schlaf floh ihn. Er durchschritt die lange Halle bis Tagesanbruch. Gerade bei Sonnenaufgang ging er noch einmal in das Sterbezimmer und schaute seinen Vater an. Roß Duncans Millionen hatten für denselben jetzt keinen Wert mehr. Was nützten sie dem Sohn? Was für eine Last von Verantwortlichkeit lag nun auf ihm? Diese Bergwerke, diese Unruhen der Arbeiter, dieser Streik, diese Löhne – was machte es aus, wenn er alles fahren ließ? Er hatte das Recht, nach Belieben über das Seinige zu verfügen. Er wollte alles verkaufen und im Ausland leben. Er wollte – was! Er schmiedete diese Pläne und sein Vater war kaum vierundzwanzig Stunden tot! Und weiter! Was gingen ihn die Löhne an, welche die Leute empfingen?

War er seines Bruders Hüter? Waren sie seine Brüder? Seines Vaters Tod hatte ihm eine Last aufgelegt, die er nicht zu tragen wünschte.